Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Drittes Kapitel

Am folgenden Morgen rauschte in den alten Bäumen der Sturm. Gegen Mittag hüllte sich die Sonne in Wolken und am Nachmittag fiel der milde Sommerregen in Schauern. Der Himmel war trüb und grau, über die Fläche des Lommen jagten schwarze Windstöße und fegten schwere Regentropfen mit sich, die von der Wasserfläche zurückprallten.

Spitz hatte vor dem Mittagessen feierlichst Tante Olivia abgeholt. Mitten im ärgsten Regen kam sie im Landauer, vor den die schwarzen, ein bißchen fetten Wagenpferde gespannt waren, dahergefahren; und das Mittagessen war deshalb etwas festlicher als gewöhnlich. Der Major ließ zu Ehren des neuen Gastes eine Flasche Sekt springen, was Mina Charlotta Anlaß gab, die vom Hausherrn und Brite erwartete kleine Giftigkeit von sich zu geben – nämlich, daß Nils Göran und sie sich einen derartigen Luxus nie gestattet haben würden. Der Champagner wirkte infolgedessen nicht so aufmunternd, als beabsichtigt gewesen war; und Karl Henrik, der noch etwas von der glücklichen Stimmung des gestrigen Bruderfestes in sich trug, war deshalb mehr als gewöhnlich gereizt über diesen Ausfall der Schwägerin. Während des ganzen Mittagessens beobachtete er, so oft er sich unbemerkt glaubte, das rätselvolle Gesicht Mina Charlottas, und ein gefährliches Gefühl bittern Mitleids mit dem Bruder bemächtigte sich seiner. Brite versuchte mehr als einmal ihres Mannes Blick aufzufangen, um ihn zur Vorsicht zu mahnen. Karl Henrik sah auch einmal zu ihr hin, aber in einer Weise, die Brite unruhig machte.

Nach dem Essen herrschte die gewisse dumpfe Stimmung, wie sie – auch bei Menschen – einem Gewitter vorauszugehen pflegt. Die Damen saßen um den Sofatisch und zwischen ihnen prangten die ostindischen Tassen und die alte Kaffeekanne aus schwerem Silber. Die Herren zogen sich bald in das Zimmer des Majors im Erdgeschoß zurück. Dann und wann drang durch die Wendeltreppe das ferne Geräusch ihrer Stimmen zu den Damen herauf.

Die Brüder hatten sich in zwei Lehnsessel sinken lassen. Zwischen ihnen, auf einem niederen Tischchen, standen die gefüllten Kognakgläser, die sie ab und zu schweigend an die Lippen führten. Beide rauchten, Karl Henrik mit kurzen, hastigen Zügen, als wünsche er, mit seiner Zigarre fertig zu werden, um eine frische anstecken zu können, Nils Göran ruhig und bedächtig, indem er die Zigarre, so oft er sie zum Mund führte, zwischen den Fingern drehte und den Rauch in kunstgerechten Ringen, die sacht durch den Raum schwebten, von sich stieß.

Die Verstimmung des Majors war noch nicht gewichen. Er sehnte sich im stillen nach dem Abend, damit er Brite gegenüber seinen Gefühlen Luft machen könnte. Wieder und wieder beschäftigte sich seine Phantasie mit dem Gedanken, wie unglücklich sich der Bruder im geheimen fühlen müsse und wie merkwürdig es wäre, daß er von dem, was jedem andern in die Augen sprang, selbst nichts zu merken schien.

Nils Göran hatte in der Tat keine Ahnung, daß beim Mittagessen etwas geschehen war, was die Freude gestört hatte. Die Art und Weise seiner Frau war ihm so zur Gewohnheit geworden, das tägliche Leben hatte ihn so dagegen abgestumpft, daß ihm gar nie der Gedanke kam, andre könnten derartige Kleinigkeiten, wie das Vorkommnis beim Essen, als etwas andres ansehen als unbedeutende Bagatellen. Zudem wanderten in diesem Augenblick seine Gedanken ganz andre Wege.

Indem er eine gewaltige Rauchwolke senkrecht zur Decke emporstieß, sagte er plötzlich:

»Gestern war's gemütlich, Karl Henrik! Die Erinnerung an solche Tage tut einem manchmal recht wohl!«

Wie ein warmer Strom schoß es bei diesen Worten in Karl Henrik auf. Seine Verstimmung war wie weggeweht. Schweigend nickte er dem Bruder zu und wartete, was weiter kommen sollte. Und als Nils Göran nichts hinzufügte, setzte er selber das Gespräch fort.

»Manchmal kommt es mir vor,« sagte er, »als sei das ganze Leben nichts als ein Kreislauf – zurück zum Anfang. Alles, was man dazwischendurch erlebt, Liebe, Glück, Kämpfe, Heimat, Kinder – alles das verschwindet einmal. Und fest steht nur das, was unsere Augen zuerst erblickten.«

Nils Göran lächelte ein bißchen sarkastisch.

»Und trotzdem machen wir soviel Wesens aus uns – jeder nach seiner Seite –« sagte er.

»Ja, ja,« entgegnete Karl Henrik. »Wir machen viel Wesens aus uns im Leben. Und ich bin darin nicht der letzte. Seinerzeit wollte ich von daheim fort, weil – ja, weil ich des Vaters Tyrannisierei nicht aushielt. Ich setzte meinen Kopf durch und wurde frei. Dann brachte ich mein Hab und Gut durch; und gerade als ich soweit war, kam die Liebe über mich. Wie ich's damals eigentlich machte, kann ich jetzt nicht mehr sagen. Ich weiß es faktisch nicht. Wie ich mich überhaupt in den beiden ersten Jahren meiner Ehe, eh diese unerwartete Wendung in meinem Schicksal kam, über Wasser hielt, ist mir selber jetzt vollkommen unbegreiflich. Wenn du verlangtest, ich sollte es dir auseinandersetzen – es wäre mir platterdings unmöglich. Aber nichts von allem, was ich erlebt habe, glaub' mir, Nils Göran, nichts ist für mich von Bedeutung im Vergleich zu dem Gefühl, daß ich die Erde, mit der ich wieder vereint bin, nie hätte verlassen sollen. Daß ich zu ihr zurückkehren durfte, das war das größte Glück von allen.«

»So achtest du also den Wohlstand für nichts?« unterbrach ihn Nils Göran.

»Das will ich damit nicht sagen,« antwortete Karl Henrik zögernd. »Aber die Erde bedeutet mir mehr. Ich bin im Wald geboren und im Wald will ich sterben.«

»Als du jung warst, dachtest du nicht so,« bemerkte der Bruder.

»Nein, weil ich noch nichts erprobt hatte. Ich gehöre zu denen, die sich erst – brennen müssen.«

»Du meinst,« fiel ihm Nils Göran ins Wort, »ich gehöre zu denen, die's nicht nötig haben, sich zu brennen?«

»Wie kommst du auf den Gedanken?« fragte Karl Henrik verblüfft.

Es lag in des Bruders Ton eine Schärfe, die ihm nicht entgehen konnte. Etwas vom Groll langer Jahre, von der Grübelei vieler schwerer Winter, von der ganzen, lang verschlossenen Bitterkeit des Zurückgesetzten dem vom Glück Begünstigten gegenüber.

Nils Göran seufzte tief, ehe er mit seiner Antwort kam. Es sah aus, als wäge er genau jedes Wort, ehe er es aussprach.

»Du redest von dir,« fuhr er fort. »Aber du vergissest mich. Immer habe ich den Eindruck, daß du mich vergessen hast. Aber auch ich habe eine Geschichte gehabt, wenn sie auch in der Stille verlaufen ist. Ich bin nie von der Erde fortgekommen, wie du dich ausdrückst. Ich habe nie Gelegenheit gehabt, mich zu brennen. Und wenn ich jetzt auf mein Leben zurückblicke, so vermisse ich da etwas – ja – auch ich – etwas, das nie wiederkommt!«

Langsam erwachte in Karl Henrik die Erinnerung an einen Brief, den er einst erhalten hatte. Einen Brief, den der Bruder geschrieben. Er mußte sein Gedächtnis anstrengen, damit er sich deutlich entsann ... Und mit einem Male fiel ihm alles ein. Mit einer Stimme, die vor innerer Erregung zitterte, rief er:

»Du hast mir einmal etwas Ähnliches geschrieben. Damals glaubte ich, es wäre in der Übereilung gewesen. Jetzt muß ich fragen: Sagst du mir das alles im Ernst?«

Nils Göran sah aus, als besänne er sich.

»Wir wollen nicht weiter machen,« sagte er.

Aber zu viel war schon gesagt, als daß der Major noch imstande gewesen wäre, diesem Wink zu folgen. In ihm gärte und kochte eine Furcht, die er nicht aushalten konnte. Er mußte sie los werden – um jeden Preis. War es möglich, daß der Bruder alle die Jahre durch eine heimliche Feindseligkeit gegen ihn gehegt hatte?

»Wenn du jetzt schweigst, tust du mir mehr Böses an, als mit Worten,« sagte er heftig, mit gedämpfter Stimme.

Nils Göran legte seine Zigarre, die ausgeraucht war, fort; seine Lippen wurden gleichsam schmaler, als er sie jetzt aufeinanderpreßte. Dann antwortete er:

»Ich habe dich dereinst für jenen Brief um Entschuldigung gebeten.«

»Ich weiß,« erwiderte der Major. »Aber was hilft mir das, wenn der böse Gedanke gegen mich noch in dir steckt?«

Nils Göran fuhr auf, wie von einem Hieb getroffen.

»Habe ich mich betragen als einer, der böse Gedanken hegt?« sagte er barsch. »Im übrigen sind Gedanken – soviel ich weiß – zollfrei.«

»So habe ich es nicht gemeint,« begann wieder der Major. »Du darfst mich nicht mißverstehen.«

»Ich will dir etwas sagen, Karl Henrik,« entgegnete der Hüttenherr – »ich bin dein Gast und kann dir darum nicht antworten, wie ich gern möchte.«

Karl Henrik sah den Bruder gar nicht an. In ihm arbeiteten Gedanken, von denen er sich um jeden Preis befreien wollte.

»Sag', was du willst,« sagte er. »Es ist vielleicht besser, wir sprechen uns einmal aus. Nur soviel will ich dir sagen: Den Brief, auf den du anspielst, habe ich längst vergessen.«

»Aber ich nicht.«

»Ich glaube, ich fange an, den Unterschied zu verstehen,« entgegnete der Major. »Im übrigen war es mir mit dem Vergessen so ernst, daß ich den Brief gleich damals verbrannte.«

»Willst du mir vielleicht weismachen, daß nicht einmal Brite den Brief gelesen hat?«

Beide Brüder hatten in diesem Augenblick das Gefühl als wären zwischen ihnen böse Geister losgelassen. Aufrecht, mitten im Zimmer stehend, maßen sie sich gegenseitig mit feindseligen Blicken.

Dem Major war zumut wie einem, der ganz unvermutet in ein Erdbeben gerät. Der Boden unter ihm fängt an zu schwanken – und noch versteht er die Ursache nicht.

»Du glaubst mir nicht!« rief er.

»In diesem Punkt – nein!« antwortete kurz der Hüttenherr. »Du sagst, du habest diesen Brief vergessen. Darf ich fragen: Hast du auch deinen vergessen?«

Der Major besann sich einen Augenblick.

»Ja,« antwortete er schließlich. »Ich habe ihn vergessen. Und bis zu dieser Stunde glaubte ich, du habest es auch getan!«

Der Hüttenherr lächelte bitter. Mit einer Stimme, die er absichtlich dämpfte, um nicht von den Damen droben im Salon gehört zu werden, gab er seine Erklärung ab. Er ließ sich dabei wieder im Lehnsessel nieder. Sein Ton war beherrscht, aber jedes Wort, das er sprach, war ein Stich.

»Unsere Verhältnisse sind immer ungleich gewesen,« begann er, »und sind es auch jetzt noch. Ich glaube, ich kann mich so ungefähr in deine Lage versetzen. Aber wie ein Mann in meinen Verhältnissen lebt, das hast du vermutlich vergessen.«

»Jedenfalls war ich der Armut näher als du,« unterbrach ihn der Major.

»Ja,« gab der Hüttenherr zu, »das warst du. Aber du hast es vergessen. Du willst wissen, was hinter meinen vielleicht etwas übereilten Worten von vorhin steckt. Nun ja! Du sollst deinen Willen haben. Es hat mich wundergenommen, daß du in all diesen Jahren gar nicht zu merken schienst, wie es um mich stand; und nicht mich allein hat das wundergenommen!« Nils Görans Stimme zitterte, während er diese Worte aussprach.

»Nicht dich allein?« wiederholte der Major, tief Atem holend. »Geht das auf Mina Charlotta?«

Im selben Augenblick, als ihm das Wort entschlüpft war, bereute der Major auch schon das Gesagte.

Aber es war zu spät. Das Wort war gesprochen und ließ sich nicht mehr zurücknehmen.

»Ich möchte mir ausbitten, daß meine Frau nicht in Dinge hereingezogen wird, die allein dich und mich angehen,« sagte der Hüttenherr in seinem allertrockensten Ton.

»Soviel ich mich erinnere, warst du es, der noch eben von Brite sprach,« erwiderte der Major. »Im übrigen hast du selbst den Anlaß zu meinen Worten gegeben.«

Die Erwiderung kam unmittelbar, knapp und scharf wie ein Peitschenhieb.

Darauf ward es ganz still in dem großen Raum. Der Major drehte sich auf dem Absatz um und sah zum Fenster hinaus, an dem der Regen in Streifen über die Scheiben sickerte. Der Hüttenherr sank tief in seinen niederen Sessel zurück und streckte die langen, hageren Beine auf dem Teppich von sich.

Das Schweigen zwischen den Brüdern währte lange. Sie wußten alle beide, daß sie ziemlich laut gewesen waren, und daß die Damen droben im Salon sie gehört haben mußten. Oft schon waren Mißhelligkeiten zwischen ihnen entstanden, zu denen ihre ungleichen Temperamente den Anstoß gegeben hatten. Aber diese Mißhelligkeiten waren entweder im Handumdrehen wieder vergessen gewesen, oder die Zeit hatte sie ausgeglichen – je nach Umständen. Die Brüder hatten da ihre Zwiste noch allein miteinander ausgefochten. Kein Fremdes hatte sich darein gelegt; und für beide waren in diesem Fall die Frauen Fremde. So stark hatte das eigentümliche schwere Geschick ihrer Kindheit einst diese zwei Männer vereint. Das was soeben geschehen war – das war ihnen beiden klar – war etwas unwiderruflich Entscheidendes, etwas, das sich nicht ungeschehen machen oder zurücknehmen ließ. Eine jahrelange, furchtbare Erbitterung war es – das fühlten sie beide –, die hier in Kampf auszubrechen drohte, in einen Kampf, der um so gewaltiger und unversöhnlicher war, als er von Männern gekämpft werden sollte, deren Blutsverwandtschaft den Keim zu dem seltsamen Haß in sich trug, der so alt ist wie die Welt. Im übrigen empfanden die beiden das in sehr verschiedener Weise. Der Major war ohne Zweifel die weichere von diesen zwei Naturen, sicherlich auch die feinere. Für ihn lag alles das, was da geschah, viel mehr im Dunkeln. Er konnte das Gesagte weder fassen noch richtig zusammenhalten – begriff weder die Worte, die da fielen, noch, wie es möglich war, daß diese Worte gerade jetzt kamen. Alter Groll war ihm bei andern ein Rätsel, weil er selbst derartiges nie empfunden hatte. Verzweifelt suchte er in sich nach einem Leitfaden, um aus diesem Labyrinth zu gelangen. Der Faden mußte sich ja finden lassen – mußte sich gerade jetzt finden lassen. Er konnte doch nicht ein ganzes Leben lang, das ihm noch bevorstand, diese Last tragen, die ihm jetzt mit ihrem unleidlichen Druck die Brust zusammenpreßte!

Weit besser überschaute der Hüttenherr die Sache. Inmitten der Empörung, die ihn beherrschte, bewahrte er sich die Klarheit des Denkens und die Ruhe, die ihn für gewöhnlich auszeichneten. Und als er schließlich das Schweigen brach, war seine Stimme gedämpft und kalt. Kein Laut war außerhalb des Zimmers, in dem die Herren saßen, vernehmbar.

»Was heut' gekommen ist,« begann er, »war etwas, das kommen mußte. Und es ist vielleicht das Beste, wir sprechen uns einmal gegenseitig aus. So will ich es dir denn sagen, da du es ja selber augenscheinlich nicht begreifst: Ja – ich habe etwas gegen dich – etwas, was ich immer gegen dich haben werde, solang ich lebe!«

Des Hüttenherrn Stimme zitterte und er hielt einen Augenblick inne, als müsse er frisch Atem schöpfen. Jahrelange, tiefgewurzelte Erbitterung sprach aus seinen Worten. Und der Bruder begriff das auch. Aber das, was er hörte, wollte für ihn nicht Wirklichkeit werden. So fern war seiner eigenen Natur dieser verbissene Groll, der sich hier plötzlich gegen ihn richtete. Langsam hatte er sich umgewandt. Die Hand am Fensterkreuz, wartete er wie gelähmt auf die Fortsetzung.

»Weißt du noch,« fuhr der Hüttenherr fort, »wie du Kolsäter antratst? Erinnerst du dich des Briefs, den du mir damals schriebst?«

»Ich glaube ja,« war die Antwort.

Jedes Wort schwer betonend, fuhr der Hüttenherr fort:

»Du botest mir an, ich solle Björknäs zu Erb und Eigen haben. Verzichtetest auf deinen Anteil am Gut. Erinnerst du dich?«

»Es war aufrichtig gemeint von mir.«

Der Hüttenherr hohnlächelte.

»Ich zweifle nicht daran. Aber scheint es dir nicht selber, als wäre diese – Aufrichtigkeit ein bißchen plump gewesen?«

Der Major war jetzt nicht mehr heftig oder zornig. Eine dumpfe Ruhe war an Stelle des Zorns getreten – eine Art kühler Neugier, zu hören, wie weit der andre gehen würde. Darum unterbrach er den Bruder auch nicht, sondern stand ganz still und ließ alles über sich ergehen, als ginge es ihn selbe gar nichts an.

»Du hast mich vorhin an einen Brief erinnert,« fuhr der Hüttenherr fort, »den Brief, den ich dir schrieb, als du mir deine Verheiratung anzeigtest. Ich billigte deine Handlungsweise nicht. Du weißt ja, dein Geschmack war nie der meine – en cas de femmes. Du erinnertest mich daran, daß ich dich dereinst für diesen Brief um Entschuldigung gebeten habe.«

»Du selbst hast das gesagt.«

»Einerlei. Ich weiß, daß ich es tat. Aber was ich damals geschrieben hatte, war trotzdem mein voller Ernst. Alle diese Jahre durch hab' ich so empfunden dir gegenüber. Und so werd' ich auch immer empfinden. Jetzt weißt du es!«

Der Major stand ganz regungslos bei diesen Worten. Ohne mit der Wimper zu zucken, hörte er sie an.

»Warum hast du mich dann etwas ganz andres glauben lassen?« sagte er.

»Darum, weil ich ein altmodischer Mann bin und auf Dekorum halte. Die Familie soll zusammenhalten, zum Teufel! So lang wie möglich. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Und das sag' ich dir jetzt: Was ich dir nie verzeihen kann, das ist, daß du in derselben Stunde, in der dir dein großes Erbe zufiel, das Herz hattest, mir deinen Anteil an Björknäs vor die Füße zu schmeißen. Gott sei Dank – ich habe dich ausgezahlt. Die Sache ist klar. Wir sind quitt.«

Der Major machte ein paar Schritte auf den Bruder zu und sah ihm fest in die Augen.

»Antworte mir aufrichtig, Nils Göran,« sagte er. »Was willst du eigentlich mit all dem sagen? Hast du vielleicht gewollt, ich solle dich bitten, mit mir zu teilen?«

Der Hüttenherr sprang aus seinem Sessel auf. Der Bruder hatte ihn an seiner allerempfindlichsten Stelle getroffen! Zum äußersten getrieben, hatte der Major blind zugeschlagen und hatte ohne es zu ahnen, just den Punkt getroffen, auf den Mina Charlotta jahrelang mit weiblicher List und Gewandtheit ein Gift geträufelt hatte, das unter der Haut weiter fraß. Außerstande, ein Wort der Erwiderung zu finden, nahm er seine Zuflucht zur Grobheit.

»Hast du denn gar keine Scham im Leib, du?« zischte er.

Der Major nickte sachte, als habe er gar nicht zugehört.

»Ah – so!« sagte er langsam, als rede er mit sich selbst.

In wenigen Augenblicken hatte sich das ganze Wesen des Bruders gleichsam vor seinen Augen verwandelt. Und im selben Moment fühlte er, wie in ihm etwas zerbrach. Dies Etwas war das Bild eines Menschen, ein Bild, das er tief in seiner Seele getragen, ein Mensch, von dem er geglaubt hatte, er könne ihn nie und nimmer verlieren. Das Geheimnis dieses Bildes war, daß er selbst es sich geschaffen hatte. Zum erstenmal sah er das jetzt, sah es wie in gespenstischem Licht mitten am hellen Tag. Und darum war ihm zumut, als wolle seine Seele in lauter Stücke springen. Was auch der Bruder ihm nach diesem entsetzlichen Augenblick noch sagen würde – es konnte nur noch die leere Luft treffen.

Der Hüttenherr war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um in diesem Augenblick den Bruder überhaupt zu beachten. Der Groll, den er so lang mit sich herumgetragen, beherrschte ihn so ganz und gar, daß er außer ihm nichts sah und nichts hörte. Er war darum ganz bestürzt, als der Major plötzlich mit seltsam leiser Stimme, in der nichts von Erregung zu verspüren war, zu ihm sagte:

»Also darum – weil ich dir Geld habe schenken wollen, hast du einen Groll gegen mich gefaßt?«

Das Gesicht des Hüttenherrn ward weiß.

»Ja,« antwortete er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Ich glaubte, unter Brüdern sei das möglich,« fuhr der Major, immer in dem gleichen, leisen Ton fort. »Daß du dem Geld eine so entscheidende Bedeutung einräumst, kam mir gar nicht in den Sinn. Sonst wäre ich vorsichtiger gewesen.«

Als der Major diese Worte gesagt hatte, schickte er sich an zu gehen, um dieser Unterredung, die ihm eine Qual war, ein Ende zu machen. Weshalb sollte er sich verteidigen? Er fühlte instinktiv, daß gar keine direkte Beschuldigung da war, auf die er hätte antworten können. Er fühlte in jedem Wort des Bruders nur die Antipathie gegen seine eigene Person, tiefgewurzelt, fest, halsstarrig, allen Vorstellungen und Vernunftgründen unzugänglich. Und dieser Antipathie gegenüber fühlte er sich wehrlos, wie jeder Mensch, dessen Natur nur langsam zu fassen vermag, daß des Lebens stärkste Leidenschaft vielleicht der Haß ist. Dennoch ging er nicht. Er fühlte es nicht einmal, daß er sich durch sein Bleiben selbst erniedrigte. Er wartete nur in einer Art Betäubung darauf, daß der Bruder seine Worte widerrufen, erklären, ihm wiedergeben sollte, was er verloren hatte. Es war, als fordere er von Gott, daß dies Unmögliche, was er selber als unmöglich empfand, dennoch geschehen müsse.

Der Hüttenherr fuhr unterdessen fort zu reden und redete lange. Der Major konnte sich später nicht mehr entsinnen, was Nils Göran gesagt hatte. Es waren Erinnerungen, die die beiden gemeinsam hatten, kleine Geschehnisse aus ihrer Kindheit und Jugend, Züge aus Karl Henriks Charakter, Dinge, die er getan hatte, Ausdrücke, die ihm entschlüpft waren. All das zusammengestellt, vergrößert und verdreht zum Totalbild einer menschlichen Karikatur. Und Karl Henrik begriff, daß dies Zerrbild er selbst sein sollte, so wie der Groll langer Jahre ihn in der Vorstellung des Bruders verwandelt hatte.

Er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf und rief:

»Bin ich denn im Narrenhaus? Oder was bedeutet das alles?«

In diesem Augenblick klangen auf der Wendeltreppe, die zu des Majors innerem Zimmer führte, rasche Schritte, und ehe die Brüder zur Besinnung kamen, stand Brite mitten im Zimmer. Sie war ein bißchen bleich, aber gefaßt und ruhig. Mit einem Blick überschaute sie, daß das, was hier geschehen war, mehr war als ein gewöhnlicher Disput. Und ohne den Schwager zu beachten, ging sie geradeswegs auf ihren Mann zu und fragte leise:

»Was ist hier vorgefallen?«

Jetzt hatte der Hüttenherr sich soweit gefaßt, daß er antworten konnte. Und da der Major nur den Kopf schüttelte und hartnäckig schwieg, ergriff Nils Göran das Wort. Seine Augen funkelten dabei mit einem eigentümlichen Glanz zu Brite hinüber.

»Dein lieber Mann hat mich eben daran gehindert, eine Dummheit zu begehen,« sagte er trocken. »Ich war näher daran als je zuvor in meinem Leben.«

Bei diesen Worten erwachte der Major aus der Betäubung, die ihn eine lange Weile gefangen gehalten hatte. Sein Blick irrte vom Gesicht des Bruders zu Brite hinüber. Dann sagte er kurz:

»Das ist nicht wahr. Du weißt selbst am besten, daß von etwas anderm die Rede war.«

»Ich lüge nie,« entgegnete der Hüttenherr. »Ich war tatsächlich im Begriff, eine Dummheit zu begehen und noch dazu eine ganz kapitale. Als diese brillante Unterredung begann, beabsichtigte ich nämlich mich mit der Bitte um ein Darlehn oder um Bürgschaft an meinen reichen Bruder zu wenden.«

»Du weißt, daß ich dir das niemals abgeschlagen hätte!«

»Ich weiß gar nichts,« erwiderte Nils Göran. »Im übrigen brauchst du dich nicht zu beunruhigen. Das Geld liegt bereit und wartet nur auf meine Unterschrift, sobald es mir beliebt, das Angebot, das mir gemacht worden ist, anzunehmen.«

Damit verließ der Hüttenherr mit festen Schlitten das Zimmer. Das einzige, was ihn nachher ärgerte, war, daß er dem Bruder seine finanzielle Lage aufgedeckt hatte. Es war das sonst keineswegs seine Art, und der einzige Grund, weshalb er es getan hatte, war auch nur, daß nichts, was er sonst hätte sagen können, den Bruder so tödlich verletzt hätte, wie diese seine letzten Worte. Das wußte Nils Göran, und darum hatte er sie ausgesprochen. Nicht einen Augenblick bereute er, was er getan hatte. Ebensowenig kam ihm der Gedanke, daß das, was er da begangen hatte, schlimmer war als ein Verbrechen. So seltsam es klingen mag – seine Schritte waren fester als je und er bildete sich ein, er habe als ein ganzer Mann gehandelt. Das Gift, dem er einmal den Zutritt zu seiner Seele gestattet, hatte ihn verwandelt.

Lange saß Brite bei ihrem Mann auf seinem Zimmer. Daß sie ihre Pflichten als Wirtin vernachlässigte, war ihr jetzt ganz einerlei. Sie sah es als die bedeutungslose Sache an, die es in Wirklichkeit auch war. Der Major versuchte zu schildern, was zwischen den Brüdern vorgefallen war. Aber er vermochte es nicht. Auf alles, was er erzählte, konnte Brite nur sagen: »Das ist ja gar nicht möglich. Du kannst nicht recht gehört haben.« Schließlich verstummte er ganz und gar.

»Ich weiß nichts,« sagte er tonlos.

Als Brite wieder in den Salon hinaufkam, fand sie Tante Olivia allein dort. Kaum hatte nämlich der Hüttenherr des Bruders Zimmer verlassen, als auch Mina Charlotta sich hastig erhob und ohne ein Wort der Entschuldigung mit ihren kleinen festen Schritten durch den Salon und hinaus ins Vorzimmer ging. In der Stille, die in diesem Augenblick herrschte, hörte man deutlich ihre Schritte auf der großen Treppe, von der sie durch den Korridor nach dem Gastzimmer gelangte, wo Nils Göran sich kurz zuvor eingeschlossen hatte, um in der Einsamkeit seine Nerven zu beruhigen.

Brite biß die Zähne zusammen, als ihr das klar wurde. Aber noch mehr erstaunte sie, als ihr Blick auf Tante Olivia fiel. Es war, als wäre das ganze Wesen der alten Dame verwandelt. Ihr Gesicht war finster, und es sah aus, als beherrsche sie nur mit Mühe ihren Zorn.

»So, also ist es jetzt endlich geschehen!« sagte sie scharf.

»Was?«

»Das, was ich immer gewußt habe, daß es einmal zwischen den zwei Herren geschehen würde.«

Brite sah bestürzt zu Tante Olivia auf. Die alte Dame fuhr fort:

»Wenn man so lange gelebt hat, wie ich, so kennt man sich ein bißchen aus. Du brauchst mir gar nichts zu sagen. Ich weiß auch so alles, besser, als wenn ich's mit angehört hätte.«

Tante Olivia war in vollem Aufruhr. Sie erhob sich von ihrem Platz und ballte die weiße, kräftige Hand, als habe sie einen Feind vor sich, den sie am liebsten umbringen möchte.

»Ich will dir sagen, wie es ist, Brite. Ich hätt' es auch schon eher getan, wenn ich nicht gefürchtet hätte, Unheil zu stiften. Von dem Moment an, als das kleine Geschöpf mit seinen falschen Augen und ungleichen Zähnen mir zum erstenmal unter die Augen gekommen ist, hab' ich gewußt, was das Ende sein würde. Es wäre auf alle Fälle einmal so gekommen. Denn Nils Göran ist nicht der Mann dazu, es zu ertragen, daß sein Bruder plötzlich an Stellung und Ansehen über ihm steht. Aber wär' er allein geblieben, so wäre seine schlechte Natur doch nicht so schnell zum Durchbruch gekommen. Es ist sogar möglich, daß er seine Schlechtigkeit stillschweigend hinuntergewürgt und sich nichts hätte anmerken lassen. So aber, seit sie dazu gekommen ist ...!«

Tante Olivia holte tief Atem und setzte sich wieder auf ihren Platz im Sofa, daß die Federn knackten.

»Es sollte mir eine Wonne sein, mit der Gnädigen einmal ein Hühnchen zu pflücken!« äußerte sie.

»Um Gottes willen ...« begann Brite.

Aber Tante Olivia brachte sie zum Schweigen. Bolzgrad, kampflustig saß sie auf ihrem Platz im Sofa und redete keinen Ton mehr über die Sache, die sie noch eben so stark beschäftigt hatte. Was sie dachte, behielt sie für sich, und indem sie Brite nur ab und zu ein Wörtchen zuwarf, strickte sie eifrig an dem dicken wollenen Seelenwärmer weiter, der augenblicklich ihre Handarbeit bildete. Eine Stunde später kam Tilda würdevoll mit den Kristallschalen voll Kirschen und Stachelbeeren auf ihren derben Armen ins Zimmer gesegelt. Sie stellte das Obst auf den gewohnten Platz; und keiner hätte es ihrem undurchdringlichen Gesicht ansehen können, daß sie die lauten Stimmen vom Zimmer des Majors wohl gehört hatte und selber im Korridor dem Hüttenherm begegnet war, wie er rot und erhitzt mit heftigen Schritten nach dem Gastzimmer ging. Ihr Eintritt rief den beiden Damen ins Gedächtnis zurück, was die Situation jetzt erforderte. Brite warf einen raschen, ängstlichen Blick auf Tante Olivia, deren Gesicht immer finsterer und drohender wurde. Eine kleine Weile darauf erschienen der Hüttenherr und seine Frau im Salon. Gleich nachher kam auch der Major und bat mit verlegenem Lächeln seine Gäste um Entschuldigung, daß er sie habe warten lassen.

Die Stimmung war, wie sich erwarten ließ, äußerst peinvoll. Aber alle diese Menschen waren viel zu gut geschult in den Formen äußerlicher Würde, als daß es einem von ihnen in den Sinn gekommen wäre, sich heute, in Anwesenheit Tante Olivias, von den üblichen Stunden des Beisammenseins, so unaussprechlich peinlich sie auch allen waren, fernzuhalten. Alle zeigten sie ihr gewohntes, korrektes Benehmen. Alle suchten sie soweit es möglich war, das Gespräch aufrecht zu erhalten. Nur Tante Olivia saß finster wie eine Wetterwolke vor dem Ausbruch des Gewitters da und gab eine ganze halbe Stunde lang keinen Ton von sich.

Mina Charlotta war während dieser halben Stunde geradezu großartig. Ihre Augen funkelten unter dem kastanienbraunen Haar, und mit unermüdlicher Gewandtheit wußte sie immer neue Gesprächsstoffe zu finden. Aus ihrem ganzen Wesen sprach etwas wie schlecht verhehlter Triumph, und unaufhörlich strahlten ihre Augen zum Hüttenherrn auf, als wolle sie der ganzen Welt dartun, wie stolz sie in diesem Augenblick auf ihren Mann war. Von ihren Lippen strömte geradezu ein Wortschwall. Je stiller es um die kleine Dame wurde, desto mehr schien sie sich zu befleißigen, nichts zu merken. Unbefangen richtete sie ihre Worte bald an den einen, bald an den andern; daß die Antworten meist kurz angebunden waren oder auch ganz ausblieben, bekümmerte sie nicht im geringsten. Sie sah sehr wohl, daß Karl Henriks Stirn sich mehr und mehr bewölkte, daß Brite verstummte und sich über ihre Arbeit beugte, als sei sie fest entschlossen, nichts zu sehen und zu hören. Nicht einmal die alte Dame in der Sofaecke schreckte sie mehr. In diesem Augenblick nahm sie Rache für ihre beiseite geschobene Stellung im Leben, und sie schien es sich zum Vorsatz genommen zu haben, diese Rache bis zum äußersten auszukosten. Denn dieser Tag war ihr Tag. Jetzt wußte sie, daß in Zukunft in ihres Mannes Seele auch nicht ein Winkelchen mehr sein würde, über das sie nicht herrschte. Und ein bizarrer Übermut erfüllte in dieser Stunde die kleine Dame – fast als hätte sie jahrelang gegen einen gefürchteten Nebenbuhler angekämpft und endlich den Sieg davongetragen.

Der innerliche Triumph Mina Charlottas war so unverhüllt, daß sowohl Karl Henrik als Brite ihn fühlen mußten. Und ihnen war, während sie so dasaßen, als würde von allem, was an diesem schicksalsschweren Tag geschehen war, plötzlich der letzte Schleier fortgerissen, so daß die Wahrheit in all ihrer häßlichen Nacktheit unbarmherzig zutage kam.

Mina Charlottas Triumph sollte jedoch kein ungemischter bleiben. Denn jetzt wickelte Tante Olivia ruhig ihr Strickzeug zusammen und äußerte mit einer Stimme, die sehr ruhig und sehr bestimmt klang:

»Es ist schrecklich, wieviel Verve und Abandon du heute entwickelst, meine gute Mina Charlotta! Ist dir etwas Angenehmes begegnet?«

Mina Charlotta hatte den Platz in der andern Sofaecke, links von Tante Olivia, inne, und rückte bei diesen Worten etwas weiter weg. Mit der alten Dame war nicht gut Kirschen essen in diesem Augenblick!

Tante Olivia bemerkte das und genoß es ganz unchristlich.

»Bleib' du nur sitzen, mein Püppchen,« sagte sie verächtlich. »Ich beiße nicht. Aber wenn du meine Frau wärst und ich Nils Göran, so setzte es heute abend eine ehrliche Tracht Prügel, darauf kannst du dich verlassen! Und das auf den bloßen Allerwertesten!«

Mina Charlotta machte eine Bewegung wie eine böse Katze, die gern kratzen möchte, es aber nicht wagt.

»Die Hauskuren der verehrten Frau Tante sind häufig ein bißchen kräftig!« äußerte sie spitzig.

Tante Olivia würdigte ihre Nachbarin keines Blickes, sondern wandte sich zu Karl Henrik.

»Entschuldige, wenn ich den Familienkonventikel störe,« sagte sie. »Aber ich bin gewöhnt zu tun, was ich will. Und jetzt will ich nach Hause fahren. Ich hoffe, es steht dem nichts im Weg.«

Darauf wandte sie sich zu Nils Göran, der völlig perplex über diese seiner Frau zugefügte Kränkung dasaß, und sagte energisch:

»Was meine Hauskuren betrifft, mein guter Nils Göran, so ist es eine ganz bekannte Sache, daß sie kräftig sind. Dafür helfen sie auch. Und unser Herrgott möge dich trösten, wenn du meinem wohlgemeinten Rat nicht folgst, ehe es zu spät ist!«

Hiermit erhob sich Tante Olivia und schritt in ihrer ganzen Würde resolut durch das Zimmer. Aber als sie schon die Hand auf die Klinke gelegt hatte, wandte sie sich um und sagte scharf:

»Komm mit, Brite, dir will ich adieu sagen!«

Als Brite sich anschickte zu folgen, fiel Mina Charlotta in einem Nervenanfall in die Sofakissen zurück. Nils Göran war damit beschäftigt, sie zu beruhigen. Der Major rief mit Stentorstimme zur Küche hinunter nach einem Glas Wein. Bijou war auf das Sofa gesprungen und bellte wie verrückt Nils Göran an, der versuchte, seine Frau daran zu hindern, daß sie die Seidenmantille in Fetzen riß. Kurz es war gar nicht mehr daran zu denken, daß sich ein offener Skandal vermeiden ließ.

Tante Olivia mußte in dem großen Gastzimmer, das sie bei ihren Besuchen auf Kolsäter stets bewohnte, lange warten. Als Brite endlich kam, saß die alte Dame mit den Händen vor dem Gesicht da und weinte. Brite blieb an der Tür stehen, unschlüssig, ob sie eintreten solle. Aber Tante Olivia hatte sie kommen hören. »Komm nur, Kind,« sagte sie. »Ich sitze und weine über mich selber!« Sie schneuzte sich heftig und wischte sich die Tränen ab. »Du kannst mich nicht verstehen,« sagte sie dann. »Das, worüber ich weine, das liegt in der Erde. Keiner weiß heute mehr von der Sache als ich. Aber sie ist trotzdem einmal geschehen, und ich erzähle sie nicht.«

Damit stand Tante Olivia auf.

»Hilf mir in den Mantel,« sagte sie zitternd. »Ich habe heute Gespenster gesehen. Und die Gespenster sind hinter mir her die Treppe heraufgekommen und haben mich besucht, während ich hier saß und auf dich wartete, und haben mich zum Weinen gebracht. Denn was ich heute gesehen habe, das hab' ich schon einmal gesehen, und so gesehen, daß es gar nimmer aus mir herausgeht. Glaube mir, jeder Mensch, der etwas wert ist, trägt in sich solche Leichen, wie dein Mann sie jetzt mit sich schleppt. Grausig ist es alles. Und nichts lindert so, als wenn man sich das Lachen lehrt!«

Darauf schüttelte sie Brite freundschaftlich die Hand und fügte hinzu:

»Lehr' du dich das, Kind, dann hilfst du dir selber und deinem Mann am leichtesten über die Geschichte weg!«

Wie eine weise Frau der höheren Sphären sah Tante Olivia aus, wie sie in diesem Augenblick vor Brite stand, eine weltkluge Sibylle im Kapotthut mit lila Bändern und Brille, eine joviale Sibylle, die ihre eigene Methode zur Deutung und Besiegung der Welt gefunden hatte.

Ernster als Brite sie je gesehen hatte, fuhr Tante Olivia von Kolsäter fort. Und Brite stand traurig unter der offenen Tür und blickte gedankenvoll dem dahinrollenden Wagen nach. Das Bewußtsein, daß sie das, was jetzt kommen sollte, nicht würde tragen können, lag schwer auf ihr.


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