Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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18

Vor der Tür des »Palais Dippel« stand Graf Egge mit gespreizten Beinen und vorgeneigtem Kopf, die Fäuste hinter dem Rücken; finster spähte er nach der Pfadsenkung, in welcher Willy verschwunden war. Als er ihn erscheinen sah, hellten sich seine Züge auf, und zufrieden nickte er vor sich hin: »Na also, da kommt er ja!«

Willy blieb erschrocken stehen und versuchte seine Gedanken zu sammeln.

»Komm zu mir, Junge!« rief Graf Egge, und als Willy noch immer zögerte, ging er ihm entgegen. Dicht vor ihm blieb er stehen und sah ihm forschend in das brennende Gesicht. »Der andere sieht mir gleich und schlägt der Mutter nach. Du hast ihre Augen und ihren weichen Mund, aber ich hoffe, du bist im Kern aus meinem Holz! Halte dich an mich, und es soll dir nicht schlecht bekommen. Hast du einen Wunsch? Heraus damit! Heut kannst du alles von mir verlangen.«

Willy schüttelte den Kopf. »Danke, Papa, ich brauche nichts.«

»Na, besinn' dich nur, vielleicht fällt dir was ein!« Mit einem Lachen, das ihm nicht völlig gelingen wollte, klopfte Graf Egge den Sohn auf die Schulter und trat in die Hütte. In der Küche schürte er auf dem Herd ein Feuer an und begann in einer hölzernen Schüssel einen dicken Brei aus Mehl und Wasser zu rühren. Nachdem er den Teig in das heiße Schmalz gegossen hatte, ging er zur Tür, und als er Willy draußen auf der Hausbank sitzen sah, sagt er: »Komm herein, Junge, setz' dich zu mir auf den Herd! Da kannst du lernen, wie man einen gesunden Schmarren kocht.«

»Ja, Papa!« Willy erhob sich müd und folgte dem Vater; schweigend saß er auf dem Herdrand und starrte die Pfanne an.

»Erzähl' mir, Junge,« sagte Graf Egge, während er mit dem langen Eisenlöffel im brodelnden Schmarren herumarbeitete, »wie hast du drunten unsere kleine Schmalgeiß angetroffen?«

»Danke, Papa, gut!« erwiderte Willy mit zerstreuter Scheu. »Wie lang hast du sie nicht mehr gesehen?«

»Ich glaube, seit dem Hahnfalz. August, Juli, Juni, Mai, April – fünf Monate.«

»Da wirst du Augen machen! Sie fängt an, sich zu einem patenten Mädel auszuwachsen.«

Graf Egge hob die Pfanne und schüttelte sie. »Was meinst du, wenn wir die Geiß heraufkommen ließen? Ich trete ihr meine Stube ab und leg' mich zu euch ins Heu hinauf. Und wenn wir jagen, kann sie bei mir auf dem Stand sitzen.«

Willy erschrak vor den Freuden, die seiner Schwester in Aussicht standen; er mußte ihr das ersparen, auch um den Preis einer Heuchelei. »Eine famose Idee, Papa! Aber weißt du, die Sache hat auch ihren Haken. Für dich!«

»Wieso?«

»Ein junges Mädel kann nicht stillsitzen. Sie würde dir manchen guten Schuß verderben.«

»Du hast recht! Und da könnte mir einmal die Galle überlaufen. Na also, lassen wir's! Nächste Woche gehen wir ein paar Tage zu ihr hinunter.«

Nun trat wieder Schweigen ein. Die brennenden Scheite krachten, und in der Pfanne prasselte das Schmalz. Willy versank mit bekümmertem Gesicht in die Gedanken an Tassilo, und sein Vater, der ihn von Zeit zu Zeit mit forschendem Blick überflog, bekam unruhige Hände. Nach einer Weile legte Graf Egge lächelnd den eisernen Löffel nieder und trat in die Herrenstube. Lang ausgestreckt lag Robert mit der brennenden Zigarette auf dem Bett; er wollte sich erheben. »Bleib nur liegen!« sagte Graf Egge, sperrte den Geheimschrank au und trat mit dem Schächtelchen, das die Juwelen enthielt, zum Fenster. Er wählte einen Rubin von selten schönem Schliff und verwahrte die anderen Steine wieder im Schrank. Als er in die Küche zurückkehrte, nickte er Willy lachend zu und drückte ihm den Rubin in die Hand. »Da hast du was! Nimm! Laß dir einen Ring daraus machen oder eine Nadel! Aber zeig' mir ein lustiges Gesicht!«

Willy erhob sich und guckte wie ein Träumender auf den Stein, der gleich einem großen erstarrten Blutstropfen auf seiner flachen Hand lag.

»Geh vor die Tür hinaus ins Licht,« sagte Graf Egge, »dann siehst du sein Feuer besser.«

Willy trat ins Freie; doch er hielt über dem Stein die Hand geschlossen und spähte gegen den Steig. »Ob er die Alm schon erreicht hat?« Hastig schob er den Rubin in die Westentasche und rannte zu der Graskuppe, auf der die Holzbank unter den Fichten stand. Von hier aus konnte er den Steig im Tal auf eine weite Strecke übersehen.

Der Pfad war leer.

Tassilo hatte die steilen Almhänge schon hinter sich und näherte sich der ersten Sennhütte. Hier, unter dem vorspringenden Dach, saß Franzl auf einem Holzblock, die Büchse über den Knien, die Stirn in die Hände gedrückt; er sah erst auf, als ihm Tassilo die Hand auf die Schulter legte; erschrocken erhob er sich. »Wahrhaftiger Gott! Jetzt kommen S' wirklich daher! Aber Herr Tassilo! Wie können S' denn um meintwegen –«

»Kommen Sie, lieber Hornegger!«

Tassilo ging voran, Franzl folgte. So schritten sie, jeder mit seinen wirbelnden Gedanken beschäftigt, dem tieferen Bergwald zu.

Noch ehe der Abend kam, erlosch die Sonne hinter schweren Wolken, die das letzte Blau verhüllten. Im Wald bewegte sich kein Zweig. Kein Vogel sang.

Drei Stunden waren die beiden gewandert, und vom See herauf tönte schon das Rauschen des Wetterbaches. Da hörte Tassilo hinter sich den Schritt des Jägers verstummen, und als er sich umblickte, sah er Franzl vor einer alten Buche knien, den entblößten Kopf gesenkt, vor der Brust die gefalteten Hände. Tassilo schien zu empfinden, was dem Jäger, der vor dem »Marterl« seines Vaters kniete, in diesem Augenblick das Herz erfüllen mochte; er nahm den Hut ab, trat an Franzls Seite und betrachtete den grün gekleideten Mann, den die kindliche Malerei des Bildchens zeigte: starr ausgestreckt mit einem roten Kreuzlein über der Stirn.

Franzl hatte sein Gebet beendet und bekreuzigte sich Gesicht und Brust; doch er erhob sich nicht, ließ nur die Hände sinken und bewegte langsam die Lippen, als läse er die Inschrift des Täfelchens:

»Hier an dieser Stelle wurde Anton Hornegger, gräflich Egge-Sennefeldischer Förster, am heiligen Johannistag erschossen aufgefunden.«

Ein Zittern überlief den Jäger, der das Gesicht in die Hände drückte. Vor seinen Gedanken stand das Bild jenes Abends, an dem sie den Vater auf Stangen getragen brachten, mit der roten Wunde auf der Brust. Er sah den Jammer seiner Mutter wieder – und wieder regte sich in ihm die Ahnung, die ihn seit Jahren nie verlassen hatte: daß der Mörder noch unter den Lebenden wäre. Es mußte einer sein, der drunten im Dorfe saß –, so weit über die Grenze verirrte sich kein fremder Wildschütz. Vielleicht war es einer, der seit Jahren an Franzl mit freundlichem Gruß vorüberging, im Herzen die Furcht und den versteckten Haß. Und nun soll, wie die anderen im Dorf, auch dieser eine die Nachricht hören, die morgen wie ein Lauffeuer umfliegen wird: Der Hornegger ist nimmer Jäger, ist entlassen, vom Grafen davongejagt! Wie wird dieser eine aufatmen, erlöst von seiner jahrelangen Furcht! Wie wird er lachen in der Schadenfreude seines heimlichen Hasses –

Da erlosch in Franzl plötzlich das quälende Denken. Wie zum Greifen wirklich sah er vor seinen Augen einen stehen: mit dünnem Lächeln auf den grauen Lippen, in den halb geschlossenen Augen einen funkelnden Blick, so heiß, wie ihn nur die Freude des befriedigten Hasses kennt.

Ein Schauer rüttelte die Schultern des Jägers. Keuchend drückte er die Fäuste an seine Stirn.

»Hornegger? Was ist Ihnen?« fragte Tassilo.

Taumelnd erhob sich Franzl. »Ich bin verruckt! In mir steigen Gedanken auf – ich kann mir nimmer helfen. Und da soll ich nunter ins Ort und soll –« Die Stimme versagte ihm fast. »Was wird d' Mutter sagen! Mar' und Josef! Den Vater haben s' ihr am Schragen bracht. Und ich komm so daher! Davongjagt mit Schimpf und Schand, als hätt' ich 's ärgste Verbrechen angstellt!«

Tassilo hatte Mühe, die Erregung zu beschwichtigen, die aus dem Jäger herausbrach. Franzl wurde ruhiger, je länger Tassilo zu ihm redete, und schließlich bat er reumütig: »Sind S' mir net harb, Herr Graf, daß ich Ihnen solche Unglegenheiten mach!« Aber die Gedanken, die ihn vor dem Marterl seines Vaters befallen hatten, wollten nicht mehr von ihm lassen. Während des Niederstieges zum Wetterbach hörte Franzl nur mit halbem Ohr auf Tassilos Zusage, daß er einen guten Posten für den Jäger zu finden hoffe. Franzl erwachte erst aus seiner Verlorenheit, als er das Dorf überblicken konnte; das erste Gehöft, das ihm in die Augen fiel, war das Brucknerhaus. Ein schwerer Atemzug hob seine Brust. »Da wird's jetzt schlecht ausschauen! Mit uns zwei!« Trotz dieser hoffnungslosen Stimmung fuhr ihm eine merkwürdige Eile in die Beine. »Ich lauf a bißl voraus,« sagte er, »sonst müssen wir z'lang auf a Schiffl warten.« Er rannte talwärts.

Als Tassilo bei sinkendem Abend den Wetterbach erreicht und den frisch gezimmerten Steg überschritten hatte, blieb er vor der öden Klause stehen. Auf der Marmortafel über der Tür war in der Dämmerung die halb verwitterte Inschrift kaum mehr zu erkennen.

»Hier wohnt das Glück!« Tassilo entblößte nicht den Kopf und faltete nicht die Hände, wie es der Jäger vor der Buche getan – aber auch ihn erfüllte ein schmerzendes Erinnern. Er stand vor dem »Marterl« seiner Mutter.

Vom Ufer klang die rufende Stimme des Jägers, der ein Schiff gefunden hatte. Es war das Boot des Fischers, und man mußte auf engem Platz zwischen triefenden Netzen sitzen. Tassilo ließ sich quer über den See hinüberbringen, zu Annas Villa. Als die Steintreppe erreicht war, drückte Tassilo die Hand des Jägers. »Auf dem Heimweg komm ich zu Ihnen. Grüßen Sie mir einstweilen Ihre Mutter!«

»Vergelts Gott, Herr Graf!« stammelte Franzl mit einer Hast, als wäre ihm ein stiller Wunsch erfüllt worden.

Tassilo sprang über die Stufen hinab. Von der Villa klang eine Mädchenstimme: »Wer kommt?«

»Ich bin es, Anna!«

Ein leiser Schrei, fliegende Schritte auf dem Kies, dann wieder Stille. Nur das Ruder des Fischers plätscherte, und vor dem Bug des gleitenden Nachens rauschte das Wasser.

Nach kurzer Fahrt landete das Boot vor dem Seehof. Franzl, in der Eile, schien den Weg zu verfehlen. Statt den Fußpfad zur Linken einzuschlagen, der zu seinem Hause führte, rannte er nach rechts, der Straße zu. Vor den Leuten, die ihm begegneten, drehte er das Gesicht auf die Seite. Immer rascher wurde sein Schritt, je näher er dem Brucknerhaus kam, und heiße Röte brannte auf seinem erschöpften Gesicht, als er im dämmerigen Hof das Mädel gewahrte, das bei einer Holzbeuge stand und den Arm mit Scheiten belud.

Franzls Stimme klang gepreßt und heiser: »Guten Abend, Mali!«

Da fielen die Holzscheite prasselnd zu Boden, und Mali, mit weißem Gesichte, rannte zur Haustür.

»Aber Mali! Was hast denn? Ich bin's ja, der Franzl!«

Mali schien nicht zu hören, nicht zu sehen. Noch ehe sie das Haus erreichte, streckte sie schon die Hände nach der Tür. Auf der Schwelle zögerte sie und drehte halb das Gesicht; dann verschwand sie im finsteren Flur, hinter ihr fiel die Tür zu, und drinnen klirrte der eiserne Riegel.

Franzl griff sich wie betäubt an den Kopf und guckte in der Dämmerung umher, als hätte er das rechte Haus verfehlt.

»Heilige Mutter! Was is denn dös?«

Er sprang in den Hof, warf den Bergstock auf die Bank und faßte die Türklinke. »Mali! Mali!« Immer rüttelte er an der versperrten Tür. »Ich bitt dich um Gotts willen, was hast denn?«

Im Hause blieb alles still.

»Mali! So mach doch auf! Ich bin's ja, ich, der Franzl!«

Von der Küche her vernahm er das Geknister des Herdfeuers und hörte im Flur eine wispernde Kinderstimme, die plötzlich verstummte, als hätte sich eine Hand auf den kleinen vorwitzigen Mund gedrückt, um ihn zu schließen.

Dem Jäger wurde der Verstand wirblig. Ein paarmal riß er noch an der Klinke; dann griff er nach seinem Bergstock und taumelte auf die Straße hinaus. Er ging und wußte nicht, welchen Weg er nahm. In seinen Ohren begann ein dumpfes Summen. War das in seinem Kopf, oder war's die Kirchenglocke, die den Abendsegen läutete? Auch fallende Tropfen meinte er zu spüren und streckte mechanisch die Hand aus. Richtig, es regnete! Immer dichter fiel es aus den Wolken, alles in der Runde wurde grau, und hinter dem trüben Schleier verschwanden die Berge.

Von Franzls Kleidern troff das Wasser, und es quietschte in seinen Schuhen. Er ging und ging. Als er einmal aufblickte, sah er, daß er vor dem Parktor von Hubertus stand. »Wo bin ich denn hinglaufen?« Er kehrte um. –

In Strömen rauschte der Regen über die Ulmenkronen. Auf den Kieswegen des Parkes gurgelten die wachsenden Bäche, und sinkendes Dunkel verhüllte das endlose Gießen und Triefen.

Es ging auf Mitternacht, als Tassilo von seinem Besuch bei der Horneggerin heimkehrte, in einen Lodenmantel gehüllt, den ihm Franzl geliehen hatte. Er klopfte an ein Fenster. Fritz öffnete ihm die Tür, mit erhobener Kerze, verwundert und erschrocken: »Herr Graf! So spät! Und ganz allein? In einer solchen Nacht! Ist denn etwas passiert?«

»Nein!« erwiderte Tassilo ruhig. »Ich komme nur heim, weil ich morgen nach München muß. Sehen Sie zu, daß ich noch eine Tasse Tee bekomme! Dann müssen Sie mir packen helfen. Den Wagen für morgen hab' ich schon bestellt.«

»Einen fremden?« fragte der Diener verblüfft.

»Ich will Papas Pferde nicht bemühen bei solchem Wetter!« Ein bitteres Lächeln. Er nahm den triefenden Mantel von den Schultern. »Meine Schwester schläft schon?«

»Jawohl, Herr Graf! Aber denken Sie nur, was heut geschehen ist!« Und Fritz erzählte, was sich am Vormittag in der Ulmenallee ereignet hatte.

Als Tassilo von der Verwundung der Kleesberg vernahm, nickte er. »Die Adler meines Vaters greifen scharf!«

Fritz berichtete, daß Fräulein von Kleesberg schon am Abend fieberfrei und ohne Schmerzen gewesen wäre, nur noch »ein wenig schreckhaft und verstört«. Aber »unsere liebe Konteß«, die glücklicherweise durch das »kuraschierte Zugreifen des Malers« allem Unheil entronnen wäre, hätte sich die Sache »schwer zu Herzen genommen« und wäre den ganzen Tag mit blassem Gesicht und verweinten Augen umhergegangen.

Tassilo schritt zur Treppe und sagte flüsternd: »Machen Sie keinen Lärm, damit die Damen in ihrer Ruhe nicht gestört werden.« In seinem Zimmer setzte er sich an den Schreibtisch. Es waren nur wenige Zeilen, die er an Robert richtete, um dem Bruder seine bevorstehende Vermählung mit Anna Herwegh anzuzeigen. Der Brief an Willy wuchs zu acht eng beschriebenen Seiten an.

An Forbeck schrieb er: »Lieber Freund! Es ist mir leid, daß ich Hubertus verlassen soll, ohne Ihnen die Hand zu drücken, ohne mich am Fortschritt Ihres Bildes zu erfreuen. Mit Ihrem Werke hoffe ich im Glaspalast ein erfreuliches Wiedersehen zu feiern. Was uns beide betrifft, so können Sie selbst unsere Trennung zu einer kurzen machen, wenn Sie mir die Bitte erfüllen wollen, meiner am 2. September stattfindenden Trauung als mein Zeuge beizuwohnen. Sie waren der erste, dem ich mich anvertraute. Seien Sie nun auch der erste, der mir an der Schwelle meines neuen Lebens die Hand zum Glückwunsch reicht. Eine fröhliche Hochzeit kann ich Ihnen nicht versprechen. Mein Vater und meine Geschwister werden fehlen. Es ist mir nicht gelungen, diesen Schatten von meinem Glückstag abzuwehren. Was ich gefürchtet habe, ist eingetroffen, schlimmer, als ich es mir vorstellte. Ihre schützende Hand hat heute meine Schwester vor dem Griff des Adlers bewahrt. Ich habe da droben seine Klaue gespürt. Die Wunde ist tief gegangen. Und der Adler, der heute ausflog, wird nicht der letzte sein. Der Käfig unter den Ulmen steht noch lange nicht leer.«

Tassilo legte die Feder fort. So saß er lange. Dann schloß er den Brief und löschte die Lampe.

Draußen rauschte der Regen, es gluckste und gurgelte um die Mauern, und mit klatschenden Schlägen peitschte der Wind die schweren Tropfen an die Fensterscheiben.

Als Fritz gegen acht Uhr morgens das Frühstück brachte, fand er Tassilo schon angekleidet und zur Reise fertig.

»Schläft meine Schwester noch?«

»Nein, Herr Graf, die Konteß und Fräulein von Kleesberg haben soeben um den Tee geklingelt.«

Fritz hatte noch nicht ausgesprochen, als Kitty auf der Schwelle erschien, mit lose geknotetem Haar, das verhärmte Gesichtchen so weiß wie ihr Morgenkleid. »Tas?« stammelte sie, während der Diener das Zimmer verließ.

Tassilo brauchte nicht zu sprechen. Kitty sah die gepackten Koffer, die kuvertierten Briefe auf dem Schreibtisch und las in den Augen des Bruders, was seine unerwartete Heimkehr von der Jagdhütte und die plötzliche Abreise bedeutete. Mit ersticktem Schrei umklammerte sie seinen Hals. Er führte sie zum Sofa und suchte sie zu beruhigen. Während er erzählte, was er erzählen durfte, und sie mit kommenden Zeiten zu trösten suchte, brach immer wieder der fassungslose Schmerz aus ihr hervor, bald in wirren Worten, bald mit strömendem Schluchzen. Dann sprang sie auf. »Komm, Tas! Wir wollen zu Anna. Ich muß sie sehen. Ich muß zu ihr.«

Er sagte ihr, daß auch Anna Herwegh mit Mutter und Schwester noch an diesem Morgen die Reise nach München anträten.

»Und ich soll euch nie wiedersehen? Dich nicht? Und Anna nicht? Nein, Tas! Das kann und darf Papa von mir nicht verlangen. Ich halte zu dir, Tas! Da kann geschehen, was will! Wie schön das sein wird – euer Glück sehen – immer nur euer Glück –« In Tränen erloschen ihre Worte und wieder warf sie sich an den Hals des Bruders.

Er streichelte ihr schimmerndes Haar.

»Aber sag' mir, Tas! Wie hat Anna die Nachricht aufgenommen? Wie muß ihr bange sein in dieser Stunde!«

»Ja, Schwester, bedrückend bange! Doch sie ist nicht ohne Trost. Sie liebt. Und Liebe ist eine feste Brücke. Vertraue ihr, und sie trägt dich über alle Tiefe, laß dich führen von ihrer Hand, und immer ist es der rechte Weg, auf den sie dich leitet.«

Kitty, die blassen Wangen von Tränen überronnen, sah mit großen Augen zu ihrem Bruder auf.

Es klopfte an der Tür. Und Kitty, wie aus tiefem Traum erwachend, trat zum Fenster, um ihr verweintes Gesicht zu verbergen.

Fritz und der Stallbursch kamen, um die Koffer zu holen. Tassilo ging zum Schreibtisch. »Diesen Brief an Robert soll Moser mit hinaufnehmen, zur Jagdhütte. Den anderen, an Herrn Forbeck, bitt' ich im Laufe des Vormittags zu besorgen.«

Kitty machte eine jähe Bewegung. Und kaum hatten die beiden Diener das Zimmer verlassen, flog sie auf Tassilo zu. »Du hast an Herrn Forbeck geschrieben? Warum?«

»Um mich von ihm zu verabschieden. Auch hab' ich ihn gebeten, meiner Trauung als Zeuge beizuwohnen.«

»Er? Bei deiner Trauung? Und ich soll fehlen? Deine Schwester?« In Schluchzen erstickten ihre Worte. Tassilo zog sie an seine Brust. Und da brach es aus ihr heraus: »Ach, Tas, ich bin namenlos unglücklich!« Zitternd schmiegte sie sich in seine Arme, und in einem Sturz von Tränen löste sich ihre stürmische Erregung. Endlich richtete sie sich auf und streifte die Hände über das nasse Gesicht. »Eine Bitte noch, Tas! Annas Bild mußt du mir lassen. Schließ nur den Koffer wieder auf!«

»Es ist nicht eingepackt. Hier liegt es schon für dich.« Er öffnete am Schreibtisch eine Lade und reichte ihr das Bild, das sie mit Küssen bedeckte. »Und diesen Brief sollst du mir besorgen.«

»Für Willy? Ich verstehe. Papa soll nicht wissen, daß du ihm geschrieben hast. Gib her! Und Willy ist für dich, nicht wahr? Wenn er noch schwanken sollte, bring' ich ihn schon noch herum. Er ist ein leichtsinniges Huhn, aber ein guter Kerl.« Sie verwahrte den Brief. »Und nun komm, Tas! Du mußt dich von Tante Gundi verabschieden. Wir willen uns zusammennehmen, damit die Arme nicht merkt, was vorgeht. Die Erregung könnte ihr schaden. Oder weißt du noch nicht, was gestern –«

»Fritz hat mir alles erzählt.«

»Was sagst du, wie Tante Gundi sich benommen hat! Geradezu großartig! Wenn ich das getan hätte, das wäre begreiflich. Schließlich ist man nicht umsonst in Hubertus geboren. Und Herr Forbeck war in ernster Gefahr. Aber denke dir: sie! Seit gestern seh' ich sie mit ganz anderen Augen an. Aber komm, Tas!« Energisch trocknete sie die Wangen, nahm das Bild unter den Arm und zog den Bruder zur Tür. Dabei merkte sie nicht, daß Tassilo sie forschend betrachtete und wie in Sorge jeden Zug ihres heiß erregten Gesichtes prüfte.

Gundi Kleesberg machte, als Tassilo und Kitty in ihr Zimmer kamen, einen Versuch, sich im Bette aufzurichten. Es gelang ihr nicht. Der dick verbundene Arm, der mit einer Doppelschlinge gefesselt war, lag schwer auf der blauen Seidendecke. Die Frisur war tadellos, die Wangen hatten ihren zarten Puderflaum, die Lippen ihr gleichmäßiges Rot, die Brauen ihre tiefe Schwärze. Aber dieses Verschönerungswerk, das die Kammerfrau in aller Eile an der Patientin geübt hatte, war nicht so glücklich geraten wie sonst. Zwischen den zarten Farben lugte die welke Haut mit gelblichen Flecken hervor; das gab dem Gesicht einen müden Ausdruck, den der bittere Zug um die Mundwinkel und der ängstliche Blick noch verschärften. Wer dieses Gesicht betrachtete, hätte glauben mögen, daß die Kleesberg nicht nur ein übel verlaufenes Abenteuer, sondern eine erschütternde Seelenkatastrophe erlebt hätte.

Während Tassilo sich neben dem Bett auf einen Sessel niederließ, huschte Kitty in ihr Zimmer und stellte Annas Bild auf den Ehrenplatz, den die Photographie der Sœur supérieure mit einem dunklen Winkelchen vertauschen mußte, obwohl die unter das würdevolle Konterfei geschriebene Widmung mit den Worten endigte: »Gardez-moi la place que mon amour maternel a méritée dans votre cœur!«

Jäh erwachsende Empfindungen sind rücksichtslose Gewalttäter, die das Neue umklammern und das Alte verdrängen. Wie lange wird es dauern, und auch das Bild der schönen Schwägerin wird den Ehrenplatz wieder räumen müssen?

An die Möglichkeit eines solchen Wechsels schien Kitty in dieser Stunde nicht zu denken. Mit abgöttischer Andacht hing ihr Blick an dem Bild, und traumverloren flüsterte sie vor sich hin: »Wie glücklich er sein wird! Wie glücklich!«

Als sie hörte, daß Tassilo sich erhob und von Tante Gundi Abschied nahm, geriet sie in Verwirrung und griff nach allerlei Dingen, bevor ihr klar wurde, daß sie einen Mantel umnehmen und die leichten Pantöffelchen mit festen Schuhen vertauschen wollte.

Tassilo trat ein und zog hinter sich die Tür zu. Lange hielten sie sich umschlungen, wortlos. Endlich löste Tassilo die Arme der Schwester von seinem Hals. »Komm, gutes Kerlchen, laß uns vernünftig sein! Und bleibe hier! Es würde uns beiden schwer sein, vor den Leuten drunten ruhig zu erscheinen.«

»Nein, Tas! Nur in den Flur hinunter! Ich werde die Zähne zusammenbeißen.«

»So komm!«

Wirklich, Kitty benahm sich wie eine Heldin. So ruhig, als gälte es nur eine Trennung von wenigen Tagen, schüttelte sie unter der Flurtür die Hand des Bruders. »Glückliche Reise, Tas! Und auf Wiedersehen!« Doch als sich der Wagen schon in Gang setzte und Tassilo unter dem Lederdach herauswinkte, streckte sie die Arme nach ihm, rannte in den Regen hinaus und sprang in den Wagen.

»Aber Kind!«

»Ich bitte dich, Tas! Nur bis zum Tor!« Sie taumelte in dem holpernden Gefährt, kam auf Tassilos Knie zu sitzen, und als der Kutscher halten wollte, puffte sie ihn mit der Faust in den Rücken. »Vorwärts!«

Der Wagen rollte unter den triefenden Ulmen durch die Allee und machte die Adler in ihrem Käfig scheu durcheinanderflattern. Unter dem schützenden Lederdächlein hielt Kitty den Bruder umschlungen. »Ich sage dir, Tas, wenn jetzt die arme Gundi nicht krank da droben läge, ich ging mit dir. Mich brächten zehn Pferde nicht mehr aus dem Wagen!« Da hörte sie auf der Straße das Rollen einer Kutsche. In Schreck und Erregung fuhr sie auf. »Tas? Hörst du den Wagen nicht? Wenn es Anna wäre!«

Tassilo sah in der Toröffnung die Köpfe zweier Schimmel auftauchen. »Ja! Das ist ihr Wagen.«

»Anna! Anna! Anna!« schrie Kitty wie von Sonnen, sprang aus dem Wagen und rannte durch alle Pfützen. Draußen hielt die Kutsche. Als der Schlag sich öffnete und Anna Herwegh den Fuß auf das Trittbrett setzte, hing ihr Kitty schon am Hals und schluchzte unter Küssen: »Hab' ihn lieb, Anna! Hab' ihn lieb! Mach ihn glücklich! Ich will dich vergöttern dafür!«

Schmerz und Erregung machten sie halb betäubt, sie hörte stammelnde Worte, ohne sie zu verstehen, fühlte Händedrücke, Umarmungen, Küsse – und als sie ihrer Sinne wieder mächtig wurde, sah sie die beiden Wagen im Regen davonrollen und gewahrte Fritz, der neben ihr stand und einen Regenschirm über ihr Köpfchen hielt, in dessen zerzausten Haaren die Wasserperlen glitzerten.

»Ich bitte, Konteß, kommen Sie!« mahnte Fritz. »Konteß werden sich einen Schnupfen zuziehen.«

»Schnupfen?« wiederholte sie gedankenlos und starrte ihn an wie ein vorsintflutliches Wundertier. Mit zitternden Händen tastete sie nach den triefenden Eisenstäben des Torgitters.

Fritz wagte keine weitere Mahnung auszusprechen; geduldig stand er und hielt den Regenschirm. Endlich richtete Kitty sich auf, nahm den Schirm und trat den Rückweg an.

Fritz wollte das Tor schließen. Von der Straße rief eine Stimme: »Auflassen!«

Zwei Bauern brachten einen großen Handkarren gezogen, auf dem die beiden von Robert gestreckten Gemsböcke lagen – und der Sechzehnender, dessen mächtiges Geweih zu beiden Seiten des Karrens weit herausragte über die mit Kot behangenen Räder.


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