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VI.
Der Roman beginnt

Nunmehr müssen wir – ich hoffe, der geneigte Leser ist damit einverstanden – für eine Weile die Träumereien des trefflichen Chevaliers verlassen. Die Geschichte soll in der üblichen Form weitererzählt werden, nicht ohne gelegentlich wiederum ein Zwiegespräch einzuschalten oder auch, wo es nötig ist, den jungen Mann in seiner Briefbeichte fortfahren zu lassen.

 

Der Page war so erschöpft, daß er in den Armen seines Herrn einschlummerte. Sein Köpfchen mit dem zerzausten Haar rollte hin und her, wie leblos.

Die Ankömmlinge erhielten zwei Zimmer angewiesen. Ein Diener ging vorauf. Er bat, den Knaben tragen zu dürfen, aber der Kavalier dankte und gab die – übrigens federleichte – Last nicht aus den Händen. Behutsam legte er sie auf das Sofa. Eine Mutter hätte nicht sorglicher verfahren können.

Als sich der Diener entfernt hatte, machte sich der junge Edelmann daran, dem Pagen die Reitstiefel auszuziehen. Die kleinen Füße waren offenbar geschwollen und schmerzten zweifellos. Die Stiefel saßen fest. Ein paarmal stieß der zarte Schläfer leise Seufzer aus. Aus Furcht, er könne aufwachen, hielt der Herr in seinem Bemühen inne und wartete, bis sein Schützling wieder schlief. Endlich lockerten sich die Stiefel. Nachdem auch die Strümpfe von den mädchenhaft kleinen hübschen Füßen herunter waren, die von dem vielstündigen Ritte gerötet und gedrückt waren, bettete er sie behutsam.

In seiner knienden Stellung verharrend, betrachtete er den Schlummernden mit zärtlichem Blick und küßte ihn leise auf die Stirn. Der Knabe schlug die Augen auf und sah seinen Gebieter schlaftrunken und liebevoll an.

»Mein Gürtel drückt mich!« flüsterte er und schlief wieder ein.

Der junge Mann öffnete die Gürtelschnalle, legte dem Knaben ein Kissen unter den Kopf und deckte ihm seinen Mantel über Leib und Beine. Sodann zog er sich einen Lehnstuhl heran, setzte sich dicht an das Sofa und betrachtete den Schläfer.

So vergingen zwei Stunden. Man hörte im Zimmer nichts als die regelmäßigen Atemzüge des Knaben und das Ticken der Standuhr.

Ein entzückendes Bild! Welche Gegensätze von Schönheit in den beiden! Der Herr schön wie eine junge Frau; der Page schön wie ein junges Mädchen. Das rosige runde Gesicht des Schlummernden, von den Locken verdeckt, glich einem Pfirsich, der aus dem Laub lugt. Sein langes Seidenhaar schimmerte halb golden, halb silbern: golden im Schatten, silbern im Licht. Ein paar Knöpfe des Wamses standen offen. Man sah einen zarten, aber vollen Hals, und durch den Spalt des feinen Batisthemdes schimmerte weißes Fleisch und der Ansatz zu einer keineswegs knabenhaften Rundung …

Der Kavalier hatte ein blasses Gesicht, jedoch mit jener leicht goldbraunen Färbung, die Kraft und Gesundheit verrät. Seine dunklen Augensterne leuchteten auf bläulichschimmerndem Kristall. Durch die feine geradlinige Nase kam Energie und Hochmut in das Profil. Auffällig war der reizende kleine Mund, der trotz seines heiteren und fast kindlichen Ausdrucks etwas Verächtliches und Pikantes hatte.

 

Wie standen Edelmann und Page zu einander? Offenbar waltete zwischen beiden mehr als sonst zwischen Herrn und Diener. Waren sie Brüder oder Freunde?

»Das liebe Kerlchen!« flüsterte der junge Mann. »Wie süß er schläft! Ich glaube, solch einen weiten Ritt hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gewagt. Zwölf Meilen! Das ist zu viel für ein so zartes Wesen! Ich fürchte, die Überanstrengung hat ihn krank gemacht. Doch nein! Morgen ist er wieder gesund und munter. Morgen wird er seine Frische und seine Farben wieder haben wie eine Rose nach dem Regen.

Er ist wirklich bildhübsch! Wenn ich nicht Angst hätte, ihn aufzuwecken, bekäme er einen Kuß. Dieses entzückende Grübchen im Kinn! Diese feine weiße Haut! Schlafe dich aus, mein Liebling!

Ich bin wahrhaftig eifersüchtig auf deine Mutter! Ich wünschte, du wärst mein Kind!

Vielleicht ist er doch krank? Nein, nein! Der Atem geht regelmäßig …

Horch! Hat es nicht eben geklopft?«

In der Tat hatte es ganz ganz leise zweimal an der Tür geklopft.

Der junge Herr erhob sich, wartete aber, in der Meinung, er habe sich getäuscht, bis es abermals klopfte.

Wiederum zwei Schläge, diesmal ein wenig kräftiger. Zugleich machte sich eine feine weibliche Stimme hörbar, die flüsternd sagte:

»Ich bins, Theodor!«

Theodor öffnete, aber langsam, gar nicht wie sonst ein junger Mann einer Frau öffnet, die mit süßer Stimme acht Uhr abends geheimnisvoll Einlaß begehrt. Und wer war es? Rosette, die Geliebte des Chevaliers d'Albert. Sie sah rosiger aus als ihr Name, und ihr Busen wogte bewegter als je bei einem Weibe, das abends in das Gemach eines hübschen Kavaliers huscht.

»Theodor!« sagte sie.

Theodor legte den Zeigefinger an den Mund, zum Zeichen, daß sie still sein sollte, und auf den schlafenden Knaben weisend, führte er Rosette in das Nebenzimmer.

»Theodor!« begann sie von neuem; sichtlich bereitete es ihr besonderes Vergnügen, den Namen zu wiederholen. Und ohne die Hand des jungen Mannes, der sie zu einem Lehnstuhle geleitete, loszulassen, sagte sie:

»Theodor! Endlich findest du den Weg zurück zu mir! Was hast du inzwischen vollbracht? Wir haben uns ein halbes Jahr nicht gesehen. Theodor, das war nicht recht von dir! Man schuldet einem Menschen, der einen liebt, selbst wenn man ihn nicht wiederliebt, Nachsicht und Mitgefühl!«

Theodor: Was ich vollbracht? Ich weiß es nicht. Ich bin gekommen und gegangen, habe geschlafen und gewacht, gejubelt und geweint. Habe Hunger und Durst verspürt, Kälte und Hitze ausgehalten, habe mich gelangweilt und Geld vertan und bin dabei sechs Monate älter geworden. Alles in allem: ich habe existiert. Und was hast du gemacht?

Rosette: Ich? Ich habe dich geliebt.

Theodor: Nichts als das?

Rosette: Nichts als das! Du hältst das für Zeitverschwendung?

Theodor: Ja, meine arme Rosette, du hättest diese Zeit besser verwenden können. Du hättest zum Beispiel jemanden lieben sollen, der dich wiedergeliebt hätte.

Rosette: Ich bin weder in der Liebe noch sonstwie Egoistin. Ich treibe mit meiner Liebe keinen Wucher. Ich verschenke meine Liebe nur.

Theodor: Das ist ein selten Ding, würdig einer erlesenen Seele! Ich habe mir oft gewünscht, dich so lieben zu können, wie du dies möchtest. Ein unüberwindliches Hindernis lag zwischen uns. Ich kann es dir nicht sagen … Hast du einen andern Geliebten gehabt, nachdem ich gegangen?

Rosette: Ich hatte einen und hab ihn noch.

Theodor: Was ist das für ein Menschenkind?

Rosette: Ein Dichter.

Theodor: Donnerwetter! Ein Dichter? Wie heißt er? Was sind seine Werke?

Rosette: Seine Werke? Die kennt noch niemand. Er hat mir einmal Gedichte gegeben. Ich habe versucht, eines Abends darin zu lesen.

Theodor: Also ein unerkanntes Genie! Spaßig! Trägt er einen abgetragenen Rock? Unsaubere Wäsche? Schlecht sitzende Strümpfe?

Rosette: Nichts von alledem. Er kleidet sich recht schick. Hat wohlgepflegte Hände und keine Tintenflecke an der Nase. Er ist ein Freund vom Baron C***. Ich habe ihn im Hause der Marquise von Themines kennen gelernt. Weißt du, das ist die Weltdame mit dem Engelsgesicht.

Theodor: Darf man auch den Namen des Unsterblichen erfahren?

Rosette: Selbstverständlich. Er heißt: Chevalier d'Albert.

Theodor: Chevalier d'Albert! Ist das der junge Herr, der gestern auf dem Balkon stand, als ich vom Gaule kletterte?

Rosette: Ja.

Theodor: Der mich so anstarrte?

Rosette: Gewiß!

Theodor: Kein übler Mensch! Trotzdem hat man mich nicht vergessen?

Rosette: Nein. Unglücklicherweise gehörst du nicht zu denen, die man vergißt.

Theodor: Er hat dich sicherlich sehr lieb?

Rosette: Weiß ichs? Es gibt Augenblicke, da scheint er mich sehr zu lieben. Im Grunde aber liebt er mich nicht. Er ist sogar nahe daran, mich zu hassen. Er grollt mir, weil er nicht fähig ist, mich zu lieben. Es ist ihm da ergangen wie so manchem andern – Erfahreneren, denn er hat Verliebtheit für Leidenschaft gehalten, und als seine Begehrlichkeit befriedigt war, da war die große Enttäuschung da … Es ist eben ein Irrtum, wenn man glaubt, weil man zusammen geschlafen, müsse man in einander vernarrt sein.

Theodor: Was wird nun mit besagtem Schatz, der keiner ist?

Rosette: Es wird ihm ergehen wie dem letzten Viertel des Mondes und der vorjährigen Mode: er verschwindet! Er hat nicht genug Energie, mit mir zu brechen, und obgleich er mich nicht im wahren Sinne des Wortes liebt, hängt er an mir. Der Genuß ist ihm zur Gewohnheit geworden. Es fällt ihm sehr schwer, darauf zu verzichten. Wenn ich ihm nicht zu Hilfe komme, ist er imstande, sich bis zum Jüngsten Tage und noch länger getreulichst mit mir zu langweilen.

Er trägt die Knospen der edelsten Eigenschaften in sich. Es bedarf nur der Sonne himmlischer Liebe, und sie blühen alle auf. Es tut mir innig leid, daß ich seine Sonne nicht war. Von allen meinen ungeliebten Geliebten ist er der, den ich am meisten mag. Und wenn ich nicht so gutmütig wäre, wie ich nun einmal bin, so würde ich ihn nicht freigeben, sondern behalten. Aber das tue ich nicht. In dieser Stunde höre ich auf, ihm zu gehören.

Theodor: Für immer?

Rosette: Wer weiß? So lange du da bist, kann ich keinem andern gehören. Das käme mir wie eine Entweihung vor. Ich hätte dann kein Recht mehr, dich zu lieben.

Du sagst, es gäbe ein unüberwindliches Hindernis. Ich habe also keine Hoffnung, je deine Geliebte zu werden?

Theodor: Behalte deinen Freund aus Liebe zu mir!

Rosette: Wenn du das wünschest … ja!

Ach, wie anders wäre mein Leben geworden, wenn du mein wärest! Die Leute machen sich ein falsches Bild von mir. Ich werde von hinnen gehen, ohne daß man ahnt, was ich wirklich war. Nur du kennst mich, Theodor! Du allein, du Grausamer! Ich begehrte keinen Andern als dich und bekam dich nicht. Hättest du mich geliebt, Theodor, ich wäre die reinste und tugendhafteste Frau! Deiner würdig! So aber hinterlasse ich dermaleinst – wenn sich überhaupt je einer meiner erinnert – den Ruf, ein leichtsinniges Weib gewesen zu sein, nur durch gesellschaftlichen Rang und Reichtum von der gemeinen Dirne unterschieden. Ach, nichts läßt so tief sinken wie unerwiderte Liebe!

Viele blicken verächtlich auf mich. Sie wissen nicht, was ich gelitten, ehe ich da anlangte, wo ich nun bin. Als ich sicher wußte, daß ich nie und nimmer dem zu eigen sein werde, den ich liebe, da überließ ich mich dem Strom. Ich gab mir nicht einmal Mühe, meinen Leib zu verteidigen. Dir durfte er doch niemals angehören. Aber mein Herz hat keiner besessen und wird auch keiner besitzen. Dir gehört es, wenn du es auch zertreten hast!

Die meisten Frauen halten sich für ehrbar, wenn sie nicht von einem Bett ins andre wandern. Ich bin andern Glaubens. Ich habe meinen Körper preisgegeben und blieb doch mit ganzer Seele und ganzem Herzen unwandelbar die Deine! Dabei habe ich dann und wann einen Menschen glücklich gemacht, indem ich ihm das Trugbild der Liebe geschaffen.

Das ist der Kern so mancher Liebesgeschichte, die man lediglich meinem Leichtsinn zuschreibt. Im Grunde bin ich nichts weniger als leichtfertig! Theodor, wenn du wüßtest, wie unsagbar schmerzensreich es ist, zu wissen, daß man sein Leben verfehlt hat, daß man an seinem Glücke hat vorübergehen müssen!

Theodor: Was du da sagst, Rosette, das ist die Geschichte aller Menschen. Das Beste in uns ist immer das, was in uns bleiben muß. Es kommt nicht zur Geltung, und wir können es nicht einmal verschenken. Denke an die Dichter! Ihre schönsten Verse bleiben ungeschrieben und ungelesen. Sie nehmen mehr Lieder in ihr Grab, als in ihren Büchern weiterleben.

Rosette: Auch ich nehme die Elegie meines Herzens mit in mein Grab.

Theodor: Genau wie ich.

Rosette: Auf mein Grab dürfte man weiße Rosen pflanzen. Ich habe zehn Liebhaber gehabt, und doch bin ich jungfräulich und werde jungfräulich sterben. Und manche, über deren Gruft Jasmin und Orangenblüten duften, war in Wahrheit eine zweite Messalina.

Theodor: Ich kenne dein goldnes Herz.

Rosette: Ja, du allein! Du hast mich im Banne einer hoffnungslosen und somit großen Liebe gesehen. Wer ein Weib nicht kennen gelernt, wenn es liebte, der weiß nichts von ihr.

Daß du mich kennst, das ist mein einziger Trost in meinem Weh!

Theodor: Sage, was denkt der junge Mann von dir, der in den Augen der Gesellschaft jetzt als dein Geliebter gilt?

Rosette: Eines Liebenden Gedanken sind tief wie das Meer. Es ist schwer zu enträtseln, was im Herzen und im Hirn eines Mannes vor sich geht. Mit einem noch so langen Lot kommt man auf keinen Grund. Gleichwohl habe ich bei ihm zuweilen den Boden verspürt, aber das Senkblei brachte mir nicht immer Perlen mit herauf. Zumeist hingen häßliche Dinge daran.

Seine Meinung über mich hat Wandlungen erfahren. Er fing damit an, womit die Andern meist aufhören. Zuerst verachtete er mich. Das beweist, daß er Phantast ist. Der Schritt in die Wirklichkeit ist für Phantasiemenschen immer ein tiefer Fall. Es gibt keine Brücke von der Traumwelt zur Erde. Er verachtete mich. Ich war ihm vergnüglich. Jetzt hegt er Achtung vor mir, und ich bin ihm langweilig.

Er ist über mich hinweggeschritten, um anderswohin zu gehen. Ich war ihm Weg ins Weite. Kein Ziel. Hinter seiner scheinbaren Jugendfrische wühlt die ärgste Zersetzung. Sein Herz ist wurmstichig. In seinem kraftstrotzenden Jünglingsleib trauert eine altgewordene Seele, die unheilbar glücklos ist.

Ich war tief erschüttert, als ich mich zum ersten Male über die dunklen Tiefen seines Innern beugte. Dein Leid und mein Schmerz sind nichts, verglichen mit seiner Qual! Er findet keine Ruh bei Tag und Nacht. Wie der Heliotrop kriecht er an düsterer Kellermauer empor, der Sonne zu, die er nicht findet. Seine Seele ward nicht lange genug in die Flut der Vergessenheit getaucht, ehe der Gott sie in seinen Körper bannte. Nun narrt und martert sie der Nachhall paradiesischer Seligkeit. Sie erinnert sich ihrer einstigen Fittiche, derweil sie über die Erde kriechen muß.

Ich war ihm der bunte Liebestraum einer Sommernacht. Ich hätte ihm einen gewaltigen Sonnentempel errichten müssen. Doch dazu fehlten mir die Kräfte. Ich stellte mich, als verstünde ich ihn nicht. Ich ließ ihn mit seiner himmelstürmenden Sehnsucht weiter am Boden hinkriechen, auf der Suche nach den Höhen, die in die Unendlichkeit ragen. Er glaubt, ich wüßte von alledem nichts. Da ich ihm nicht helfen konnte, so habe ich ihm wenigstens den schönen Wahn geschenkt, sich leidenschaftlich geliebt zu fühlen. Mein herzliches Mitleid hat mir meine fromme Komödie leicht und lieb gemacht.

Ich war eine gute Schauspielerin. Ich war heiter und elegisch, empfindsam und wollüstig. Ich habe ihm Unruhe und Eifersucht vorgetäuscht. Ich habe erheuchelte Tränen vergossen und seligstes Lächeln in meine Mienen gezaubert. Ich habe meine Lügenliebe in die leuchtendsten Gewänder gekleidet. Ich bin mit ihm durch die Wundergärten der Liebe gewandelt, und auf mein Geheiß haben die Vögel in den Büschen gesungen, wenn wir vorüberwandelten, und alle Rosen und Dahlien haben auf meinen Wink ihre Häupter geneigt. Ich habe alles Schöne der Welt überredet, mein Bundesgenosse zu sein. Ich habe der grauen Wirklichkeit meine goldene Maske aufgezwungen.

Wenn die Stunde kommt, in der das Trugbild in Stücke zerschlagen werden muß, will ich alles Unrecht auf mich laden und ihm keinen Anlaß zur Reue lassen.

Sage, ist solch ein Trug erlaubt? Ist solche Preisgabe nicht hehr und heilig?

Theodor: Wer wird dir vergelten, was du für ihn getan?

Rosette: Niemand, da du es nicht kannst!

Theodor: Ach, daß ich es könnte, liebste Seele! Aber verliere die Hoffnung nicht! Noch bist du jung! Man darf nicht bereits an der Schwelle des Lebens verzweifeln. Unser Dasein gleicht dem Turm eines großen Domes. Eine schier endlose enge Treppe führt hinauf. Es kostet viel Mühe, ehe wir sie hinter uns haben. Endlich stehen wir oben. Und nun schauen wir über die Giebel und Kuppeln der Stadt hinweg nach den grünen Höhen und blauen Hügeln und nach dem glitzernden Strom mit seinen weißen Segeln. Goldnes Licht durchdringt uns. Schwalben stoßen dicht an uns vorüber, hin und her, mit fröhlichen kurzen Schreien. Das Gewimmel der Stadt grüßt aus der Tiefe wie Freundesflüstern: ein summender Bienenkorb. Klare Glocken klingen. Winde wehen Waldesluft und Bergblumenduft herüber. Licht, Einklang, Wohlgeruch ringsum.

Wären unsre Füße ermüdet, hätte uns unterwegs Mutlosigkeit befallen, wären wir auf der Treppe irgendwo sitzen geblieben, so wäre uns dies Gipfelglück verloren gegangen.

So ist auch dein Leben. Du mußt Mut und Beharrlichkeit üben. Je länger man emporklimmt, ohne Umblick zu haben, umso weiter wird oben der Sehkreis und umso größer unser Glück, wenn wir uns durchringen.

Manche finden im Aufstiege Gucklöcher; andre haben nur die Wahl zwischen nichts und allem.

Rosette: Ich möchte wenigstens an eines der kleinen Fenster gelangen. Ich tappe schon zu lange durch das Dunkel der Wendeltreppe. Weiß ich denn, ob ich nicht oben über den letzten Stufen ein Gewölbe aus Quadern ohne einen Durchlaß antreffe und nie zur Aussicht komme?

Theodor: So darfst du nicht zweifeln, Rosette! Kein gewöhnlicher Baumeister baut Treppen, die nirgendswohin führen, und Türme, die zu ersteigen zwecklos wäre. Hältst du den bedächtigen Baumeister des Weltgebäudes für törichter oder untüchtiger? Also Mut, Rosette! Vielleicht bist du der Höhe nahe.

Rosette: Und wäre ich es auch: von der Höhe müßte ich mich doch in die Tiefe stürzen!

Theodor: Armes Kind! Verscheuche diese trübseligen Gedanken, die uns wie Fledermäuse umflattern! Wenn ich dich lieb haben soll, dann mußt du fröhlich sein und darfst nicht mehr weinen!

( Er zieht Rosette zärtlich an sich und küßt sie auf die Augen.)

Rosette: Es ist mein Unstern, daß ich dir begegnen mußte! Gleichwohl, finge ich mein Leben wieder von vorn an: ich möchte dich nicht darin missen! Deine Härte war mir süßer als der andern Liebe. Obgleich ich durch dich viel leiden muß, ist mir das bißchen Freude, das mir zuteil ward, doch nur von dir gekommen. Durch dich habe ich erkannt, was ich hätte sein können. Du zucktest wie ein Blitz in die Nacht meiner Seele und erhelltest ihre Dunkelheit. Du eröffnetest meinem Leben neue Ausblicke. Dir verdanke ich, daß ich die Liebe kenne. Es ist eine unglückliche Liebe, allerdings, aber es liegt ein seltsamer tiefer Reiz im Bewußtsein, zu lieben ohne wiedergeliebt zu werden. Und etwas Erhabenes im Denken an die, die einen vergessen. Lieben zu können ist schon an und für sich Glück, auch wenn man einsam liebt. Viele gehen dahin und sterben und haben dies Glück nicht genossen. Keiner ist beklagenswert, der irgendwie geliebt hat!

Theodor: Du leidest und fühlst deine Wunden. Aber du lebst doch wenigstens. Du hängst an etwas. Du hast einen Stern, um den du kreisest, einen Pol, nach dem du sehnsüchtig strebst. Du hast etwas zu wünschen. Du kannst dir sagen: Wenn ich dahin komme, wenn ich das erlangt, dann bin ich wunschlos glücklich! Du leidest furchtbare Todesnot, kannst dich aber doch sterbend trösten: Um seinetwillen lösche ich aus. So sterben heißt auferstehen! Die wirklich rettungslos Unglücklichen sind die, die in ihrer Narretei alle Welt ans Herz drücken, alles und nichts begehren, und verwirrt und stumm vor der Fee verharren würden, die mit der Aufforderung an sie träte: Wünsche dir etwas! Dein Wunsch soll in Erfüllung gehn!

Rosette: Ich wüßte, was ich mir wünschte, wenn die Fee käme.

Theodor: Du weißt es, Rosette. Und darin bist du glücklicher als ich; denn ich weiß es nicht. Viele unbestimmte Wünsche wogen in meiner Brust und verschwinden ineinander und gebären andre, von denen sie schon im Augenblick wieder verschlungen werden. Meine Wünsche sind wie eine Schar Vögel, die ziellos fliegen und umherflattern. Dein Wunsch ist ein Adler, der die Augen der Sonne zuwendet, und nur das Ende der Erdenluft hindert ihn, sich auf seinen entfalteten Schwingen zur Sonnenhöhe emporzuheben.

Oh, wüßte ich, was ich will! Könnte sich der Gedanke, der mich verfolgt, klar und deutlich aus seinem Nebelmeere lösen! Ginge mir doch endlich der Glücksstern oder der Unstern an meinem Lebenshimmel auf! Ein Licht, das mir den Weg zeigte durch die dunkle Nacht, einerlei, ob ein trügerisches Irrlicht oder gastlicher Leuchtturmschein! Wenn eine Feuersäule vor mir herzöge, ich folgte ihr, selbst durch Wüste ohne Brot und Wasser. Nur müßte ich wissen, welchem Ziele meine Schritte zueilen, und läge der tiefste Abgrund dazwischen. Die tolle Jagd eines Gehetzten, Geächteten, über Stock und Stein, wäre mir tausendmal lieber als dieser fade glatte Spaziergang. So leben, heißt ein ähnliches Dasein führen wie ein Gaul, der mit verbundenen Augen eine Brunnenwelle dreht und dabei Tausende von Meilen zurücklegt, ohne weder etwas zu sehen noch vom Platze zu kommen. Ich trotte lange genug im Kreise herum. Der Eimer könnte bald heraufgewunden sein!

Rosette: Du hast viel Ähnlichkeit mit dem Chevalier. Wenn ich dich so sprechen höre, ist es mir zuweilen, als ob er rede. Sobald du ihn näher kennengelernt hast, werdet ihr ohne Zweifel sehr gute Freunde. Ihr müßt zueinander stimmen. Auch ihn drängt es ins Ziellose; er liebt und weiß nicht was; er möchte den Himmel stürmen und die Erde ist ihm nichts wert – und doch ist er hochmütiger als Luzifer vor seinem Falle.

Theodor: So ist er ein echter Dichter. Ich fürchtete, er sei einer der Vielzuvielen, die in ihren eitlen Reimereien unechte Perlen aneinanderreihen.

Rosette: Er ist ein Dichter, aber sein bestes wahrstes Gedicht, das ist er selbst. Ich weiß nicht, ob er es je in die Form der Worte gießen wird. Seine Seele hat viele Geheimfächer voll der allerschönsten Gedanken. Er umgibt sie mit dreifacher Mauer. Er hütet sie eifersüchtiger als ein Sultan seine Odalisken. In seinen Versen preist er immer nur die, die ihm gleichgültig geworden sind, die er satt bekommen hat. Die Dichtung ist ihm das Tor, durch das er sie hinausjagt. Und so erhält die Welt nur von ihm, was er selber nicht mehr mag.

Theodor: Ich verstehe seine Eifersucht und seine Scheu. Es gibt Menschen, die gestehen ihre Liebe nicht eher ein, als bis sie vergangen; bekennen nicht eher, diese und jene zur Geliebten gehabt zu haben, als bis sie gestorben oder verdorben.

Rosette: Es ist so schwer, etwas auf dieser Welt ganz zu eigen zu haben. Jedes Licht zieht Scharen von Faltern an, jeder Besitz Diebe über Diebe. Ich liebe die Schweigsamen, die ihr Heiligtum mit in das Grab nehmen, weil sie es nicht den unreinen Küssen und der aufdringlichen Berührung der Menge aussetzen wollen. Ich verstehe die Liebenden, die den Namen der Geliebten in keine Rinde ritzen, keinem Echo anvertrauen und im Schlafe von der Furcht verfolgt werden, ein Traum könnte sie verführen, ihn laut zu rufen. Ich gehöre zu ihnen. Ich verrate meine Gedanken nicht. Und niemand wird von meiner Liebe erfahren …

Doch, schau, lieber Theodor, es ist beinahe elf Uhr. Ich entziehe dich der Ruhe, deren du sehr bedürftig bist. Indem ich dich verlassen muß, krampft sich mir das Herz zusammen. Voller Bangen bedenke ich, ob ich dich wiedersehe. Deshalb zögere ich zu gehen. Aber es muß sein. Leb wohl! Ich fürchte, der Chevalier sucht mich. Leb wohl, mein Freund!

Theodor geleitete Rosette, den Arm um ihren Leib, bis zur Schwelle. Als sie von ihm gegangen, blieb er in der offenen Türe stehen und schaute ihr nach. Durch die Fensterreihe fiel das Mondlicht in den dunkeln Gang und schuf einen phantastischen Wechsel von Licht und Schatten. Bei jedem Fenster, an dem Rosette vorüberhuschte, leuchtete ihre weiße Gestalt auf wie eine silberne Fee, die rasch wieder in das Dunkel tauchte und immer wieder erschien, ferner und ferner, bis sie schließlich verschwand.

In tiefes Sinnen verloren stand Theodor noch eine Weile regungslos mit verschränkten Armen da. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, warf trotzig den Kopf zurück und trat wieder in sein Zimmer. Er küßte seinen friedlich schlummernden Pagen auf die Stirn und legte sich zur Ruhe nieder.


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