Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Drittes Kapitel

Hauptmann Karl Henrik Mörk war, als dies Ereignis eintrat, ein Mann von kaum dreißig Jahren, und die Verhältnisse, unter denen dieser unerwartete Glücksfall ihn traf, waren ganz dazu angetan, ihn dessen Wert erkennen und schätzen zu lassen. Weder er selbst noch irgendein Mensch sonst vermochte recht zu fassen, wie die alte Exzellenz überhaupt auf die bizarre Idee gekommen war, diesem fast unbekannten Verwandten das ganze große Vermögen zu hinterlassen. Das einzige, was sich als eine Art Erklärung anführen ließ, war folgendes: Wie schon angedeutet, hatte die alte Exzellenz ein einziges Mal dem Kirchhof von Törsby, wo die Familien Mörk und Brandt so viele ihrer Toten beerdigt hatten, einen Besuch abgestattet. Sichtlich befriedigt von dem Erstaunen, das seine Anwesenheit hervorrief, hatte Exzellenz seinen Platz im Trauergefolge eingenommen, ohne mit jemand ein Wort gewechselt zu haben. Auf dem Kirchhof stand er ganz allein, und es sah fast aus, als merke er nicht einmal, daß sich ganz von selbst ein leerer Raum um ihn bildete. Korrekt und stramm stand er auf seinem Platz. Als der Pfarrer redete und er sich vermutlich unbeobachtet glaubte, zuckten manchmal die Muskeln in seinem Gesicht in einer Weise, die fast einem Lächeln glich. Als die Zeremonie zu Ende war, verabschiedete sich der alte Herr verbindlich von sämtlichen Anwesenden unter dem Vorwand, daß dringende Geschäfte ihn zwängen, sich unmittelbar wieder auf den Heimweg zu begeben. Und alle Anwesenden empfanden dies als eine Erleichterung.

Darauf promenierte Exzellenz einsam auf dem Kirchhof, da und dort bei einem der vielen Steine stehenbleibend, auf denen Familiennamen eingegraben standen. Er schien hierbei so ungeniert, als wären es lauter Unbekannte, die sich um das offne Grab des eben beerdigten Landrichters Mörk versammelt hatten. Auf dieser Wanderung war es gewesen, daß er mit dem damaligen Leutnant Karl Henrik Mörk zusammentraf. Dieser stand ebenfalls vor einem Grab, das auf der Westseite des Chores lag. Und vielen war es damals aufgefallen, daß die alte Exzellenz auf den jungen Mann zutrat, ihm zwei Finger hinstreckte und kurz fragte:

»Wer liegt hier begraben?«

»Mein Vater,« antwortete der junge Mann. »Er ist vor einem Jahr gestorben und ich habe seither sein Grab noch nicht aufgesucht.«

Dabei zitterte der Schnurrbart des jungen Mannes ein wenig. Denn er war ein Mensch, der leicht gerührt war. Und da Exzellenz nichts weiter äußerte, sondern ihn nur scharf fixierte, als mißtraute er dieser vor einem Fremden zur Schau getragenen Gefühlsweichheit, wurde der junge Leutnant ganz verwirrt und fuhr fort:

»Als er starb, war ich im Dienst. Und als der Brief kam, war es schon zu spät zum heimreisen.«

Da veränderte sich plötzlich der Ausdruck im Gesicht des alten Herrn, und dem jungen Mann grad in die Augen blickend, äußerte er mit einem finstern, schwer zu deutenden Lächeln:

»Ich habe meines Vaters Grab überhaupt nie gesehen. Die Wahrheit zu sagen, waren wir nicht die besten Freunde. Und als er starb, war ich im Ausland. Sein Grab ist es eben, das ich hier suche.«

Der junge Karl Henrik zeigte hierauf der Exzellenz, wo das Grab lag, und die beiden Männer schieden. Die Kutscher knallten mit den Peitschen, in rascher Fahrt rollten die Wagen durch den Aprilschmutz, der die Landstraße bedeckte. Den Abfahrenden den Rücken zuwendend, blieb die alte Exzellenz einsam auf dem Kirchhof zurück, über einen niederen eingesunkenen Stein gebeugt, auf dem des Vaters Name in halb unleserlichen, vom Regen und Schnee langer, entschwundener Jahre verwischten Buchstaben stand.

Das war das einzige Mal, daß der Verstorbene und sein Erbe einander gesehen hatten. Irgendwelcher stichhaltige Grund, aus diesem unbedeutenden Anlaß ein Vermögen wegzuschenken, war natürlich nicht vorhanden. Aber die selige Exzellenz war immer ein unberechenbarer Mensch gewesen, und da der Besitz durch dieses Testament doch wenigstens in der Familie blieb, verstummten die Neider diesmal eher, als man erwarten durfte, und Karl Henrik Mörk zog noch im selben Sommer mit seiner Familie nach Kolsäter, um von seinem Erbe Besitz zu ergreifen.

Alles stand im schönsten Flor. Seit Menschengedenken war kein so schöner Sommer gewesen. Der Roggen stand hoch und dicht, die Kleeweiden versprachen die üppigste Ernte, und im Garten reifte ein Reichtum von Obst und Gemüsen. Als die neue Herrschaft an einem schönen Abend gleich nach Mitsommer die lange Lindenallee herauffuhr, blühten Rosen, Jasmin und Heliotrop um das ganze Haus, und hinter den geschmeidigen Birken, die licht auf den grünen Matten standen, hoben sich die stattlichen Tannen und Kiefern des Wildparkes, der sich weit an den Ufern des Sees dahinstreckte.

Der neue Herr saß zur Rechten im Wagen, und die Leute, die sich am Weg aufgestellt hatten, um einen Blick auf die neue Herrschaft zu erhaschen, bemerkten, daß er die Hand seiner Frau in der seinen hielt. Das Gesicht der Gnädigen sah niemand so recht. Sie führte oft das Taschentuch an die Augen, als ob sie Tränen abtrocknen müsse. Dazwischen hinein beugte sie sich vor, um ein Kind zu liebkosen, das auf dem Rücksitz unter dem Kutschbock saß. Ob es ein Knabe oder ein Mädchen war, wußte niemand zu entscheiden. Die langen, blonden Locken deuteten auf ein Mädchen, aber der Anzug mit den blanken Knöpfen war der eines Jungen. Still fuhr der Wagen durch die Allee, schweigend grüßten die Leute. Wenn der neue Herr von Kolsäter den Hut lüftete, blickte er gerade vor sich hin, als fühle er sich verlegen über die Aufmerksamkeit, die er erregte. Und als der Wagen endlich vor der Treppe hielt, fiel es den Dienstboten auf, wie müde und angegriffen die junge Frau aussah. Sie wandte ihnen ein blasses Gesicht mit großen, verwunderten Augen zu, und kaum hatten die beiden Ehegatten die Leute begrüßt, als auch schon der junge Herr, der von kleinem Wuchs war und einen langen dichten Schnurrbart unter einer gebogenen Nase hatte, seine Frau an der Hand nahm und sie ins Schlafzimmer führte, mit der Erklärung, sie brauche Ruhe. Eine lange Weile blieb er bei ihr, und als er wieder herauskam, sorgte er vor allem dafür, daß das Kind zu Bett gebracht wurde. Darauf ging er wohl eine Stunde lang im Eßzimmer auf und ab, ohne ein Wort zu reden. »Alles Geschäftliche, Pläne, Besprechungen und dergleichen wollen wir bis morgen lassen,« war das einzige, was er sagte. Mit keinem der Dienstboten wollte er vor dem nächsten Morgen sprechen, und mehr als einer empfand das als eine Enttäuschung. Schließlich ging er hinauf ins Schlafzimmer und holte seine Frau. Schweigend setzten sie sich zu ihrer ersten Mahlzeit in Kolsäter nieder. Und als sie fertig waren, gingen sie miteinander den breiten Weg zur Landungsbrücke hinab und verschwanden Hand in Hand in dem großen Park, der sich in Wald und Wildnis verlor.

Die beiden Eheleute gehörten, ehe ihnen das große Erbe in den Schoß fiel, zu den Armen der Familie; und Nils Göran Mörk, der nunmehr einsam auf Björknas saß, hatte lange gefürchtet, die Ehe des Bruders möchte mit einer finanziellen Katastrophe enden. Karl Henriks Jugend war keineswegs eine mustergültige gewesen. Frühzeitig mutterlos hatte er sie in ständigen Konflikten mit dem Vater verbracht. Darum beschloß dieser auch bald, den Sohn zum Militär zu geben. »Wer Vater und Mutter nicht gehorchen lernt, der lernt der Trommel gehorchen –« so lautete die grimme Formel, mit der der alte Hüttenherr Mörk über des Sohnes Zukunft entschied. Und als Karl Henrik zum erstenmal nach Karlberg fuhr, um sich in des Königs Rock zu kleiden, hatte er das Gefühl, als unterziehe er sich einer Strafe. Der Trommel gehorchen lernte er freilich, ja, er avancierte rascher als die meisten andern zum Offizier. Als er einundzwanzig Jahre alt war, zahlte der Vater ihm sein mütterliches Erbe aus, und von da ab hörte zwischen den beiden jeder Briefwechsel und fast alle Verbindung auf. Karl Henrik war also sich selbst überlassen; und es zeigte sich rasch, daß die väterliche Roßkur keine guten Früchte gezeitigt hatte. Das mütterliche Erbe schwand wie Spreu im Wind, und des jungen Leutnants Abenteuer waren ebenso berüchtigt wie die verschwenderische Sorglosigkeit, mit der er dem ersten besten Kameraden Geld lieh.

Man sagte auch, daß der Vater nicht ohne Schuld an dieser Entwicklung des Sohnes sei. Hart und ungerecht hatte er an ihm gehandelt, und sein eigenes Beispiel war nicht gerade vom guten gewesen. Er führte als Witwer ein Leben, das in der ganzen Gegend sprichwörtlich war. Von Zechgelag zu Zechgelag fuhr er, und wenn die Genossen dieser Ausschweifungen des Alten auf Björknäs zusammen kamen, so ging es wild und wüst da zu mit Saufen und Spiel und allerhand anderem, das der Gemeinde zum Ärgernis war. Schließlich war die Kraft des alten Hüttenherm untergraben. Als gebrochener Mann, wankte er auf seinem Besitztum umher, jedermann scheuend und jedermann von sich stoßend. In seinen letzten Lebensjahren mußte man ihn pflegen wie ein Kind, und man erzählte von ihm, er sei so alt und stumpfsinnig geworden, daß er oft vergesse, wer er war, und wie er hieß. Stolpernd wanderte er in den alten Zimmern oder im Garten herum und suchte seine Frau und rief ihren Namen. Und jedermann wußte doch, daß die alte Gnädige seit vielen Jahren tot war, und daß es die Liederlichkeit und Härte des Mannes gewesen, die sie vorzeitig ins Grab gebracht hatten.

Nils Göran, der jüngere Sohn, war es, auf dem die Sorge für den Vater und Björknäs lag. Er war daheim geblieben und hatte während der letzten Lebensjahre des Vaters allerhand durchgemacht, von dem Karl Henrik in der Stunde frei ward, die zwischen ihm und dem Vater das Tafeltuch entzwei schnitt. Das kränkte Nils Göran so manches Mal. Er mußte daheim bleiben und des Tages Bürde tragen, während der ältere Bruder sich draußen herumtrieb und sein Erbe verpraßte. Und in diesem Gefühl, über das Nils Göran nur schwer Herr wurde, lag der Keim zur Schwächung der aufrichtigen Zuneigung, die bisher die beiden Brüder vereinigt hatte.

Mittlerweile starb der Alte ganz unvermutet an einem Januarabend. Es war ein jäher Tod, der ihn ereilte. Man fand ihn bewußtlos draußen im Schnee. Es sah aus, als hätten den alten Mann ganz plötzlich die Kräfte verlassen, so daß er sich hatte setzen müssen, um auszuruhen. Das letzte Geheul seines Hühnerhundes weckte die Aufmerksamkeit der Dienstboten. Der Hüttenherr wurde zu Bett gebracht; aber er erwachte nicht wieder. Nils Göran kam an diesem Abend spät von einem Besuch auf einem der Nachbargüter heim. Gedankenvoll stand er vor dem Lager, auf dem der Tote ruhte. Weinen konnte er nicht.

Aber durch seine Seele zog der Gedanke an den Bruder und ihre alte Freundschaft; Erinnerungen aus ihrer schweren Kindheit erwachten in ihm. Diese schwere Kindheit war es, die die beiden Brüder vereint, sie so fest verbunden hatte, wie Blutsbande es sonst nicht vermögen. Tag um Tag wartete Nils Göran darauf, daß der Bruder zum Begräbnis kommen sollte. Tag um Tag schob er es hinaus, den Beerdigungstag festzusetzen, immer im Gedanken, daß Karl Henrik noch zur Zeit kommen müsse. Schließlich aber kam nicht der Bruder, sondern ein Brief, in dem dieser erklärte, daß der Dienst ihn am Kommen verhindere.

Nils Göran Mörk war ein mißtrauischer Mann. Keinen Augenblick lang glaubte er daran, daß es der Dienst sei, der den Bruder am Reisen hinderte. Er hat mich über der Welt vergessen, dachte Nils Göran. Und etwas von der Bitterkeit des Zurückgesetzten stieg in ihm auf. Die Beerdigung des Vaters war ein qualvoller Tag für ihn, und, als er vorbei war, eine schmerzliche Erinnerung.

Indessen tat Nils Göran seinem Bruder Unrecht, ohne es zu wissen. Der Grund, weshalb Henrik nicht kam, war, daß er gerade in dieser Zeit das Weib kennen lernte, das später seine Gattin wurde. Und es fehlt ihm ganz einfach der Mut, dem Bruder mit dem Geständnis unter die Augen zu treten, daß er ans Heiraten denke. Er fühlte sich selber so unwürdig und fluchte dem Leben, das er gefühlt und das ihn in ein schimpfliches Abhängigkeitsverhältnis zu allen denen gebracht hatte, denen er jetzt Geld schuldig war.

Das junge Mädchen, das Karl Henriks Herz gewonnen hatte, hieß Brite Luise von Lycknow. Sie lebte mit ihrer Mutter, einer Witwe, in einer kleinen Wohnung in der Smålandstraße. So arm waren die beiden Damen, daß sie sich nicht einmal einen Dienstboten halten konnten, und die Sorge für den kleinen Haushalt lag ganz auf der jungen Brite. Karl Henrik war bald ein gern gesehener Gast in der kleinen Familie, und die Tage, an denen er sie nicht aufsuchen konnte, schienen ihm selber bald ganz unerträglich leer. Die beiden Frauen bewohnten zwei kleine Zimmer, und die alte Dame, die klein und rundlich war, klagte beständig. Den lieben langen Tag saß sie in ihrer Ecke am Fenster mit den Geranien und dem Spion und träumte von dem, was das Leben ihr geraubt hatte und was unwiederbringlich dahin war. Seit mehreren Jahren hatte sie den Fuß nicht mehr auf die Straße gesetzt, und wenn man ihr zuredete, auszugehen, so fing sie an, über die Herzlosigkeit der Menschen zu weinen, die sie zu etwas zwingen wollten, was sie doch nicht konnte. Dann konnten ganze Tage vergehen, ohne daß sie ein Wort redete. Niemand wußte, ob die Augen hinter den blauen Brillengläsern offen oder geschlossen waren, und nicht einmal die Tochter wagte – aus Furcht gescholten zu werden – sie anzureden.

Daß ein Mensch so ganz für einen andern leben konnte, wie Brite für die Mutter, das war für den jungen Offizier eine ganz neue Erfahrung. Mit einem Gefühl der Ehrfurcht näherte er sich dem jungen Mädchen, das das Leben so frühzeitig gereift hatte. Und während die alte Dame in ihrem Stuhl schlummerte, hatten die jungen Leute oft genug Gelegenheit, miteinander zu plaudern. Sie plauderten im Flüsterton, um die Mutter nicht zu stören. Niemals tauschten sie Liebesworte. Denn beide sahen wohl ein, daß man die alte Frau nicht allein lassen konnte, und Karl Henrik wußte außerdem, daß er das Heim, das er einem Weibe hätte bieten können, verschleudert und verpraßt hatte. Aber wo er ging und stand, sah er das junge Mädchen vor sich, fühlte ihre Nähe. Wie mit Zaubergewalt zog es ihn immer wieder zu dem Platz neben dem kleinen aufgeschlagenen Nähtisch mit seinen beiden braunen Klappen, über dem die weichen Hände des jungen Mädchens sich mit Häkelnadel oder Nähzeug zu schaffen machten. Als der Sommer kam und er fort mußte, überfiel ihn eine grenzenlose Sehnsucht, und auch daheim auf Björknäs, in der Einsamkeit mit dem Bruder, war ihm nichts recht. Ein dunkles Empfinden von Unbehagen begleitete ihn überall, und wie im Traum hörte er, wie Nils Göran seine Pläne für die Zukunft vor ihm entwickelte und ihm auseinandersetzte, wie das Erbe zwischen ihnen geteilt werden sollte. Er selber, Nils Göran, übernahm das Gut, über den Ertrag würde er dem Bruder Rechenschaft ablegen und ihm ein Drittel desselben ausbezahlen. So hatte es der Vater in seinem Testament bestimmt, und Karl Henrik fand nichts dagegen einzuwenden.

Ein bißchen fremd fühlten sich beide Brüder voreinander diesen Sommer. Zum erstenmal hatten sie etwas zu verheimlichen. Zum erstenmal fühlten sie beide, daß ungleiche Lebenswege auch Brüder auseinander führen.

Karl Henrik litt hierunter weniger. Sein Wesen war heiterer und offener als das des Bruders. Trotzdem war es ihm eine Erleichterung, als er wieder nach Stockholm zurückkehren konnte und die kleine Familie wiedersah, von deren Vorhandensein er dem Bruder gegenüber kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Als er und Brite sich wiedersahen, war es beiden, als wären sie nie getrennt gewesen. Licht und ruhevoll ward dem jungen Mann an diesem Abend zumute; die Köpfe über dem kleinen Nähtisch, der heut abend geschlossen blieb, dicht zueinander geneigt, saßen er und Brite und redeten glückselige, törichte Worte, während die ausdruckslosen Augen der alten Frau auf sie schauten und die Dämmerung sank.

Bitter fraß die Reue an Karl Henriks Herzen, als er an diesem Abend einsam durch die dunkeln Straßen heimwärts wanderte. Ihm war, als sei das Weib, das er liebte, an eine Tote gekettet. Und er selber war zu arm, um sie auf seine Arme nehmen und ins Leben hinaustragen zu können.

Dann geschah es eines Tages, daß der junge Offizier, nachdem er an der Klingelschnur neben der niederen Korridortür geläutet hatte, sehr lange warten mußte, ehe ihm jemand öffnete. Und als er endlich ins Zimmer trat, war der Platz in der Ecke am Fenster leer und Brite hatte rotgeweinte Augen. Ganz still war die alte Frau am Abend vorher eingeschlafen, und als die Tochter kam, um sie zu wecken, war sie schon kalt. Die Nachbarsleute hatten Brite helfen müssen, die Tote auf ihr Lager zu betten. So wurden die zwei jungen Leute durch die Macht der Verhältnisse noch näher zueinander geführt. Und beide wußten es jetzt – nichts konnte sie mehr scheiden. Karl Henrik schien das Unmögliche auf einmal möglich und leicht, und in begeisterten Worten schrieb er dem Bruder, offenbarte ihm, was er den ganzen langen Sommer hindurch nicht über die Lippen gebracht hatte, entdeckte ihm seine hoffnungslose finanzielle Lage und beschwor ihn, ihm nur dies eine Mal zu helfen.

Karl Henrik schrieb diesen ganzen Brief warm und unmittelbar, wie es seiner eigenen Natur entsprach. Er schonte sich keineswegs. Ja, er ging sogar so weit, sich scherzhafte Andeutungen auf den verlorenen Sohn entschlüpfen zu lassen. Er ahnte ja nicht, daß Nils Göran in der Tiefe seiner Seele etwas verbarg, was einem beginnenden Groll glich.

Der Brief traf Nils Göran wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Gründe hierzu waren es mancherlei. So mancherlei und so verschiedener Art, daß er selber sie nicht zu unterscheiden vermochte. Mehrere Tage ließ er den schicksalsschwangeren Brief unbeantwortet unter der schweren Eisenkugel auf dem Schreibtisch liegen, und mit jedem Tag, der verging, wuchs sein Groll. Als er endlich fand, daß sich die Antwort nicht länger hinausschieben ließ, war er auch mit sich selber im reinen: Es war seine Pflicht, dem Bruder einmal die Wahrheit zu sagen.

Die Antwort lautete folgendermaßen:

Mein lieber Bruder Karl Henrik!

Wohl hab' ich Dir allerlei zugetraut. Denn Du gestattest mir wohl die Bemerkung, lieber Bruder, daß Du von Geld und allem, was damit zusammenhängt, wenig oder gar keinen Begriff hast. Was hab' ich denn, so helf mir Gott, den ganzen vergangenen Sommer anders getan, als versucht, Dir klar zu machen, wie es um Björknäs bestellt ist; und nun merke ich, daß ich die ganze Zeit über vor tauben Ohren geredet habe. Glaubst Du vielleicht, ein Gut, das so verschuldet ist, wie das unsere, könne nur so mir nichts dir nichts eine Familie ernähren, wenn wir nicht beide, Du und ich, eines schönen Tages mit leeren Händen dastehen wollen?

Nein, lieber Herr Bruder, es steht Dir ganz verdammt wenig an, mir eine solche Suppe einzubrocken, wie Du's mit Deinem Brief getan hast. Du bist eines schönen Tages auf und davongelaufen, weil Du und unser seliger Vater nicht miteinander auskommen konnten. Ich tadle dich darum nicht. Unser seliger Vater hatte seine Fehler so gut wie wir andern Sterblichen auch, vielleicht sogar etwas ausgeprägter, als sie die meisten belasten. In den Konflikten, die Du mit ihm gehabt hast, hab' ich mich redlich auf Deine Seite gestellt. Das kannst Du nicht anders sagen. Mehr als Du ahnst, hab' ich um Deinetwillen ausgestanden – böse Worte und noch anderes, von dem ich jetzt lieber nicht reden will.

Wie glaubst Du denn, daß es Dir und mir und dem ganzen Gut gegangen wäre, wenn ich mich nicht so verhalten hätte, wie ich's tat? Glaubst Du, ich habe nicht auch manchmal mein Blut in mir kochen fühlen vor Sehnsucht, ab und zu etwas andres zu sehen als Bauern und Tagelöhner? Glaubst Du, es sei so besonders erheiternd gewesen, allein hier zu hocken mit unserem seligen Vater, der wieder zum Kind geworden und, so helf mir Gott, nicht einmal mehr bei vollem Verstand war in seinen letzten Lebensjahren? Du kannst es mir glauben, Karl Henrik, mehr als ein Winter ist mir damals lang geworden, und der Sommer nicht weniger. Damals hab' ich das lernen müssen, wovon Du überhaupt nie eine Ahnung hattest, nämlich Geduld. Des Tages Last und Hitze hab' ich getragen, und was es heißen will, eigenes Geld zu haben, das man vergeuden kann, hab' ich nie gewußt. Du nennst Dich selber den verlorenen Sohn, und ich weiß wohl, daß es im Scherz ist. Gott verhüte auch, daß es anders denkbar wäre. Aber so viel muß ich selber zugeben, daß mir mehr als einmal die Worte der Schrift in den Ohren geklungen haben, die da sagen: »Siehe, ich habe Dir so viele Jahre gedient und habe nie Dein Gebot übertreten, und Du hast mir nie auch nur ein Zicklein gegeben, daß ich mich mit meinen Freunden freue!« Du weißt, wo die Worte stehen; und ich kann nicht leugnen, daß mir die Gerechtigkeit dieser Teilung nie hat hinunter wollen.

Damit will ich Dich selbstverständlich weder einen verlorenen Bruder noch einen verlorenen Sohn heißen, und mit Gottes Hilfe soll es dahin auch nie kommen. Aber eins muß ich Dir doch sagen, das bin ich Dir schuldig: Wenn Du heiratest, so mußt Du das auf eigene Verantwortung hin tun. Ich kann und will mit dieser Sache nichts zu tun haben. Nur so viel will ich noch hinzufügen: Nach den Grundsätzen, die ich von Kindheit an eingesogen und nach denen ich seither zu leben versucht habe, heiratet kein Mann, der Schulden hat. So haben es unsere Väter vor uns gehalten, und ohne das stünden weder Du noch ich da, wo wir heute stehen. Hast Du ein Mädchen genommen, das etwas wert ist – und daran zweifle ich nicht – so wartet sie auf Dich, bis Du ihr mit gutem Gewissen ein Heim und eine gesicherte Existenz bieten kannst. Dixi et animam meam salvalvi.

Es tut mir leid, daß ich mich genötigt sehe, Dir das alles so unverhohlen zu sagen. Aber anders konnte ich Dir nicht antworten, und wenn Du in diesem Augenblick in mein Herz blicken könntest, würdest Du sehen, daß meine brüderlichen Gefühle für Dich – trotz meiner scharfen Worte – nicht den mindesten Abbruch erlitten haben. Handle nun, wie Gott und Dein Gewissen es Dir gebieten, mein lieber Bruder Karl Henrik, und vergiß nicht

Deinen treuen Bruder Nils Göran Mörk.

Dieser Brief brachte Karl Henrik aufs höchste auf. Es kam ihm vor, als hätte der Bruder damit das Schönste in dem Gefühl, was sie beide seither vereint hatte, getötet. Gleichzeitig aber sagte er sich selbst, daß er versuchen müsse, diesen Brief zu vergessen. Er glaubte das am besten dadurch zu erreichen, daß er sogleich antwortete, dem Bruder den Schlag zurückgab, so wie er es in seinen Knabenjahren gemacht hatte, wenn Nils Göran ihn angriff. Darum schrieb er folgendes:

Mein lieber Bruder!

Ich danke Dir für die Moralpauke. Niemand weiß besser als ich, daß ich sie verdient habe. Und wenn Du sagst, daß Du mir nicht helfen kannst, so glaube ich Dir das selbstverständlich. Kleinlich sollst Du mich, so hoff' ich, nie nennen können!

Aber es liegt in Deinem Ton etwas, was ich nicht verstehe! Ich glaubte immer, wir, Du und ich, seien gute Freunde, wenn auch unsere Natur und Handlungsweise ein bißchen verschieden sein konnten. Selbst zwischen Brüdern kann man eine gewisse Feinfühligkeit verlangen. Und mein Vormund bist Du ja doch schließlich nicht.

Ich kann Dir nur das eine sagen: Wäre Dir ein Glück begegnet, so wie jetzt mir – ich hätte Dir keinen so merkwürdigen Gratulationsbrief geschrieben. Deine Freundlichkeit ist ein bißchen unzart. Das wirst Du selber zugeben müssen, wenn Du über die Sache nachdenkst.

Dein Bruder Karl Henrik.

Als dieser Brief abgeschickt war, nahm Karl Henrik das Schreiben des Bruders und verbrannte es in dem kleinen, grünen Kachelofen in seiner Junggesellenstube. Um keinen Preis hätte er Brite diesen Brief zeigen mögen, der ihr für alle Zeiten ein Gefühl des Unwillens gegen den Schwager hätte einflößen müssen.

Aber das ganze Vorkommnis weckte seine Energie; und darum wurde es ihm auch leicht, seinen eigenen Groll zu vergessen. Karl Henrik war durch die gewaltsame Spannung, in die des Bruders Brief ihn versetzt hatte, ganz verwandelt, ward ein ganz anderer als der weiche Träumer von bisher, der sich durch die Umstände bestimmen ließ. Er wurde wach, klug, erfinderisch und sah, über alle Schwierigkeiten weg, die, wie er sich lächelnd sagte, zu überwinden waren, das Ziel vor Augen.

Zum erstenmal sah er jetzt seinen täglich wachsenden Schulden fest ins Gesicht; und weil er keinen andern Ausweg sah, ging er den schweren Gang, den manch einer schon vor ihm gegangen war, hinauf zum alten Kanzleirat Mörk, der, steinreich und unzugänglich, in seinem alten, düstern Haus weit hinten in der Südstadt lebte und heimlich innerhalb und außerhalb der Verwandtschaft Geld gegen Zinsen auslieh.

Karl Henrik trat durch das verzierte Steinportal. Ihm war, als riefen die beiden einsamen Ulmen auf dem sandigen Hof in diesem Augenblick mit anklagenden Stimmen zu ihm von der Erde, die er verlassen, als er von Hause vertrieben und in die Uniform gezwängt ward, die ihm nie gepaßt hatte. Aber Karl Henrik Mörk verhärtete sein Herz gegen alle Stimmen außer der einen, die ihn jetzt zum Handeln zwang. Ehrerbietig brachte er dem gestrengen Oheim seine Bitte vor, reuevoll beugte er sich dessen scharfer Moralpredigt. Und gehorsam unterschrieb er die harten Bedingungen, mit denen dieser seltsame Tugendapostel seine Philippika begleitete. Denn all das ward mehr als reichlich aufgewogen durch die runde Summe, die er in seiner Brieftasche hatte, als er über den Hof zurückging, auf dem die beiden Ulmen jetzt mit den nackten Zweigen knarrten, als wollten sie seine Schritte beschleunigen. Noch ehe ein Monat um war, feierte Karl Henrik Mörk in aller Stille seine Hochzeit mit Brite, und unmittelbar darauf zogen die beiden Jungverheirateten in eine kleine, sonnige Wohnung in der Triewaldstraße. Und erst nachdem die Hochzeit vorüber war, benachrichtigte Karl Henrik den Bruder von dem Ereignis.

Während der ersten Jahre, die nun folgten, schlug Karl Henrik sich die Gedanken an den Bruder und an alles, was ihn hätte stören können, möglichst aus dem Sinn. Das Glück und die Frohlaune, die es begleiteten, halfen ihm dabei. Auch beschränkten sich die Briefe, die die Brüder während dieser Zeit wechselten, auf das Allernotwendigste.

Nils Göran seinerseits fiel es weniger leicht, die Gedanken zu verjagen. Einesteils war seine Natur schwerer und mehr zu verbissener Grübelei geneigt als die des Bruders. Und andrerseits hatte er im Einerlei des Landlebens wenig, was ihn zerstreute. Möglich auch, daß er selbst fand, er habe in der ersten Hitze ein bißchen zu derb zugeschlagen. Jedenfalls wollte er von einem ernsthaften Bruderzwist nichts wissen. Aller Skandal war ihm ein Greuel, und vor der Welt wenigstens wollte er, daß er und der Bruder zusammenhielten.

Darum befahl er eines Tages, als die Erntezeit vorüber war, den Reisewagen instand zu setzen und unternahm, ohne den Bruder auf seine Ankunft vorzubereiten, eines Morgens im Anfang September die Reise nach der Hauptstadt. Karl Henrik und Brite waren damals etwas über ein Jahr verheiratet.

Und eines Septembernachmittags erfragte sich der Hüttenherr durch die ihm unbekannte Stadt den Weg zur Wohnung seines Bruders, des Hauptmanns. Die Überraschung bei Nils Görans Erscheinen war natürlich groß, und daß die Unterhaltung anfangs nur stockend floß, war nicht zu verwundern. Zu vieles war da, über das man beiderseits erst wegkommen mußte. Trotzdem war das Wiedersehen zwischen den Brüdern sehr herzlich, und Brite tat, was sie nur konnte, um sich dem gestrengen Schwager freundlich zu erweisen. Dennoch war es nicht schwer zu sehen, wie bedrückt sie sich durch den unerwarteten Besuch fühlte; und mehr als einmal mußte sie die Tränen zurückdrängen, die hervorzubrechen drohten.

Schließlich machte Karl Henrik einen Versuch, die gedrückte Stimmung zu heben, indem er lächelnd sagte:

»Es sieht fast aus, als habest du meinen letzten Brief gar nicht erhalten?«

»Welchen Brief?« fragte Nils Göran.

Karl Henrik lächelte und flüsterte seiner Frau ein paar Worte zu, worauf sie sich erhob und das Zimmer verließ. Eine kleine Weile darauf kam sie mit einem Kind auf den Armen zurück.

»Es ist ein Junge,« sagte Karl Henrik. »Er heißt Erling Henrik. Ich wollte, er sollte nach mir und dem Vater meiner Frau heißen. Der Rufname ist Erling.«

Auf diese Überraschung war Nils Göran nicht vorbereitet. Eine dunkle Röte stieg ihm in die Wangen. Sein Besuch hatte auf einmal einen ganz neuen Charakter angenommen. Karl Henrik hatte sich neben seine Frau gestellt und blickte über ihre Achsel weg auf das Kind. Weder Brite noch er verstanden, was in diesem Augenblick in Nils Göran vorging.

Dieser saß eine Weile stumm und betrachtete das Kind, das mit offenen, verständnislosen Augen ins Licht des Tages starrte. Darauf wandte er sich zu der Frau des Bruders, die schweigend, das Kind auf den Armen, vor ihm stand. Sie war dunkel, braunäugig, anders als alle Frauen, die Nils Göran je gesehen hatte. Ihre Hände hatten eine eigene blasse Weichheit, und auf der Haut zeichneten sich die feinen blauen Adern ab, als rinne das Blut in ihrem Körper anders als das der gewöhnlichen Sterblichen. Ihr Blick war tief und unergründlich, und ihr Hals hob sich weiß aus dem breiten, tiefausgeschnittenen Spitzenkragen. Nils Göran fühlte, wie in diesem Augenblick etwas in ihm schmolz. Mit ein wenig dicker Stimme sagte er:

»Es ist auf alle Fälle gut, daß ich gekommen bin.«

Brite hatte vor dem Schwager gestanden wie vor einem Richter, der über ihr Wohl und Wehe zu entscheiden hatte. Noch nie war sie sich so klein und unbedeutend vorgekommen. Bei diesen Worten ward es ihr plötzlich zumut, als habe der Schwager ihr wenigstens verziehen, daß sie in seine Familie gekommen war. Und das machte sie so glücklich, daß große Tränen ihr über die Wangen liefen. Außerstande, ein Wort der Entgegnung hervorzubringen, ging sie mit dem Kinde auf den Armen wieder aus dem Zimmer.

Nils Göran verstand die Ursache dieser Aufregung der Schwägerin wohl. Aber daß eine Frau seiner eigenen Klasse sich von ihren Gefühlen überrumpeln ließ, mißbilligte er. Darum sah er einen Augenblick unzufrieden vor sich hin und runzelte die Stirn. Damit aber seine Mißstimmung nicht offenbar würde, blickte er gleich wieder auf und sagte:

»Mir scheint, die kleine Frau ist leicht gerührt.«

Karl Henrik nickte, und sein Gesicht trug dabei einen solchen Ausdruck des Glücks, daß der Bruder nicht das Herz hatte, ihm seine Freude zu stören.

»Gleich und gleich gesellt sich gern,« fügte er darum bloß hinzu. »An der Ware hat's dir auch nie gefehlt, mein lieber Bruder!«

Karl Henrik lächelte nur als Antwort, und da seine Frau noch immer ausblieb, verließ auch er mit ein paar Worten der Entschuldigung das Zimmer. Er fand Brite in der Schlafstube. Sie saß auf einem Schemel, das Kind lag an ihrer Brust und sog mit gierigen Lippen die Milch ein, während seine kleine Hand tastend umherfuhr und die Mutter in das weiche Fleisch zwickte.

»Brite,« sagte Karl Henrik leise, damit der Bruder draußen ihn nicht hören sollte, »das war nicht gut, daß du gerade jetzt gegangen bist. Komm so schnell als möglich wieder herein.«

Brite blickte zu ihrem Mann auf. Über ihren Zügen lag es noch wie ein Schimmer der Freude, die ihr vorhin die Tränen in die Augen getrieben hatte.

»Ich bin so froh, daß dein Bruder freundlich zu mir war,« sagte sie. »Kann ich nicht hierbleiben?«

»Um Gottes willen, nein!« rief Karl Henrik. »Wo denkst du hin?«

Brite fuhr fort:

»Ich hab' mich immer davor gefürchtet, das ganze Jahr hab' ich daran gedacht. Ach, du weißt nicht, du...«

Karl Henrik sah sie an. Wie ein erschrecktes Vögelchen sah sie aus, anders als alle andern Menschen, die er kannte. Man mußte sie behutsam anfassen, langsam, vorsichtig. Das wußte niemand besser als er. Es konnte auch niemand wissen. Karl Henrik wußte wohl, daß, so wie Nils Göran nun einmal war, Brite und er selber in diesem Augenblick Gefahr liefen, alles, was sie soeben kaum gewonnen hatten, wieder zu verlieren. Trotzdem kehrte er allein zum Bruder zurück und schlug ihm vor, sie wollten ihre erste Mahlzeit außer dem Hause und allein einnehmen.

Das war gegen allen Schick und Brauch. Und was noch schlimmer war – Brite erschien nicht einmal zum Abschiednehmen. Sie konnte nicht. Sie wäre in Tränen ausgebrochen und hätte ja doch die Ursache nicht erklären können. Schweigend gingen die Brüder miteinander den schönen Weg entlang, über die Schiffbrücke, wo ein paar plumpe Dampfer rauchten, Seite an Seite mit den vielen Segelbooten, deren Segel an dem windstillen Septemberabend schlaff herabhingen. Karl Henrik war zumut, als wandre er im Traum. Zu vollem Bewußtsein erwachte er erst, als er mit dem Bruder auf der niederen Veranda im Strömparterre saß. Rundum glänzten die farbigen Lampen, hinten in der Grotte sang eine dunkeläugige Italienerin zur Mandoline. Zwei kleine Gläser mit dampfendem Toddy standen vor den Brüdern.

Nils Göran fing langsam an, von dem Stand des väterlichen Gutes und dem Steigen der Eisenpreise zu sprechen. Zerstreut hörte Karl Henrik zu. Beiden war es, als ob das Band, das sie an eine gemeinsame Jugend und eine gemeinsame Heimat gebunden hatte, zerrissen sei und sie sich anstrengen müßten, die Enden zu finden und notdürftig wieder zusammenzuknüpfen. Karl Henrik dachte an alles, was er erlebt hatte, und er schämte sich fast, weil er schließlich doch immer wieder nur von sich und seinem Glück sprach. Er tat es auch scheu und zögernd, als möchte er den Bruder erweichen, ihm zu verstehen geben, daß das Glück, das er errungen, wohl eines Opfers wert war, möchte die Mißstimmung, die hinter jedem ihrer Worte lauerte, verscheuchen.

Nils Göran hörte ihn mit einem eigentümlichen Lächeln an. Ehe sie auseinandergingen, hob er sein Glas gegen den Bruder und trank ihm zu.

»Du mußt nicht verlangen, daß ich alles mit denselben Augen ansehe, wie du,« sagte er.

Karl Henrik fühlte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Und als er eine halbe Stunde später des Bruders Hand zum Abschied drückte, war sein Gesicht traurig. Im Schein des Septemberhalbmonds, der klar am tiefblauen Himmel stand, gingen die Brüder durch die nächtigen Straßen nach Hause, Nils Göran seinem Hotel in der Drottningstraße, Karl Henrik der kleinen Wohnung, in der er sein Nest gebaut hatte, zu.

Als er ins Schlafzimmer trat, fand er seine Frau wach. Ihre Augen waren größer und glänzender als je; Karl Henrik tat es fast weh, sie so zu sehen. Zum erstenmal fühlte er, daß kein Mensch jemals seine Frau mit seinen Augen sehen konnte. Grade das, was ihn selbst erwärmte, würde stets der andern Kritik wecken.

»Könnt' ich sie nur mit mir nehmen,« dachte er,« »weit fort, wo die Kälte der andern uns nicht erreicht.«

Langsam, als hätte sie jedes Wort genau überdacht, sagte Brite plötzlich:

»Dein Bruder mochte mich doch ein klein bißchen leiden, sag'? Hat er nichts darüber gesagt?«

Ratlos stand Karl Henrik vor dem Bett seiner Frau. Ihm war, als habe der Bruder sein Glück, das so fein und empfindlich war, zwischen seinen groben Händen zermalmt. Er lag noch lange wach, und sein letztes Gefühl, ehe er einschlief, war ein Gefühl erbitterten Grolles gegen diesen Bruder, der ihm das Glück seiner Häuslichkeit gestört hatte.

Auch Nils Göran ging lange auf dem Läufer seines engen Hotelzimmers auf und ab, während auf dem Nachttisch die Kerze brannte. Er summierte die Eindrücke des Tages und kam zu dem Schluß, daß die Schwägerin nicht die Frau war, die er dem Bruder gewünscht hätte. »Die liebe Brite-Luise ist eine launische und gefährliche Frau,« dachte Nils Göran, »und mein armer Bruder steht völlig unter dem Pantoffel. Man denke bloß: Eine junge Frau, die sich unsichtbar macht, wenn der Bruder des Mannes zum erstenmal zu Besuch kommt? Möcht' wohl wissen, wie die Krankheit heißt? Kaprice heißt sie in meiner Sprache. So viel wenigstens weiß ich!«

Das waren die Gedanken, mit denen Nils Göran sich entkleidete. Und mit ihnen schlief er auch ein. Als er aufwachte, war dann sein erster Gedanke, daß er streng auf der Hut sein müsse, damit wenigstens äußerlich das gute Verhältnis zwischen ihm und dem Bruder nicht irgendwie ernsthaft gestört würde.

Die Brüder trafen sich denn auch während der Tage, die Nils Göran in Stockholm verbrachte, nicht öfter als nötig war. Ihr gegenseitiger Verkehr blieb ein oberflächlicher, nahm aber doch, je näher der Tag der Trennung rückte, wieder etwas von der alten Herzlichkeit an. Nils Göran ging in diesen Tagen wiederholt auf die Eisenbörse und stattete verschiedenen Geschäftsfirmen Besuche ab. Und so wenig sich auch Karl Henrik für solche Einzelheiten interessierte, entging es ihm doch nicht, daß des Bruders Wesen mit jedem Tag freier und seine Stimmung heiterer wurde.

Den letzten Abend verbrachten die Brüder wieder miteinander außer dem Hause. Als sie zu Abend gespeist hatten und die Punschbowle auf dem Tisch stand, wandte sich Nils Göran zum Bruder und sagte in milderem Tone, als er diese ganze Zeit über gesprochen hatte:

»Ich habe dir seinerzeit einen etwas scharfen Brief geschrieben, mein lieber Bruder Karl Henrik. Du darfst darum keine unfreundlichen Gedanken gegen mich hegen.«

Karl Henrik strahlte. Er war in diesem Augenblick buchstäblich zu glücklich, als daß er hätte antworten können. Wortlos stieß er sein Glas gegen das des Bruders und leerte es bis auf den Grund.

Nils Göran lächelte.

»Es ist an der Zeit, daß ich es dir sage,« fuhr er fort, »ich bin nämlich eigentlich in der gleichen Klemme wie du. Ich beabsichtige mich zu verheiraten.«

Nils Göran wollte noch hinzufügen, daß er keine großen Schulden mehr habe, und daß er gewissenhaft mit sich zu Rate gegangen sei, ehe er diesen Schritt getan habe. Aber er fürchtete, dadurch wieder niederzureißen, was er einen Augenblick zuvor aufgebaut hatte. So schwieg er wohlweislich und sagte statt dessen:

»Meine Reise hierher war nicht vergebens gewesen. Ich habe auf längere Zeit hinaus vorteilhafte Kontrakte für den Ertrag des Hammers abgeschlossen. Wir können der Zukunft wieder mit Mut und Zuversicht entgegensehen. Und wenn meine Braut nichts dagegen einzuwenden hat, so können wir, denk' ich, gleich nach Weihnachten Hochzeit halten.«

Karl Henrik fiel des Bruders Brief ein. Er ahnte, daß ein Zusammenhang war zwischen dessen aufgebrachtem Ton und dem Geständnis, das ihm der Bruder jetzt machte. Aber er schob diesen Gedanken so gut er konnte, von sich, und indem er den Bruder beglückwünschte, fragte er:

»Wer ist es?«

»Mina Charlotte Brandt, Tochter von Ulrik Ferdinand Brandt auf Skogaholm,« antwortete mit einer gewissen Feierlichkeit Nils Göran.

»So,« erwiderte der Bruder einsilbig.

Die Antwort mißfiel ihm. Die Brandts auf Skogaholm waren nicht sein Geschmack und Fräulein Mina Charlottas erinnerte er sich als einer scharmanten Weltdame, die ihn durch eine gewisse säuerliche Schärfe stets abgestoßen hatte.

»Ich kann dir auch gern das noch sagen,« fuhr Nils mit einer gewissen Anstrengung fort, »wenn nicht alles in diesen Tagen hier so gut gegangen wäre, so wäre ich genötigt gewesen, meine Heirat mehrere Jahre hinauszuschieben, ja vielleicht die Verlobung ganz aufzuheben, um nicht zu riskieren, daß eine Frau meinetwegen um ihre Zukunft kommt.«

Nils Görans Gesicht war streng, als er diese Worte aussprach; seine Stimme klang dunkler als zuvor. Karl Henrik empfand die Worte wie ein Urteil, das über ihn selbst gefällt wurde, und er war froh, daß er nicht gleich zu antworten brauchte. Denn Nils fuhr fort:

»Jetzt fahre ich froher heim, als ich seit langer Zeit gewesen bin.«

Und gleich darauf fügte er ganz direkt hinzu:

»Eben, weil ich so dachte, ist es mir anfänglich so schwer geworden, mich mit deiner Handlungsweise auszusöhnen.«

Karl Henrik sah auf.

»Warst du schon damals verlobt, als mein erster Brief kam?« entfuhr es ihm.

»Ja,« antwortete Nils Göran, sein Kinn streichelnd. »Wir hatten schon damals uns miteinander ausgesprochen.«

Und seine schmalen, glattrasierten Lippen schlossen sich fest zusammen.

»Jetzt versteh' ich alles!« sagte Karl Henrik ruhig.

Seine Stimme klang ein wenig unsicher, und er strich sich über den blonden Schnurrbart, wie um sein Mienenspiel zu verbergen. Auf der Nordbrücke gingen die beiden Brüder noch eine Weile auf und ab, ehe sie Abschied nahmen. Der Vollmond stand rund über dem Wasser, und die dunkle Fassade des Schlosses glänzte wie von feuchtem Gold. Den Löwenhügel hinan fuhr ein geschlossener Galawagen, vor dem der Vorreiter mit der brennenden Fackel einhersprengte.

Die Brüder blieben stehen, bis der letzte Strahl des Fackelscheins in der Dämmerung des Schloßportals erloschen war. Dann schüttelten sie einander zum Abschied die Hand, und Karl Henrik sagte:

»Ist jetzt alles recht und gut zwischen uns?«

»Ich hoffe es,« antwortete Nils Göran.

Gedankenvoll wanderte Karl Henrik Mörk heim durch die mondhelle Nacht. Im Innersten war er verstimmt, und er wünschte sich die Tage, die nun verflossen waren, nicht noch einmal zurück.


Im Frühjahr darauf wurde das junge Paar durch die Nachricht vom Testament der alten Exzellenz überrascht. So unerwartet kam dieses Ereignis, daß Karl Henrik es anfänglich kaum glauben wollte.

»Das ist irgendein schlechter Scherz,« waren seine ersten Worte. »Solch ein Glück kann nicht Wahrheit sein.«

Nie bis auf diesen Tag hatte Karl Henrik Mörk es so empfunden, wie tief das Bewußtsein seiner Armut ihn gequält hatte. Seit er seinen Willen durchgesetzt hatte und Ehemann war, war insgeheim mehr und mehr der Gedanke in ihm laut geworden, daß ein Mann doch selten ungestraft handelt, wie er es getan hatte, und daß der Tag kommen könnte, an dem er nicht allen gerecht zu werden vermochte. Als ihm darum klar wurde, daß das Unglaubliche Wahrheit war, traf ihn die Neuigkeit so heftig, daß er im ersten Augenblick auf dem Stuhl, auf dem er saß, zusammensank, und daß ihm, ehe er es hindern konnte, die Tränen über die Wangen strömten.

Brite stand bestürzt vor diesem Ausbruch des Schmerzes. Sie war so erschrocken, daß sie sich erst ihrem Mann gar nicht zu nähern wagte.

»Verstehst du nicht, daß es Wahrheit ist?« wagte sie endlich zu fragen.

Und als Karl Henrik nicht antwortete, sondern in derselben Stellung, über den Tisch gebeugt, sitzenblieb, während sein ganzer Körper wie im Krampf zuckte, da ging es Brite auf, daß es in ihrem Leben doch etwas gegeben haben mußte, das sie nicht verstanden hatte. Bezwungen von diesem gewaltsamen, männlichen Schmerz, der so anders war als alles, was sie je erlebt hatte, preßte sie die Hände gegen die Brust, als wolle sie die Schläge ihres eigenen Herzens zum Schweigen bringen und sagte leise:

»So viel hast du um mich gelitten?«

Karl Henrik sah zu seiner Frau auf. Sein Gesicht war verzerrt.

»Ich habe lernen müssen, daß ich schwächer bin, als ich glaubte,« rief er aus.

Es war ein Geständnis, das ihm entschlüpfte. Und er fuhr fort: »Du ahnst nicht, was das für einen Mann ist: Von Schulden leben! Wissen, daß es Menschen gibt, von deren Gnade man lebt. Wissen, daß man nicht frei ist. Wissen, daß, wenn ich eines Tages stürbe, ihr, du und mein Sohn, auf die Verwandtschaft angewiesen wäret! Das ist es, siehst du, was ich so empfunden habe: Daß, wenn ich gestorben wäre, Nils Göran die Folgen meiner Handlungen hätte auf sich nehmen müssen. Und er hätte es auch getan. Begreifst du, daß ich das nicht wollte?«

Er stand auf und wurde mit einemmal ruhiger.

»Ich kann es noch nicht fassen, daß das alles wahr sein soll,« sagte er noch einmal.

Ein seltsam schmerzliches Lächeln glitt über seine Züge. Brite ging zu ihm ihn. Sie hätte ihn umarmen mögen, aber es war, als könne sie es jetzt nicht. Daß ihr Mann so lange etwas vor ihr hatte verheimlichen können, erfüllte sie mit einer Mischung von Bitterkeit und Schmerz, die die Freude, der sie sich so gern ganz hingegeben hätte, verdunkelte.

Von diesem Tage an liebte Brite ihren Mann mit einer ganz neuen Liebe; und auch Karl Henrik hatte die Empfindung, als sei er seiner Frau näher gekommen. Es war ihnen beiden, als hätten sie eine gemeinsame Bürde getragen, jedes für sich, ohne zu wagen, einander auch nur mit einer Klage zu stören. Jetzt war die Bürde wie durch einen Zauberschlag von ihren Schultern genommen, und bald würde mit ihr auch die Erinnerung an sie verschwinden.

Denn das Unglaubliche war wirklich wahr. Kolsäter mit Grundbesitz und Hammer, mit seinem See und seinen großen Waldungen, dazu das ganze Barvermögen der alten Exzellenz gehörte ihnen. Im ersten Freudenrausch schrieb Karl Henrik an den Bruder und bat ihn, alle Verpflichtungen gegen ihn selbst als aufgehoben zu betrachten, schenkte mit einem Wort seinen Anteil an Björknäs dem Bruder und dessen Familie zu Erb und Eigen. Darauf ging er zum alten Kanzleirat Mörk in der Südstadt und setzte diesen in nicht geringe Verwunderung, indem er ohne weiteres seine rückständige Schuld mit Zins und Zinseszins bezahlte. Und zuletzt reichte er ein Gesuch an Kgl. Majestät um gnädige Entlassung vom Dienst ein, tat, was in seiner Macht stand, die Sache zu beschleunigen, erhielt auch seinen Abschied mit dem Rang eines Majors und entwickelte überhaupt jetzt die gleiche rastlose Tätigkeit, um von der Hauptstadt loszukommen, wie damals, als es, nachdem er Brite glücklich zum Altar geführt hatte, galt, sich ein Nest zu bauen.

Am Morgen des Mitsommertages war es; da passierten Karl Henrik Mörk und seine Frau den Schlagbaum von Södertelje, um nach Kolsäter zu reisen. Stumm saßen sie die erste halbe Stunde nebeneinander. Sie fühlten beide, wie ihr altes Leben hinter ihnen versank. Als der Wagen in den ersten Kiefernwald einbog, zog Karl Henrik seine Frau an sich, küßte sie und lächelte.

Und als Erklärung für alles, was er in diesem Augenblick empfand, sagte er nur:

»Es ist gut zu wissen, daß man zur Erde zurückkehrt.«

Zu beiden Seiten des Weges stand hoch der Tannenwald; als der Wagen um eine Wegbiegung rollte, war rings um sie her nichts mehr zu sehen als eine Perspektive von schlanken, graden Stämmen und hängenden Zweigen.


Auf Kolsiter lebte seit undenklichen Zeiten ein kleiner grauer Mann. Er hatte eine rote Mütze und einen langen Bart, zottig wie die Flechte, die am Stamm der Birke wächst. Er lockte alles Gute auf den Hof, und in seiner Spur wuchs das Glück. Viele Jahre, so lange die alte Exzellenz lebte, hatte niemand ihn gesehen. Aber als Majors aufzogen, da wußten die alten Leute auf dem Hof zu erzählen, daß der kleine Mann sich aufs neue gezeigt hatte. Heinzelmännchen hieß er, oder Wichtel und mehr als einen gab es jetzt, der ihn auf leichten Füßen, die kaum das Gras bogen, den Hügel hinab hatte trippeln sehen. Dort saß er in den lichten Sommernächten, am liebsten wenn der Nebel stieg, auf dem großen, moosigen Stein und spiegelte sich im klaren See.

Es war Brites Kummer, daß sie ihn nie selbst zu Gesichte bekam. Aber sie freute sich wie ein Kind über das, was sie hörte, und erzählte es flüsternd dem kleinen Erling, wenn sie beide allein den schmalen Weg durch das Schilf wanderten und die Buchfinken in den Birken über ihren Häuptern zwitschern hörten.

Karl Henrik lächelte darüber. Ihn drückte ein anderer Kummer. Und wenn er sich am kraftvollsten fühlte, konnte es geschehen, daß dieser Kummer sein Haupt hob und ihm zuflüsterte, sein Glück sei auf Sand gebaut.

Nils Göran hatte nämlich des Bruders Geschenk nicht angenommen. In einem kurzen herben Brief wies er es zurück. Karl Henrik versuchte oft, diesen Brief, dessen viele Jahre lang zwischen den Brüdern keine Erwähnung geschah, aus seiner Erinnerung zu tilgen. Ganz aber gelang ihm das nie.


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