Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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7

»Tut mir leid, aber der Herr is net daheim!« So hatte, als das Lieserl in der Nacht am Doktorhaus die Glocke gezogen, die Haushälterin des Arztes aus dem Fenster gerufen. »Um neune am Abend hat er in d' Färleiten müssen.« Das war ein einsam gelegener Bauernhof, zwei Stunden vom Seedorf entfernt. »Wenn er heimkommt, schick ich ihn gleich. Wer is denn krank bei dir?«

Lieserl, an allen Gliedern zitternd, gab mit erwürgter Stimme die Antwort: »Der Mutter is net gut!«

»Es wird net so arg sein! Sie soll sich derweil an Tee machen. In der Fruh kommt der Herr Doktor schon.«

Das Fenster klirrte; und Lieserl trat den Heimweg an. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Angst verwandelte sich in dumpfe Erschlaffung. Wie Blei lag es ihr in den Knien. Schließlich begann sie aber doch zu laufen, weil die tiefe Finsternis sie gruseln machte; dazu hatte sie die Empfindung, als striche ihr jemand mit eiskalter Hand über das Gesicht. Und das eintönige Rauschen, das neben der Straße aus der tiefen Schlucht der Ache klang, weckte in ihr die Vorstellung einer Gespensterstimme.

Als sie heimkam, sah sie an den ebenerdigen Fenstern alle Läden geschlossen. Sie hörte ersticktes Schluchzen und gewahrte auf der Hausbank einen schwarzen Klumpen, an dem sich eine weiße Schürze bewegte. Vor Erschöpfung taumelnd, umklammerte Lieserl den Arm der Mutter und lallte, daß sie den Doktor nicht daheim gefunden.

»Lieserl!« schluchzte die Zaunerin und zog die Tochter auf ihren Schoß. »So a Glück hätt dir zustehn können! Und so an Unglück muß kommen über uns! O du mein armes, verlassens Kinderl. Da hätt jetzt auch kein Doktor nimmer gholfen.«

»Mar' und Joseph!« kreischte Lieserl und verbarg unter Zittern das Gesicht am Hals der Mutter.

So saßen sie und weinten miteinander. Endlich versuchte die Zaunerin das Mädel aufzurichten. »Komm, ich führ dich in d' Stuben eini! Schau ihn an, dein armen Schatz, wie er daliegt, so lieb und schön!«

Die Stubentür war halb geöffnet, und man sah den Tisch mit der Hängelampe darüber, die einen hellen Lichtkreis über die Dielen warf. Auf einem Sessel mitten in der Stube stand eine irdene Schüssel mit rot gefärbtem Wasser, in dem ein blutfleckiger Lappen schwamm. Gebrochen, mit käsigem Gesicht, saß der Zaunerwastl auf der Ofenbank; als die Meisterin und das Lieserl über die Schwelle geschlichen kamen, zuckte es in seinen Fäusten, und mit irrem Blick streifte er das Sofa, auf dem der Tote lag: in der schmucken Uniform mit den blinkenden Knöpfen, den seitlich geneigten Kopf in die Kissen versunken. Das hübsche, junge Gesicht, das sorgfältig vom Blut gereinigt war, zeigte einen gutmütigen, fast knabenhaften Ausdruck.

Vom Arm der Mutter umschlungen, stand Lieserl vor dem Toten, mit aufgerissenen Augen, von einem Schauer gerüttelt, daß ihr die Zähne klapperten.

»Schau, Lieserl, da liegt er!« schluchzte die Zaunerin. »Druck ihm die lieben Äugerln zu! Der hat's verdient um dich.«

Meister Zauner wurde unruhig.

Von der Mutter geschoben, näherte Lieserl sich dem Sofa. Als ihre Finger die Lider des Toten berührten, wich sie zurück und schlug die Hände vor das Gesicht: »Mutter! Ich fürcht mich vor ihm!«

Da sprang der Zauner auf, mit geballten Fäusten. »Naus!« schrie er in seinem Zorn, daß ihm der Schaum vor die Mundwinkel trat. »Naus zu Stuben! Du! Solang er glebt hat, hast dich net gforchten? Gelt? Da hast scharwenzeln können und 's Fenster sperrangelweit aufreißen! Und jetzt tät dir grausen vor ihm? Naus zur Stuben, du Fratz, du gottvergessener! Oder ich vergreif mich an dir!«

Lieserl, die Arme über den Kopf schlagend, floh aus der Stube; zum erstenmal im Leben hatte sie Angst vor ihrem Vater.

»O du grundgütiger Heiland!« kreischte die Zaunerin. »So was von Gemütlosigkeit is mir meiner Lebtag noch net unterkommen! Lieserl! Mein arms Lieserl!« Sie wollte ihrem mißhandelten Kinde folgen.

»Du bleibst!« keuchte der Zauner. »Mit dir hab ich z'reden!« Er faßte das Weib am Arm und warf die Tür zu.

Lieserl hatte im Flur die brennende Kerze aufgerafft und rannte, wie von einem Gespenst gejagt, über die Treppe hinauf in ihr Stübchen. Zitternd schob sie den Riegel vor, schloß in scheuer Hast das Fenster, das noch immer offen stand, und trug den Leuchter zum Spiegeltisch. Ihr Blick fiel in das Glas, und sie sah die roten Flecken an ihrer Brust und am Ärmel. Von Grauen befallen, riß sie das Leibchen herunter; eine Hafte verfing sich am Nacken in ihrem Haar, und das verursachte ihr solchen Schreck, daß sie aufschrie und in blinder Angst immer zerrte, bis ihre Zöpfe sich lösten. Unter einem Zähneschauer riß sie die Tür wieder auf, schleuderte das Leibchen in den dunklen Flur hinaus und schlenkerte die Finger wie ein zu Tod erschrockenes Kind, das sich im Spiel mit dem Feuer die Hände verbrannte. In Rock und Schuhen, das Gesicht von Angst und Erschöpfung entstellt, warf sie sich über das Bett; es war aufgedeckt und frisch überzogen wie vor hohem Feiertag; nur die Kissen fehlten.

Lautloses Schluchzen erschütterte den Körper, während sie den Kopf in das flaumige Oberbett vergraben hielt. So hörte sie keinen Laut, obwohl man aus der Stube herauf den Klang der wechselnden Stimmen vernehmen konnte.

Tritte polterten im Flur, und die Haustür knarrte. Über die Fenster des Stübchens zuckte ein unruhiger Schein, als ginge man mit einer Laterne gegen die Straße. Eine halbe Stunde herrschte tiefe Stille da drunten, dann wurde die Haustür geschlossen, und müde Tritte schlurften über die Treppe herauf.

Die Zaunerin kam in das Stübchen geschlichen. Ein Bild des Jammers, fiel sie neben dem Bett auf einen Sessel. Nach einer Weile strich sie scheu mit der Hand über Lieserls entblößte Schulter. »Jetzt mußt dich nimmer fürchten! Er is schon aus'm Haus.«

Das Mädel fuhr auf, stierte die Mutter an und verbarg das Gesicht wieder in den Federn.

»Der Vater hat gmeint, es könnt dem gnädigen Herrn lieber sein, wenn d' Leut sagen: 's Unglück is auf der Straßen gschehen – lieber, als wenn 's Geschrei umanand ging: er is am Zaunerlieserl ihrem Fenster ausgrutscht! Es wär auch besser für dich, wenn die Sach vermankelt wird. Soviel Ehr: daß der junge Herr Graf seine gnädigen Augen zu dir erhoben hat. Aber d' Leut fassen so was gspassig auf. Da könntst an Treff kriegen fürs Leben! Und der Vater hat gar net denkt an dich! Nur allweil an gnädigen Herrn Grafen! Und drum hat er den armen Kerl abitragen in Seebachgraben und hat ihn hingelegt, als ob er in der Nacht über d' Straßen naustreten wär und hätt sich derfallen. Und jetzt is er fort, der Vater, und is auffi zum gnädigen Herrn in d' Jagdhütten. Der wird Augen machen!«

Seufzend blies die Zaunerin den Atem aus, und ihre Zähren begannen wieder zu fließen. Nach einer stummen Weile erhob sie sich und drückte stöhnend die Fäuste in den Rücken. »Jetzt muß ich sauber machen drunt! Und sei gscheit, Lieserl, tu dich ordentlich niederlegen. Es kommt der Tag schon bald, und a paar Stünderln Ruh mußt haben, sonst kann dir's morgen jeder Mensch vom Gsichterl ablesen, daß was passiert is! Geh, sei gscheit! Ich hol dir dem Vater seine Knopfpolstern ummi. Der braucht s' heut nacht sowieso net.« Sie verschwand und erschien wieder, unter jedem Arm ein bauschiges Kissen. Mit umständlicher Sorgfalt machte sie das Bett zurecht und entkleidete das feine Lieserl, das stumm und willenlos alles mit sich geschehen ließ. »So, du arms Hascherl! Jetzt tu dich einihuscheln in d' Federn! Und 's Lichtl laß ich brennen. Daß dich net fürchten tust.«

Zärtlich streichelte die Zaunerin das blasse Gesicht ihres Kindes, zerdrückte mit der Faust eine schimmernde Mutterträne und humpelte seufzend aus der Stube.

Schaudernd schmiegte sich Lieserl in die Kissen und zog das Deckbett über die Ohren.

Die Stunden versickerten, und vor den Fenstern des Stübchens begann der erwachende Tag zu glänzen.

Mutter Zaunerin erschien mit nasser Schürze ich mit Händen, die von der Kälte des Wassers gerötet waren. Der süße Trost, den in allem Leid die Arbeit bietet, schien sich auch ihr erwiesen zu haben. Sie war gefaßt. »So, Lieserl! A traurigs Gschäftl hab ich ghabt. Aber drunt is wieder alles in Ordnung. Jetzt kann ins Haus kommen, wer mag. Keiner wird merken, daß da was gschehen is. Vor die Leut heißt's Obacht geben! Wir zwei unter uns können reden drüber, was für a Glück uns zugstanden wär, wenn's mögen hätt!«

Mit diesen Reden »unter uns« machte die Zaunerin gleich den Anfang und erörterte unter Seufzern jede Hoffnung, die das »arge Unglück« so jäh vernichtete hatte. »Schau, liebs Kindl, ich will dir gwiß kein Fürwurf machen. Aber hättst Vertrauen zu deiner Mutter ghabt, wer weiß, wie's gangen wär? Und red doch endlich amal a Wörtl! Es könnt mich trösten, wenn ich wüßt, wie alles kommen is.«

Lieserl schüttelte heftig den Kopf und vergrub das Gesicht in die Kissen. Aber die schmerzvolle Neugier der Zaunerin gab keine Ruhe mehr, bis sie gestillt war. Lieserl mußte erzählen, ob sie wollte oder nicht.

Es wuchs der Tag vor den Fenstern. Und wie das Licht da draußen in alle Winkel des Tales drang, so schlich sich auch ein verklärender Strahl in Lieserls Liebesgeschichte. Sie schien es selbst nicht zu merken, daß sie beim Erzählen mehr als bedenklich von der Wahrheit abirrte. die Verstörtheit ihres hübschen Grübchengesichtes begann sich zu mildern, und während ihre dunklen Kirschenaugen in schwärmerischem Kummer blickten, verwandelte Lieserl sich vor der Mutter in die makellose, des tiefsten Mitleids würdige Heldin eines sentimentalen Romans, der die Zaunerin zu Tränen rührte.

Im Verlaufe des vorletzten Kapitels, das im abendlichen Walde spielte und eines Kniefalls mit heißen Liebesschwüren des unglücklichen Helden Erwähnung tat, ließ sich Lieserl ihr Röckl reichen und holte aus der Tasche ein zusammengeknüpftes Tüchl hervor. Über der Bettdecke löste sie den Knoten und hielt der Mutter auf flacher Hand den funkelnden Rubin entgegen. »Da schau, Mutter! Den kostbaren Edelstein hat er mir gschenkt! Soviel is unser Haus und Garten net wert!« Das war eine poetische Übertreibung, aber sie fand den sprachlos staunenden Glauben der Zaunerin. »Und gschworen hat er mir, daß er mich lieber hätt als alles auf der Welt!« Tränen erstickten ihre Stimme.

»Der gute, liebe, süße Mensch!« Vor Rührung, Schmerz und freudiger Überraschung einem Weinkrampf nahe, warf die Zaunerin sich an die Brust ihres Kindes. »Lieserl, Lieserl! Dös kostbare Blutströpfl mußt in Ehren halten und am Halserl tragen wie an Ammalett, zum ewigen Andenken bis zu deiner seligen Todesstund!«

Tod! Das üble Wort jagte einen Schauer über Lieserls Nacken. »Ich bitt dich, red net allweil vom Sterben!« greinte sie und wand sich aus den Armen der Mutter.

Die Zaunerin klagte weiter: »Du mein arms, unschuldigs Kindl du! Der hätt ich gheirat, Lieserl! Du, Frau Gräfin! Und ich als Gräfin-Mutter! Und jetzt is alles aus! Und wer kann wissen, ob 's Unglück schon an End hat? Völlig grausen tut's mir, wenn ich dran denk, was da für Sachen aussiwachsen können! Und wer muß leiden drunter? Du, Lieserl! Allweil der Unschuldig! Dös is die Grechtigkeit auf der Welt! Gott behüt uns vor so was!« Die Zaunerin schlug ein Kreuz. Dazu hatte sie den rechten Augenblick gewählt, denn das Morgengeläut der Kirchenglocke begrüßte den neugeborenen Tag.

Lieserl schien von der Angst der Mutter angesteckt. »Was soll mir denn gschehen können?«

»D' Leut, Lieserl! Die schlechten Leut! Wär alles gut nausgangen, 's ganze Dorf wär zersprungen vor lauter Neid. Aber jetzt! Weil alles schief gangen is! Wann der Vater die Gschicht net gut vermankelt, rucken d' Leut mit'm Gspött und mit der boshaften Gaudi über uns her, daß man sich in Erdboden verschliefen möcht! Verschandeln werden dich d' Leut, kein guts Haar mehr lassen s' an deiner Ehr! Und hängen bleibt's an dir! Dein Leben lang! Herrichten werden dich d' Leut, daß dich keiner mehr anschaut auf der ganzen Welt! Und sitzen bleibst! Ich sag dir's, Lieserl, ich weiß net, was ich drum gäb, wenn gschwind einer da wär, der dich vom Fleck weg auffiführen tät ins Pfarrhaus!«

»Aber Mutter!« stammelte das Mädel, dem die finstere Logik der Zaunerin mit Schrecken einzuleuchten schien. »Wo soll denn gschwind einer herkommen?«

Die Phantasie der Mutterliebe machte über allen Jammer hinweg einen Löwensprung: »Der Pointner-Andres!«

Als Lieserl den Namen hörte, fuhr sie aus den Kissen und spie zur Erde.

»Lieserl! Ich sag dir's: Tu dich net versündigen! Oder willst dein Glück verklämpern?« jammerte die Zaunerin. »Ich hab dir's allweil gsagt: Halt dir den Andres warm! Er is net der schlechteste. Der schönste Hof im ganzen Ort! Und der Steinbruch, der zum Hof ghört, is die reinste Goldgruben. Aber allweil is noch nix verspielt. Der Andres is völlig narrisch vor lauter Lieb zu dir. Da tät's dich nur a Wörtl kosten, und alles wär in der schönsten Ordnung. Meiner Seel, wenn ich wüßt, wo ich den Andres find, auf der Stell tät ich reden mit ihm!«

»Mutter!« lallte Lieserl, zu Tod erschrocken. »Lieber sterben als so was von Schlechtigkeit verüben!«

»Schlechtigkeit? Was Schlechtigkeit?« Das Wort schien die Zaunerin zu reizen. »'s ganze Leben ruinieren und Sorg und Elend über d' Mutter bringen! Dös wird wohl Schlechtigkeit gnug sein!« Warnend erhob sie den Finger. »Sei gscheit, Lieserl! Oder willst es drauf ankommen lassen, daß dich der Andres nimmer mag? Und daß dich der Miserabligste im Ort nimmer anrühren möcht mit'm Stecken? Ah na! Da is d' Mutter noch da! Auf der Stell schau ich, daß ich den Andres find! Und dir, Lieserl, sag ich: Sei gscheit!« Die Tochter mit einem letzten warnenden Blick bedenkend, strebte das kummervolle Mutterherz der Zaunerin zur Tür hinaus.

»Und tu's net! Und ich tu's net!« kreischte Lieserl und sprang wie in einem Anfall von Wahnwitz aus dem Bett. »Und net um d' Welt! Und net um alles! Lieber sterben! Pfui Teufel, Mutter! Mir graust!« Sie riß die Tür auf, um die Mutter noch einzuholen. Da sah sie auf der Flurdiele das blutige Leibchen liegen. Von kaltem Grauen geschüttelt, taumelte sie zurück und warf, als hätte sie ein Gespenst gesehen, die Tür ins Schloß.

Ein paar Minuten später zappelte die Meisterin aus dem Haus, einen Henkelkorb am Arm, mit einem wollenen Umschlagtuch.

Es war noch früh am Morgen; aber das Leben des Dorfes erwachte schon. Blauer Rauch stieg aus den Schornsteinen, von den zerstreuten Höfen hörte man Geräusch und Stimmen, die Hunde schlugen an, auf der Straße rasselte ein Leiterwagen, und aus dem Park von Schloß Hubertus, dessen Baumkronen von grauem Nebel umsponnen waren, klang von Zeit zu Zeit ein gellender Adlerschrei.

Die Zaunerin hatte es eilig. Sie achtete der schweren Nässe nicht, die sie mit dem Rocksaum von den weißbetauten Gräsern streifte.

Schnaufend erreichte sie das Pointnerhaus, ein stattliches Gebäude in weitläufigem Hofraum. Beim Brunnen stand eine Magd, und freundlich rief die Zaunerin über die Staketen: »Guten Morgen, Franzi! Zeitig bist auf!«

Die Magd lachte. »Wär net schlecht, wenn ich d' Sonn verschlafen möcht!«

»Ja, ja, a fleißigs Haus, der Pointnerhof! Der Bauer is wohl auch schon lang bei der Arbeit?«

»Da hast recht! Der Alt is am Feld draußen, und der Jung schafft schon seit in der Fruh um fünfe im Steinbruch.«

»So? So? Bhüt dich Gott!«

Die Zaunerin eilte weiter. Ihr Weg ging durch ein Laubgehölz, dessen Blätter sich schon gelblich zu färben begannen. Ein mit Quadersteinen beladener Wagen kam ihr entgegen, sie hörte einen Sprengschuß und vernahm das dumpfe Getös des fallenden Gesteins.

Die Bäume lichteten sich, und vor der Zaunerin lag der tief in den Berghang eingewühlte Steinbruch. Über der kahlen Wand verzog sich der Pulverdampf des letzten Sprengschusses, während am Fuß der Felsen, zwischen klotzigen Trümmern, drei Arbeiter mit klingenden Hammerschlägen schon wieder die neuen Sprenglöcher in das Gestein meißelten. Im Schotterfelde standen zwei Wagen, der eine schon mit Steinen befrachtet, während der andere beladen wurde; vier Männer waren hier bei der Arbeit, unter ihnen der Pointner-Andres. Er hielt die Schulter gegen einen eisernen Hebel gestemmt und wälzte einen schweren Stein auf den ächzenden Wagen hinauf. Als die Zaunerin sich näherte, rollte der Block an seinen Platz. Andres wischte mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn; nun gewahrte er das Weib, ließ den Arm fallen und sperrte die Augen auf.

»Guten Morgen, Andres! Fleißig?« nickte die Zaunerin mit großer Herzlichkeit und ging vorüber.

Sie kannte den Andres und brauchte nicht das Gesicht zu drehen, um zu wissen, daß er ihr folgen würde. Als sie den Wald erreichte, kam ihr der junge Pointner mit schweren Schritten nachgetappt, verlegen, erregt wie ein hungriges Kind, das die Mutter mit gefülltem Körbchen vom Bäcker kommen sieht.

»He! Meisterin! Wohin denn?«

Die Zaunerin blieb stehen und hatte eine Ausrede flink bei der Hand. Ein paar Reden wurden gewechselt, und mit einer scheuen Frage nach Lieserls Befinden brachte der Andres selbst das Gespräch auf den Weg, um den es der Zaunerin zu tun war.

»Geh, du! Fragen kannst du noch!« schmollte sie, als wäre sie dem Andres aus irgendeiner Ursache bitterbös und könnte ihm doch nicht gram sein.

Diese dunkle Einleitung brachte den jungen Pointner aus seiner ohnehin recht zweifelhaften Ruhe. »Du? Was machst denn für Augen?«

»So? Merkst es? Wann ich dich net so gern hätt, möcht ich dir am liebsten d' Ohrwascheln aus'm Kopf reißen vor lauter Zorn! Ja, dir! Mein Madl so schikanieren! Da hört sich doch alles auf!«

Dem Andres versagte vor Verblüffung die Sprache. Seine klobigen Fäuste zitterten, mit offenem Mund und großen Augen starrte er die Zaunerin an, und Röte und Blässe wechselten auf seinem ungeschlachten Gesicht. »Wie? Was denn? Ich hab dem Lieserl kein unguts Wörtl net geben! Soviel dürsten tut mich nach dem Lieserl! Allweil lachen mich d' Leut drum aus! Und 's Lieserl is soviel unfreundlich. Allweil sagt's mir, daß ihr keiner auf der Welt so zwider wär wie ich.« Andres strich mit den Händen übers Haar und seufzte schwer.

»Du? Zwider? Dem Lieserl?« Die Zaunerin stellte den Korb zu Boden und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Bist du denn mit Blindheit gschlagen? Da muß ich schon aussi mit der Sprach!« Nun ging es weiter wie ein klapperndes Mühlwerk. Ohne sich eine Kunstpause zu vergönnen, spielte die Zaunerin ihre strohdumme Komödie zu Ende. Jeder andere wäre stutzig geworden. Aber der Pointner-Andres war blind, trotz seiner scharfen Augen. Er war gewiß kein großes Geisteskind, aber auch nicht dumm – nur eben verliebter als für ihn gesund war. Um die heißen Kohlen in seinem Herzen zur Flamme anzublasen, hätte es gar nicht dieses langen Märchens von der unverstandenen Liebe bedurft, von Lieserls bleichen Wangen und ihren schlaflosen Nächten, von den heißen Tränen, bei denen die Zaunerin ihr armes Kind überraschte, von Lieserls Beichte am Mutterherzen und von ihrem verzeihlichen Groll über den Pointner-Andres, »der halt gar net Ernst macht«. Hätte die Zaunerin statt dieses langen Schwindels nur kurzweg gesagt: »Komm, Andres! Zum Lieserl!« – sie hätte sie gleiche Wirkung ebenso sicher erzielt, nur um vieles rascher.

Der baumschwere Mensch zitterte an allen Gliedern, seine Augen glänzten, und so lange Schritte machte er, daß ihm die Zaunerin kaum zu folgen vermochte. Und wie er den Kopf trug, wie seine schwere Gestalt sich reckte!

Weniger hoffnungsfreudig war das Antlitz der siegreichen Mutter anzusehen; unruhig huschte ihr Blick nach allen Seiten, und als die Straße erreicht war, guckte sie scheu in die Seebachschlucht hinunter, aus deren Schattentiefe dünne Wasserdünste sich emporkräuselten in die sonnige Morgenluft.

Die Beklemmung, von der die Zaunerin befallen war, schien sich einigermaßen zu lösen, als sie vor dem Pointner-Andres das Staketentürchen öffnete. Mit wichtigtuender Geheimniskrämerei führte sie den Burschen ins Haus und ließ ihn in die Stube treten, deren Dielen frisch gescheuert waren und noch feuchte Flecken hatten.

Während Andres mit unbehilflicher Verlegenheit immer seine klobigen Hände abstaubte und auf dem Sofa Platz nahm, stolperte das mütterliche Schicksal über die Stiege hinauf. Beim Eintritt in Lieserls Stübchen nickte die Zaunerin befriedigt vor sich hin, als sie die Kammer geordnet und das Mädel auf einem Sessel sitzen sah, zwar blaß wie eine geknickte Lilie, doch zierlich frisiert und mit Sorgfalt gekleidet.

»Gut geht's, Herzerl! Er is schon da.«

Lieserl schluckte, und ihr farbloses Gesicht verzerrte sich, als hätte man ihr eine gallenbittere Medizin gereicht. »Na, Mutter! Net um alles in der Welt! Ich geh net nunter in d' Stuben!«

Über dieses Hindernis kam die Zaunerin flink hinüber. »So wart a bißl, ich hol ihn auffi!« Drunten auf der Stubenschwelle brauchte sie nur mit dem Finger zu winken, und der Andres kam. Als er den Flur des oberen Stockes erreichte, sah der im elterlichen Haus an strenge Ordnung gewöhnte Bursch auf den Dielen das Leibchen liegen, für das die Zaunerin kein Auge hatte. Er hob es auf und legte es über das Stiegengeländer. Auf dem Boden blieb ein matter bräunlicher Fleck zurück, als hätte durch lange Zeit ein rostiges Eisen auf dem Brett gelegen. Die Zaunerin klinkte inzwischen die Tür auf und tuschelte schelmisch in das Stübchen: »Lieserl! Schau, wer da is!« Kichernd ließ sie den Burschen über die Schwelle.

Mit verstörtem Gesicht stand Lieserl an die Mauer gelehnt. »Aber Mutter!« stotterte sie und schlug den Arm über die Augen.

»No also, jetzt red!« sagte die Zaunerin zum jungen Pointner. Doch Andres stand wie angewurzelt und wußte nicht, was er sagen sollte. »Wenn dir 's Glück die Red verschlagt,« meinte die Zaunerin, »so mach halt kurzen Prozeß und gib ihr a Bussel, a richtigs!« Sie versetzte dem Andres einen Puff in den Rücken, und um dem schwerfälligen Freier diesen »kurzen Prozeß« zu erleichtern, ließ sie ihn mit der Braut allein.

Draußen an der Tür blieb sie stehen und wollte das Ohr an die Bretter drücken. Da hörte sie das Knarren der Haustür und Schritte im Flur. Unwillig humpelte sie über die Stiege hinunter, und als sie den Doktor sah, bekam sie einen fürchterlichen Schreck. Aber gleich die ersten Worte des Arztes ließen sie die Ausflucht erraten, die das Lieserl in der Nacht gebraucht hatte. Nun fand die Zaunerin flink ihre Sprache wieder, drückte die Hände auf den umfangreichen Magen und schilderte die »grausamen Schmerzen«, von denen sie in der Nacht geplagt worden wäre.

Der Doktor fühlte der Zaunerin den Puls, ließ sich die Zunge zeigen und schien den »bösen Anfall« nicht sonderlich ernst zu nehmen.

Als er am Tische saß und der Kranken das Abführmittel verschrieb, kamen Schritte über die Treppe herunter, und auf der Schwelle erschien ein Paar: Lieserl, bleich und scheu – der junge Pointner mit lachendem Gesicht. Er sah wie ein stolzer Preisstier aus, dem nur der Blumenkranz und die Hörner fehlten.

Da konnte nun der Doktor Zeuge des »ehrsamen Verspruches« sein, zu dem das Zauner-Lieserl ihre kleine, weiße, zitternde Hand in die braune schwielige Riesenfaust des Pointner-Andres legte.

Während die Zaunerin vor Freude in die Schürze heulte und der alte Doktor dem jungen Paar seinen Glückwunsch ansagte, ging draußen vor den Fenstern ein Fischer vorüber; er hielt die Forellengerte unter dem Arm und spießte seinen Wurm an die Angel; dann verließ er die Straße und betrat einen schmalen Steig, der in die Seebachschlucht hinunterführte.


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