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2.

Barthl lief von dem alten, hölzernen Gehöfte über die grüne Böschung hinauf. Oben kam er auf einen schmalen, hochgrasigen Rain, der zwischen zwei ebenen Kornfeldern schnurgerade nach dem großen Weitsprengerhofe führte. Das Korn war so lang, dass Barthl just darüber hinweg schauen konnte. Die Ähren trugen schwer an brauner Blüh, die der Morgenwind fleißig abstäubte, dass gegen die Sonne immerfort ein dünner, goldiger Nebel über dem grünen Gewoge zu sehen war. Zu beiden Seiten des Feldes waren schmale Waldbänder. Die hatten tausend lichtdurchschimmerte Luken, und sie gingen von einem tannenschwarzen Berge aus, der nichts anderem so ähnlich sah als einer altbäuerischen Pudelhaube. Unter dieser Haube nahm sich der große, weiße Giebel, in dessen zwei Oberfenstern das Himmelsblau spiegelte, fast wie ein Menschengesicht aus. Die Böschung, über welche Barthl heraufgekommen war, bildete durchaus ein Staffel zwischen den Gründen des Weitsprengerhofes und den anderen Dorffeldern. Die Gehöfte des Dorfes bestanden mehrere breite Hügelseiten. Aber nirgends waren zwei Heimstellen so nahe beieinander, dass man von der einen den Küchenrauch der anderen hätte riechen können. Nur bei der zwickeltürmigen Kirche waren zwei Häuser: der ganz von alten Obstbäumen überdachte, niedrige Pfarrhof und die neue, stöckige, blechgedeckte Schule.

Der Hügelfuß stieß an einen wunderschönen, flussdurchzogenen Wiesenboden, und dann hob eine Landschaft an, die mit zwei Farben abzumalen gewesen wäre: ein reichförmiges Durcheinander dunkler Föhrenwälder und lichter Teichflächen. Barthl lief vom Raine über die noch nirgends angemähte, blumige Gartenwiese des Weitsprengerhofes.

In dem dunklen, kühlen Vorhause blieb er stehen. Durch den Schneckengang der Giebelstiege hallte die kräftige Stimme der jungen Bäuerin herab. Und dazu wurde recht fest an die Giebelzimmertüre gepocht.

»Basili!« schrie die Bäuerin. »Basili! Wenn du dich nicht meldest, renn' ich die Türe ein. Und ein Schloss kriegst du dann nimmer daran.«

»Werd' mich schon wieder befestigen gegen dich, dazu bin ich sicher nicht zu faul!« rief nun drinnen im Giebelzimmer frisch und wohlgemut Basili. Dann fragte er: »Was willst du denn jetzt eigentlich von mir?«

»Ich muss den Dienstboten nach auf die Wies' und komm' erst um Mittag zurück. Darum musst du dich heut ausnahmsweise auch ein bissl brauchen lassen. Einen ausgiebigen Mohnsterz musst du uns kochen. Die alte Schmalztösen Schmalztösen = Ein unten breiter, oben schmaler blecherner Holztopf. voll. So gut soll er sein wie der, den du dir einmal, wie ich nicht daheim war, verstohlener Weise gekocht hast – du Räuber du. Und zu der alten Sau musst du mir öfters schauen, dass sie kein Junges erliegt. Aber komm ihr fein gütlich. Sie wird so viel leicht harb, und dann stockt ihr die Milch. Und im Krautgarten klaubst du ein Grastuch voll Rübenblätter ab, dass dann was Grünes für die Küh da ist, wenn wir melken wollen. Gelt, Basili, ich kann mich verlassen, dass du mir diesmal die paar kleinen Handgriff' tust?«

»Nein«, sagte er, »für dich rühr' ich keinen Finger, Jukunda. Ding' dir um eine Dirn' mehr. Bist reich genug dazu. Oder heirat' einen, der da kocht – du kannst es eh nicht. In deine Händ passt mehr die Mistpritschen als der Kochlöffel.«

»Heut kann ich nimmer heiraten«, sagte sie. »Weil der Pfarrer heugen tut. Und ein Bräutigam, der da augenblicklich Zeit zum Mitgehen hätt', ist auch nicht vorhanden. Außer du –«

»Ich mag dich nicht, Jukunda!« rief er. »Und solang' mir Gott hilft und ich mich gegen dich wehren kann, kriegst du mich nicht.«

»Ich will das verwinden«, sagte Jukunda. »Und ich will dich wieder lang' nicht anfechten, wenn du uns nur heut den Mohnsterz kochst. Bist du mir aber diesmal nicht zu Willen, so weck' ich dich alle Tag um halb elf grob aus deinem liebsten Schlaf und stell' Begehr über Begehr. Also entscheid dich, Basili.«

Er gab nun keine Antwort. Jukunda verhielt sich ein Weilchen stille. Da fing Basili drinnen so laut zu schnarchen an, dass es auch Barthl hören konnte. Jukunda sagte nun oben nichts mehr. Aber während sie über die Stiege herabging, redete sie vor sich hin: »Für einen Narren halten tät er mich auch noch, der zuderlempete Zuderlemp = schwach, weich, ungelenk. Klachl.« Barthl eilte ihr nun so entgegen, als ob er von dem schwungvollsten Laufe käme und gerade an nichts weniger als an ein Stehen und Horchen gedacht hätte. Am unteren Stiegenende stießen sie aneinander. Sie war so überrascht, als sie den jungen Menschen sah, dass ihr der Ausdruck des Zornes ganz aus dem Gesichte wich.

»Du wirst doch heut, wo es so trabig ist, nicht in die Zal Zal = Besuch gehen wollen?« rief sie.

»Warum denn nicht?« fragte er und wollte dabei an ihr vorüber, treppauf. Da packte sie ihn derb an seinem Hemdärmel. »Jetzt willst du zu deinem Kameraden? Bist du nicht bei Sinnen? Eher kannst du doch den Dachs um Neujahr aus dem Winterschlaf schreien als jetzt deinen Freund ermuntern! Jetzt um acht in der Früh!« Basili schloss jetzt oben seine Türe auf und rief dann herunter: »Komm, Barthl, komm! Du kannst mich immer wecken, wenn und wozu du willst! Dich hör' ich immer gleich und gern! Komm!«

Barthl sah die junge Nachbarin mit einem scherzhaft strafenden Blicke an und sagte: »Da ist's ja erwiesen, wie unrecht ihm geschieht.«

Jukunda lachte. »Glaub nur nicht, dass er aus Liebe zu dir aus dem Bette gestiegen ist. Nur damit er mich Lügen strafen kann, ist er so wieselig Wieselig = hurtig geworden. Da sieht man wieder, dass ihn doch niemand so stark bewegen kann als ich.« Sie lief nun an Barthl vorüber. Der junge Mensch sah ihr nach. Das hatte er schon öfters getan, wenn es recht heimlich geschehen konnte. Ihm gefiel ihr hoher, kräftiger Wuchs. Aber ihr sonstiges Wesen war ihm gar zu mannweiblich. Nach seiner Meinung verfehlte sich Jukunda ein über das andermal gegen die ihr gebotene Sitte. Sie musste freilich auf ihrem Hofe an mannesstatt walten, hätte sich aber dabei, wie Barthl glaubte, doch immer ganz mädchenhaft benehmen können. Als sie beide noch Kinder waren, hatte er Jukunda ganz lieb gehabt. Sie war damals so sanft, wie er alle weiblichen Wesen haben wollte. Nach dem Tode der Ihren glaubte sie ein wenig schneidiger werden zu müssen, um auf dem Hofe gehörig fortzukommen.

Und dann gefiel sie sich mit der neuen Schneidigkeit gar zu gut. In ihrer Wirtschaft fuhr sie mit der angenommenen Art freilich leichter und lustiger als mit der eigenen. Und die Wirtschaft ging ihr über alles. Jukunda vergaß bei ihren Geschäften so glücklich auf das Wehtun des Verwaistseins, dass sie dann kaum mehr an sich erinnert sein wollte. Da sie nun so wenig tief an sich selbst dachte, lag es ihr ferne, an andere tief zu denken. Wie von ihrem übrigen alten Fühlen kam sie auch von der Kinderfreudschaft zu Barthl ab. Sie glaubte fast, dasjenige, was sie einmal mit Barthl verband, hätte so seine gewisse Zeit wie die Baumblüh den Maien. Barthl wäre so einer Kinderfreundschaft jetzt fähig gewesen. Aber er wünschte deswegen nimmer, dass Jukunda wieder die Alte werden möge. Er hatte sie längst nicht mehr so lieb.

Dem Basili ging es mit ihr fast ebenso. Sie war als kleines Mädchen auf den Weitsprengerhof gekommen. Ihre Eltern hatten der verwitweten Mutter Balilis den schönen Besitz abgekauft. Die Witwe genoss im Ausgedinge kaum ein Pfund Salz. Aber Basili blieb nach dem Ableben der Mutter bei den neuen Weitsprengerleuten. Es waren ihm für seine Lebensdauer auf dem Hofe zwei Rechte verschrieben. Er konnte in dem schönen Giebelzimmer wohnen und zu jeder Mahlzeit in der großen Stube am Tische mitessen.

Sein Geld war in die staatliche Waisenlade gelegt worden. Während seines Aufwachsens verdiente er sich auf dem Hofe Brot und Unterstand mit ehrlicher Bauernarbeit. Er tat das gern und war froh, dass er nicht nehmen musste, was man ihm schuldig war.

Und die Weitsprengerleute waren froh, dass sie nicht geben mussten, was sie schuldig waren. Wie er dann Soldat sein musste, sehnten sie sich nach ihm, als nach einem wohlfeilen Knechte und dann auch als nach einem lieben Menschen.

Aber dann kam ihnen der fleißige Basili als ein Faulenzer heim. Er hatte sich draußen für das Nichtstun entscheiden gelernt und rührte nun bei den Weitsprengerleuten keinen Rechen und keine Sense an.

Aber ehe sie ihm deswegen gehörig böse werden konnten, behob er in der Waisenlade sein Geld und ging wieder fort. Basili wollte nun sein Leben genießen. Er meinte, dass dazu die Großstadt der richtige Ort sei. Aber dann zog er auf der Suche nach dem wahren Lebensgenusse weiter, bis ihm das Geld ausging.

Zu einer Arbeit ließ er sich von seiner Armut nicht bewegen. Lieber ging er auf den Weitsprengerhof zurück. Als er heim kam, war Jakunda hier schon Herrin. Sie hoffte, dass er nicht lange bleiben würde. Als er aber doch blieb, fand sie sich darein. Nur hoffte sie dann, dass er sich auf dem Hofe doch ein wenig nützlich machen würde. Aber er ließ sich von ihr so erhalten, wie sie es ihm schuldig war. Sie wurde darüber im Grunde nicht unwillig. Doch hinter ihrem heiteren Streite gegen seine Faulheit war immer ein Ernst.

Barthl sah jetzt der jungen Bäuerin nach, bis ihr Rocksaum hinter dem Türrahmen verschwand. Dann eilte er zu seinem Freunde hinauf. Basili erwartete ihn am oberen Stiegenende. Er trug an seinem prächtigen, schlanken Leibe nichts als ein feines, weißes Hemd. Es fiel ihm gar nicht ein, für Barthl etwas anzuziehen. In dem großen Giebelzimmer warf er sich gleich wieder auf das mit einer gegerbten Hirschdecke überzogene Bett und strampelte mit den Beinen recht vergnüglich in das durch das Fenster fallende Sonnenlicht hinein.

»So wie ich musst du es machen, Barthl«, rief er, »dann bist du erst ein Mensch. Siehst du, ich lass mich von keinem andern einwieden. Wied = Ein aus zähen, tännenen Erdstämmchen gedrehter Strang, der das den Zugochsen angelegte Prügeljoch an der Wagendeichsel festhält. Nein, nein, nein!«

Basili war wirklich so wohlgelaunt, wie er sich gebärdete. Das Faulenzen machte ihm keine Gewissensbisse mehr, sondern so viele Freuden wie nur je einem echten Tagedieb.

»Ich tue nur mehr das, wozu es mich selbst treibt!« rief er. »Keiner soll mehr tun! Es geschähe dann noch immer genug auf der Welt.«

»Du denkst ganz brav«, lobte ihn Barthl. »Und solang' dir nichts Besseres einfällt, genieß nur recht sorgenlos dein Ausgedinge auf dem Weitsprengerhof. Aber heute musst du meinem Vater den Rupfensack tragen.«

Diese letzten Worte erschreckten und befremdeten nun den Basili gar nicht wenig. Er richtete den Oberkörper empor und blickte den am Bette stehenden Freund forschend an.

»Weißt du, was du jetzt gesagt hast?« fragte er ihn. »Oder hat dich dein Fleiß schon so weit gebracht, dass du im Stehen napferzt Napferzen = schlummern und maulwackelst?«

Barthl entzog sein Gesicht den Blicken des Freundes. Er trat an das nahe Fenster, sah hinaus und lächelte ein bisschen schelmisch.

Basili geriet nun recht in Aufregung. An ein ganz unverständlich sinnloses Scherzen seines Freundes konnte er nicht glauben. Und einen Sinn fand er in den letzten Worten Barthls nicht.

Er hüpfte mit beiden Füßen zugleich zu dem Schweigenden hin, um ihm etwas aus dem Gesichte zu lesen. Aber Barthl lächelte nun nicht mehr. Seine Mienen ließen den anderen nichts erraten. Er war auf den Überfall gefasst gewesen. Basili wurde maßlos ungeduldig. Er rüttelte den Unergründlichen derb an den Schultern.

»Wirst du klar aus dir reden oder nicht?« rief er. »Bist du närrisch? Oder willst du, dass ich's werde?«

»Ich hab' dir schon gesagt, was ich will«, antwortete nun Barthl in einem sehr ernsthaften Tone.

»Du musst heute meinem Vater den Rupfensack tragen. Es geht diesmal nicht anders. Zieh dich schnell an. Und komm' gleich zu uns. Ich muss vorauslaufen.«

Er machte sich jäh von den Händen des anderen los und eilte davon.

Basili lief ihm schreiend über die Stiege nach. Er wäre ihm vielleicht auch noch durch das Vorhaus in das Freie gefolgt. Aber da hätte er an der offenen Stubentüre vorüber müssen. Und in der Stube hörte er die junge Bäuerin poltern. Er wollte nicht, dass diese sehe, wie er es, nur mit einem Hemde bekleidet, diesmal gar so eilig habe. Deshalb stob er nach seiner Stube zurück.

Er war schon lange nicht so außer sich gewesen wie jetzt. Rein gewohnheitsmäßig wollte er sich zunächst wieder auf sein Bett werfen. Aber dann fühlte er gleich deutlich, dass er nun das Liegen nicht aushalten würde.

Über einen jeden Menschen hätte er lieber in einer großen Ungewissheit bleiben mögen als über den Barthl in dieser kleinen.

Er hatte jetzt niemanden so gern wie diesen Burschen. Es kam ihm auch, während er wieder in der Heimat war, niemand so entgegen wie Barthl. Für die Dorfleute hatte Basili mit seinem Gelde seinen Wert verloren.

Sie wollten ihn erniedrigen, wie er das jetzt ihrer Meinung nach verdiente. Zu den Letzten des Dorfes wollten sie ihn stellen. Er aber erhob sich hier über die Ersten und spielte einen Herrn, dass die Leute gar nicht aus der Entrüstung kamen. Hie und da hätte er fast leidenschaftlich gern bei einer Arbeit geholfen. Aber er blieb in seinem Stolze gegen diejenigen standhaft, welche seine schönen, weißen Hände gar so gern schrundig gesehen hätten. Wofür ihn nun die anderen hassten, liebte ihn Barthl. Zuerst hatte dem jungen Menschen die trotzige Festigkeit Basilis gefallen. Und dann war ihm der weiche Basili, den nur er allein kannte, noch viel lieber als der trotzige. Barthl musste sich um das Zustandekommen dieser Freundschaft viele Mühe geben. Der andere hatte dieser Mühe erst ein wenig spöttisch und sogar auch misstrauisch zugesehen, aber bald rührte und beglückte sie ihn.

Und dann brauchte er den einzigen gar nötig, der ihm schmeichelte und es dabei ernst meinte.

Nachgeben musste er dem jungen Burschen bis heute nicht. Barthl war immer zu ihm gekommen und hatte ihn immer wenigstens mit guten Worten erfreut und hie und da auch mit leiblicher Labe.

Barthl wusste genau, wann Jukunda jene Speisen kochte, die Basili nicht aß. Und dann kochte er zu Hause heimlich etwas recht Gutes und brachte es dem Freunde. Von Basili hatte er bisher noch keinen Schritt verlangt. Und jetzt wollte er ihn plötzlich den Rupfensack tragen lassen.

Basili war noch von keiner Zumutung so verblüfft und erregt worden. Er wollte ihr auf den Grund kommen. Um keinen Preis hätte er seine jetzigen Zweifel an dem Freunde lange ertragen mögen. Er zog sich so schön wie möglich an. Dann ging er dem Barthl nach.


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