Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Sechstes Kapitel

Alles war fester in den alten Tagen. Die Bande, die die Menschen untereinander verbanden, waren zuverlässiger und stärker. Freundesverrat und Entzweiung erschien ihnen sicherlich schlimmer als in unsern Tagen. Auf jenen von dunklem Wald oder lichtem Feld umgebenen Höfen wohnte in unerschütterlicher Ruhe der alte Gott der Väter; die nagenden Zweifel, die die großen Geister der Zeit heraufbeschworen hatten, waren noch nicht demokratisiert und zur Seelenfäule des gebildeten Alltagsmenschen geworden.

Die Menschen wechselten ihre Wohnstätten nicht so leicht wie heute. Ihre Häuser waren nicht zum Spiel erbaut. In der Luft, die ihre Heimstätten umgab, brannte nicht die Unruhe. Und die Menschen, die da wohnten, blieben auch da bis zu ihrem Tod. Was sie erbauten oder einrichteten, trug dies Gepräge. Darum blieben auch alle Eindrücke und Erfahrungen, die das Leben ihnen schenkte, in ihren Mauern haften, und noch heute flüstern die alten Häuser von Schicksalen, die sich dereinst in ihren vier Wänden erfüllten. Nicht alles, was sich da abspielte, war Idylle. Auch die Tragödie hatte ihren Platz. Und wer auf solch einem Hof alt ward, mußte lernen, die beiden zu vereinen und sich mit der Erinnerung auszusöhnen. Denn vergessen durfte er nicht. Alles, was das Leben ihm an Gutem und Bösem bot, blieb in seinem engsten Gesichtskreis, saß in seinen vier Wänden fest. Und er lernte auf diese Weise aushalten, lernte, nicht vorzeitig schwach werden. Auch das, was er erlebt hatte, zu sammeln, mußte er lernen. Vergeblich hätte er versucht, vor schweren Erinnerungen die Augen zuzumachen. Alles, was er um sich her sah, erhielt die Erinnerung lebendig und Leid und Freud in immer neuer Gewalt.

Nur eins sank bei dem Major während dieser Zeit in Vergessenheit. Das war die Erinnerung an den Bruder. Gerade das, was ihm so schwer, so unmöglich zu tragen geschienen, sank jetzt in Vergessenheit, tief, als lägen lange Jahre zwischen heut und dem Tag, an dem die beiden Brüder im Zorn auseinander gegangen waren. Einsam sah der Major in dieser Zeit den Frühling kommen. Der einzige, der ihm Gesellschaft leistete und einen Augenblick der Zerstreuung brachte, war der Doktor, der kam und ging.

Die Seele des Majors ward hart in dieser Zeit. Langsam fing er an zu lernen, daß die Jahre kalt machen. Oft genug ist dies eine Wohltat. Wie sollte sonst der Mensch alles tragen können? Aber die höchste Kälte hat eins gemeinsam mit der höchsten Wärme: Beide brennen. An diesem Punkte treffen sich die Wirkungen des Eises mit denen des Feuers. Und so überhitzt und überreizt war alles, was Karl Henrik Mörk in jener Zeit erlebte, daß Eis und Feuer in ihm gleichsam einen gemeinsamen Brennpunkt bildeten.

Alles, was er um sich her sah, verursachte ihm geradezu physische Qual. Keinen Ort fand er, nicht draußen, nicht drinnen, den er wiedersehen konnte, ohne an alles zu denken, was einst gewesen. Seine ganze Vergangenheit sammelte sich in Brite. Und die Höhe des Lebens, wo der Mensch aufhört, für sich selber zu suchen, hatte der Major noch nicht erreicht. Die Jugend in ihm war noch lange nicht tot.

Indessen sollte die Erinnerung an den Bruder gerade in diesem Frühling in einer Weise geweckt werden, wie sich's der Major nicht hatte träumen lassen.

Er saß eines Vormittags im Kontor des Inspektors, mit der Durchsicht der monatlichen Abrechnung beschäftigt. Der Inspektor war ein alter Querkopf, der gewöhnt war, sowohl seinem Herrn als auch den Leuten seine Meinung ganz unverblümt ins Gesicht zu sagen. Er hatte just bei dieser Gelegenheit wieder einmal sein altes Lied angestimmt, nämlich daß dem Gut das notwendige Betriebskapital fehle, und daß die Zeit eine Erweiterung des Umsatzes erfordere, wenn das Hüttenwerk überhaupt einen Gewinn abwerfen solle. Wenn der Alte auf dies sein Lieblingsthema zu sprechen kam, wurde er immer sehr eifrig. Er schüttelte seine gewaltigen, grauen Haarbüschel wie eine Löwenmähne und lächelte grimmig in seinen langen, verschnupften Bart. Der alte Stenman kannte die Vorurteile der Herren, und er betrachtete es als seine Pflicht, ihnen nicht zu weichen.

Diesmal hatte er, seiner Meinung nach, gute Karten in der Hand. Doch wollte er sie, als geschickter Spieler, aufsparen, bis der kritische Moment kam. Er hörte darum so geduldig er konnte die Einwendungen des Majors an. Diese liefen wie gewöhnlich darauf hinaus, daß er, der Major, keinen größeren Reichtum anstrebe, als der war, den ihm das Los beschieden habe, daß er ganz zufrieden sei, wenn er seinen Leuten gerecht werden könne und dazu wisse, daß der Besitz, den er dereinst seinem Sohn als Erbe hinterlasse, durch ihn nicht verschlechtert worden sei.

Der Inspektor lächelte sarkastisch zu diesen Worten. Es kam ihm geradezu lächerlich vor, daß ein Mann, der seinen Besitz vermehren konnte, das nicht wollte.

»Ich mag nicht an noch mehr denken müssen, als ich schon zu denken habe,« schloß der Major. »Es ist wahrhaftig grade genug.«

Der Inspektor schwieg einen Augenblick. Das Unglück, das den Major und seine Familie betroffen hatte, war noch frisch. Und der Alte zögerte, ob er weiter machen solle. Doch glaubte er seinerseits, vermehrte Arbeit sei für den Major der einzige Weg zur Gesundheit; und mit der Freimütigkeit eines alten und treuen Dieners erlaubte er sich das auch auszusprechen.

»Er meint es gut, Stenman,« unterbrach ihn der Major, dessen Antlitz sich umwölkte. »Aber was mir helfen kann, weiß ich selber noch nicht. Und ein andrer weiß es noch viel weniger.«

Damit schickte er sich an zu gehen. Jetzt ließ der Inspektor seine Mine springen.

»Ich habe vorige Woche gehört,« sagte er vorsichtig sondierend, »daß der Patron auf Björknäs seinen Wald verkauft und hunderttausend Reichstaler bar dafür bekommen hat, ohne das, was zu erwarten hat.«

Der Major legte Hut und Stock weg und setzte sich wieder auf seinen Platz am Pult, dem Inspektor gegenüber.

»Mein Bruder hat seinen Wald verkauft?« fragte er.

Der Inspektor nickte und dachte bei sich: Aha! Das sitzt!

»An wen hat er ihn verkauft?«

»Das konnte mein Gewährsmann nicht sagen.«

Der Major hielt seine Blicke fest auf den Inspektor gerichtet; über seine Züge flog etwas, das fast aussah, wie ein finsteres Lächeln.

»Ist Er seiner Sache auch sicher, Stenman?« fragte er.

»Ich glaube, ich bin keiner, der leeres Geschwätz bei den Leuten herumträgt,« antwortete etwas empfindlich der Inspektor.

Nach diesen Worten schien es, als versinke der Major eine ganze Weile in Nachdenken. Tatsächlich war er damit beschäftigt, den Aufruhr in seinem Innern zu dämpfen, um sich vor dem Inspektor nicht heftiger, als ihm selber lieb war, gehen zu lassen. Der Major begriff wohl, daß das, was er da hörte, eine alte Geschichte war. Er hatte nur nichts davon erfahren, weil er so in sich selbst verschlossen dahin gelebt hatte. Monate mußten vergehen, ehe das Ereignis ihm zu Ohren kam! Und aufs neue stieg die Erinnerung an seine letzte Unterredung mit dem Bruder in dem Major auf. Dahin also war es gekommen! Das war das Geld, von dem der Bruder gesprochen hatte, und das bereit lag und nur auf seine Unterschrift wartete, um in seine Brieftasche zu wandern! Wald verkaufen! Freilich! Es gab viele heutzutage, die ihren Wald verkauften. Die alten Familien saßen nicht mehr so fest im Sattel wie einst. Jeder half sich eben durch, so gut er konnte. Manche verkauften ihre Heimat, andre schlossen ihre Eisenhämmer und sandten ihre Arbeiter als eine Rotte von Bettlern in die Welt hinaus. Und wieder andre verkauften ihren Wald.

Aber den Wald verkaufen, das war das letzte! Denn der Wald gehörte dem Eigentümer gar nicht allein. Der Wald war Eigentum Schwedens; und darum durfte er nicht verheert werden. Mit dem Wald stand und fiel Schwedens Wohlstand. Hoch, dicht, schützend mußte der Wald im Norden wachsen; sonst lag Acker und Weide den Winden preisgegeben. Sonst gab es keinen Schutz mehr gegen die Nachtfröste, wenn in Jahren der Not der Winter drohte. Im Wald war Wärme, der Wald gab Schutz. Der Wald war das heilige Erbe, das zu hüten und zu wahren jedes einzelnen Pflicht und Schuldigkeit war. Und wer um des Gewinnes willen den Wald verheerte, war ein Frevler.

So hatte der Major stets gedacht; und noch andre dachten so in jener Zeit. Mit was für Schwierigkeiten der Bruder zu kämpfen gehabt hatte, das wußte er nicht. Alles, was den Bruder betraf, war ihm gleichgültig geworden. Aber Björknäs war der Familienbesitz, an den sich seit Generationen der Name der Familie knüpfte. Was den Familienbesitz betraf, betraf auch ihn. Und zum erstenmal dachte Karl Henrik Mörk daran, daß er in seiner Jugend sein Erstgeburtsrecht verkauft hatte um ein Linsengericht, wie Esau.

Alles hatte der Bruder ihm genommen. Alles war um ihn in Trümmer gefallen in der Stunde, in der der Bruder sich als der zeigte, der er war, und ihn allein gelassen hatte mit dem Unglück. Sogar sein guter Name und Ruf war in der Gewalt des Bruders; denn der trug den Namen mit vollem Recht, und mit vollem Recht vergriff er sich jetzt an dem Wald.

Der Major hatte die rechte Hand um die Kontorschere gekrampft. In Gedanken stieß er ein Loch ums andre in den Wachstuchüberzug des Pults. Bestürzt sah der Inspektor ihm zu; er konnte sich nicht denken, was jetzt kommen würde.

Plötzlich besann sich der Major darauf, wo er war. Er schlug hart mit der Schere auf das Pult und sagte ruhig und kalt:

»Er wartet auf Antwort, Stenman. Er soll sie haben. Wenn mein Bruder seinen Wald verkauft, so ist das ganz seine Sache. Vermutlich hat er seine Gründe gehabt. Aber ich kenne solche Gründe nicht. Bei mir soll der Wald stehen bleiben, wie er steht, und stürzte er auch in ganz Schweden zusammen!«

Das waren große Worte; und der Inspektor, der nicht ahnen konnte, wie tief das Zerwürfnis zwischen seinem Herrn und dem Patron auf Bjölknäs war, nahm den Major auch gar nicht in vollem Ernst, sondern gab sich dem Glauben hin, er würde eines Tages schon zu einer nüchterneren Beurteilung der Sachlage kommen. Kopfschüttelnd sah er durchs Fenster seinem Gebieter nach, während dieser mit heftigen Schritten durch die Schneewehen vor der Kontorstaffel und hinüber zum Herrenhaus stapfte.

Der Inspektor hatte nicht ganz die Wahrheit gesprochen, als er behauptet hatte, er wisse nicht, wer den Wald vom Hüttenherrn auf Björknäs gekauft habe. Er hatte es auch nur darum verschwiegen, weil er wohl wußte, daß das mit dem Wald bei dem Major eine heikle Frage war. Und die Frage wäre noch heikler geworden, wenn er dem Major reinen Wein eingeschenkt und ihm gesagt hätte, daß der Käufer ein Bauer war.

Wir befinden uns jetzt im Anfang der sechziger Jahre. Wichtige Veränderungen in Schwedens inneren Schicksalen bereiteten sich zu jener Zeit vor. Der Bauernstand rückte vor, und der alte Adel ward mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Der Adel war jedoch keineswegs gesonnen, sich ohne Kampf zu fügen. Die Gegnerschaft zwischen Herren und Bauern nahm während des gegenseitigen Kampfes unerhörte Dimensionen an, und mancher Edelmann konnte das Wort Bauer überhaupt nicht mehr aussprechen, ohne einen Beigeschmack von Verachtung darein zu legen.

Ein Bauer also war es, der den Wald von Björknäs gekauft hatte. Er hieß Måns Ersson. Man sah seinen Hof von der großen Landstraße aus, wenn man von Kolsäter nach Björknäs fuhr; er lag jedoch näher bei Björknäs. Von Kolsäter aus fuhr man fast vier Meilen dorthin.

Der Hof war von Äckern und Wiesen umgeben; man sah von der Straße aus die roten Hauswände sich von ein paar dünnstehenden, weißen Birkenstämmen abheben. Zwei Generationen hindurch war der Hof schon in derselben Familie, die allen Versuchen der Gutsbesitzer, Acker und Wald an sich zu bringen, widerstanden hatte. Måns Ersson, der sich noch gut daran erinnern konnte, wie sein Großvater dort das Land urbar gemacht, hier die erste Hütte gebaut hatte, besaß mehrere Kinder; die älteste Tochter war schon an einen jungen Bauer verheiratet, der einen zu Björknäs gehörigen Hof in Pacht hatte. Auf diese Weise hatte er einen Weg gefunden, den Wald des Hüttenherrn zu kaufen; man sagte ihm überhaupt nach, er finde immer einen Weg, wenn er wolle. Måns Ersson war ein kleiner, kräftiger Mann mit einem klugen Kopf und Geld im Sack. Wie die meisten seinesgleichen war er ein Feind des Adels; und wenn er das zu verbergen suchte, so geschah es nur, um nach Belieben nach allen Seiten hin kaufen und verkaufen zu können. Denn Måns Ersson kaufte und verkaufte Wald; und in der ganzen Gegend war es wohl bekannt, daß, während ringsum die adligen Familien mehr und mehr genötigt waren, auf den Groschen zu achten, in der alten, zerschlissenen Ledertasche, die Måns Ersson unter seinem fest zugeknöpften grobwollenen Wams barg, die Banknoten immer mehr anschwollen.

Schon damals witterte jeder, der nur eine einigermaßen feine Nase hatte, voraus, daß finanzielle Krisen bevorstanden. Unter dem schwedischen Adel gab es nur wenige, die sich aufs Sparen verstanden; von Sammeln und Zurücklegen war kaum die Rede. Måns Ersson gehörte zu denen, die eine feine Nase haben; und weil er häufig nach der Stadt reiste und mit den Bankhäusern wohl vertraut war, wußte er weit mehr von der Lage der andern, als er zu sagen für gut befand. Er fuhr auch weit in der ganzen Umgegend umher, und es hieß, er wisse besser Bescheid mit dem Wert der Wälder und Güter auf viele Meilen im Umkreis als irgend einer von den Herren, die mit zwei Pferden fahren und mit silberner Gabel aßen. Wenn er seine Unterlippe über den grauen Kinnbart vorschob, der vom einen Ohr zum andern ging, sah er aus, als habe er das Wohl und Wehe des ganzen Kirchspiels in der Hand, hüte sich aber wohl, zu sagen, was er wußte.

Just diese Miene hatte Måns Ersson auch aufgesetzt, als er ein paarmal wie zufällig den Inspektor aushorchte, ob der Major allenfalls gesonnen sein könnte, Wald zu verkaufen. Und diese Voranfrage war es, die den Inspektor Stenman veranlaßt hatte, vor dem Major eine derartige Möglichkeit aufs Tapet zu bringen.

In den letzten Wochen hatte Måns Ersson jedoch den Inspektor nicht mehr getroffen, konnte also nicht wissen, was der Major über seine Spekulation dachte. Daß es an bar Geld fehle, das glaubte der Bauer ganz sicher zu wissen. Denn es ging ziemlich großartig zu auf dem Herrenhof, und was an laufenden Geldern einging, konnte nicht weit reichen.

So geschah es denn, daß Måns Ersson eines Tages im April nach Kolsäter gefahren kam. Das Pferd ließ er beim Stall stehen. Denn auf dem Hof vorzufahren, das getraute er sich doch nicht. Dazu war das Pferd zu häßlich und der Schlitten zu gering. Måns Ersson empfand es immer, daß er nur ein Bauer war, und wollte jeder Demütigung vorbeugen. Er hatte in seinem langen Leben mehr als eine schlucken müssen. Langsam wanderte er über den Hof, unsicher, ob er die hohe Steintreppe vor der geschlossenen Haustür hinauf oder um das Haus herumgehen und nach einem andern Eingang suchen solle.

Schließlich wählte er aber doch die Haupttreppe; und nach einigem Hin- und Herreden im Korridor ließ Tilda ihn ins äußere Zimmer des Majors eintreten. Er blieb an der Tür stehen und betrachtete das Zimmer mit seinen Möbeln und an den Wänden hängenden Jagdgerätschaften. Als der Major eintrat, machte Måns Ersson seinen Bückling, aber nicht demütig, sondern mit einem gewissen Selbstbewußtsein.

Die beiden Männer kannten einander schon, und der Major glaubte, der Bauer komme aus Anlaß einer alten, verwickelten Frage betreffs der Unterhaltung der staatlichen Landstraße. Hierüber war nämlich schon in den Tagen der alten Exzellenz einmal zwischen Kolsäter und dem Bauernhof Streit entstanden; und dieser Streit war im Lauf der Jahre mehr als einmal wieder aufgewacht und wartete nur immer auf einen Anlaß, um wieder auszubrechen. Der Major grüßte darum ein bißchen kurz und fragte den Bauer nach der Ursache seines Besuchs.

Måns Ersson blickte gradaus nach dem runden Tisch mit dem Globus und sagte:

»Ich bin schon einmal hier gewesen. Das war noch in den Zeiten der alten Exzellenz. Aber deswegen komm' ich heut nicht.«

Der Major wurde aufmerksam. Die zwei Männer standen einander grade gegenüber; und mit einer plötzlichen Bewegung wandte sich der Major zum Schreibtisch, nahm im Lehnsessel Platz und sagte rasch:

»Setz' dich. Du wirst müde sein.«

»Danke!« erwiderte Måns Ersson. »Aber es paßt sich wohl besser, wenn ich stehe. Ich weiß noch nicht, ob der Herr Major mich hören wollen.«

Des Majors Gesichtszüge strafften sich; sein Blick ward scharf.

»Was willst du?« fragte er.

»Es sind schwere Zeiten für alle,« fuhr Måns Ersson fort, »Hoch und Niedrig muß das heutzutag fühlen.«

Der Major nickte, und Måns Ersson fuhr fort, von den schlechten Zeiten zu reden. Immer sicherer ward der kleine Mann; wie in der Türmatte, von der er noch keinen Fuß gerührt hatte, festgewurzelt, stand er da. Er hatte den Pelz geöffnet; die Zipfel des weißwollenen Tuchs, das er um den Hals trug, baumelten über die kurze, bunte Weste.

Der Major verstand ihn noch gar nicht. Aber immer weiter redete Måns Ersson, demütig, wie um Entschuldigung bittend, und auf vielen verzwickten Umwegen näherte er sich langsam seinem Ziel. Dabei schoß aus seinen kleinen grauen Augen ein rascher, forschender Blick, der den Major noch unsicherer bezüglich der Absichten des Mannes machte. So völlig mißverstand er den Bauern, daß er sich die ganze Zeit überlegte, wie er, ohne sich selber zu blamieren, die Bitte um ein Darlehen abschlagen sollte, die er als kurzen Sinn der langen Rede unfehlbar erwartete.

Als Måns Ersson jetzt eine Pause machte, als müsse er sich einen Augenblick besinnen, erhob sich darum der Major und äußerte kurz und bündig:

»Ja, lieber Måns Ersson, es tut mir leid. Aber ich brauche mein Geld selbst.«

Verblüfft blickte Måns Ersson auf. Der Schimmer eines Lächelns erhellte seine scharf geschnittenen Züge. Aber er nickte bloß und erwiderte:

»So schlimm steht es doch nicht, daß ich herumfahren muß und Geld leihen. Ich wollte bloß fragen, ob der Herr Major vielleicht geneigt wären, mit mir ein Geschäft zu machen.«

»Das kommt darauf an, was für eine Art Geschäft es ist,« lautete die Antwort.

»Wollen der Herr Major Wald verkaufen?« fragte jetzt der Bauer geradezu.

Der Major machte zwei Schritte rückwärts. Der Umschlag in seinem ganzen Gedankengang war zu stark; er mußte sich Gewalt antun, um nicht aufzubrausen.

»Wie kommst du darauf?« fragte er, wie um Zeit zu gewinnen, seine Gedanken zu ordnen.

Der Bauer sah wohl die Aufregung des Herrn, aber er war darauf vorbereitet und sie erschreckte ihn nicht. Ihre innerste Ursache war ihm unbekannt; und daß er auf Hochmut dem Bauern gegenüber stoßen würde, darauf war er vorbereitet. Unberührt von allem, was nicht das Ziel war, das er verfolgte, stand er auf seiner Türmatte.

»Man sagt, auch große Herren brauchen Geld heutzutage,« sagte er.

Was der Major in diesem Augenblick empfand, war ähnlich dem Gefühl, das er einmal in seiner Jugend gehabt, als ihn nach ein paar durchwachten Nächten auf einmal ein Schwindel gepackt hatte. Der Stolz von Generationen war es, der in diesem Augenblick in ihm sich aufbäumte. In der ersten Hitze schien es ihm, als wäre sein ehrlicher Name beschmutzt. Die alte Liebe zum Wald wachte in ihm auf; er hatte das Gefühl, ärger konnte ihn keiner beschimpfen, als wenn er ihm mit einem solchen Anerbieten zu kommen wagte. Er blickte scharf zu dem Bauern auf und sagte:

»So schlecht steht es nicht, weder um mich, noch um Kolsäter!«

Mans Ersson schien eine Weile zu überlegen. Dann sah er wieder auf und sagte:

»Der Patron auf Björknäs kommt auch so aus und hat doch verkauft.«

Jetzt sah der Major Rot vor den Augen. Mit geballten Händen stand er vor dem Bauern und schrie:

»Hat mein Bruder seinen Wald an dich verkauft?«

Der Bauer zuckte zusammen, wich aber keinen Schritt. Nur seine Stimme war lauter, als er antwortete:

»Ich habe den Wald auf Björknäs gekauft – um teures Geld.«

Außer sich wies der Major nach der Tür und brüllte:

»Hinaus, Bauer! Pfui Teufel!«

Måns Erssons Gesicht ward vor Erbitterung feuerrot. Er war auf alles mögliche gefaßt gewesen; aber darauf doch nicht.

»Von einem Bauern Geld nehmen ist immer noch besser, als sich mit den Banken einlassen,« sagte er wütend.

Aber der Major ließ ihn gar nicht weiter reden.

»Reitet dich denn der Teufel, Kerl?« schrie er. »Du wagst es, mir in meinem eigenen Haus für das, was mein ist, Geld zu bieten? Hinaus, sag' ich!«

Måns Ersson ging. Langsam, ruhig stapfte er über den Hofplatz, stopfte sein wollenes Halstuch in die Weste und knöpfte den Pelz zu. Darauf ging er zum Stall, band das Pferd los und setzte sich in den Schlitten. Aber als er in der Allee war, wandte er sich um, spuckte aus und ballte die Faust nach den Fenstern von Kolsäter. Darauf zog er die Zügel an, um die Schwarze anzutreiben. Und so – im Aprilsudelwetter – fuhr er davon.

Der Major hatte durch diesen Auftritt wieder einen Stoß an dem empfindlichen Punkt bekommen, der nun einmal nicht heilen wollte. Es hatte ihn hart gepackt, daß er nun, zum erstenmal in seinem Leben, erfahren mußte, was es heißen will, wenn eine brutale Geldhand sich nach dem eigensten Besitz ausstreckt. Aber tiefer als alles packte ihn doch das, daß es des Bruders Beispiel gewesen, das den Bauernspekulanten ermutigt hatte, in seinem eigenen Haus ein Attentat gegen seinen Besitz zu wagen. Und der Gedanke, daß er und der Bruder denselben Namen teilten, kam als neue Kränkung zu all dem, was ihm schon vorher über dem Kopf zusammenschlug.

Dann geschah eines Tages das Unausbleibliche: die Brüder begegneten einander. So viele Monate waren inzwischen vergangen, daß der Major fast aufgehört hatte, mit dieser Möglichkeit zu rechnen. Sechs Meilen trennten die beiden Güter voneinander; ihre Wege brauchten sich nur selten zu kreuzen.

Aber es geschah trotzdem. Eines Tages, zu Anfang Mai, war es. Der Schnee lag noch auf den nassen Wegen; man kam noch mit einem leichten Schlitten weiter. Der Major kutschierte seinen Einspänner selbst; Spitz saß hintenauf. Wenn die Kufen durch den Schnee scharrten, stieg er vom Hundsfott herunter und ging durch den Schmutz nebenher. Schweißig, mühsam arbeitete sich das Pferd voran.

Der Hüttenherr kam im Wagen. Björknäs lag offener, und wo der Wald nicht schützte, war die Schlittenbahn früher zu Ende. Außerdem fuhr er nicht allein. Mina Charlotta saß neben ihm im Deckwagen. Die beiden Fuhrwerke begegneten einander an der Wegbiegung hinter der Kirche von Bonga, wo die Straße in den Tannenwald einbiegt. Der Major fuhr im Schritt über den Acker, auf dem der Schnee die Eiskruste aufgeweicht hatte, auf der der Schlitten sonst dahin glitt; Spitz kam mit langen Schritten hinterdrein. Im selben Augenblick bog aus dem Wald der Wagen und die zwei Brüder fuhren aneinander vorbei. Ohne einen Befehl abzuwarten, hielt der Kutscher des Hüttenherrn. Instinktiv folgte der Major seinem Beispiel.

Die beiden Gefährte standen jetzt Seite an Seite. Nachdem die üblichen Begrüßungen ausgetauscht waren, entstand ein unbehagliches Schweigen. Die beiden Brüder, durch die Anwesenheit der Kutscher geniert, maßen sich gegenseitig mit seltsamen Blicken. Mina Charlotta war die einzige, die ihre Fassung bewahrte. Mit sehr korrekter teilnehmender Miene bedauerte sie die unglücklichen Ereignisse, die Schlag auf Schlag über den Schwager hereingebrochen waren.

»Im nächsten Sommer, hoffe ich, kommen wir wieder zu euch!« schloß sie.

»Brite wild wohl schwerlich in der Lage sein, je wieder Besuch bei sich empfangen zu können,« erwiderte der Major.

Mit voller Absicht legte er alle Schärfe, deren er fähig war, in diese scheinbar bedeutungslosen Worte. Und Mina Charlotta machte sich auch sogleich bereit, zu antworten.

Da geschah das Unerwartete: Der Hüttenherr brachte durch einen einzigen Blick seine Frau zum Schweigen; und Mina Charlotta nahm sich auch wirklich augenblicklich zusammen und schwieg.

Der Major sah es, und zog eine befriedigte Grimasse. Tante Olivias Hauskur fiel ihm ein. Aber im gleichen Augenblick schoß ihm das Blut in die Wangen. Mit einer Stimme, die er so gut wie möglich zu beherrschen suchte, sagte er:

»Na, Nils Göran, du hast ja den Wald verkauft?«

Der Hüttenherr fuhr zusammen; doch kaum merkbar. Er gönnte dem Bruder nicht, zu sehen, wie der Hieb ihn traf.

»Ich hab' ihn gut bezahlt bekommen,« antwortete er kurz.

»Ich habe davon gehört,« erwiderte der Major. »Weißt du, was ich getan hab'?«

»Das interessiert mich wenig,« sagte der Hüttenherr.

Der Major lächelte.

»Ich will's dir trotzdem sagen,« entgegnete er. »Ich habe den Diebsbauern zum Haus hinausgejagt.«

Das ganze Gespräch wurde sehr korrekt, mit streng beibehaltener Würde beiderseits, geführt. Weder der Major noch der Hüttenherr sprachen auch nur einmal lauter als gewöhnlich. Und doch lag in jedem Wort, jedem Tonfall, im Mienenspiel, das die Worts begleitete, eine kühle Kriegserklärung, die entscheidender war als der hitzigste Wortwechsel. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, trieb der Major sein Pferd an. Der Kutscher des Hüttenherrn knallte mit der Peitsche. Und gleich darauf fuhren die beiden Fuhrwerke davon, jedes nach seiner Seite. Und der Abstand zwischen ihnen wurde rasch größer.

Als der Schlitten im Wald angelangt war, drehte der Major sich um und gab Spitz die Zügel. Der Kutscher stellte sich aufs Fußbrett, und der Schlitten fuhr wieder rasch dahin. Kerzengrade, als stünde er in Reih und Glied, hielt Spitz dem Blick des Majors stand; mit keiner Miene verriet er, was er dachte oder ob er überhaupt etwas gedacht hatte. Aber der Major wußte: Von diesem Augenblick an war die Feindschaft der Brüder überall bekannt; er selber hatte auch weder Lust noch Kraft mehr, die Sache zu verheimlichen.

Aber auf dem Heimweg kam doch wieder ein Schamgefühl über ihn. Er wandte sich nach Spitz um und sagte, das lange Schweigen brechend:

»Du brauchst es daheim nicht zu erzählen, daß wir dem Hüttenherrn begegnet sind.«

Spitz schulterte als Antwort die Peitsche.

»Ich erzähle nichts, Herr Major,« erwiderte er barsch.

Als der Major heim kam, leuchtete ein einsames Licht aus dem oberen Stockwerk ihm entgegen. Es war immer das erste, was er sah, dies Licht. Es kam von den Zimmern, die für Brite eingerichtet waren, in denen sie ihr Leben weiter schleppte, allein, nur mit einer Wärterin, die der Doktor besorgt hatte. Früher hatte dies Licht ihn immer zur Eile angetrieben. Jetzt schreckte es ihn; und er quälte sich selber mit dem Wunsch, der Weg möchte doch länger – noch länger sein.

Die ganze Nacht durch brannte dies Licht. Denn wenn es dunkel war, erwachte die Kranke und wurde wild. Dann mußten sie männlichen Beistand zu Hilfe holen. Und mehr als einmal war der Major selber hinaufgegangen und hatte in der stummen Nacht mit Brite um ihr Leben gerungen, bis ihn selbst die Kräfte zu verlassen drohten. Die Erinnerung an diese Nächte war es – die schreckte ihn, wenn er auf dem Heimweg das einsame Licht sah!

Ja, sie schreckte ihn, diese Erinnerung an die neue Brite, die in ihm immer die Erinnerung an sie, die er einst geliebt, verdunkeln würde ...

Sanft fiel der Schein über den dunkeln Hof, auf dem die Schlittenkufen im Sand knirschten, der Schein des Unglückslichtes, das einsam über Kolsäter brannte.


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