Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Neuntes Kapitel

Am folgenden Morgen wirbelte der Schnee durch die Luft und der Sturm schüttelte die Bäume im Park. Gewaltige weiße Wolken wälzten sich über das Feld; bis zu den Fenstern und über die Staffel trieben die Schneewehen empor.

Den ganzen Vormittag wanderte der Major durch die Zimmer und betrachtete durchs Fenster das rasende Schneetreiben. Erst als der Gong ertönte, zum Zeichen, daß das Mittagessen fertig war, befahl er Spitz, den Schlitten zu einer langen Reise bereit zu halten. In seinem großen Pelz und der Pelzmütze, das rote Tuch um Hals und Leib gewunden, trat dann der Major vor die Tür und setzte sich in den Schlitten. Fragend sah ihn der Kutscher an.

»Die Landstraße nach Süden,« sagte der Major.

Durch den wirbelnden Schnee gleitet der Schlitten. Kein Wort fällt zwischen den beiden. Als sie zum Kreuzweg unten bei der Kirche kommen, hält der Kutscher an. Aber ehe er eine Frage tut, deutet der Major nach rechts. Und gehorsam biegt der Schlitten in den Weg ein, der über die Äcker hinführt.

Der Schnee hat sich schon zu großen Wehen aufgetürmt. Schritt für Schritt, schnaubend, widerwillig stapft das Pferd durch den schweren Schnee. Immer wieder muß der Kutscher abspringen und neben dem Schlitten her gehen. Schweigend, düster sitzt der Major in seine Schafpelze eingewickelt da.

Schließlich bleibt der Schlitten stehen, und das ermattete Pferd sieht sich um, als sei es erstaunt über die unvernünftigen Forderungen der Reisenden.

»Es geht nicht mehr, Herr Major,« sagt der Kutscher.

»Fahr' zu, Kerl,« erwiderte der Major. »Ich muß weiter.«

»Der Gaul geht kaputt.«

»So fahr' zum nächsten Wirtshaus. Und spann' einen neuen Gaul vor. Und schwatz' nicht!«

Dreimal mußte der Major neuen Vorspann nehmen. Dreimal hatte er Aufenthalt, dreimal einen Aufenthalt, der ihm lang ward wie das Leben. Denn er wollte weiter, weiter. Noch nie hatte Spitz seinen Herrn so ungeduldig gesehen, so aufbrausend, so unzugänglich jedem vernünftigen Wort. Er gönnte sich und dem Kutscher nicht die Zeit, auch nur einmal eine ordentliche Mahlzeit zu sich zu nehmen. Nur schnell, schnell sollte es gehen! Vorwärts durch Sturm und Kälte durch Schnee und Nacht!

Denn die Nacht brach ein, lang ehe der Major sein Ziel erreichte! Durch Wälder geht die Fahrt, durch Wälder, die seufzen und ächzen unter dem mächtigen Rütteln des Winds, über die Felder, wo Wolken von Schnee sich hinwälzen. Vorüber an verschneiten Hütten und begrabenen Zäunen, einen Weg entlang, auf dem jede Spur von Schlittenkufen oder menschlichen Schritten längst verwischt ist.

Um Mitternacht legt sich der Wind; über den Häuptern der beiden lichtet sich das Dunkel. Der Sturm verstummt; die Schneewolken hören auf, sich über die Erde zu entladen. Es wird schneidend kalt, kalt und klar. Sterne funkeln auf, da einer, dort einer; und die Schlittenkufen knirschen frostig durch den Schnee. Der Major gibt noch immer keine Erklärung. An jedem neuen Kreuzweg deutet er dem Kutscher bloß mit der Hand die Richtung an, die er einschlagen muß. Dann sinkt er wieder in den Schlitten zurück, über dem Fußsack liegt eine ganze kleine Schneewehe.

Spitz begreift jetzt, wohin die Reise geht.

Als der Schlitten sich endlich Björknäs nähert, ist es längst über Mitternacht. Aus dem Dunkel schimmert der Waldrand, hinter dem der Herrenhof liegt. Durch die Stille der Nacht tönt das Pochen der Hämmer; hinten, an der Schleuße, leuchtet der Himmel rot von den Funken aus der Schmiede.

Alles das sieht der Major; und seltsame Gefühle bewegen seine Brust. An dem geöffneten Gatter befiehlt er dem Kutscher anzuhalten.

»Halt!« sagt er. »Ich will aussteigen!«

Spitz sieht aus, als verstünde er überhaupt alles. Er schultert die Peitsche; aber er sagt kein Wort.

»Du fährst weiter bis auf den Hof,« sagt der Major, »und stellst das Pferd beim Verwalter ein. Sieh' zu, daß du was zu essen kriegst. Und dann wartest du, bis ich komme.«

Der Major sagte das alles so leise, als fürchte er, man könne ihn drüben in dem dunklen Herrenhaus, wo er doch um keinen Preis gesehen sein will, hören. Dann wendet er sich um und geht durch das Gatter. Gespenstisch stumm liegt das niedere Haus mit seinem hohen, gebrochenen Dach vor ihm. Kein Weg ist durch den Schnee gebahnt. Als ob alles zugeschneit wäre, liegt der Hof da – leer, öde – und in den alten Bäumen rauscht der Wind.

Der Major weiß wohl, was er jetzt tun will. Er hat lange genug darüber nachgedacht. Er bahnt sich durch die Schneewehen einen Weg zu dem einen Flügel, tastet sich im Dunkeln an der Hauswand entlang und befindet sich gleich darauf auf der Rückseite des Flügels, wo man ihn vom Hauptgebäude aus unmöglich hören und sehen kann. Mühsam klettert er dann die steinerne Mauer hinan und klopft leise an eins der Fenster.

»Komm heraus,« sagte er flüsternd, »und mach auf.«

Ein erschrockenes Gesicht zeigt sich hinter den Scheiben; man hört ein Geräusch wie von Türen, die auf- und zugemacht werden. Der Major geht in seinen eigenen Fußtapfen wieder zurück und wartet vor der Tür des Flügels.

Er kennt die, die ihm aufmacht, wohl. Sie ist uralt, die Alte, die einzige, die noch von den Tagen des alten Herrn her auf Björknäs lebt. Nach einer mehr als sechzigjärigen Dienstzeit sitzt sie als altes Inventar in ihrer kleinen Stube im Flügel, und ißt das Gnadenbrot.

Zitternd leuchtet die Alte mit ihrer Laterne durch die Tür.

Der Major läßt ihr gar keine Zeit, zu erschrecken oder zu fragen.

»Kennst du mich nicht mehr, Elsa?« fragte er kurz. »Laß mich nur hinein. Es ist kalt; und ich friere.«

Damit öffnet er die Tür zu einer Stube, die er nur zu gut kennt.

»Mach' mir ein Feuer hier,« sagt er. »Und dann geh' nur und leg' dich wieder.«

Die Alte will Einwendungen machen. Aber der Major bringt sie zum Schweigen.

»Niemand darf wissen, daß ich da bin,« sagte er. »Einerlei, wie das auch aussieht. Sonst kehr' ich überhaupt gleich um und geh' wieder meiner Wege!«

In dem grünen Kachelofen flammt das Feuer auf. Der Major setzt sich auf einen Sessel davor; den Pelz behält er an.

»Das ist ein Gastzimmer jetzt?« unterbricht er nach einer Weile das Schweigen.

Die Alte nickt. Ihr Blick hat etwas von der leidvollen Belebtheit, die alte Frauen haben, wenn sie wissen, daß der Tod auf sie lauert.

»Daß ich den Herrn noch überleben soll!« sagt sie leise.

»Ist er tot?« ruft der Major.

Die Alte schüttelt den Kopf.

»Noch nicht,« erwidert sie. »Aber wir warten jeden Augenblick darauf.«

Darauf geht sie hinaus und der Major bleibt einsam in dem dunkeln Zimmer. Im Kachelofen flammt das Feuer auf. Einen Augenblick lang kommt ihm der Gedanke, wie sonderbar doch dies Abenteuer ist, auf das er sich da eingelassen hat. Aber gleich darauf verschwindet das alles wieder. Und vor dem Kachelofen sitzend, wartet der Major auf die Nachricht von seines Bruders Tod.

Nach und nach weicht die Kälte aus seinen Gliedern. Er nimmt den Pelz ab. Dann erst fängt er an, sich ein bißchen im Zimmer umzusehen. Es ist nichts da, was ihn an früher erinnert. Möbel und Tapeten sind neu, alles ist neu. Bloß das Zimmer selbst ist noch da, wie er es einst gesehen, mit der geschlossenen Tür, die zur Stube des Magisters führte, und dem Ausblick über den Hof.

Es ist ganz dunkel jetzt. Der Major sitzt an dem Fenster, an dem er und Nils Göran einst beim Schein der Lampe ihre Aufgaben gelernt haben; und wieder erlebt er die ganze seltsame Kindheitszeit, die sie beide dereinst vereint. Es ist, als ob alles, was er längst vergessen, was er vor langer Zeit gedacht, wieder um ihn zu leben begänne, mit einem fast greifbaren Leben, das ihm die eigene Kindheit und Jugend wieder lebendig macht. Gedanken formen sich in ihm zu Worten; und ohne daß er die Lippen regt, redet der Major in dieser Stunde unhörbare Worte. Er spricht mit dem Bruder. Seltsam kindlich und einfach formen sich seine Gedanken. Nichts von all dem Häßlichen, das das Leben der Brüder verbittert hat, ist in Wirklichkeit geschehen. Alles ist nichts gewesen, als ein böser Traum. Und es ist, als wanderten die zwei Brüder auch zuletzt noch miteinander.

Der Major beugt sich vor und haucht auf die Scheibe, um besser über den Hof weg sehen zu können. Da sieht er im Dunkel links von der Treppe im hintersten Fenster neben der Ecke einen zitternden Lichtschein. Der Schein fällt über den Hof und bildet ein lichtes Rund auf dem Dunkel des Platzes.

Der Major weiß, dies Licht kommt aus dem Schlafzimmer des Bruders. Und ein anderes Licht fällt ihm ein. Das Licht, das Jahr um Jahr in Brites Fenster brannte und ihn, so oft er heim kam, mit Entsetzen erfüllte. Er kann die Augen nicht abwenden. Lang sitzt er ruhig da. Ihm ist, als sähe er in diesen zwei Lichtern die Erklärung seines ganzen Lebens.

So geht Stunde um Stunde. Kaltgrau bricht der Morgen an. Auf dem Hof macht der Schneepflug die Runde und verschwindet im Dämmer durchs Gatter.

Da erhebt sich der Major vom Stuhl, in dem er gesessen, und geht hinaus ins Vorzimmer. Hastig reißt er die Tür zur Stube der alten Elsa auf und sagt kurz:

»Du brauchst nicht zu fragen. Der Hüttenherr ist tot. Ich weiß es. Aber geh' nur hinüber.«

Weiß wie ein Tuch war der Major, als er das sagte. Die alte Elsa brachte kein Wort hervor. Gebückt und klein, wie ein Schatten glitt sie über den Hof.

Der Major nahm seinen Platz am Fenster wieder ein. Und während er wartete, sah er das Licht im Zimmer des Bruders erlöschen. Da erhob er sich hastig und nahm seinen Pelz um. Als die Alte zurückkam, stand er schon zur Abfahrt gerüstet.

Ein Blick auf ihr Gesicht bestätigte die Ahnung, die den Major aus seinen Träumen geweckt hatte. Und umrauscht von alten Erinnerungen ging er langsam von des Bruders Hof.


So endet die Geschichte von den Brüdern Mörk. Als der Major heimwärts fuhr, erwachte in ihm ein rein menschliches Sehnen, den Sohn wiederzusehen. Was er zu bereuen hatte, das hatte er ohne Worte und ohne Zeugen mit sich selber abgetan.

Als Erling nach Kolsäter heimkehrte, war der Frühling da.

Ende


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