Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Siebentes Kapitel

Vier Jahre lebte Brite so; und als sie endlich starb, war Erling, der Sohn, nicht daheim. Der Vater teilte ihm brieflich das Geschehene mit, verbot ihm aber gleichzeitig, nach Hause zu kommen.

Voller Bitterkeit trug Erling auf dem Gymnasium seine Trauer; er fühlte sich einsamer als je unter den Kameraden. Als nach dem langen Winter der Frühling das Eis brach, zog es ihn mit aller Macht heim. Der Fluß, der durch die kleine Stiftsstadt zog, stieg hoch in der Frühlingsflut, und die Eisstücke, die das schwarze Wasser dahinführte, mehrten des Jünglings Sehnen.

Der Vater war's, nach dem ihn verlangte, als er heim reiste. Und als er endlich die Heimat wiedersah, war ihm, als müsse ihm das Herz zerspringen. Jede Spur von der Mutter war wie weggewischt; nicht einmal ihr Name wurde mehr genannt.

Lange, lange wartete Erling darauf, daß der Vater das Schweigen zwischen ihnen brechen, ihm von der Mutter erzählen sollte, die tot war. Aber es geschah nie. Und so nach und nach hörte Erling auf, sich danach zu sehnen. Er fing an, mit seinen siebzehn Jahren seine eigenen Wege zu gehen.

Kolsäter hatte eine reiche Bibliothek, und in den Büchern suchte Erling die Antwort auf Fragen, die in dieser Zeit des Lebens in uns allen erwachen. Er las viel, er kannte viele Meilen in der Runde alle Wege und Stege im Wald, er dachte auch, so gut er das vermochte. Aber die Bücher waren ihm nicht genug. Er sehnte sich nach einem Menschen.

Doch die Menschen gingen an Erling vorüber und ließen ihn einsam stehen. Er war felsenfest davon überzeugt, daß alle älteren Menschen Bescheid wußten über all die Fragen, die das Unglück und der Tod der Mutter in ihm geweckt hatten. Wie sollten sie sonst leben können? Sie wollten bloß nicht, daß er sie fragen sollte, weil sie meinten, er sei noch zu jung.

So ging das fort, bis Erling endlich vor allen Erwachsenen eine gründliche Scheu hatte. Nicht einmal mit den Leuten auf dem Gut wußte er umzugehen. Das Gefühl der Scheu über seine eigene Unerfahrenheit und Jugend war stets in ihm wach und hinderte ihn, unter die andern ins Leben hinauszutreten.

So verbrachte Erling Mörk seinen Sommer. Erst als sich der zu Ende neigte und er schon die Wochen zu zählen begann, die ihm noch blieben, ehe er auf die Schulbank zurückkehren sollte, ereignete sich etwas, das mit einem Schlag dies frühreife Sonderlingsleben änderte.

Das Ereignis stand auf eigentümliche Weise in Zusammenhang mit dem »närrischen Bartel«.

Der »närrische Bartel« war, wie der Name schon sagt, ein Narr und lebte im Armenhaus. Erling hatte sich für ihn interessiert, weil er Geige spielte und weil er von allen andern ausgestoßen schien.

Der »närrische Bartel« war an der Landstraße geboren, seine Mutter war ein Bettelweib, die jahrelang mit Krücke und Bettelsack im Kirchspiel herumgezogen war. Immerwährend hatte sie Ungelegenheiten mit Schultheiß und Pfarrer, und es wunderte niemand, als man sie eines Morgens tot in dem großen Graben neben der Kirche von Bonga fand; daneben im Gras die Branntweinflasche. Neben der Toten saß der »närrische Bartel«. Als barmherzige Menschen ihn von der Leiche wegführen wollten, biß er und spuckte um sich wie ein wildes Tier. Weil sich niemand fand, der ihn nehmen wollte, steckte man ihn ins Armenhaus. Oft genug versuchte man, den Jungen in die Schule zu schicken und ihm irgend etwas beizubringen; aber alle Versuche scheiterten: Der Junge war nicht bei vollem Verstand. So ging er nach und nach unter dem Namen »der närrische Bartel«.

Schließlich gab man jeden Versuch auf, den »närrischen Bartel« andern Menschen gleich zu machen, und da er sich sogar zu den einfachsten Beschäftigungen untauglich erwies, ließ man ihn ruhig im Armenhaus, wo er in einem Winkel schlief und den Hansnarren für alle die alten Existenzen, die, gebrochen von der Mühsal und den Entbehrungen eines langen Lebens, hier landeten, machte.

Dem »närrischen Bartel« irgendwie Vernunft beizubringen, das erwies sich als gänzlich unmöglich. Weder Hiebe noch Ermahnungen halfen. Die Leute meinten, das käme davon, daß er wie mit einer Art Krankheit mit einer Scheu vor allem Lebendigen, Mensch und Vieh, geboren war. Vielleicht war er immer so gewesen, vielleicht auch hatte er bloß als Kind zu viel Schimpfworte gehört und Schläge bekommen, und dazu zu viel Hunger und Kälte ausgestanden. Bartel verblieb jedenfalls der »närrische Barrel«, und wuchs als närrischer Bartel auf.

Das einzige in der Welt, was er liebte, war eine alte Geige. Die bekam er, als der alte Per im Armenhaus starb. Per war in den Tagen seiner Blüte ein Spielmann gewesen; und manche behaupteten, wenn er nicht so gut gespielt hätte, hätt' er nicht im Armenhaus zu enden brauchen. Nun, jedenfalls starb er dort; und er war der einzige Mensch, der sich überhaupt je um Bartel gekümmert hatte. Die Wahrheit zu sagen – der alte Per sah Mäuse und Mücken, ehe er starb – alles von dem vielen Schnaps, der nun einmal mit dem Musizieren kommt! Aber wie dem auch sein mochte – er brachte es vor Zeugen in Ordnung, daß Bartel seine Geige haben sollte nach seinem Tod. Bartel hatte ganz allein gelernt, darauf zu spielen und wenn der alte Per wild wurde und um sich hieb nach all den grausigen Dingen, die er sah, war der »närrische Bartel« der einzige, der ihm den Teufel vertreiben konnte.

Als Bartel die Geige erst einmal in der Hand hatte, gab er sie auch nicht mehr her. Der »närrische Bartel« hatte überhaupt allerlei wunderliche Dinge an sich; und wenn er sich vor den Menschen scheute, so scheuten sie nicht weniger ihn. War es nicht z. B. sonderbar, daß Bartel, sobald es dunkel wurde und Schnee fiel, in seinen Winkel kroch und nicht mehr heraus ging, ehe die Sonne wieder schien? Und gerade so machte er es im Sommer. War das Wetter trüb und kalt, so war er spurlos verschwunden. Wenn dagegen die Sonne schien und die Vögel sangen, da kam er aus seinem Versteck hervor. Seine Geige hatte er immer mit. Mit geschlossenen Augen und glückseligem Gesicht saß er da in seinen Fetzen auf der Brücke vor dem Armenhaus und spielte sich selber was vor. Natürlich ließ man ihn nicht in Ruh. Natürlich versammelte sich eine Schar Zuhörer um den »närrischen Bartel«. Im Kreis standen die Menschen um ihn herum und lachten, daß sie sich die Bäuche halten mußten. Gab's denn was Lächerlicheres, als wenn der »närrische Bartel« ganz allein mitten im Sonnenschein auf der Brücke saß und geigte, als sähe und hörte er nichts?

Einmal begegnete Erling dem »närrischen Bartel«, draußen im Wald, wohin dieser sich vor seinen Widersachern geflüchtet hatte. Es war auf dem Weg zum Rabenwasser, wo die hohen graden Tannen den Bach entlang standen, der über die moosigen Steine dahinperlte. Der »närrische Bartel« saß da und geigte, während um ihn die Sonne durch die Tannenzweige sickerte und der ganze Wald in der Mittagshitze schlief.

Erling blieb lang stehen, hörte dem Spiel des »närrischen Bartel« zu und wunderte sich über das sonnige Lächeln in seinem Gesicht. Er begriff gleich, daß er nicht zu ihm hin gehen durfte. Dann würde der Zauber gebrochen sein und die Töne würden verstummen. Schließlich kam er aber doch vorsichtig aus dem Schatten und setzte sich auf einen Stein, dem Spielmann gerade gegenüber. Und während er da saß, merkte er zu seiner Verwunderung, wie der Ausdruck in Bartels Gesicht, den er von seinem Platz aus genau beobachten konnte, gleichsam erlosch. Schließlich hörte Bartel zu spielen auf und verschwand mit der Geige unter dem Arm unter den hängenden Tannen.

Von diesem Tage an war es wie eine Art Bekanntschaft zwischen Erling und dem »närrischen Bartel«. Erling hörte ihn noch oft spielen. Einmal hatte der Idiot ihm sogar zugenickt und dazu gelächelt – ein sonderbares, ängstliches, kurzes und schwaches Lächeln, das sich im Dunkel seines dünnen, weichen Bartes verlor.

Eines Tages kam Erling den Weg, der nach Torp führte, gegangen. Es war mitten auf einem Acker. Es war gegen Abend; die Sonne saß blitzend auf den Tannenwipfeln, bereit, unterzugehen. Wie ein großer goldener Kloß saß sie über dem schimmernden Wald; Feld und Acker glänzten in ihrem Licht.

Als Erling an die Stelle kam, wo der Weg zwischen den Steinmauern umbog, erblickte er plötzlich den »närrischen Bartel«. Der saß, den Rücken dem Weg zugewandt, auf der einen Mauer und sah aus, als starre er geradeswegs in die Sonne, die seine Züge überstrahlte, so daß das ganze Gesicht purpurn glühte. Aber der »närrische Bartel« war nicht allein diesmal. Eine Menge Leute standen vor ihm, Mädchen mit hellen Tüchern über dem Kopf und farbigen Schürzen, Bauernburschen in Arbeitshemden und hohen Stiefeln. Alle hatten sie die Augen auf den »närrischen Bartel« gerichtet, und in ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Verwunderung und Verachtung, Verwunderung über die Töne, die da erklangen, licht und wehmütig wie ein Abschiedsgesang für die schwindende Sonne, Verachtung für den Geiger, der ein Narr war und keiner von ihnen...

Einer der Knechte näherte sich dem Spielmann, zog eine Messingdose aus der Tasche und bot dem Verrückten zu schnupfen an. Lautes Lachen des ganzen Haufens lohnte diesen Scherz; die Geige verstummte jäh.

Hinter dem »närrischen Bartel« sprang Erling über die Mauer und versetzte, ohne sich zu besinnen, dem grinsenden Knecht mit der Messingdose eine saftige Ohrfeige. Auf einmal war ringsum alles still; der »närrische Bartel« saß hilflos auf seiner Mauer.

Erling brachte kein Wort hervor. Die Stimme blieb ihm im Halse stecken. Schon hob er den Arm zu einem neuen Schlag. Demütig, erschrocken stand der Knecht vor ihm und dienerte, die Mütze in der Hand. Aber ehe Erling ein zweites Mal zuschlagen konnte, erklang hinter ihm das Geräusch von Wagenrädern, und als er sich umsah, hielt Spitz mit den schwarzen Rappen und dem Deckwagen hinter ihm auf der Landstraße. Im Wagen saß Frau Olivia Krabbe auf Torp. Die alte Dame setzte auch nach Brites Tod ihre gewohnten Sommerbesuche auf Kolsäter fort. Und eben jetzt fuhr sie in des Majors Equipage, den großen Koffer sicher hinten aufgeschnallt, nach Torp zurück. Ihre scharfen Augen erfaßten sofort die Situation, und mit lauter Stimme rief sie Erling beim Namen.

Erling gehorchte ohne weiteres. Ehe er sich recht besann, saß er zur Linken der alten Dame im Wagen und hörte auch schon ihre freundliche Stimme rufen:

»Weiter, Spitz. Und seh Er zu, daß die verflixten Bauernlümmel keine Steine hinterher werfen!«

Der Kutscher schulterte die Peitsche und fuhr zu, ohne nach rechts oder links zu sehen. Die Rappen taten ihre Schuldigkeit, und die Gruppe am Feldrain verschwand in einer wirbelnden Staubwolke.

Jetzt wandte Tante Olivia sich zu Jung-Erling und sagte:

»Schämst du dich denn gar nicht, mit einem Bauernknecht mitten auf der Straße Händel anzufangen?«

Tante Olivia ließ den Jüngling bis Torp mitfahren; und während der Fahrt bemeisterte dieser seine Erregung. Als der Wagen durch das Gatter schwenkte, kam über Erling fast wider Willen dasselbe Gefühl von Behagen und Gemütlichkeit, das schon über ihn gekommen war, als er noch als kleiner Junge Tante Olivia besucht hatte. Auf der Haustreppe stand die alte Anna in ihrer blaugestreiften Schürze und knixte, wie immer. An der Hausecke standen die gelben Bienenkörbe; und als der Jüngling in das niedrige, gemütliche Wohnzimmer mit den kreuzweis über den frisch gescheuerten Boden gelegten Läufern und dem von weißen Möbeln mit glattgebügelten Überzügen umgebenen Spinett kam, da verschwand der letzte Rest seiner Verstimmung.

Und jetzt kam auch die Überraschung, die Tante Olivia in aller Heimlichkeit in Bereitschaft gehalten hatte, zutage. Plötzlich hörte Erling leichte Schritte im Nebenzimmer, und ehe er noch fragen konnte, öffnete sich die Tür und herein trat ein junges Mädchen, das Tante Olivia um den Hals fiel, sie küßte und streichelte und dazu mit seinem ganzen überglücklichen, anmutigen jungen Gesicht lächelte.

Erling betrachtete voller Bestürztheit diesen ganzen kleinen Auftritt, ärgerte sich, daß er beim Eintritt des jungen Mädchens eine so linkische Verbeugung machte und ärgerte sich, weil er beim besten Willen nicht anders konnte als erröten. Das junge Mädchen war ganz in Weiß; nur ein blaues Band, das sie um die Taille geschlungen hatte, hob sich dunkel ab von all dem Licht. Sie schmiegte sich im Sofa an Tante Olivia, saß da, den Arm um den Leib der alten Dame geschlungen; und weil schon Dämmerung im Zimmer herrschte, konnte Erling ihr Gesicht nicht deutlich sehen. Bloß die großen tiefen Augen sah er; und es fiel ihm auch auf, daß sie so bleich war. Emma nannte Tante Olivia sie.

Erling saß regungslos auf seinem Stuhl, bis der Tee kam. Auf alles, was Tante Olivia sagte, gab er recht ungeschickte Antworten. Er wartete nur immer darauf, daß das junge Mädchen etwas sagen sollte, und wenn sie etwas sagte, schoß ihm das Blut zum Herzen, und es wurde ihm warm und kalt. Nie hatte er eine menschliche Stimme so reden hören! Sie hatte einen ganz eigenen Klang, warm und licht; und wenn sie lachte, klang es so still und heimlich, als wenn ein unsichtbarer Vogel im Schweigen des Waldes zwitscherte...

Aber Erlings Glück währte nicht lang. Kaum war der Tee getrunken, so schob auch Tante Olivia ihren Stuhl zurück und stand auf.

»Jetzt mußt du heim, Junge,« sagte sie. »Aber du kannst wiederkommen, so oft du magst. Daheim ist's ja doch ein bißchen einsam für dich!«

Eine Weile darauf fuhr Erling durch den dämmerigen Augustabend heim. Er wußte auch jetzt noch nicht, wer das junge Mädchen war oder weshalb sie auf Torp war. Kein Wort hatte er mit ihr gewechselt; aber immer noch hörte er den Klang ihrer Stimme, sah das Leuchten der großen, ernsthaften Augen, die ihm im Dunkel des kleinen, dämmerigen Zimmers entgegenschimmerten. Immer weiter fuhr er; die ganze Landschaft lag so weich um ihn; über den Feldern stand noch ein blauer Dunst von der Hitze der Hundstage...

So geheimnisvoll, so überraschend war das junge Mädchen ins Zimmer getreten, daß alles, was Erling später über sie erfuhr, ihn eigentlich störte. Es war, als paßte nichts von all dem, was er später hörte, zu den Augen, zu dem Lachen, das so leise und weich war. Das einzige, was paßte, war die Erklärung für ihre Blässe. Emma war schwindsüchtig. Ihr Vater war an der Schwindsucht gestorben, und die Ärzte hatten auch sie aufgegeben. Ihre ganze Persönlichkeit umschwebte etwas von der geheimnisvollen Schönheit, die die Nähe des Todes der Jugend verleiht. Und als Erling das hörte, war ihm, als verstehe er jetzt erst ganz, was er empfunden, als das junge Mädchen ins Zimmer trat.

All das erzählte der Major seinem Sohn; er erzählte auch weiter, des Mädchens Mutter sei Tante Olivias leibliche Schwester, die als arme Pfarrwitwe in einer Stadt im mittleren Schweden lebte. Aber Erling verband mit all dem keinen bestimmten Gedanken. Dafür träumte er zwei Tage lang von dem jungen Mädchen, das so jung sterben sollte. Und wenn er sich nicht entschließen konnte, Tante Olivias Einladung nach Torp sogleich wieder Folge zu leisten, so kam das bloß daher, daß ihn die Stärke seiner eigenen Sehnsucht schreckte.

Schließlich kam er doch eines Vormittags hinüber. Er fand Tante Olivia in voller Tätigkeit. Sie war damit beschäftigt, das Bein eines Pächters zu schindeln, der beim Holzschlagen im Wald verunglückt war. Eine große Tanne war rascher gefallen, als der Mann berechnet hatte, das Bein war unter sie geraten und gebrochen. Jetzt lag der Mann auf dem großen Eßzimmertisch und unterwarf sich geduldig Tante Olivias derber Behandlung. Auf der Treppe vor dem Haus saß seine Frau, ein kleines blondes Weibchen im letzten Stadium der Schwangerschaft, und weinte. Tante Olivia war in ihrer bissigsten Laune, und während sie ihr strenges Barmherzigkeitswerk mit sicherer Hand ausführte, ließ sie ihrer Zunge freien Lauf.

»So ein Schafskopf!« schalt sie zum zehntenmal, während sie im Schweiß ihres Angesichtes sich abmühte, das Bein einzurenken. »Geht er und trödelt und hinkt so lang mit seinem Bein herum, bis er zuletzt überhaupt kein Bein mehr hat, nichts mehr zum Laufen und nichts zum Nagen und Beißen! Das merk dir nur, Ulrich! Wenn du dir das noch einmal einfallen läßt, so komm nur nicht zu mir damit! Ich flick dich nicht ein zweites Mal zusammen!«

Damit legte sie das Bein vorsichtig auf den Tisch, um auszuschnaufen; und als sie dabei zufällig durchs Fenster blickte, wandte sie sich sogleich mit strengem Gesicht zu der Frau des Verunglückten und fuhr fort:

»Sitzt das Frauenzimmer nicht noch immer da und heult, obgleich ich's ihr schon zwanzigmal gesagt habe, sie soll das bleiben lassen! Da komm her, hörst du?«

Die Frau stand langsam auf und fuhr sich mit der schmutzigen Schürze über ihr verschwollenes, rotverweintes Gesicht. Tante Olivia beugte sich zum Fenster hinaus und sagte:

»Begreifst du denn nicht? Wenn du so fortmachst, gibt es noch ein Unglück. Oder willst du das vielleicht?«

»Unser Herrgott ist mein Zeuge...« begann die Frau.

»Still!« unterbrach Tante Olivia. »Keinen Mißbrauch mit unseren Herrgotts heiligem Namen! Mach daß du in die Küche kommst und sei froh, daß dein Herrgott dich zu mir geschickt hat, und ich dir helfe!«

Damit wandte sie sich wieder ihrem Patienten zu. Blaß mit geschlossenen Augen und wirrem Bart lag er da, kerzengrade ausgestreckt; kein Ton der Klage kam über seine Lippen. Die Schelte, die seine Frau eben bekommen hatte, schien er gar nicht gehört zu haben. Eben wollte Tante Olivia in ihrer Arbeit fortfahren, da hörte sie ihren Namen rufen. Glühend vom hastigen Ritt kam Erling über den Hof. Er hatte sein Pferd selber abgesattelt und in den Stall gebracht. Aber man sah es seinem ganzen Äußeren an, daß er sich zu seinem Ausflug sehr sorgfältig vorbereitet hatte. Die helle Pikeekrawatte war zierlich gebunden, das braune Haar in eine breite Locke aufgekämmt, und sorgfältig geknöpfte Stege strafften die engen Beinkleider. Den Strohhut hielt er in der Hand.

Er grüßte ein bißchen verlegen. Tante Olivia musterte ihn wohlgefällig.

»Die Kleine ist im Garten,« sagte sie. Geh nur und leiste ihr Gesellschaft. Ich mache hier weiter. Wunden pflastern und verbinden ist von alters her Frauenzimmergeschäft gewesen!«

Der Garten war ganz klein. Eine Weißdornhecke umgab ihn, die seit langer Zeit nicht beschnitten worden war, daß sie fast aussah, als wachse sie wild. An der Ecke des Bienenstandes blühten schon die großen gelben Sonnenblumen, und mitten auf dem Rasen, unter den Astrachanbäumen, deren Früchte sich schon gelb färbten, prangten, von einem Kranz Reseden umgeben, rote und weiße Stockrosen. Diese Stockrosen waren Tante Olivias Stolz und für ihre Schönheit und auserlesene Form weit und breit berühmt. Und hier fand Erling Emma. Sie hockte zusammengekauert an der Erde; an der einen Hand hatte sie einen alten Handschuh. Denn sie war eben eifrig damit beschäftigt, das Unkraut auszujäten, das während Tante Olivias Besuch auf Kolsäter recht üppig gediehen war.

Ohne ihre Stellung zu verändern, nickte sie dem jungen Mann freundlich zu; und Erling wußte nichts besseres, als sich neben dem jungen Mädchen ins Gras zu werfen und ihr bei ihrer Arbeit zu helfen. Erst als die ganze große Blumengruppe gejätet und sauber geputzt war, standen beide auf und lächelten einander an.

Sie waren rasch miteinander bekannt geworden, und alle Verlegenheit war schon fort. Eifrig plaudernd gingen sie miteinander den breiten Gartenweg hinab bis zu der tiefen Laube aus beschnittenen Linden, die am Ende stand. Hier im Schatten ließen sie sich nieder. Schon summten Hummeln und Bienen nicht mehr um die Lindenblüten, die sich zu kleinen, grünen, kugelförmigen Früchten gehärtet hatten; die Luft war klar und mild, wie sie im August, ehe der Herbst kommt, ist.

In der Mitte der Laube stand ein großer alter steinerner Tisch, den viele Regenschauer verwittert hatten. Hinter den setzten sie sich. Auf dem Tische lag ein offenes Buch, als hätte eben erst jemand hier gelesen und das Buch dann liegen lassen. Erling nahm es und sah nach dem Titelblatt. Emma machte eine hastige Bewegung, als wollte sie ihn daran verhindern. Es war ein dünnes, geheftetes Buch aus gelblichem, weichem Papier. Auf dem Titelblatte standen die Worte: »Hanna« »von Johann Ludwig Runeberg«.

Ohne ein Wort zu sagen, legte Erling das Buch wieder auf den alten Steintisch. Das Buch war sein erstes wirkliches Liebesidyll, das er in seinem Leben gelesen hatte; und die Worte, die er auswendig wußte, stiegen klar und rein in seinem Gedächtnis empor. Er fragte Emma, ob sie es schon früher einmal gelesen habe.

»Oft,« erwiderte das Mädchen.

Erling saß schweigend da und blätterte in dem Buch. Sein Blick fiel auf den Anfang des dritten Gesangs. Halblaut las er:

Abwärts glitt nun die Sonne, vom Berge im Westen verschattet;
Mild wie ein Hauch war der Abend. Die goldenen Wolken in Lüften
Schwebten und strahlten ihr Licht zur Erde; und sanftlaue Winde
Kamen noch leicht von den Wiesen und spielten mit Düften der Blüten.

»Lesen Sie weiter!« bat Emma.

Aber Erling legte das Buch weg.

»Ich lese nicht gut genug,« sagte er.

In ihm erwachte auf einmal ein Vergleich zwischen der gesunden, blühenden Heldin des Gedichts und Emma, ihr, die die Hände im Schoß, ruhend im Schatten der Lindenlaube dasaß. Sie war klein und zart; sie sah so zerbrechlich, so hinfällig aus. Das weiße Kleid, in dem Erling sie zum erstenmal gesehen, hatte sie heut' gegen ein dunkles vertauscht; aber sie sah in diesem ebenso blaß aus, und ihre Augen blickten noch ebenso groß und sinnend unter dem dunkelbraunen, gescheitelten Haar hervor, das sich so weich um die eingesunkenen Schläfen schmiegte. Auf ihren Wangen brannten nach der Arbeit des Jätens kleine, heiße, rote Flecken.

Unschuldig und ruhig nahm sie das Buch, das Erling auf den Tisch zurückgelegt hatte. Sie blätterte darin, als suche sie etwas, und sagte:

»Es ist ein Sommergedicht. Darum hab' ich es auch fast immer im Winter gelesen. Jetzt wollte ich es einmal hier, mitten unter all den Blumen lesen.«

Ihre tiefen Augen schauten klar zu Erling empor. Dieser wußte nicht recht, was er darauf antworten sollte.

»Wann haben Sie es gelesen?« fragte jetzt das Mädchen.

»Ich weiß nicht mehr,« antwortete er. »Ich glaube, es war an einem Winterabend, daheim.«

»Ich habe nie jemand gehabt, mit dem ich hätte reden können über das, was ich las,« fügte er wehmütig hinzu.

»Reden Sie nie mit Ihrem Vater?«

Auf diese Frage antwortete Erling nicht.

Sie begannen jetzt über das zu sprechen, was sie beide schon gelesen hatten. Die Luft ward schwer von Mittagshitze. Wie in einem Sonnenbad lag der ganze kleine Garten; die Reseden dufteten; hinter der Hecke hervor klang das Geräusch des Baches, der vorübersprudelte.

»Ich habe mehr gelesen als andere in meinem Alter,« sagte das junge Mädchen. »Weil ich immer so krank gewesen bin.«

Erling wurde bei diesen Worten ernst. Aber als sein Blick auf die roten Flecken auf den Wangen des Mädchens fiel, lächelte er. Er fand, sie sah blühend aus.

»Freilich,« erwiderte Emma entzückt. Und mit dem ganzen festen Glauben der Schwindsüchtigen an baldige Genesung fügte sie hinzu: »Es geht mir viel besser. Im Winter bin ich vielleicht schon ganz gesund.«

Sie lächelte ein strahlend glückliches Lächeln; und indem sie Runebergs Liebesgedicht wieder auf seinen Platz zurücklegte, fuhr sie fort:

»Es ist überhaupt gar nicht so schwer oder langweilig, krank zu sein. Ich darf lesen, so viel ich will. Keine von meinen Freundinnen darf das. Und dann sind alle Menschen so gut gegen einen, wenn man krank ist.«

So fuhren die beiden jungen Menschen zu plaudern fort, während über dem kleinen Garten die Sonne brannte, und die Bienen aus- und einflogen zu den gelben Körben, deren spitze Dächer von der Ecke drüben, wo die Hundsrüben an dem morschen Spalier hinaufkletterten, herüberschauten. Und als Tante Olivia nach vollendetem Tagewerk endlich kam, um sie zum Essen zu rufen, blickten sie einander verwundert an und lächelten wieder vor lauter Freude. Keinem von ihnen war der Vormittag lang geworden.

Jetzt war Erling, zum erstenmal in seinem Leben, froh darüber, daß sich auf Kolsäter niemand um sein Gehen und Kommen kümmerte. Er war frei wie der Vogel; und er wußte seine Freiheit auszukosten. Fast jeden Tag ritt er hinüber nach Torp. Tante Olivia ermutigte ihn dazu. Sie nannte Erling und Emma nur »die zwei Kinder« und hatte ihre Freude an ihrem vertraulichen Verkehr. Und weil die gute Dame sehr häufig von Fremden heimgesucht wurde, waren die Kinder auch meist sich selbst überlassen. Einmal war es ein Kranker, dem zur Ader gelassen werden mußte, dann wieder kam ein Bauernweib mit einem Kind, das sich am Fuß verletzt hatte; oder wieder ein Schmiedelehrling, der sich mit einem glühenden Eisen den Arm verbrannt hatte. Einmal kam ein Großbauer in rasender Eile dahergefahren. Der Schaum hing in Flocken am Geschirr der Gäule. Die Zügel von sich schleudernd, ließ er die Pferde einfach auf der Straße stehen und kam mit einem bewußtlosen Mädchen auf den Armen über den Hof gesprungen. Das Kind war beim Beerenpflücken von einer Schlange gebissen worden; und das Bein war ganz geschwollen und blau. Tante Olivia war den ganzen Tag sehr ernst; man sah wohl, sie befürchtete das Schlimmste. Sie behielt das Mädchen da; aber am nächsten Morgen war es tot. Und der Vater, der kam, um nachzufragen, ging langsam über den Hof zurück, auf seinen Armen den kleinen toten Körper, der dann hinter dem Kutschbock ins Heu gebettet ward ... Derartige Besuche hatte Tante Olivia gar oft. Und wenn keine Kranken kamen, so kamen die Gesunden, die sie geheilt hatte. Alle kamen sie wieder; so undankbar war doch keiner, daß er sich nicht wenigstens bei Frau Krabbe sehen ließ und sein »Danke schön!« sagte. Wer konnte, brachte auch meist reelle Beweise seiner Dankbarkeit mit. Diese Beweise waren ganz nach den Umständen beschaffen – von einem jungen Kalb oder Lamm bis zu einem mageren Huhn oder einem halben Schock Eier. Die Allerärmsten kamen einfach, um sich zu bedanken, machten ihren Kratzfuß oder Knix und wurden dann in die Küche hinausbeordert.

Tante Olivias Tage waren also recht ereignisreich; und es war weiter nicht zu verwundern, daß die beiden Kinder sich selbst überlassen waren. Wenn sie Abwechselung wünschten, mußten sie sich dieselbe auf eigene Hand verschaffen. Und sie waren auch bald genug überall daheim.

Hinter dem Garten lag der Wald, und hinter dem Wald der Hag. Einen schöneren Waldhang gab es überhaupt nicht. Zu oberst auf dem Hügel stand eine stattliche Tanne, um deren Stamm eine Bank lief. Das war dereinst Onkel Jakobs Lieblingsplatz gewesen. Hier saß er oft und las oder träumte. Denn Onkel Jakob war ein belesener Herr, der sich auch in späteren Lebensjahren noch an seinen lateinischen Poeten erbaute. Wenn Gäste nach Torp kamen, war hier der Sammelpunkt, und in mehr als einer Sommernacht waren Onkel Jakobs Lieder über den dämmerigen Waldhang hin erklungen, während er sich selber auf der alten Gitarre begleitete, die jetzt seit Jahren, stumm und ungestimmt, über dem Bett in Tante Olivias Zimmer hing. Jetzt waren die kleinen Tannen den Abhang hinunter groß geworden; bis hinab zum Bach standen hochgeschossene, schmale Wacholderbüsche. Dichtes Moos bedeckte die Steine; plätschernd eilte der Bach unter den Erlen hin.

Und hier waren Erling und Emma allein. Keiner sah sie. Glückselig glitten sie den Abhang hinab, lagerten im grünen Gras, und sahen dem Bach zu, der im Dunkel des Brückengewölbes verschwand...

In solcher Umgebung lebten die zwei jungen Menschen ihr erstes Liebesmärchen. Kein Wort ward gesprochen über das, was sie beide so tief beglückte. Erling träumte nicht mehr. Er lebte. Nie hatte er früher von sich selber reden können. Jetzt lernte er diese Kunst. Er redete über das, was er gelesen hatte, über die großen Wälder, über seine einsamen Wanderungen in ihnen, über die Krankheit und den Tod der Mutter, über des Vaters Melancholie und seine eigene Einsamkeit. Alles erzählte er. Und alles ward ihm größer, bedeutungsvoller, weil er es nicht mehr einsam tragen mußte. Emma saß neben ihm und lauschte; ihre Augen wichen nicht von Erlings Gesicht, solange er erzählte. »Wunderbar,« dachte Erling oft. »Sie ist doch jünger als ich. Aber alles versteht sie besser!«

Es war kein großer Spielraum, in dem die zwei jungen Menschen sich bewegten; und doch ward ihnen die Zeit nicht lang. Die Stockrosen welkten und fielen ab. Die Vogelbeeren röteten sich hinter den gilbenden Blättern. Im Hag stand schon eine Birke in Rot und Gold und stach seltsam ab vom Grün der übrigen Bäume. Die beiden merkten nicht, wie die Zeit verging. Sie hatten sich ein Wunderland geschaffen; und in diesem Wunderland lebten sie.

»Was habt ihr heute getrieben, Kinder?« fragte Tante Olivia.

»Nichts,« erwiderten sie beide und lachten.

Tante Olivia war sehr gut zu ihnen. Emma war ihr einziges Geschwisterkind; und sie hatte das Mädchen zu sich genommen in der kühnen Hoffnung, sie gesund zu machen. Als sie sah, daß Emma durch Erlings Besuche täglich frischer wurde, ermunterte sie den Jüngling noch eifriger als vorher, doch ja wieder zu kommen. Daß der Major den Sohn nicht vermißte, das wußte sie wohl.

Wenn Erling nach einem solchen Tag durch den dämmernden Wald nach Hause ritt, ließ er die Zügel hängen und das Pferd Schritt gehen. Alles, was er sah, ward ihm schöner und schöner. Eine Weihe war in ihm, eine Weihe, die durch nichts gestört werden konnte. Lächelnd liebkoste er die alte Braune und dachte dabei an Emma. Menschen und Welt wurden so klein für ihn. Er war so hoch über ihren Kümmernissen, ihrem Streben, und zum erstenmal in seinem Leben wagte er es, vor sich selbst zu bekennen: Noch keiner, den er gesehen, besaß etwas von dem, was er Glück nannte. So klein war der Menschen Leben. So eng und klein ihre Gedanken...

Voll einer grenzenlosen Wonne ritt er dahin auf dem glatten Pfad; das Pferd setzte vorsichtig die Hufe, um nicht zu stolpern. Ringsum schwieg der Wald. Wie ein Dämmernetz von Zweigen und Nadeln spannte es sich zwischen den Tannen, dunkel, reglos, schattengleich. Und eine Gewißheit überkam ihn, eine Gewißheit, daß Emma gesund werden würde. Es war, als hielte er ihr Schicksal in der Hand, weil es mit dem seinen verwoben war. Wenn er daheim war, überließ er das Pferd dem Kutscher und schlich sich leise auf sein Zimmer. Er wollte niemand begegnen. Allein schon der Gedanke an andre Menschen störte ihn. Und wenn er auf seinem Zimmer war, riß er das Fenster auf und blickte hinaus über die Bäume des Parks, hinter denen das Wasser des Lommen erglänzte. Über ihm leuchteten blaß die Sterne.

Die beiden Kinder nannten sich jetzt Du, und das kleine Wort hatte sie einander noch näher gebracht.

Wenn Erling neben Emma saß, und das Gespräch so recht im Gang war, konnte er ihrer zarten, spielenden Stimme lauschen und sich immer wieder darüber wundern, daß er früher immer so viel von den Alten erwartet hatte. In seinem Innern lebten noch immer die Fragen von ehedem, die großen und kleinen Fragen, die er nie hatte aussprechen können, weil sie ihm nie jemand hatte beantworten wollen. Aber nun schlummerten sie alle in süßer Ruh, als wären sie längst beantwortet, und vor seinen Augen breitete sich in unendlichem Licht der einfache, gerade Weg, den er zu gehen hatte, um zum Ziel zu gelangen...

Nichts störte den schönen Traum der Kinder. Lange Wochen hindurch schien die Sonne; vergebens schrie der Landmann zum Himmel um Regen. Kein Regen kam. Unveränderlich klar wölbte sich der blaue Augusthimmel über dem Garten und dem Waldhang auf Torp. Ungestört durften die zwei Kinder ihr Spiel zu Ende spielen.

Als dann schließlich die alte Frau Propstin Storck, Emmas Mutter, zu ihrer Schwester zu Besuch kam, änderte auch dies nichts an den Gewohnheiten der beiden Kinder. Die Propstin war auch jetzt noch, in ihren alten Tagen, ein kleines, zartes Wesen, das jedermann so wenig wie möglich belästigen mochte. Als wäre sie gar nicht von dieser Welt, glitt die kleine alte Dame mit dem üppigen grauen Haar und den warmen, tiefliegenden Augen durch die Zimmer. Wenn sie irgendwo allein saß, beschäftigten sich ihre Hände mit einer Handarbeit oder ihre Augen mit einem Buch.

Aber sie konnte selten lang still sitzen. Denn sie hatte eine Schwäche, eine Schwäche, die die Qual ihres Lebens war. Sie fürchtete sich vor dem Gewitter. Und diese Angst beherrschte sie so stark, daß sie jeden Vor- und Nachmittag ein paarmal hinausging und die Natur genau in Augenschein nahm. Wenn der Himmel wolkenlos und klar war, so kehrte sie friedlich auf ihren Platz im Wohnzimmer zurück. Entdeckte sie aber auch nur eine Wolke, die ihr im geringsten verdächtig vorkam, so kam sie mit ganz niedergeschlagener Miene und hastigen Schritten zurück. Sie machte dann die Runde durchs Haus, schloß alle Fenster und Türen und nahm schließlich ihren gewohnten Platz wieder ein, wobei sie aber fortwährend angstvoll durch die kleinen Scheiben spähte.

Kein Mensch scherzte jemals mit der Propstin über diese kleine Schwäche. Daß ihre Umgebung heimlich darüber lächelte, daran war sie ganz gewöhnt; und sie selber lächelte oft genug, ein gutherziges kleines Lächeln, als wolle sie für ihre fixe Idee um Entschuldigung bitten. Sie selber machte nie die geringste Bemerkung über andre; nie hörte man von ihr ein hartes oder boshaftes Wort. Sie war darin, wie eigentlich in allem, Tante Olivias gerader Gegensatz; und als müßte das so sein, legte Tante Olivia in Gegenwart dieser Schwester ihrer Natur Zwang an und ward ein ganz andrer Mensch. Ihr Lachen war weniger laut, ihr Urteil über die Menschen milder. Es war, als lege die Anwesenheit der Schwester ihrer ganzen Persönlichkeit einen Dämpfer auf. »Schwester Jeanette ist so sensibel,« pflegte sie zu sagen. »Eigentlich bin ich ihr viel zu bastant.«

Die Propstin störte also die zwei jungen Menschen gerade so wenig wie sie überhaupt je mit Wissen und Willen in ihrem Leben einen andern gestört hatte. Sie wanderte allein vors Haus und besah sich die Wolken, oder saß mit ihrem Strickzeug im Schaukelstuhl in der Wohnstube. Was sie dachte, wußte niemand recht. Nur hie und da einmal näherte sie sich den beiden und fragte, ob Emma viel gehustet und ob sie sich auch nicht zu sehr erhitzt habe. Dann ging Emma ihr entgegen, schlang den Arm um sie und flüsterte ihr zärtliche, beruhigende Worte ins Ohr. Und es war bei solchen Gelegenheiten immer, als wäre die alte Mutter diejenige, die krank war und der Pflege bedurfte. Für Erling, der nie die Süße einer derartigen Vertraulichkeit gekostet hatte, war es immer ein Genuß, zuzusehen.

Eins aber war doch, was die beiden jungen Menschen störte. Und das war, daß die Tage allzu rasch vergingen. Wie der Vorgeschmack eines unausweichlichen Unglücks konnte plötzlich dieser Gedanke in ihnen erwachen, und einen Eindruck der Wehmut zurücklassen, der sie dann nur noch mehr dazu antrieb, die Stunden, die ihnen noch gehörten, auszunützen. Je näher der Abschied ihnen rückte, desto schmerzlicher ward ihnen die Gewißheit, daß sie ihr Paradies verlassen mußten. Und als schließlich der letzte Tag unwiderruflich gekommen war, da war es, als entdeckten sie jetzt auf einmal erst im Ernst, daß um sie die Bäume gelb geworden, die Blumen vom Reif geknickt, die Septemberfröste gekommen waren.

Das Gartengatter knirschte in seinen Angeln; sie gingen den Weg, der die üppige dunkle Weißdornhecke entlang zum Bach hinabführte. Erling ging zuerst über das Brett, hinter dem der Pfad sich weiter in den Wald verlor, und bot Emma die Hand. Als sie glücklich drüben war, behielt er ihre Hand in der seinen. Schweigend schritten sie unter den Birken dahin. Rings um sie her strahlte die gleiche unermüdliche Sonne, die ihnen diese ganzen letzten Wochen hindurch nicht untreu geworden war. Aber die Blätter der Birken spielten in Gelb, die Vogelbeeren prangten rot hinter dem grünen Laub, und unter den weißen Birkenstämmen rauschten die braungetrockneten Blätter des Farnkrauts im Wind. Weit hinten auf den Feldern sahen sie, wie der Hafer vor den Sensen der Schnitter fiel. Der September war da.

Über Hügel, wo der Ausblick sich über abgemähte Felder und Äcker und Gehölz weitete, zog sich sachte der Pfad. Schließlich war Emma müde, und sie standen still. Auf den Wangen des Mädchens glühten rote Flecken. Stillschweigend ließ Erling sich neben ihr im Gras nieder. Sein Herz war voll, über ihren Häuptern wiegten sich die langen, hängenden Zweige der Birken; Goldwolken segelten zwischen weißen, rosig erglühendem Purpurgewölk am Himmel hin. Keins von ihnen fand ein Wort zu sagen; sie wußten beide, jetzt nahmen sie Abschied. Und dies Gefühl bewältigte sie ganz und gar. Als sie endlich aufstanden, um heim zu gehen, bückte sich Erling und faßte Emma um den Leib, um ihr aufzuhelfen. Dabei neigte sich ihr Gesicht ihm entgegen; und ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte er ihre Lippen geküßt.

Emmas Augen glühten in einem neuen, tiefern Glanz, als sie nun heimwärts wanderten; sie nahm Erlings Arm, um sich darauf zu stützen. Frei und offen begegneten sich beider Blicke. Sie hatten ein Gelübde getauscht, ein Gelübde, das bindend war fürs Leben. Heilig, glückselig und ernst, wie nichts, was sie je erlebt oder erträumt, ward ihnen diese Stunde. Als sie sich der Hecke näherten, lächelte Emma und ließ Erlings Arm los. Das Geheimnis, das sie beide miteinander hatten, durfte niemand wissen. Als ihren teuersten Schatz wollten sie es bewahren.

Unter heiterem Plaudern und Scherzen verging das Mittagessen. Für Emma und Erling war es, als wären sie ganz allein in dem hellen Zimmer und redeten ohne Worte miteinander. Als das Essen vorüber war, waren sie noch einen Augenblick allein miteinander. Denn Tante Olivia legte Wert darauf, ihr Essen in ihrem breiten Lehnstuhl zu verdauen, und die Propstin saß still in der Sofaecke daneben und las die letzte Nummer des Familienjournals. Erling und Emma gingen hinaus in die Lindenlaube, wo sie am ersten Tage miteinander gesessen hatten. Emma bat Erling, einen Augenblick zu warten; als sie zurückkam, gab sie ihm das kleine Buch, das damals zwischen ihnen auf dem alten steinernen Tisch gelegen hatte. Da lag es auch heut; aber Emma öffnete es mit eifrigen Fingern und zeigte Erling, daß sie auf die erste Seite mit zierlichen Buchstaben seinen Namen unter den ihren geschrieben hatte.

»Ich habe nichts, was ich dir geben könnte,« sagte Erling betrübt.

Emma schüttelte das Köpfchen und erwiderte:

»Du hast mir genug gegeben.«

Eine Weile später nahmen sie Abschied voneinander und gingen wieder ins Haus zu den Alten. Sie küßten sich nicht diesmal. Sie hielten sich bloß lang an den Händen, und Emma sagte:

»Nächsten Sommer seh' ich dich wieder hier. Dann bin ich gesund. Und morgen lieg' ich wach und denk' an dich, wenn du fortreist.«

So schieden die beiden Kinder. Und als Erling am nächsten Morgen im Wagen saß und der Stadt zurollte, war er glücklich in dem Gedanken, daß in dem kleinen Gastzimmer auf Torp ein Mädchen wach lag und ihn in Gedanken begleitete. Und glücklich war er auch im Bewußtsein, daß er in der Brusttasche seines Überziehers Emmas Abschiedsgeschenk verwahrte, das Buch, das kein Mensch außer ihm gesehen hatte oder je sehen würde. Was kümmerte es ihn, daß draußen der Regen niederrauschte und daß der erste Herbststurm blies!

Den ganzen Winter lang lebte Erling Mörk in diesem heimlichen Glück. Aber als der Mai kam, da ging der Traum in Trümmer.

Er war eines Abends allein auf dem Zimmer, das er während seiner Schulzeit bewohnte. Vor seinem Fenster rauschte der Fluß in der Frühlingsflut, über dem Dach auf der andern Seite der Straße, die mitten durch die kleine Stiftsstadt führte, sah man hinaus auf die blauenden Hügel. Die Sonne war untergegangen; über dem Himmel lagen Purpurwolken, die immer dunkler und dichter wurden, je tiefer die Sonne sank.

Erling stand an das Fensterkreuz gelehnt; seine Augen standen voller Tränen; er sah nichts. Sein ganzer junger Körper ward wie von einem Frost oder Krampf geschüttelt. Immer wieder schlug er verzweifelt mit der geballten Hand aufs Fensterbrett, als müsse der körperliche Schmerz ihm Linderung verschaffen. Schließlich wankte er nach dem schmalen Sofa an der Längswand zurück. Dort fiel er kopfüber hin; und ein gewaltiges Schluchzen schüttelte seinen Körper. So fand ihn die alte Schul-Aufwartefrau, die mehr von den Kümmernissen der Jugend gesehen hatte, als je ein Vater oder eine Mutter. Sie tat, als sähe sie den Jüngling gar nicht, sondern machte still das Zimmer zur Nacht zurecht. Dann zog sie die Rollgardine vors Fenster und zündete die Lampe an, obgleich noch das helle Dämmer des Frühlingstags herein schien.

Eine Weile, nachdem die Alte gegangen war, erhob sich Erling und setzte sich im Sofa auf. Er weinte nicht mehr, sondern saß bloß ganz still und starrte in das kleine Zimmer mit seinen einfachen Möbeln, als wisse er nicht recht, wo er eigentlich sei.

Schließlich merkte er, daß das Bett gemacht war. Aber er konnte sich nicht darauf besinnen, wie das geschehen sein konnte. Vielleicht war es Zeit, zu Bett zu gehen?

»Ich habe gewiß geschlafen,« dachte er. »Es muß schon spät sein.«

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, nach der Uhr zu sehen. Mechanisch entkleidete er sich. Die Kleider ließ er liegen, wie sie gerade lagen, und nachdem er die Lampe gelöscht hatte, ging er zu Bett. Er wunderte sich, daß durch die herabgelassenen Gardinen noch Tageshelle schien. Im Bett begann das Weinen aufs neue; und wie ein Kind weinte sich der einsame Jüngling in Schlaf, bis ins Innerste erschüttert von seinem ersten, großen, jungen Leid.

Er hatte heute einen langen, einsamen Spaziergang vor die Stadt hinaus gemacht. Über den nassen Feldern trillerten die Lerchen, durch die Gräben schoß braun das Wasser, unter den Tannen im Wald stand grünes Moos mit weißen Schneeflecken tief im Schatten. Voll Glücks war er dahingewandert und hatte geträumt, voll Glücks – er wußte ja, der Sommer war nah, der Sommer, nach dem er sich so unendlich sehnte. Als er heimkam, war er in die Wohnung der Familie gegangen, bei der er in Pension war. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Erling las sonst nie die Zeitung; aber ein Name, der da, von schwarzem Rand umgeben, stand, zwang ihn, zum Tisch hin zu gehen und zu lesen... Er mußte lange buchstabieren an dem Namen und an den Worten, die ihn begleiteten, ehe er zu fassen vermochte, daß das, was er da las, wahr war.

Da stand, daß Emma tot war; im Alter von noch nicht sechzehn Jahren. Als Erling es endlich begriff, wurde in ihm und um ihn alles dunkel. Er sah nichts mehr, bis er auf dem Sofa auf seinem kleinen Zimmer aufwachte und die Lampe auf dem Schreibtisch brennen sah. Um ihn war alles öde und leer. Alles war fort, das Glück, die Jugend, der Sommer, nach dem er sich gesehnt hatte. Sein späteres Schicksal gehörte einem andern Märchen an...


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