Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Zweites Kapitel

Frau Olivia Krabbe geb. Mörk, Witwe des verewigten Feldmessers Jöns Jakob Krabbe, gemeiniglich Onkel Jakob genannt, lebte auf einem kleinen, wenig einträglichen Landgut, das Torp hieß. Nach alter schwedischer Herrenhof-Geschwindigkeit fuhr man mit zwei Pferden von Kolsäter in einer Stunde dorthin.

Frau Krabbe hieß in der ganzen Umgegend, wenigstens unter den herrschaftlichen Familien, nur Tante Olivia. Obgleich sie zu den armen Mitgliedern der Familie Mörk gehörte, war ihr Einfluß sehr groß. Sie war eine muntere alte Dame, die keinerlei Gaben Gottes, feuchte oder trockene, verschmähte und ein Temperament ohnegleichen besaß. Auf diesem Temperament beruhte ihre Macht über die Menschen. Und mit ihm hatte sie die Welt überwunden, von der Stunde an, als sie einen armen Adligen heiratete, der, nachdem die Familie es müde geworden war, seine berüchtigten Bankette und wechselnden Spielschulden zu bezahlen, auf die schiefe Ebene geraten und Feldmesser geworden war. Jakob Krabbes Persönlichkeit und seine Stimme hatten einst das große blonde Mädchen, dem Lachen und Weinen gleich nahe standen und das zu Tanz und Arbeit gleich hurtig die Glieder regte, gepackt. Wenn Jakob Krabbe sich ein Gläschen oder auch zwei, am liebsten ein bißchen mehr als gut war – zu Gemüte geführt hatte und sich dann ans Klavier setzte und sang, da waren alle Teufel, die eine Menschenseele plagen können, losgelassen, da duftete das Zimmer von Sommer und Sonne, da spielte die Linde, da trillerte die Nachtigall, und das Lachen ward zum lärmenden Taumel, der Geist und Sinne umnebelte. Sänger war er – mit Leib und Seele. Und gar viele waren es der Herzen, in die er sich hineingesungen hatte. Eine lustigere Hochzeit, als die Tante Olivias mit ihrem Jakob hatte noch niemand erlebt.

Aber als der Liebestaumel vorüber war, da begriff Tante Olivia bald genug, daß man mit Sang und Klang keine hungrigen Mäuler satt macht. Darum ward sie ein Arbeitsmensch wie wenige; und das bißchen, was der Mann verdiente und das Gut eintrug, reichte auch. Vier Söhne hatte sie ausgerüstet und in die Welt hinausgesandt. Töchter hatte sie nie gehabt. »Und das war gut,« sagte die alte Dame. »Denn was gibt es wohl Ärgeres, als arme Mädchen?« Aber ihre Frohlaune hatte sie sich zu erhalten gewußt; die erlag nicht einmal der Eintönigkeit der langen Winter, als Tante Olivia, nachdem der Mann gestorben war und die Söhne längst das Nest verlassen hatten, einsam auf Torp saß. Weinen und lachen konnte sie noch wie einst. Wenn sie gerührt war, kugelten ihr die Tränen über die dicken Backen bis auf die weißgestärkten Haubenbänder. Und wenn sie lachte, so schaukelte ihre ganze enorme Leibesfülle wie ein Meer im Sturm, und das Lachen endete meist damit, daß wieder die Tränen zu fließen begannen.

Von der alten, prächtigen Frau wurde ein Histörchen berichtet, das ursprünglich bloß unter den weiblichen Mitgliedern der Familie flüsternd von Mund zu Mund ging, dann von einer der älteren verheirateten Frauen in einer vertraulichen Stunde dem Ehegemahl erzählt worden war und so seinen Weg schließlich in die Kreise der Herren gefunden hatte.

Die Geschichte war die: Tante Olivia kam eines Tages zu ihrer besten Freundin, der alten Oberstin auf Bytofta, die eine ebenso muntere Dame war, wie sie selber, und ebenso dafür bekannt, daß sie kein Blatt vor den Mund nahm. Der Besuch fiel zwischen Neujahr und Erscheinungsfest, wie das ihre Gewohnheit war, und der alte Jakob Krabbe war im Spätherbst zuvor gestorben. Der Schlag hatte ihn getroffen, wie es nicht anders zu erwarten war, denn er war auf seine alten Tage hin schwerfällig und dick geworden. Tante Olivia kam im Witwenschleier und tiefer Trauer; sie hatte noch nicht einmal die weißen Tüllkrausen um Hals und Ärmel abgelegt. Der erste Vormittag war auch natürlich sehr ernst. Die beiden Damen redeten lange von dem Toten, von den Kümmernissen des irdischen Lebens und der Vergänglichkeit aller Dinge.

Plötzlich aber begann sich Tante Olivias Mund zu etwas zu verziehen, das fast einem Lächeln glich; ein Schimmer von Heiterkeit erhellte ihr verweintes Gesicht. Und sich vertraulich über das Kaffeebrett beugend, flüsterte sie wie folgt:

»Aber das vergesse ich nie, wie mein seliger Jakob gestorben ist. Es war an seinem letzten Tag. Da setzte er sich im Bett auf und rief mich zu sich. Und wie ich hin kam, nahm er mich und drückte mich, daß ich wie in einem Schraubstock war. Ich wußte gar nicht, was ich von meinem Alten denken sollte! ›Herrgott, Jakob,‹ sagt' ich, ›was kommt dich an? Wir sind doch ein paar alte Leute!‹ Und da ließ er mich los und fiel pardautz in die Kissen zurück. Und kannst du dir denken – wie ich näher hinsehe, ist er tot!«

Die Witwentränen mischten sich bei dieser Geschichte fast mit ein bißchen Lachen – einem gedämpften Lachen der Erinnerung an die Freuden der Jugend und Liebe. Fröhlich, wie er gelebt hatte, war der alte Jakob gestorben. Aber wie die Geschichte eigentlich bekannt geworden war – das war der ganzen Familie ein Rätsel. Die Oberstin auf Bytofta hatte feierlich gelobt, keiner Menschenseele zu erzählen, was Tante Olivia ihr von ihres Jakob letzten Stunden anvertraut hatte. Und die alte Dame beteuerte auch bei jeder Gelegenheit, daß die Geschichte nicht über ihre Lippen gekommen sei.

Trotzdem – bekannt war sie – und nicht zu Tante Olivias Nachteil. Die las ihre Bibel und ihr Gesangbuch und ihre Kajsa Warg,Altes schwedisches Kochbuch (Anmerkung der Übersetzerin) und fuhr Sonntags in die Kirche, um den schönen Gesang und die Orgel zu hören und an ihren alten Jakob zu denken, der jetzt sein Lied mit den Engeln im Himmelreich sang.

Wenn sie heim kam, übte sie unbarmherzig Kritik an dem Propst von Bongå, der ein akademischer Gelehrter war und nach einem für seine ganze Gemeinde total unverständlichen Schema predigte. So lebte Tante Olivia ihr Leben, nahm nie ein Blatt vor den Mund, scheute nie einen Menschen; das Geheimnis ihrer Macht über die Menschen und ihrer Stellung in der Gesellschaft trotz aller Armut lag teils in ihrer Sparsamkeit, teils in ihrem hellen Kopf und ihrer unglaublich freimütigen Zunge. Nie gab sie einen Öre zu viel aus, nie kaufte sie etwas, das nicht streng notwendig war. Selbst jetzt, als sie allein auf ihrem Gut saß und sich schon eher ein bißchen was hätte gönnen dürfen, trank sie jeden Morgen ihren Eichelkaffee und aß Roggengrütze zu Abend. Aber vor allem gewann sie Einfluß, weil sie so scharfe Augen hatte und nie mit ihrer Meinung hinter dem Berg hielt. Was andre in den Ecken herum flüsterten, das sagte sie laut; und sie scheute sich auch gar nicht, den Betreffenden ihre Meinung mitten ins Gesicht zu sagen. Das tat Tante Olivia keineswegs, um etwa die Welt oder die Menschen um sich her zu bessern. Dazu war sie viel zu klug. Sie tat das ganz einfach zu ihrem eigenen Vergnügen und weil es ihr Spaß machte. Ob die Welt um sie her gut oder schlecht war, das kümmerte sie wenig. Aber es war ihr eine Herzenslust, einen armen Sünder durchzuhecheln und zu sehen, wie er sich unter ihren heiteren, scharfen Wahrheiten wand. Nie perlten ihr die Worte leichter über die Lippen, als bei solchen Gelegenheiten, nie war ihr Lachen ansteckender und im Innersten gutherziger. So war Tante Olivia. Daneben war sie ein Tausendsassa in allem, was Haushaltungsangelegenheiten heißt. Niemand braute Bier oder Punsch wie sie – niemand goß solche Talglichter oder leitete einen Haushalt zur Schlachtezeit wie sie. In allen Fragen des Backens und Einmachens war sie geradezu ein Orakel, und ihre Zwetschgen- und Ebereschenliköre waren berühmt. Eine große und sehr begehrte Gunst war es, wenn sie vor den großen Festzeiten irgendwo in der Familie einen Besuch abstattete und die Vorbereitungen leitete. Es gab keine zweite Hausfrau wie sie; aber man hätte auch keinem Menschen raten dürfen, seine Nase in Backtrog oder Braukessel zu stecken. Tante Olivia zeigte jedem bald, wo Bartel den Most holte!

Auch noch in vielen andern Dingen war sie ein Orakel. Sie konnte schröpfen und zur Ader lassen, Blutegel setzen, Wunden verbinden und Knochenbrüche schindeln. »Wenn mir's nicht drum wäre, daß ich der Gemeindehebamme nicht ins Handwerk pfuschen mag, so wollt' ich's auch noch mit den Kindbettern aufnehmen,« pflegte sie zu sagen. »Meine jedenfalls sind immer gegangen wie ein Tanz!« Außerdem konnte sie aus Kaffeesatz wahrsagen und Karten schlagen. Aber diese Kunst betrieb sie nur ungern und in aller Heimlichkeit. »Denn,« wie sie selber sich ausdrückte, »Tante Olivia hat beim Pfarrer schon genug auf dem Kerbholz – es fehlte grade noch, daß Zauberei und Hexenkünste dazu kämen und ich auf meine alten Tage noch Kirchenbuße tun müßte!«

Stand Tante Olivia mit der Geistlichkeit auf etwas gespanntem Fuß, so war ihr Verhältnis zu Doktor Roeler auf Korsberga dafür um so freundschaftlicher. Von ihm wußte sie nur Gutes zu sagen. Allerdings hatte der Doktor auch mehr als einmal schwierige chirurgische Patienten zu der arzneikundigen Witwe Krabbe auf Torp geschickt.

Ja, das war Tante Olivia. Und daß die Familie eine derartige Persönlichkeit nicht übergehen oder vergessen konnte, das versteht sich von selbst. Es kam auch niemand je in den Sinn, das zu wollen. Denn wo Tante Olivia hin kam, da kam die Freude mit. Darum wurde sie auch fast immer nach Kölsäter eingeladen, wenn recht seßhafte Gäste dort zu Besuch waren, um mit ihrem guten Humor und ihren tausend Histörchen das Zusammensein, das bei dem einförmigen Landleben auf die Länge ein bißchen zäh werden konnte, aufzufrischen. Wär es nach Brites Kopf gegangen, so hätte sie am liebsten sogleich nach Tante Olivia geschickt und sie überredet, die ganze Zeit, solange die Familie von Björknäs bei ihnen zu Besuch war, dazubleiben, um dadurch den langen Tete-a-tetes mit der Schwägerin, die für sie eine qualvolle Geduldsprobe waren, zu entgehen. Aber da beide Damen ganz offen eingestanden, daß sie einander nicht gerade übertrieben zugetan waren, war ein solcher Plan natürlich nicht durchführbar.

Brite mußte unter diesen Umständen froh sein, daß Nils Göran und seine Frau durch irgend einen Zufall ein paar Tage später, als beabsichtigt war, anlangten. Dadurch gewannen die heftigen Eindrücke nach der Feuersbrunst Zeit, sich etwas zu legen, und Brite selbst fand Gelegenheit, alles zum Empfang der Gäste vorzubereiten.

Endlich, an einem Sonntagabend, fuhr der Hüttenherr von Björknäs auf Kolsäter vor. Der Garten war frisch geharkt; und als der Wagen nach dem Stall fuhr, begann der Gärtnerbursch seine Arbeit noch einmal von vorn und rechte den Hof zum andernmal glatt und fein. Ganz Kolsäter glänzte an diesem Tag überhaupt vor Sauberkeit und Geputztheit wie vor einem großen Feiertag. Weiß flatterten die Gardinen über den Fenstern, die halb offen standen; auf den Fußböden mit ihren frischgeklopften Läufern war kein Fleckchen zu entdecken; und blankgescheuert blitzte alles Kupfer und Silber, alles Messing und sogenannte simple Metall. In den Fenstern blühte ein Reichtum von Fuchsien und Pelargonien, und über den Rand der Blumenschalen hingen, von Brites kunstfertiger Hand geordnet, schwer die Rosen herab.

Aber nichts war der Sorgfalt zu vergleichen, die auf die beiden für Nils Göran und seine Frau bestimmten Gastzimmer verwendet worden war. Blankpoliert glänzten die gelben Birkenmöbel, die Türen und Klappen der alten, rötlichen Kachelöfen. Wie eine weiße, duftige Wolke hing der frischgeplättete Schleier über dem Toilettentisch. Und während Brite die langen weißen Handtücher betrachtete, die besten Spitzenlaken, die über bunte Seidendecken zurückgeschlagen lagen, die hohen, schwellenden Kissen, die Alabastervasen mit den duftlosen Blumen der Jahreszeit – sorgfältig ausgewählt, damit die Gäste keine Kopfschmerzen zu fürchten brauchten – da mußte sie sich selber sagen, daß diesmal sogar der scharfe Blick der Schwägerin schwerlich etwas auszusetzen finden konnte.

Als die Herrschaften Toilette gemacht hatten und in den Salon kamen, wo ihre Wirte sie erwarteten, äußerte denn auch Mina Charlotta, während sie sich im Sofa niederließ:

»Recht nett, meine gute Brite! Wirklich – recht nett!«

Das war aus dem Munde der Schwägerin ein hohes Lob; und Brite nahm es mit ihrem besten Lächeln entgegen. Dank diesem glücklichen Beginn verlief denn auch der erste Abend ziemlich gut. Aber während des Abendessens, das im großen Speisesaal im Erdgeschoß serviert wurde, ward es plötzlich so dunkel, daß man die Lichter in dem großen Silberkandelaber anzünden mußte. Und einen Augenblick darauf erbebte das ganze Haus unter einem mächtigen Donnerschlag. Ein Blitz folgte, der die finsteren Wolken so grell durchschnitt, daß man deutlich seine bläulichweißen Keile leuchten sah.

Brite warf ihrem Mann einen angstvollen Blick zu, als bitte sie ihn um Hilfe. Sie fürchtete sich vor dem Gewitter wie ein Kind. Und sie wünschte von Herzen, Karl Henrik möchte eine Entschuldigung für sie finden und ihr dazu verhelfen, daß sie auf ihr Zimmer gehen und mit ihrer Angst allein sein dürfte. Statt dessen sandte der Major seiner Frau einen scharfen Blick zu, der bedeutete, er gebiete ihr, zu bleiben. Brite beherrschte sich also. Aber während die Mädchen ins Speisezimmer kamen und alle Fenster schlossen, fühlte sie, wie ihr der Kopf schwindelte. Und draußen strömte der Regen.

Das Abendessen wurde ohne weitere Abenteuer beendet. Das Krachen des Donners schlug immer schwächer und ferner. Ein bißchen blaß ging Frau Brite am Arm des Schwagers in den Salon zurück. Karl Henrik, der Frau Mina Charlotta führte, kam würdevoll hinterdrein. Zuletzt kam, im Sonntagsanzug, Erling, der die Türen hinter den beiden Paaren schloß.

Die ganze Gesellschaft ließ sich im Salon nieder. Und da die Parkwege vom Regen aufgeweicht waren, schlug Karl Henrik der Schwägerin vor, sie wollten musizieren. Er nahm links von der kleinen Dame Platz und überließ ihr artig die Oberstimme. Und von dem prächtigen Flügel, dessen Decke aufgeschlagen stand, klangen jetzt die Töne hinaus ... Ein paar Beethoven-Ouvertüren, dann das Scherzo aus einer Haydn-Sinfonie – für vier Hände. Schon der Flügel war in jener Zeit eine Seltenheit. Aber die Spieler verstanden ihn auch zu würdigen. Stumm – an dem einzigen Fenster, das offen stand, saß Erling, lauschte mit weitoffenen klaren Augen und blickte hinaus in den dämmernden Park, wo die Regentropfen von den Bäumen fielen und die feuchte Erde von Wärme und Fruchtbarkeit dampfte.

Voll und rein strömten die Töne durch den großen Raum mit seinen schweren Mahagonimöbeln und den dunkeln, alten, holländischen Gemälden, die die Wände des Staatszimmers von Kolsäter zierten. Und die Zaubermacht der Musik führte jetzt diese Menschen zusammen, als hätte nichts auf Erden sie je geschieden. Brite saß aufrecht, schweigend da. Die Spitzen, an denen sie gehäkelt hatte, ruhten auf dem dunkeln Seidenrock, der ihre Knie umspannte. Nils Göran, für den Musik eigentlich eine Plage war, sank in einen einsamen Lehnstuhl. Da saß er geduldig, ließ die Mahlzeit »sich setzen« und genoß das Bewußtsein, daß Mina Charlotta Furore machte.

Mina Charlotta zeigte sich auch nie in vorteilhafterem Licht, als wenn sie am Klavier saß. Sie war klein von Gestalt, so klein, daß man bei ihrem Anblick manchmal unwillkürlich an eine Puppe dachte. Niemand hätte es ihr angesehen, daß sie in einer zehnjährigen Ehe vier Kinder geboren hatte. Ihre Hände waren so fein und klein, daß es einem fast wie ein Wunder vorkam, wenn man den starken Anschlag dieser feinen Fingerchen, die kaum eine Oktave zu umfassen schienen, hörte. Aber sie waren recht kräftig, diese Hände, und man sagte ihnen nach, sie hätten schon mehr als eine Ohrfeige an faule Dienstboten und unbotmäßige Untergebene ausgeteilt. Klug und scharf blickten die kleinen Augen aus dem feingeschnittenen Gesicht, das von kastanienbraunen, schon frühzeitig ins Graue spielenden Haaren umrahmt war, und in dem die Augen nie stille standen, überall spielten sie umher, alles entdeckten sie. Eine beständige Unruhe spiegelte sich in ihnen; und der kleine bestimmte Mund gab dieser Unruhe Ausdruck, über alle und alles wußte er zu reden; und er war nicht bloß gewöhnt zu befehlen – er befahl sozusagen ganz instinktiv. Eine unbeschreibliche Unruhe ging von der kleinen, scharfen Dame aus, und niemand konnte in ihre Nähe kommen, ohne davon angesteckt zu werden. Wo sie eine Falte in einer Decke, ein Stäubchen auf einer Etagere, einen Knoten in einer Gardinenschnur sah, machte sie sogleich ihre Bemerkung darüber, einerlei, ob sie daheim oder bei Fremden war. Neben ihr lag beständig ein kleiner, schwarzer, seidenhaariger, bösartiger King-Charles. Bijou hieß er. Und es war eine von Nils Görans Obliegenheiten, allabendlich, wenn die Herrin keine Zeit hatte, das Juwel im Garten spazieren zu führen.

Björknäs war wie verwandelt, seit Mina Charlotta dort eingezogen war. Ja, schon lange vorher. Denn schon unter der Verlobungszeit fing ihr Einfluß an, sich geltend zu machen. Es war, als würde Nils Görans ursprünglich mildes Wesen durch sie geschärft. Er schien auch nie so recht in feinem esse in Gegenwart seiner Frau; und ein gewisser trockener Humor, der dem wortkargen Mann sonst eigen war, verschwand nach und nach vollständig. Ohne selber eine Ahnung davon zu haben, folgte Nils Göran seiner Frau auf den leisesten Wink, gehorchte ihr blindlings und machte ihre Ansichten über Menschen und Dinge zu den seinen. Die Herzenskälte, die andre an der kleinen Frau bemerkten, nannte Nils Göran Vornehmheit und Distinguiertheit. Und ihre zahllosen Ausbrüche sinnloser Wut waren in seinen Augen stets durch die Umstände gerechtfertigt. Der Umsatz an Dienstboten und Untergebenen wurde stärker, als es sonst auf Björknäs der Brauch gewesen war. Der Verkehr mit den alten Freunden wurde kühler. Und Nils Görans ganzes Leben ward leerer. Er war der einzige, der nichts von alldem merkte, und die einzige Bemerkung, die man ihn jemals sich seiner Frau gegenüber gestatten hörte, war: »Tranquillement meine gute Charlotta, tranquillement

An all dies und noch mancherlei andres dachte Brite, während sie in der Sofaecke saß und ihre Spitzen vergaß. Neues und Altes fiel ihr dabei ein; und unwillkürlich ließ sie ihren Blick auf der Schwägerin ruhen. Mina Charlotta saß etwas vorgebeugt auf dem Klaviersessel, auf dem zwei dicke Notenhefte als Unterlage lagen, damit ihre Hände in gleicher Höhe mit den Tasten ständen. Als hätte sie ihr eigenes, unruhiges Ich zur Ruhe gespielt, so sah sie aus. Karl Henrik betrachtete sie verstohlen, während er den Baß spielte. Seine Augen strahlten kindlich-glücklich. Brite wußte, wie er sich freute an dem seltenen Genuß, jemand zu haben, mit dem er vierhändig spielen konnte. Als die letzten Töne des Scherzo verklangen, lag der große Raum im Dunkeln. Nur die beiden Kerzen auf dem Flügel beleuchteten die Spielenden und schienen auf das Gesicht der kleinen Dame, in dem die Züge sich geglättet hatten, sanft, fast fromm geworden waren, als wäre alles, was sie am Alltag entstellte, vergangen vor der Allmacht der Musik. Nach dem Schlußakkord saß sie einen Augenblick still und schloß die Augen, als schaue sie innerliche Visionen.

Nur einen kurzen Augenblick dauerte das. Als Mina Charlotta gleich darauf aufstand, war sie dieselbe wie immer, stichelte auf Nils Görans Mangel an musikalischem Verständnis und beklagte sich darüber, daß der große Satz in der Ouvertüre nicht im Tempo gegangen sei. Darauf verabschiedete sie sich umständlich und wünschte Gute Nacht. Wohlerzogen, mit strahlenden Augen, erschien jetzt Erling, um dem Onkel und der Tante die Treppe hinaufzuleuchten. Er wagte nicht, für die Musik zu danken. Aber sein ganzes Gemüt war in Aufruhr. Die Tante warf ihm einen raschen, prüfenden Blick zu und rief:

»Ist's möglich – darfst du so spät noch auf sein?«

Hierauf ging sie mit kleinen, trippelnden Schritten durchs Zimmer, gefolgt von Nils Göran, der lang und durch die Gewohnheit ständigen Gebücktgehens, die er angenommen hatte, um seine Frau besser hören und zu ihr reden zu können, etwas gekrümmt, neben ihr herschritt. Brite mußte lächeln, als sie sah, mit welch empörtem Erröten Erling die Zurechtweisung der Tante hinnahm.

Als sich die Tür hinter den Gästen geschlossen hatte, tat der Major einen tiefen Atemzug und rief:

»Na, heut' wär's ja gut abgelaufen!«

»O ja« erwiderte Brite im selben Tone »Musik ist ein guter Blitzableiter. Die macht sie zahm.«

»Aber dich nicht, wie es scheint,« entgegnete der Major, indem er seine Frau küßte.

Immer konnte man nun freilich nicht seine Zuflucht zur Musik nehmen, und der folgende Sonntag war lang.

Die Wochentage waren besser, aber auch noch langsam genug. Am schlimmsten war es für Brite, wenn die Herren die Damen den Vormittag und Nachmittag allein ließen. Stunde um Stunde saßen Brite und Mina Charlotta dann im großen Salon. Mina Charlotta fürchtete sich vor Zug und saß selbst im Sommer nur ungern im Freien. Und Brite fühlte sich manchmal so beklommen, daß sie sich fast hysterisch vorkam. Am allerschlimmsten war es, wenn die Schwägerin auf die Idee verfiel, Hausvisitation abzuhalten, wie Karl Henrik es nannte. Einmal bei jedem Besuch mußte es geschehen, das war unabänderlich. Da durchschnüffelte Mina Charlotta das ganze Haus, vom Dachboden bis zum Keller. Sie guckte in die Giebelstube, wo die alte Bronzensammlung aus den Zeiten der seligen Exzellenz an den Wänden aufgereiht stand. Sie ging die Bibliothek durch und wollte wissen, weshalb der Schrank mit den französischen Gravüren immer so sorgsam zugeschlossen war. Sie fand den Weg in das Arbeitszimmer des Majors, setzte sich an den Tisch, auf dem der große Globus stand und bewunderte die alte geschnitzte Chiffonniere. Wäre die Klappe nicht geschlossen gewesen, so hätte sie sicherlich auch die Schiebladen durchsucht. Ja, bis in den Weinkeller kam sie, und es sah wahrhaftig aus, als zähle sie die Flaschen. Noch lebhafteres Interesse bezeugte sie freilich für die Kleiderkammer und den Weißzeugschrank und die Schätze, die in der prachtvollen geschnitzten Eichentruhe versteckt lagen, deren Wert Mina Charlotta auf Tausende schätzte. Wie eine kleine weiße Maus lief sie umher, und Brite fühlte – hätte sie das, was sie sah, mit ihren Blicken zernagen können – sie hätte es gern getan. So grün funkelten ihre Augen.

Brite hatte tatsächlich die Empfindung, als habe nichts in ihrem ganzen Haus mehr den alten Wert, seit die Blicke der Schwägerin alles gemessen hatten. Wenn sie wieder im Salon angelangt waren, saß Mina Charlotta, pustend nach den Strapazen des Treppensteigens, auf ihrem Platz und nippte an einem Glas Himbeersaft. Um ihre kleinen Schultern lag die seidene Mantille; denn ihr war warm und sie fürchtete sich zu erkälten.

»Ja, ja, meine liebe Brite,« sagte sie dann. »Es ist schön, wenn man erbt. Oder vielmehr, es muß schön sein. Mir ist derartiges ja nie widerfahren. Aber ich muß doch sagen – die Sache hat auch ihre Schattenseiten. Ich sage bloß: Gott sei Dank, daß ich das alles hier im Haus nicht in Ordnung und zusammen zu halten brauche! Es ist ja geradezu, als ob der Geist der alten Exzellenz noch heutigentags hier umginge. Es sind ja doch alles seine Sachen – seine Teppiche, seine Portieren, seine Sammlungen und seine Möbel, ja, und Gott steh' mir bei, sein alter Madeira und Portwein und Margaux. Ein ganz famoser Margaux übrigens! Ich an deiner Stelle könnte hier keine Auge zutun, und keine zehn Gäule brächten mich ohne Licht über die Treppen und Korridore!«

So ungefähr hatte Mina Charlotta sich schon geäußert, als sie zum erstenmal auf Kolsäter zu Besuch war; und bei keinem der nachfolgenden Besuche versäumte sie, dies Thema aufs Tapet zu bringen. Sie konnte und konnte die unerwartete Lösung der Erbschaftsfrage nach dem Tode der alten Exzellenz nicht verwinden. Daß Karl Henrik, der all sein Hab und Gut verschleudert hatte und bis über die Ohren in Schulden steckte, auf diese Weise instand gesetzt wurde, seinen Platz als Chef der Familie zu behaupten, das war eine Ungerechtigkeit, die sie der Vorsehung nicht so leicht verzeihen konnte. Und nicht zum wenigsten kränkte es sie, daß Nils Göran, der sonst einem vernünftigen Wort recht zugänglich war, so eigensinnig in seiner Schwäche für diesen Bruder, den das Geschick so ungerechterweise begünstigt hatte, beharrte. Mina Charlotta war nicht die Frau, die mit dem, was sie dachte, hinter dem Berge hielt. Sie war eine offene und ehrliche Natur, und darum sagte sie auch ihre Meinung gerade heraus.

»Meine gute Brite,« so lauteten diesmal ihre Worte, »so oft ich hier bin, muß ich an die alte Exzellenz denken. Ich kann wahrhaftig nichts dafür. Gott allein weiß, wie er in seinen letzten Jahren gelebt hat und wie er auf die Idee gekommen ist, so ein Testament zu machen! Glaubst du wirklich, daß er bei vollem Verstand war?«

Brite hatte derartige Anspielungen schon öfter gehört und hatte sie tief in ihrem Innern verschlossen. Denn das wußte sie: Kam ein derartiges Wort einmal ihrem Mann zu Ohren, so war das nie wieder gut zu machen. Im allgemeinen wich sie den Sarkasmen der Schwägerin einfach aus und tat, als merke sie die unaufhörlichen Nadelstiche, womit diese ihre Worte würzte, gar nicht. Ein guter Mensch zieht ja bekanntlich immer den kürzeren einem böseren gegenüber; und Mina Charlotta mochte wohl die Schwägerin, wenn nicht gerade für einfältig, so doch immerhin für alles andre eher als für scharfsichtig und intelligent halten. »Ein gar zu liebes und artiges Wesen,« pflegte sie sie andern gegenüber zu nennen. Diesmal aber beschloß Brite doch, nicht zu weichen, und innerlich selber verwundert über die Ruhe, mit der sie sprach, sagte sie:

»Du hast mir schon mehr als einmal derartige Worte gesagt, beste Mina Charlotta. Ich fange nächstens an zu glauben, daß du etwas Bestimmtes damit meinst!«

Mina Charlotta war über die Worte der Schwägerin so perplex, daß sie keine andre Antwort fand, als Brite auf die Schulter zu klopfen und zu erwidern:

»Aber – meine beste Brite! Es war wirklich nicht meine Absicht, irgend etwas zu sagen, das dir unangenehm sein oder dich chokieren könnte!«

Aber Brite fuhr sehr ruhig fort:

»Es freut mich, das zu hören. Denn wenn du im Ernst gesprochen hättest, so hieße das, daß Karl Henrik und ich auf unrechtem Weg in den Besitz von Kolsäter und allerlei sonst gekommen wären.«

Mina Charlotta hatte während dieser Worte ihre Fassung wiedergewonnen. Ihre Augen wiesen einen völlig natürlichen Ausdruck tugendhaften Entsetzens, als sie erwiderte: »Wenn ich hätte ahnen können, daß du meine Worte so auffassen würdest, hätte ich sie assurément nie gesprochen!«

Das war auch die volle Wahrheit. Denn Mina Charlotta hatte sich ganz daran gewöhnt, zu glauben, daß, wenn Brite ihre Stichelworte duldete, das nur daher kam, daß sie sie nicht verstand. Und die Entdeckung, daß das Gegenteil der Fall war, wirkte geradezu erschütternd auf die kleine Dame. Brite begriff diese Wirkung auch wohl und antwortete ruhig:

»Dann ist ja alles gut und recht, liebe Mina Charlotta!«

Woraus die Schwägerin erwiderte:

»Das ist ein wahres Glück! Ich war wirklich ganz alteriert.«

Indessen war nach diesem Gespräch keineswegs alles so gut und recht, wie die beiden Schwägerinnen es sich gegenseitig vorreden wollten. Und trotz der energischsten Versuche, ein Gespräch aufrecht zu erhalten, waren die Pausen diesen Vormittag länger als sonst und das Mittagessen steif, gequält, von einer gedrückten Stimmung belastet. Beide Brüder, der Major und Nils Göran, begriffen wohl, daß zwischen den Frauen etwas vorgefallen sein mußte. Glücklicherweise hatte keiner von ihnen Gelegenheit gehabt, seine Frau unter vier Augen zu sprechen. Sonst hätte vielleicht schon jetzt die Explosion stattgefunden, die doch jeder von den vieren ganz aufrichtig zu vermeiden wünschte.

In den Worten, die Mina Charlotta geredet hatte, lag nämlich mehr Ernst, als sogar Brite begriff. Nie konnte Mina Charlotta ohne ein Gefühl des Gekränktseins Kolsäter sehen oder an die alte Exzellenz denken; denn es war nun einmal ihre feste Überzeugung – wenn es nach Recht und Gerechtigkeit gegangen wäre, so wäre Karl Henrik nicht allein der Besitzer dieses Vermögens geworden. Es war nicht nur der Verlust von Kolsäter, der sie kränkte. Es war die Erinnerung an das einzige Mal, daß Nils Göran, der Bedächtige und Beherrschte, gegen sie ausfallend geworden war. Jenes eine Mal war Mina Charlotta wirklich erschrocken und hatte allen Ernstes von etwas abgestanden, das sie mit aller Macht hatte durchsetzen wollen. Und weil die Sache sich außerdem in der ersten Zeit ihrer Ehe ereignete, hatte sie einen ganz besonders tiefen Eindruck auf Mina Charlotta gemacht. Gleich nach den Flitterwochen nämlich hatte sie mindestens acht Tage lang an dem unglückseligen Testament herumgegrübelt. Und in diesen acht Tagen schrumpfte das, was sie und Nils Göran besaßen, immer mehr zusammen und wurde immer unbedeutender im Vergleich zu dem großen Vermögen, das so unerwartet diesem, von ihr stets mit Geringschätzung betrachteten Schwager zufiel. Als ihr Grübeln endlich einen Gedanken in ihr ausgereift hatte, trat sie eines trüben Aprilabends entschlossen in das Zimmer ihres Mannes, brachte die Rede auf das Testament und sagte schließlich: »Es liegt ja nur an dir, ob du der Sache ihren Lauf lassen willst oder nicht.« Nils Göran, der an seinem Schreibtisch saß, fuhr auf: »Was meinst du damit?« rief er. »Ich meine,« erwiderte seine Frau, »daß es mehr als wahrscheinlich ist, daß der alte Mann nicht mehr im vollen Gebrauch seiner Sinne war, als er ein derartiges Testament machte, und daß es sicherlich eine Kleinigkeit wäre, den Beweis dafür beizubringen.« Da aber sprang Nils Göran vom Schreibtisch auf; sein Gesicht war weiß.

»Meinst du, aus einem solchen lumpigen Anlaß sollte ich einen Prozeß gegen meinen eigenen Bruder vom Zaun brechen?« Voller Empörung schlug er mit der geballten Hand auf den Schreibtisch, daß die Knöchel weiß hervortraten. Und, sein verzerrtes Gesicht zu seiner Frau hinabbeugend, brach der Jungverheiratete Ehemann schließlich in die Worte aus: »Wer bist du eigentlich?« Als bereue er gleich darauf diese Worte, fügte er ruhiger hinzu: »Geh jetzt! Ich muß allein sein!«

Erschrocken ging Mina Charlotta aus dem Zimmer. Eine ganze Woche lang redete Nils Göran nicht mit seiner Frau, und sie fing schon an zu fürchten, daß sie die Macht über ihren Mann auf immer verloren habe.

Aber sie gewann sie doch wieder zurück. Ein paar qualvolle Tage lang hatte Nils Göran seine Frau so gesehen, wie sie in Wirklichkeit war. Aber dies Bild vermochte er nicht festzuhalten. Hätte er es getan, der Boden, auf den er trat, wäre unter seinen Füßen gewichen. Voll Reue, daß er sie so beargwöhnt hatte, kehrte er zu ihr zurück. Und mit den Jahren verblaßte das kleine Vorkommnis, das ihm einmal so bedeutungsvoll vorgekommen war, und verschwand schließlich, wie alles, was die Zeit verwischt. Was aber blieb, das war das stolze Bewußtsein seines eigenen Edelmuts, der sich geweigert hatte, gegen seinen Bruder Partei zu ergreifen; und Hand in Hand damit ging das geringschätzige Gefühl, daß das ganze Leben des Bruders sich gleichsam auf einem zufälligen Glückstreffer aufbaute. Ja, so fein war das Netz weiblicher List, das Nils Göran umspann, daß er es sich zuweilen geradezu als sein eigenes Verdienst anrechnete, daß des Bruders Glück durch nichts gestört worden war.

All das pflanzte und pflegte Mina Charlotta bei ihrem Mann; und wenn sie jetzt, in den letzten Jahren, sich hier und da ihm gegenüber eine Anspielung auf diese Verhältnisse gestattete, so konnte sie sicher sein, daß ihre Worte nicht länger auf Mißbilligung stießen. Nils Göran und sie waren sich nah gekommen, so nah, wie die Ehe zwei Menschen einander führen kann; und selbst in Fragen des Urteils und des Geschmacks machten sie keinen Unterschied mehr zwischen Mein und Dein.

Es war also ein empfindlicherer Punkt, als Brite wußte, den sie in diesem Gespräch berührt hatte. Und wie beherrscht auch das Gespräch zwischen den Damen geführt worden war – im ganzen Wesen und Aussehen der Schwägerin hatte etwas gelegen, das Brite weit stärker beeindruckte als die bloßen Worte. Ihr Instinkt sagte ihr, daß hinter diesen Worten eine Wirklichkeit versteckt lag, häßlicher noch als die, gegen die sich ihre Selbstverteidigung gerichtet hatte. Und sie mußte sich Gewalt antun, um diesen Argwohn loszuwerden. Denn schon da ahnte Brite die ganze Wahrheit.

Und just die Wahrheit war es, die in diesen Tagen unter allen Umständen vergessen werden mußte. Der rettende Engel kam auch – kam in Tante Olivias prächtiger Gestalt.

Das Zusammensein der Geschwister hatte jetzt so lange gedauert, daß man es sich ohne weitere Umschweife vergönnen konnte, die Familienfreuden mit einem etwas lebendigeren Element zu verdünnen. Es war auch von Anfang an geplant gewesen, eben an diesem Nachmittag, an dem das gefährliche Gespräch zwischen den Schwägerinnen stattgefunden hatte, den traditionellen Besuch auf Torp abzustatten und Tante Olivia auf den folgenden Tag nach Kolsäter einzuladen.

So war es immer gewesen, so oft die Brüder auf Kolsäter zusammenkamen. Es war mit diesem alten Brauch außerdem noch ein Nebenzweck verbunden, den man eigentlich nur im geheimen nennen durfte, den aber nichtsdestoweniger sämtliche Mitspielende, so gut auch jeder einzelne seine Rolle durchzuführen wußte, sehr genau kannten.

Mochte das Verhältnis der Familien zueinander sein, wie es wollte, die Brüder selbst setzten großen Wert auf ihr Zusammensein. Und es war zwischen ihnen wie eine Art schweigenden Übereinkommens, daß es am gemütlichsten war unter vier Augen, wenn die Frauen fort waren. Darum lag es Brite als eine heilige Pflicht ob, den Ausflug nach Torp so einzurichten, daß die Herren allein zu Hause blieben. Und Brite tat das um so lieber, als die Fahrt, ähnlich wie die Musik, beruhigend auf die Nerven der Schwägerin zu wirken pflegte. Waren sie dann erst glücklich auf Torp, so besorgte Tante Olivia das übrige.

Die Stimmung war darum auch außergewöhnlich angeregt, als Spitz mit den Füchsen und dem neuen Halbwagen, der mit neubezogenen, dunkelblauen Tuchkissen und glänzendem, herabgeschlagenen Verdeck prangte, vorfuhr. Die Brüder selbst halfen den Damen beim Einsteigen. Mina Charlotta hatte ihren Platz rechts, Brite, wie es der Wirtin geziemte, links. Bijou lag, sorglich in einen bunten Schal eingebettet, auf dem Bock neben dem Kutscher.

Als die Damen eben in den Wagen steigen wollten, wandte Mina Charlotta sich plötzlich um zu ihrem Mann und sagte in einem Flüsterton, der sehr deutlich zu hören war:

»Sei ums Himmels willen heute abend vorsichtig, lieber Nils Göran!«

Brite wechselte einen flüchtigen, lächelnden Blick mit ihrem Mann, und Karl Henrik strich sich nachdenklich über den Backenbart. Gleich darauf rollte der Wagen davon. Und beide Brüder konnten ein gemeinsames Lächeln der Erleichterung nicht ganz unterdrücken.

Dann wählten sie sich ein paar tüchtige Stöcke aus dem Stockständer in der Halle und begaben sich auf den gewohnten Waldspaziergang, der ihnen Appetit zum Abendessen machen sollte.

Der Weg führte an den weiten Äckern vorbei, wo der Weizen in Ähren stand und blaugrün und hoch im warmen Sommerwind wogte. Auf der andern Seite lag der Birkenhag, in dem ein ganzer Teppich von Farnkräutern zwischen den weißen Stämmen der Bäume spielte. Und wo der Birkenhag aufhörte, fing der Wald an. Meilenweit erstreckte er sich, über Hügel, Sumpf und Fels. Immer dichter ward er, je weiter sie von Äckern und Wiesen sich entfernten. Wo der Erdrücken wie eine Mauer sich zwischen den Wanderern erhob, verstummte das Geräusch der Hämmer aus der Hütte, das ihnen seither gefolgt war. Um sie sauste der Wind durch den Wald, die Wipfel der Tannen wiegten und neigten sich, wo er einherfuhr.

Auf dem mit Tannennadeln besäten schmalen Fahrweg schritten die beiden Brüder schweigend dahin. Nils Göran war auffallend ernst; mehr als einmal sah es so aus, als habe er etwas auf dem Herzen, was er dem Bruder gern sagen möchte.

Er war ein Mann in den besten Jahren. Ein bißchen vornüber gebeugt war er bei seiner langen, hageren Gestalt eigentlich fast immer gewesen. Daß sein Haar und der kurze, gerade Backenbart sich mit den Jahren leicht mit Grau zu untermischen begannen, war auch weiter nicht zu verwundern. Aber es fiel Karl Henrik doch auf, daß der Bruder müde aussah. Ein paarmal blieb er auch stehen, als falle ihm das Gehen schwer.

»Ist dir nicht gut?« fragte er darum.

»Doch, freilich,« lautete die Antwort. »Es ist nur ein bißchen Atemnot, das mir manchmal zu schaffen macht.«

Auf dem Heimweg, als es bergab ging, ging Nils Göran augenscheinlich viel leichter. Und während die Brüder so langsam Seite an Seite dahinschritten, begann nach und nach der Wald seine belebende Wirkung auf ihr Gemüt auszuüben. Weithin unter den Tannen war der Boden mit Heidelbeerkraut bedeckt, über die gewaltigen Felskessel, wo Dachs und Fuchs ihren Bau hatten, breitete sich feuchtes Moos. Unter der Brücke sickerte der halbausgetrocknete Bach hervor; und wo die Bäume sich lichteten, blauten fern die Hügel.

Und zwischen den Brüdern schwand alles, was im Alltagsleben zwischen ihnen stand, ward ausgewischt und verstummte vor dem großen Schweigen des Waldes. Andre Stimmen begannen zu reden, Stimmen aus den Kinderjahren, in die noch nichts von all dem, was das Leben häßlich macht, hereingespielt hatte. Ja, sogar der Eindruck, daß der Bruder alt geworden war, verschwand für Karl Henrik. Und glückselig, daß der Abend das zu werden schien, was er von ihm erhoffte, wanderte er an des Bruders Seite dahin, den Weg entlang, der an der abgebrannten Scheune vorüber nach dem Herrenhaus führte.

»Das war ein unerwartetes Unglück mit dem Brand,« sagte Nils Göran.

»Oh,« entgegnete in leichtem Ton Karl Henrik, »es hätte schlimmer sein können. Dies Jahr kann man wenigstens Heu kaufen.«

»Ja, ja,« meinte der Bruder, »wenn man's dazu hat, daß man so rechnen kann ...«

Der Major beachtete den Stachel, der in diesen Worten lag, nicht, oder tat, als beachte er ihn nicht. Vergnügt führte er den Bruder bis zur Terrasse und verschwand dann selber im Küchendepartement, um nachzusehen, ob auch alle Anordnungen dort mit den Befehlen, die er erteilt hatte, übereinstimmten. Denn dieser Tag war ein heimlicher Festtag, einer, an dem keiner von den Alltagsgebräuchen des Hauses galt.

Im Alltagsleben ging es auf Kolsäter sehr maßvoll zu. Besonders was das Trinken anbelangte. Das gebräuchliche Appetitschnäpschen wurde nur vor dem Mittagessen zum Butterbrottisch serviert; beim Abendessen gab es nie etwas andres als Tee oder Milch. Nachmittags wurde der Reichtum von Obst herumgeboten, von dem Garten und Gewächshaus Überflossen. Stachelbeeren und Johannisbeeren, Süßkirschen und Sauerkirschen, die dunkeln Herzkirschen und die gelben, glasigen Weichselkirschen, Melonen, Trauben, Pfirsiche und Aprikosen kamen in ungeheuren Mengen herauf und wurden in großen Kristallschalen auf dem Fenstertisch im Salon aufgestellt. Daneben stand, klein und unansehnlich, ein Tablett mit einer Punschkaraffe und dicken, großen Gläsern. Aber nie wurde hiervon mehr als das zweite Glas angeboten, und auch das nur bei besonderen Gelegenheiten.

An diesem Ausnahmeabend aber wurde das Abendessen oben in einer Ecke des Giebelsaals serviert. Die Glastüren, die nach dem Balkon hinausführten, standen offen, daß die Sommerluft frei hereinströmte. Tilda, die noch von der Zeit der alten Exzellenz her im Haus war, war die einzige, die bei diesen Gelagen zugelassen wurde. Und auch ihr war strengstens befohlen, sich nur einzufinden, wenn der Major läutete, und sich, sobald ihre Obliegenheiten erfüllt waren, wieder zurückzuziehen. Dick und geräuschlos bewegte sie sich im Zimmer umher, und ihr ernsthaftes Gesicht war so ausdruckslos, als habe sie weder Augen noch Ohren. Nils Göran hatte in einem aufgeräumten Augenblick diese kleinen Feste »Bruderrausch« getauft – ein Name, der – als wenig für den Salon passend – unter den Herren blieb. Und als heute der Major von seiner Besprechung mit der »kurzen Marie« – das war für gewöhnlich der Schmeichelname der Mamsell – zurückkam, schmunzelte er vor Wohlbehagen und versicherte den Bruder, der Abend dürfte wohl zu allseitiger Zufriedenheit ausfallen.

Plaudernd stiegen die beiden Herren dann in die Giebelstube hinauf. Allen und jedem, sei es Inspektor oder Oberknecht, Gärtner oder Kutscher, war es strengstens verboten, den Major heute abend zu stören. Die Türen wurden geschlossen. Licht war noch nicht angezündet; denn draußen war es noch hell.

Mit einer gewissen Feierlichkeit setzten sich nun die Herren zu Tisch. Und was da vor ihnen stand, zeigte wahrhaftig, was das Haus vermochte! Die Brüder nannten das »Sexa«.Sexa: d. h. auf schwedisch: Sechs, und bedeutet eine Unmenge kleiner Platten und Gerichte, die das eigentliche Mahl einleiten.
(Anmerkung der Übersetzerin.)
Und es machte seinem Namen Ehre.

Da fehlte weder der Hering mit jungen Kartoffeln, weder die Radieschen noch der alte Kümmelkäse, der in branntweingetränkten Tüchern aufbewahrt wurde und jedesmal, wenn er auf den Tisch der Herrschaft kam, frisch aufgeschnitten sein mußte. Die viereckige Flasche mit Sonne, Mond und Sternen im Glas war mit feinduftendem alten Kornbranntwein gefüllt und hatte ein silbernes Halsband um. Da standen alte Pokale verschiedenster Form und Größe neben venezianischen und böhmischen Gläsern, die sonst in Glasschränken verwahrt und nur bei großen Festlichkeiten in Gebrauch genommen wurden. Und um die niedere Schale voll Rosen, die mitten auf dem blendend weißen Tischtuch stand, breitete sich eine Unmenge von Platten und Schüsseln mit all den zahllosen kleinen Gerichten, in denen die Kochkunst der kurzen Marie triumphierte.

Als die Schüsseln abgegessen und unter höchster Anerkennung abgetragen waren, fuhr der Major sich mit der rechten Hand übers Gesicht, als wolle er die Befriedigung verbergen, womit er auf Nils Görans Wiehern wartete. Wiehern – das war sein Ausdruck für das behäbige Lachen, das jetzt dem Bruder ganz sicher entschlüpfen mußte! Und es kam auch. Denn jetzt wurde eine Schüssel mit Krebsen aufgetragen. Und die Überraschung war wirklich gelungen, denn streng genommen war es noch nicht die Zeit für Krebse. Aber irgendwie waren sie nun einmal in aller Heimlichkeit herbeigeschafft worden. Groß wie kleine Hummern lagen sie auf der alten blauen Platte von ostindischem Porzellan, und die Platte wurde auch nicht eher abgetragen, als bis die Brüder ihren Boden, auf dem kleine, zierliche Chinesen schlitzäugig unter einer spitzen Pagode saßen, bewundert hatten.

Und wie schmeckte nicht der duftende Rheinwein auf die feingesalzenen Krebse mit ihrem Zusatz von Dill! Ehe sie wußten wie, war die Flasche leer und hatte dem dunklen Bordeaux in der staubigen Flasche Platz gemacht, deren Spinnwebe sorgsam gehütet waren als Zeugen ihres Alters und ihrer Güte! Dieser Wein war der Höhepunkt des Abends und wurde nur in langsamen, abgemessenen Schlucken nach dem Braten genossen. Denn auch der Waldhüter hatte sich bewährt! Pünktlich hatte er sich mit den prächtigsten jungen Wildenten eingefunden, die nun mit einem Schwarzjohannisbeergelee und einer merkwürdigen Sorte Salzgurken – auch eine Spezialität der kurzen Marie – serviert wurden. Nils Göran behauptete, gerade durch sie bekäme der Rotwein ein Aroma und einen Geschmack, die ganz unvergleichlich wären. Zum Schluß fehlte auch nicht die Obstschale, von der die Herren jedoch etwas spärlich genossen – eigentlich mehr als Vorwand, um das Essen mit einem Glas Madeira zu beschließen, dessen Jahreszahl Tilda Nils Göran sehr geheimnisvoll ins Ohr flüsterte.

Auch nach dem Essen war noch keine Rede von Lichtanzünden. Rot und rund stand der Mond über dem dunkeln, gezackten Waldrand; ein wunderbares Helldämmern ruhte über den Bäumen des Parks. Die Brüder rückten näher zur offenen Balkontür; zwischen ihnen stand der kleine Tisch, auf dem die Bowlenmischung der kurzen Marie – feinster französischer Kognak und Wein – stand. Sie war weit und breit berühmt, diese Bowle. Denn man sagte ihr nach, daß sie nicht mehr, als nur gerade wünschenswert war, berausche, sich »wie Watte ums Herz« lege und außerdem äußerst zuträglich für den Magen sei.

Da saßen nun die Brüder beieinander. In ihnen wirkten des Weines gute Geister. Niemand störte sie. Ungestört konnten sie reden oder schweigen. Feierlich wurde das Wohl der Abwesenden ausgebracht, und Nils Göran war so aufgeräumt, daß er Frau LenngrenSchwedische Schriftstellerin, durch Satiren berühmt (1754–1817). zitierte: »Ein Prosit meiner Frau, weil sie nicht hier ist!« worin Karl Henrik mit gebührender Herzhaftigkeit einstimmte. Und jetzt ging's an die Erinnerungen!

Das alte Björknäs lebte wieder auf und mit ihm die ganze Jugend. Vom Vater sprachen sie, vom Vater, wie er ihnen nach dem Tode der Mutter in der Erinnerung lebte. An die Mutter selbst hatte Karl Henrik nur eine schwache Erinnerung, und Nils Göran, der jüngere, entsann sich ihrer überhaupt nicht. Jedem andern wäre diese Jugend, wenn er sie gesehen oder schildern hören hätte, schwer vorgekommen. Für die beiden war sie voll heiterer Erinnerungen, gefärbt von der Macht, die alles Leben erneut. Wie in unnahbarer Ferne hatte der Vater vor ihren Kinderaugen gestanden. Fremde hatten ihre Erziehung geleitet. Nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten berief der Hüttenherr seine Söhne zu einer Unterredung. Wenn das geschah, so war es immer, um ihnen Ermahnungen zu erteilen, sein Mißfallen auszusprechen oder seinen Willen kund zu tun. Karl Henrik war der einzige, der ihm Trotz zu bieten wagte, und auch er hatte sich zuletzt die Finger verbrannt. Lächelnd erinnerten sie sich gegenseitig daran, wie sie derartige Tete-a-tetes gefürchtet hatten. Ein harter Vater war er ihnen gewesen, der Alte, überhaupt ein harter Mann. Ohne sich darum zu kümmern, wieviel oder wie wenig die Söhne von seinem Privatleben wußten, ging er seiner Wege. Die Knaben ließ er im Flügelbau wohnen. Da saßen sie hinter ihren Büchern und lateinischen Aufsätzen, oder sie spielten Schach und Wolf und Schaf und hörten zu, wenn der Magister ihnen an den langen Winterabenden aus alten schwedischen Dichtungen vorlas oder von Reisen in fremden Ländern erzählte, Ländern, die er selber nie gesehen hatte, in denen man Löwen jagte und auf Elefanten ritt, wilde Pferde zähmte und beim Schein brennender Blockhütten auf Rothäute schoß. Sie sahen den Magister in seinem alten, abgetragenen Schlafrock und mit der langen Pfeife in der Hand im Zimmer auf und abwandern, leise schmunzelnd und erzählend oder auch schweigsam und nachdenklich, aber immer »seine Jungens« beaufsichtigend. Viele Jahre lang war das so; und alles, was sie in ihren Kinderjahren an Güte und Zärtlichkeit genossen hatten, hatten sie allein ihm zu verdanken. Der größte Kummer ihrer Knabenjahre war es gewesen, als er sie verließ. An einem trüben Wintermorgen war es, mit scharfem Frost, ohne Schnee. Der Magister saß, den wollenen Schal um den Hals geschlungen, große, dicke Handschuhe an den Händen, im Inspektorskabriolett, das am Flügelbau unter der großen Kastanie hielt. Und solange die beiden Knaben ihn noch sahen, hatte er immerzu geweint und sich geschneuzt. Was wohl aus ihm geworden war? Mit der Stunde, in der er fort fuhr, war er auch ihrem Gesichtskreis entschwunden. Und es war damals recht leer gewesen.

Während sie und der Magister in dem niederen Flügelbau hausten, kamen oft Wagen oder Schlitten mit Gästen auf den Hof. Und erst lang nach Mitternacht fuhren die galonierten Kutscher ihre betrunkenen Herren heim. Auch Frauen kamen, geheimnisvolle Damen mit Federn und Bändern, in bunte Farben gekleidet. Sie kamen und gingen, und was die Dienstboten sich über diese Sorte von Gästen zuflüsterten, kam gar manchmal auch den Knaben zu Ohren. Das schlimmste war jene Nacht gewesen, in der die Tochter des Gärtners sich im Fluß ertränkte und man sie in der Frühe des wolkigen Sommermorgens fand. Ein paar Männer mit langen Bootshaken fischten nach dem Leichnam; und der Gärtner stand gebeugt, barhaupt auf der Brücke und starrte in das dunkle, rinnende Wasser, während seine grauen Haarwische im Wind flatterten. Stumm, zitternd standen die beiden Knaben von fern. Sie sahen alles mit an; aber sie wagten nicht näher zu kommen. Schließlich fand man das Mädchen und zog den leblosen Körper ans Ufer. Die Erde war feucht vom Wasser, das aus ihren Kleidern und Haaren strömte. Dann trugen die Männer die Tote schweigend fort, an dem Apfelbaum vorbei und am Stall und verschwanden mit ihrer Last in der Richtung der Knechtwohnungen, über dem ganzen Hof und allen, die ihn bewohnten, lag es wie ein Alp, der die Brust aller beengte und allen den Schlaf raubte. Und zum erstenmal hörten da die Knaben Worte, die ihnen Angst um des Vaters Leben einjagten. Noch lange, lange träumten sie nachts schreckliche Träume und meinten beim Erwachen, es müßte irgend etwas, geschehen sein, oder fuhren im Traum zusammen, weil es ihnen war, als sähen sie ein großes Haus brennen... Aber nichts von alledem geschah. Das einzige, was geschah, war, daß ein neuer Gärtner auf den Hof kam und daß der Schultheiß ein paarmal in der Dienstmütze angefahren kam, bewirtet wurde und ein paar der Gutsleute herein rief, um sie zu verhören oder zu maßregeln.

Alles das lebte heute abend in den Brüdern wieder auf, alles das, was sie dereinst, in der Zeit, da das Herz noch für alle Eindrücke empfänglich und weich und offen ist, miteinander verbunden hatte. Immer mehr Erinnerungen stiegen auf und verwoben sich mit einem Gefühl für die Schönheit der Natur, die sie umgab. Der Mond war höher gestiegen; rot saß er hinter den Ästen der großen Ulme und fiel schimmernd über den Wasserstreifen des Lommen, der durch das Dämmer der Bäume herüberglänzte. Kein Lüftchen regte sich draußen; und still und ruhig ward es auch in den beiden Brüdern, die das Leben auseinandergeführt hatte, und die jetzt gemeinsam an ihre Jugend zurückdachten. Keine von all diesen Erinnerungen, selbst die düsterste nicht, hatte mehr einen Stachel. Alle waren sie übergossen von dem Fabelschimmer, den auch die schwärzeste Kindheitserinnerung annimmt. Und ebensowenig fiel je zwischen ihnen ein hartes Wort über den Vater. Sogar der Major, der lange, ehe er mündig geworden, schon mit dem Alten in Zwist gelebt hatte, hatte jeden Groll vergessen. Der Vater war für die beiden Brüder ein Mensch, der seine Fehler gehabt hatte, wie jeder andre. Die aber hatte der Tod in Vergessenheit gebracht. Für sie war er jetzt und allezeit der Vater, der über Lob und Tadel stand, der Vater, der ihnen das Leben gegeben hatte und dem sie Ehrerbietung schuldeten, der Vater, zu dem sie noch heute aufblickten als zu einem Menschen, der lange vor ihnen schon dagewesen war und dessen Namen sie auch jetzt nur behutsam und mit Respekt nannten.

Nicht einmal als Kinder hatten sie diesen Vater eigentlich je der Kritik unterworfen. Ob er tat, was böse war, oder gut, darüber zu richten stand Gott zu, nicht aber seinen Kindern. Wenn sie ihn je einmal im stillen verurteilten, so schwiegen sie darüber. Und um so mehr freuten sie sich, wenn er sie einmal zu sich rief, als wäre nichts geschehen und gut zu ihnen war. Er war ein guter Reiter, und der stolzeste Augenblick im Knabenleben des Majors war es gewesen, als er zum erstenmal würdig und tüchtig befunden wurde, auf dem alten, schwarzen Dragonerpferd, das der Vater im Stall hatte, an des Vaters Seite über die Felder zu sprengen. Auch ein gewaltiger Nimrod war er. Und die Brüder hatten von ihm die Reize und Geheimnisse der Jagd gelernt. Schoß man daneben, so setzte es eine Ohrfeige, und schlief man auf dem Anstand, daß Fuchs oder Hase unversehrt vorübersetzten, so konnte es vorkommen, daß der Missetäter mit Schimpf und Schande heimgejagt wurde, um in heilsamer Einsamkeit über seine Ungeschicklichkeit nachzudenken. Es herrschte immer eine große Spannung auf den Jagden, bei denen der Vater mit war. Und Gott gnade dem, der seine Schuldigkeit nicht tat! Dafür lernten sie aber auch die Kunst, das Birkhuhn zu locken und auf den Schnepfenstrich zu gehen, den Habicht im Flug zu schießen, im Schnee der Spur nachzustreichen und den Dachs aus dem Bau zu locken.

»Ja,« sagte zuletzt Nils Göran, »das waren noch andre Zeiten – damals!«

Und auf den Pfaden der Erinnerung kamen sie alle gewandert, die allerhand Männer und Frauen, die die Brüder in ihrer Jugend gekannt und nicht vergessen hatten. Fröhlich und leicht kamen sie des Wegs, als lebten sie noch. Und mit den Erinnerungen wurden der Major und der Hüttenherr wieder die Knaben von einst. Sie nannten einander wieder Kälte und Nässe, die kurzen Bubennamen, die mit den Jahren außer Kurs gekommen und in Vergessenheit geraten waren. Und sie lachten laut auf in der Erinnerung an diese Männer und Frauen, deren Andenken heute in »keinem mehr als in ihnen solche Freude hervorrief. Da war Großmutter mit ihrem Kinnbart, die so scharf über die Brille wegguckte, daß sogar Papa demütig vor ihr zu Kreuze kroch. Da war der Waldhüter, der so derbe Worte brauchte und mit der Lotbüchse die Schwalbe im Flug traf. Onkel Janne gehörte auch dazu. Onkel Janne, der mehr Hechte fing beim Angeln als der geschickteste Fischer. Onkel Janne, der eines Abends um die Weihnachtszeit mit Nils Göran im Schlitten an dem geheimnisvollen Pavillon von Mörtsunda vorbeigefahren war und plötzlich – im Stockfinstern – seine Pelzmütze vom Kopf gerissen hatte. »Hast du jemand gesehen, Onkel?« hatte der erstaunte Nils Göran gerufen. »Nein,« hatte der Alte erwidert. »Aber wenn eins der Mädels im Pavillon steckt, so muß sie natürlich ans Fenster, wenn sie die Schlittenglocken hört. Und denk' doch den Schreck, wenn sie glaubt, ich hätte sie gesehen!« Und Onkel Janne lachte, daß Nils Göran noch jetzt bei der Erinnerung laut aufwieherte. Ja, ja, Onkel Janne war längst tot, freilich! Aber sein Ruhm lebte. Und dann alle die andern! Tante Ulla auf Färjenäs, die alle Hunde aufnahm und versorgte, die kein Mensch sonst haben mochte. Und Onkel Jakob, der seine kleinen Schwächen hatte, den man aber hoch in Ehren halten mußte, weil er Tante Olivias Mann war.

Weißt du noch, was er der kinderlosen Tante Sofie-Louise antwortete, als sie ihn um Rat fragte, wie sie sich zum Maskenball auf Jonstarp verkleiden solle? ›Bind' dir ein Kissen auf den Leib, Sofie-Louischen‹, sagte Onkel Jakob. ›Dann kennt dich gewiß kein Mensch!‹ Und das war noch einer von Onkel Jakobs minder saftigen Witzen. Es gab weit schlimmere – und alle wurden sie aufgetischt. Dann ward Oberst Hertzen aus seinem Grab heraufbeschworen, der gemütliche alte Oberst mit seinem roten Gesicht, der unzählige Male im Sterben gelegen hatte, der nichts tat als seine Gesundheit pflegen und zwanzig Jahre lang nur davon redete, daß er bald sterben müsse. Einmal, so behauptete man, hatte ihm bei einer derartigen Gelegenheit der Pastor das Abendmahl in Brot und Branntwein gegeben, weil kein Wein im Haus war. Den Rest hatte der Pastor selber getrunken und war selig auf dem Sofa, dem Bett des Obersten gegenüber, entschlummert. Am nächsten Morgen war der Todeskandidat munter wie ein Fisch und jagte den Pfarrer zur Tür hinaus. Aus fünf Bauchbinden und drei wollenen Unterjacken schälte er sich heraus, wenn er im Sommer einmal im See badete. »Ich lege mir nämlich alle fünf Jahre eine neue Bauchbinde zu,« behauptete er. Und neunzig Jahr alt wurde der magere, sehnige Alte, ehe er endlich starb. Und der Pfarrer – derselbe Pfarrer, von dem die Schnapsanekdote erzählt wurde! Er war ein gar gestrenger Herr, wenn er auf der Kanzel stand. Ein-, zwei-, dreimal drehte er das Stundenglas, ohne daß auch nur einer von den Zuhörern einzuschlafen oder sich zu regen wagte. Er hielt seine Bauern in Zucht und Vermahnung, verdonnerte sie mit Gesetz und Evangelium und war in der Hölle daheim, als habe er selbst das Inventar dort aufgenommen.

Alle lebten sie wieder auf, alle erstanden sie wieder in der Erinnerung. Und während die Brüder plauderten, begann über dem Lommen sanft der Nebel zu steigen. Wie ein Schleier lag er über den Ufern, und vor dem Morgendämmern, das den Wald rötete, verbleichte der Mond. Aber jetzt war auch der letzte Tropfen der Bowle zu Ende. Mit roten Gesichtern, lächelnd und ein bißchen geräuschvoll dankten die Brüder einander für den fröhlichen Abend.

Dabei war es jedoch schon, als ob der Alltag sie wieder ein bißchen in seiner Gewalt hätte. Beide Herren standen steif und gerade je an einer Seite des kleinen Tisches und schüttelten sich über die leere Bowle weg die Hände – länger als gerade notwendig gewesen wäre.

»Dank dir für den heutigen Abend, Nils Göran,« sagte Karl Henrik.

»Dank dir, Karl Henrik,« erwiderte Nils Göran.

Dann schloß der Major die Balkontür und die Brüder gingen schweigend, vorsichtig die Treppe hinab und tasteten sich nach ihren Schlafzimmern. Die Jungens von einst, Kalle und Nisse, blieben zurück in dem Zigarrenrauch, der dick über dem Giebelzimmer lag und erst am andern Morgen ordentlich ausgelüftet werden sollte.

Brite hatte ihre Sache gut gemacht. Sie hatte die Schwägerin in das innere Gastzimmer geführt und sie vermocht, die Tür zum äußern, wo Nils Görans Bett stand, zuzumachen. Ihre Vorsichtsmaßregel schien aber doch nicht ganz genügend zu sein. Was in der Nacht in den Gastzimmern vor sich ging, erfuhr allerdings niemand. Aber die kurze Marie pflegte nach einem besonders geglückten Tagewerk meist lange wach zu liegen. Denn derartiges war für sie immer mit Gemütsbewegungen verbunden. Und sie hatte zu hören vermeint, daß Bijou bellte, als der Hüttenherr die Tür zum Gastzimmer, die ewig knarrte, öffnete. Wie lange die Herrschaften noch miteinander geflüstert oder was sie verhandelt hatten, das wußte sie nicht. Denn sie war gleich darauf eingeschlafen. Auch Brite erwachte, als der Major kam. Schlaftrunken sah sie zu ihm auf und fragte, wie der Abend verlaufen sei. Und der Major blieb ihr die Antwort nicht schuldig.

»Im Grunde ist Nils Göran doch immer der Alte,« erwiderte er strahlend.


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