Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Viertes Kapitel

Am folgenden Morgen waren auch Nils Göran und seine Frau fort. Kolsäter war wieder das alte. Der Regen hatte in der Nacht aufgehört, und die Sonne kam wie ehedem zum Vorschein. Blankblau glänzte die Fläche des Lommen durch die Zweige der Hängebirken.

Und doch hatten die beiden, Brite und ihr Mann, das Gefühl, als habe eine Feuersbrunst in ihrem ruhigen Heim und dem ganzen Naturparadies, das es umgab, gewütet.

Die ganze Nacht war der Major in seinem Zimmer auf und abgewankt, und auf alle Bitten Brites, doch endlich Ruhe zu suchen, hatte er nur geantwortet, er müsse allein sein. Als es Vormittag war, bestellte er den Jagdwagen, und als Brite in seine Stube kam, sah sie den kleinen Koffer gepackt stehen. Auf die Frage der Gattin, wohin er zu reisen gedenke, antwortete er bloß: »Fort!« Und etwas in seinen Bart murmelnd, was Brite nicht verstand, fügte er hinzu: »Du wirst mich schon bald genug wieder haben!«

Wie ein Rasender fuhr er vom Hof. Spitz saß hintenauf, vor den Wagen waren die jungen Pferde gespannt. Der Major wandte sich nicht einmal um, um zurückzusehen, während er davonfuhr.

Fast eine Woche lang mußte Brite auf ihren Mann warten, ehe er zurückkam. Dreimal kam während dieser Zeit die Post, und jedesmal suchte Brite in tödlicher Unruhe nach einem Brief. Und jedesmal ward ihre Hoffnung genarrt oder auch ihre Unruhe gestillt – sie wußte selber nicht, welches von beiden. Denn was sie fürchtete, war, daß ihr Mann überhaupt nicht mehr wiederkommen könnte. Und das einzige, was sie beruhigte, war, daß er nicht schrieb. Ohne ein Wort zum Abschied, dachte Brite, verläßt er mich so doch nicht.

Aber ihre Nächte und ihre Tage waren erfüllt von Schreckbildern, und mit jeder Stunde, die ging, wuchs ihre Angst. Nur mit Mühe vermochte sie sich vor Erling und den Dienstboten zusammenzunehmen.

Vor ihnen konnte sie doch nicht eingestehen, daß sie etwas derartiges fürchtete, wie daß ihr Mann sich mit eigener Hand das Leben nehmen könnte. Darum hielt sie sich aufrecht vor allen; und erst wenn sie in ihrem Schlafzimmer war und das ganze Haus schlief, ließ sie ihrer Unruhe freien Lauf.

Aber am letzten Abend, dem Abend, an dem der Major wirklich kam, war sie nicht mehr Herr über sich selbst. Sie hatte Erling Gute Nacht gesagt und seine Fragen, ob nicht der Vater bald nach Hause kommen würde, beschwichtigend beantwortet. Als sie jedoch die Zimmertür des Knaben zugemacht hatte und allein in dem dunklen Korridor stand, da verließ sie ihre Selbstbeherrschung.

Still glitt sie die Treppe hinunter und ging, die große Haustür sorgsam hinter sich zuschließend, in die Allee hinaus. Den Türschlüssel behielt sie in der Hand. Und die Leute vom Hof, die sie gehen sahen, erzählten flüsternd in der Küche, die Gnädige gehe so spät noch ganz allein draußen spazieren mit nur einem Tuch um die Schultern und ohne Hut.

Die Nachtluft war kalt. Das schöne Wetter hatte einer Reihe jener kalten, unheimlichen Julitage Platz gemacht, in denen die Luft plötzlich kalt wird und der Sturm die Wälder schüttelt, als sei der Herbst schon gekommen. Es gibt solche Tage, an denen man das Gefühl hat, als wolle die Natur sich an uns armen Menschenkindern rächen für die kurzen Sonnentage, die uns geschenkt, und uns im Ernst fühlen lassen, daß ihre Hand hart ist über dem Norden. Scharf hebt sich alles von der kalten Luft ab, Blumen und Bäume, und das Rauschen des Windes in den Zweigen wird unnatürlich und unheimlich.

Brite wanderte durch die Allee. Über ihrem Haupt sauste es in den Kronen der Linden, über das Saatfeld raschelte ächzend der Wind. Hinter dem Feld hob sich kalt und dunkel der Wald. Sie mußte sich die ganze Zeit an den Rand des Weges halten; der Sturm hatte zwar den Regen fortgeweht, aber die Wege waren noch aufgeweicht. Dunkler und dunkler ward es um Brite. Und doch trieb die Unruhe sie weiter. Bis hinab zum Heck ging sie. Als sie von da zurückschaute, war Kolsäter im Dunkel verschwunden. Nicht einmal einen durchglimmenden Lichtschein konnte sie mehr entdecken.

Einsam stand sie im Dunkel und blickte auf die große Landstraße hinaus, die die Allee kreuzte. Sie wußte nicht einmal, ob sie nach rechts oder links schauen sollte; stand nur immer auf einem Fleck und horchte ängstlich auf das Geräusch von Wagenrädern, das in der stillen Nacht von fern her zu hören ist. Mit langsamen Schlitten ging sie dann wieder zurück. Aber kaum war sie an den Hof gekommen, so kehrte sie auch schon wieder um und ging von der gleichen Unruhe getrieben wie vorhin, wieder durch die Allee und nach der großen Landstraße zurück.

Lange ging Brite so hin und her. Das letztemal, als sie sich dem Hof näherte, sah sie den Schein der Nachtwächterlaterne über die Terrasse glimmen. Brite fürchtete sich sonst im Dunkeln. Keine Macht der Welt hätte sie unter gewöhnlichen Umständen vermocht, allein diesen Weg zu gehen. Alles schreckte sie im Finstern: Die dunklen Umrisse der Bäume, die wilden Rosenbüsche, die gleich phantastischen Schattenbildern am Wegrain aufschossen, die lange, dunkle Perspektive von Bäumen – alles verursachte ihr eine Angst, die sie nicht bezwingen konnte. Am schlimmsten war's, wenn in den alten Linden die Eulen schrien. Da erstarrte alles Blut ihr in den Adern, und alte Märchen von Unglück und Tod wachten in ihr auf.

Heute nacht empfand Brite nichts von alledem. Gefühllos wanderte sie die lange Allee auf und ab. Es war fast, als gäbe das Dunkel mit seinen Erinnerungen an alte Schrecken ihr in ihrem augenblicklichen überhitzten Zustand eine Art Ruhe. Schließlich stand sie wieder unten am Heck und starrte gedankenlos auf die Straße hinaus. Die Nacht war dunkel wie im September, und um sie her war die Natur stumm wie ein Totes.

Da sah sie plötzlich ein Licht sich draußen auf der Landstraße bewegen. Weit hinten blinkte es aus dem Dunkel auf; und wo der Schein hin fiel, wurden Büsche und Bäume längs der Straße sichtbar. Es war wie eine lange lichte Straße von Erscheinungen, die aus dem Dunkel aufblinkten, um im nächsten Augenblick wieder darin zu verschwinden. Instinktiv zog Brite sich tiefer in den Schatten zurück. Sie verwandte kein Auge von dem Lichtfleck, der die dunkle Straße entlang glitt. Es war, als ginge Leben aus von diesem lichten Punkt, der da hastig näher kam. In phantastischer Helle tanzte es daher, alles, was eben noch in Dunkel gelegen hatte, die Bäume, der tiefe, breite Graben, die Dornhecke, die Disteln, die Steinpfeiler auf der langen Brücke, die über den Sumpf führte. Weit über die Felder zitterte der Schimmer dieses einen kleinen Lichts.

Zuletzt schwenkte der Wagen in die Allee ein. Die jungen Pferde verdoppelten ihre Geschwindigkeit; dicht am Wegrand, wo Brite im Schatten stand, rollten die Wagenräder vorüber. Im hastigen Schein der Laternen sah sie, wie der Major die Zügel fester in seiner Hand sammelte und den eifrigen Tieren zusprach.

Mit raschen Schritten ging Brite hinter dem Wagen drein. Es war ihr nicht möglich gewesen zu rufen, sich zu erkennen zu geben. Sie fühlte sich noch ebenso unruhig wie zuvor. Aber es war eine neue Unruhe, die sie jetzt beherrschte und ihre Schritte beschleunigte.

Sie gelangte indessen nicht weit, ehe der Major ihr entgegenkam. Mit raschen, energischen Schritten kam er durch die Allee, und als er auf sie zutrat, sah Brite, daß er böse war.

»Es ließ mir keine Ruhe,« sagte sie. »Ich hatte solche Angst!« Die Worte kamen atemlos, wie eine Verteidigung.

»Du hättest mir das ersparen können,« antwortete der Major nur. »Wir haben gerade genug Skandal gehabt im Haus, auch ohne dies!«

Schweigend gingen die Gatten ins Haus zurück. Und Brite vermeinte zu fühlen, wie etwas, das einem Schatten glich, zwischen ihnen ging und auf immer den Weg von ihres Mannes Herzen zu dem ihren verschloß. Das war noch schlimmer, als sie gefürchtet hatte. Das war der Tod. Erst als sie im Zimmer des Majors allein waren, hatte Brite den Mut zu fragen:

»Was hast du denn solange von zu Hause fort getrieben?«

Von sich selber sagte sie nichts mehr.

»Herumgezecht!« antwortete der Major kurz. Dann fügte er plötzlich hinzu:

»Es war eine kolossale Dummheit. Ich hab' kein Vergessen gefunden.«

Brite betrachtete ihren Mann ängstlich. Sie sah, von jetzt an war in seinem Herzen kein Platz mehr für sie. Des Majors Aussehen hatte sich in diesen wenigen Tagen verändert. Die Augen waren noch schwermütiger als zuvor, aber der ganze Gesichtsausdruck war härter.

»Sieh mich nicht so an,« sagte er plötzlich. »Du mußt dich in Geduld fassen und warten. Vielleicht wird es einmal wieder besser.«

Am nächsten Tage lag Brite zu Bett und hatte Fieber. Man schickte nach dem Arzt; und als dieser, nachdem er die Kranke untersucht hatte, zu dem Major in den Salon trat, war er sehr erregt. »Das Fieber hat nichts zu bedeuten,« sagte er hastig. »Das geht bald vorüber. Aber deine Frau befindet sich in einer ganz ungewöhnlich überreizten Gemütsverfassung. In ihrem Zustand ist das bedenklich.«

»Was meinst du mit ›ihrem Zustand?‹« sagte heftig der Major.

Der Doktor trat schnell einen Schritt zurück und starrte bestürzt in das erregte Gesicht des Majors.

»Weißt du nicht, daß deine Frau ein Kind erwartet?« rief er. Doktor Roeler konnte sich nicht erklären, wieso diese Mitteilung den Major in solchem Grad aufregen konnte. Die beiden Herren waren gute Bekannte, und der Doktor glaubte seinen Nachbarn zu kennen. Aber diesmal stand ihm doch der Verstand still. Nur in den Hütten der Armen, wo die Ankunft eines weiteren Kindes oft Hunger und Not bedeutet, war er ab und zu einmal bei derartigen Gelegenheiten im Gesicht eines Mannes diesem Ausdruck wilder, unbeherrschter Verzweiflung begegnet, wie ihn jetzt die Züge des Majors wiesen. Ohne sich dies seltsame Phänomen erklären zu können, erschöpfte sich der Doktor in beruhigenden Versicherungen.

Der Major hörte sie an, als wären sie in die leere Luft gesprochen. Kaum war der Doktor fort, so ging er geradeswegs nach Brites Zimmer. Was er dort sagen oder tun würde, davon hatte er selber in diesem Augenblick keine Ahnung.

Brite erwartete ihren Mann. Seit der Doktor sie verlassen hatte, hatte sie keinen anderen Gedanken mehr als bloß: »Wie wird er es aufnehmen? Was wird er jetzt zu mir sagen?« Daß er sich nicht mit ihr freuen konnte, das verstand sie wohl. Der Bruder, den er verloren, füllte ihn jetzt so ganz und gar aus, daß er für nichts andres mehr Raum hatte. Und darum fühlte Brite sich gerade jetzt, wo sie ihm eine Hilfe sein wollte, als eine Last für ihren Mann.

Als sie ihn kommen sah, streckte sie ihm beide Hände entgegen und fragte:

»Bist du böse auf mich?«

So rührend war sie in ihrem völligen Selbstvergessen, daß Karl Henrik kein Wort der Erwiderung fand. Schweigend strich er seiner Frau über die Stirn und küßte ihre Hände. Er versuchte sogar ihr zuzulächeln. Er wußte, eigentlich mußte er sich jetzt mit ihr freuen, für sie leben, vorwärts blicken wie sie. Aber er tat alles ganz mechanisch. Und er mußte sich Gewalt antun, um den Schmerz zu bezwingen, der in ihm raste.

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt, Brite?« fragte er schwer.

»Ich konnte nicht,« antwortete Brite. »Einmal wollt' ich es sagen. Da zogst du den Brief ... du weißt ... Nils Görans Brief aus der Tasche. Und da wartete ich. Ich mocht es nicht sagen, ehe wir beide wieder allein und die andern fort waren.«

Die Hand seiner Frau in der seinen haltend, saß der Major da. Er fing langsam an zu verstehen. Er brauchte nicht weiter zu fragen. Er dachte an den Brand, an das plötzliche Erscheinen des Verrückten, an Brites Entsetzen. Auch an den Besuch des Bruders dachte er, an alles, was da vorgefallen war; und zuletzt an seine eigene Abwesenheit von daheim. Und all das schloß sich zusammen zu einer Kette von Unglück, die er nicht zu lösen vermochte. Ihm war, als sei er im dunklen Wald verirrt und gehe unaufhörlich in seinen eigenen Fußtapfen im Kreis herum. Und aus dem Chaos, in dem seine Gedanken umherwirbelten, stieg vor seinem innern Auge alles empor, was Brite um seinetwillen gelitten hatte. Der Major war keineswegs blind dafür, daß das Leiden seiner Frau im Grunde schwerer war als das seine, und daß ihr Schweigen der Beweis ihrer großen Liebe war. Er sah auch ein, daß, wenn seine eigene Seele die Kraft gehabt hätte, die Last, die sie jetzt zusammenpreßte, von sich zu werfen, es ihm möglich gewesen wäre, den Weg zu seiner Frau wiederzufinden, auch durch den Haß hindurch, der jetzt die ganze Welt um ihn verdunkelte. Dann hätte er auch vermocht, sich selber und sie zu erlösen, und für sie beide hätte das Leben von neuem begonnen.

Aber der Major vermochte es nicht.

»Das also ist das Glück, auf das wir so lang gewartet haben, und das nun endlich gekommen ist!« klang es in ihm.

Aber er beherrschte sich, damit Brite wenigstens in diesem Augenblick nichts merken sollte. Lange blieb er an ihrem Bett sitzen. Als er sie endlich verließ, ging er auf dem nächsten Weg in sein Zimmer hinunter und schloß die Tür zweimal hinter sich ab. Dann begann er auf und ab zu gehen, genau so wie in der Nacht nach dem Auftritt mit seinem Bruder; und ihm war, als habe sich sein Schmerz vertausendfacht. Er begriff daß Brite schwerkrank war, viel schwerer, als sogar der Doktor wußte. Als ob ein Fremder ahnen konnte, was alles hier geschehen war! Für den Brand, der an Brite zehrte, gab es nur eine Hilfe, und diese Hilfe mußte von ihrem Mann kommen. Ganz unbewußt hatte der Major die ganze Woche hindurch, die er von daheim weg gewesen war, sich immer gedacht, ihm müsse schließlich von Brite die Hilfe kommen. Jetzt sah er plötzlich, daß die Rollen auf einmal vertauscht waren, und daß es Brite war, die nun das Recht hatte, Forderungen an ihn zu stellen. Und daß sie es nicht tat, verdoppelte nur seine Schuld ihr gegenüber, die er, das wußte er, nie würde bezahlen können.

Der Major fühlte, dieser Forderung gegenüber war er bankerott. Stöhnend vor Schmerz saß er am Schreibtisch. Als er auf das Papier blickte, auf dem seine Hände lagen, entdeckte er große, feuchte Flecken. Verwirrt suchte er sich zu fassen. Er glaubte, er habe geweint. Aber er hatte keine Träne vergossen. Seine Augen waren trocken. Nur sein Kopf war feucht; und von seiner Stirn fielen schwere, kalte Tropfen Schweißes.


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