Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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15

Unter der steilen, auch für den Fuß der Gemse pfadlosen Bärenwand dehnte sich, den schräg ansteigenden Schuttkegel eines vor grauen Zeiten niedergegangenen Bergsturzes bedeckend, ein riesiges Latschenfeld, aus dem sich eine breite Talrinne gegen die offenen Almen hervorsenkte. Wenn das Latschenfeld von Treibern durchstöbert wurde, flüchtete das Wild, das keinen Aufstieg über die glatten Felsen fand, am liebsten durch diese Mulde. Hier war der Hauptstand.

Zu Füßen einer alten moosigten Fichte saß Graf Egge auf einem mit dem Wettermantel überbreiteten Steinblock. Zu seiner Rechten hatte er schon die Patronen ausgelegt, zu seiner Linken standen die zwei Expreßbüchsen schußfertig an den Baum gelehnt. Ungeduldig blickte er über das Almfeld der Stelle zu, an der seine Söhne erscheinen mußten. Den mürben Filzhut hatte er tief in die Stirn gezogen, so daß man den grüngelben Fleck, den die verschwundene Beule zurückgelassen, kaum bemerken konnte. Nur das linke Knie war nackt, das rechte von einem groben Wolltrikot umschlossen. Graf Egge hatte es als eine überflüssige Verschwendung betrachtet, die wollene Unterhose, die Moser für ihn gekauft und zur Jagdhütte geschickt hatte, auch am gesunden Bein zu tragen. Er hatte sie in der Mitte entzweigeschnitten und trug nur die rechte Hälfte. Die warme Wolle schien auch ihre Schuldigkeit zu tun. Als Graf Egge seine Söhne kommen sah und sich erhob, stand er fest auf den Füßen, und den paar Schritten, die er den Kommenden entgegenmachte, merkte man keine Spur von Schwäche an. Schipper, der neben seinem Herrn gestanden, zog den Hut.

Robert kam als erster und reichte dem Vater die Hand. »Weidmanns Heil, Papa, da sind wir! Dein Aussehen ist vortrefflich, wie immer. Wir Jungen werden älter mit jedem Tag, und an dir wirkt Hubertus seine verjüngenden Wunder. Es ist fabelhaft, wie famos du aussiehst! Natürlich, die Jagd! Wer es so gut haben könnte wie du!«

»Meinst du?« lachte Graf Egge. »Aber sprich leiser, die Treiber sind schon aufgestellt. Und tu mir den Gefallen und wird die Zigarette weg. Ich und meine Gemsböcke vertragen das nicht. Wenn du rauchen willst, kann dir Schipper seinen Stummel leihen.«

»Entschuldige, ich vergaß!« Die Zigarette flog ins Moos.

Nun kam Willy, umarmte den Vater herzlich und küßte ihn auf beide Wangen. Graf Egge musterte ihn freundlich und doch ein bißchen spöttisch – die neue, glänzende Lederhose, die Willy trug, schien ihm nicht zu gefallen. »Grüß' dich Gott, Junge! Und wie fein du dich gemacht hast, uuuh! Na, auf den Anlauf bin ich begierig, den du heut haben wirst. Deine Hose leuchtet ja wie eine Laterne! Und sag' mir, du zärtlicher Floh, wie steht's mit deiner Gesundheit? Haben dir die Münchner Quacksalber den rostigen Lauf wieder ordentlich blank geputzt?«

»Natürlich, Papa! Da spiegelt wieder alles, blitzblank wie eine nagelneue Büchse.«

»Das hör' ich gern. Und laß dir –« Graf Egge verstummte, und seine Augen wurden kleiner, als er Tassilo kommen sah. »Aaaah! Herr Doktor Egge! Und sieht, weiß Gott, wie ein richtiger Jäger aus! Oder steckt dir nicht doch die Feder hinter dem Ohr?« Das war wie ein Scherz, und Graf Egge lachte auch; aber seine Stimme hatte harten Klang.

Tassilo schien den sonderbaren Willkomm überhört zu haben. Ruhig reichte er seinem Vater die Hand. »Guten Tag, Papa! Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Du bist immer beschäftigt. Hoffentlich fallen deine Prozesse glücklich aus! Wie steht das Befinden deiner geliebten Spitzbuben?«

»Wen meinst du?«

»Deine sogenannten Klienten: Waldfrevler, Wilddiebe und so weiter.«

»Zu meinen Klienten zählt auch dein alter Freund Fürst Wittenstein!«

Graf Egge machte ein verblüfftes Gesicht. »Was hat er denn angestellt?«

»Aber Papa!« fiel Willy lachend ein. »Wie kommst du nur auf eine solche Idee? Wittenstein hat Tas die Verwaltung seines Vermögens übertragen.«

Nun verwandelte sich Graf Egges Verblüffung in ehrliches Staunen. »Schockschwerenot! Da fängt ja dein Handwerk an, einen goldenen Boden zu bekommen. Ich weiß, was ich Jahr um Jahr meinem Anwalt bezahle. Und gegen Wittenstein bin ich ein Schlucker. Das muß dir ein fettes Stück Geld eintragen?«

Dunkle Röte glitt über Tassilos Stirn; doch er nickte ruhig. »Ja, Papa!«

»Da hast du vielleicht die Apanage, die ich dir bezahle, gar nicht mehr nötig?«

»Nein. Wenn du für die Summe eine bessere Verwendung hast, ich verzichte gern.«

Robert zog den sorgsam gepflegten Schnurrbart durch die Finger und wandte sich lächelnd ab, während Willy mit einem hastigen Schritt an Tassilos Seite trat, als wollte er Partei in dem Zwist ergreifen, dessen Ausbruch er befürchten mochte.

Graf Egge aber schien von Tassilos Antwort nicht im geringsten unangenehm berührt. »Gut! Wir sprechen noch über die Sache. Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun!« Er sah auf die Uhr. »Eine halbe Stunde habt ihr Zeit, um eure Stände zu erreichen. Punkt fünf Uhr gehen die Treiber an. Schipper, du gehst mit Robert auf den Wechsel unter der Wand! Moser, du mit Willy auf den Rückwechsel. Und gibt acht, daß mir der Junge keine Gamsgeiß niederbrennt! Sonst schlagt das Wetter ein. Und du, Hornegger, führst deinen Schützen dort hinüber unter das Latschenfeld, zu er alten Zirbe.«

Franzl machte verwunderte Augen zu dieser Weisung.

»Also weiter!« mahnte Graf Egge, nahm seinen Stand ein und zog den Feldstecher aus dem Futteral.

Seine Söhne lüfteten die Hüte. »Weidmanns Heil, Papa!«

»Weidmanns Dank!«

Schipper stieg mit Robert nach links über das Gehäng empor, während Franzl und Moser mit ihren Schützen nach rechts im Almental davonwanderten. Der Grund senkte sich, und Graf Egge entschwand ihren Blicken. Nach etwa tausend Schritten war die alte Zirbe erreicht, bei welcher Franzl und Tassilo blieben.

Moser, der in Eile weiterstieg, mahnte: »A bißl flinker, junger Herr! Wir haben nimmer viel Zeit und müssen noch a gutes Stückl in d' Höh.«

»Es pressiert nicht,« meinte Willy, »ich muß mich schonen.«

Inzwischen richtete Franzl der Zirbe zu Füßen einen bequemen Sitz.

»Wo laufen die Wechsel aus?« fragte Tassilo.

»Wechsel?« brummte der Jäger. »Ich weiß kein' da in der Näh. Warum Ihnen der Herr Vater dahergschickt hat, dös kann ich mir net denken. Da is meiner Lebtag noch nie was kommen. Und da kommt auch heut nix.«

»Das Unglück wäre zu verschmerzen!« sagte Tassilo lächelnd.

Sie ließen sich nieder, und Tassilo nahm die Büchse über den Schoß; hinter ihm, auf den Wurzeln der Zirbe, nahm Franzl seinen Sitz. Nach einer Weile sahen sie in der Höhe des Latschenfeldes Robert und Schipper erscheinen, die über eine schmale Blöße gegen den Fuß der Felswand emporstiegen.

Als die beiden ihren Stand erreichten, krachte im äußersten Winkel des Latschenfeldes der Pistolenschuß, der den Anmarsch der Treiber verkündete; das Echo rollte über die Berge hin, im Dickicht ließ sich das Geklapper rollender Steine vernehmen – und wieder herrschte tiefe Stille.

Robert spannte die Hähne der Büchse; dann griff er in die Tasche und drückte ein Zehnmarkstück in die Hand des Jägers: »Sag' mir, ist Papa in guter Laune?«

Schipper schien eine Witterung für den Sinn dieser Frage zu haben; schmunzelnd kniff er das linke Auge ein. »Sie brauchen ihn wohl bei gutem Hamur?«

»Wohl möglich!«

»Die ganzen Tag her war er kreuzfidel! Aber was er heut abends für a Wetter aufzieht, dös hängt jetzt ganz davon ab, wie der Bogen ausfallt. Wenn er was Saubers kriegt, kann's an lustigen Abend geben. Und wenn S' was dazu beitragen wollen, so schießen S' net, wann Ihnen vielleicht a Gamsbock hersteigt! Der Herr Graf hat seine Mucken, wenn an anderer was schießt. Da nimmt er seine Herrn Söhn net aus.«

Robert spannte die Hähne seiner Büchse ab, stellte die Waffe hinter sich und steckte eine Zigarette in Brand; für ihn war die Jagd zu Ende.

Auf dem Hauptstand hallte der erste Schuß, und in den vielstimmigen Widerhall mischten sich die klingenden Juchzer der Treiber; die Stille, die über dem weiten Hochtal gelagert hatte, war gewichen und kehrte nicht mehr zurück; immer wieder klangen die lauten Rufe der Treiber, wenn sie Wild erblickten, oder wenn sie ihre auf den beschwerlichen Wegen in Unordnung geratene Linie herzustellen suchten. Noch dreimal krachte Graf Egges Büchse auf dem Hauptstand, und in dem Winkel des Latschenfeldes, in welchem Willy saß, fielen in rascher Folge sieben Schüsse.

Nur unter der Felswand droben rührte sich nichts. Auch bei der Zirbe blieb es still. Mit gekreuzten Armen saß Tassilo an den Baum gelehnt und blickte unter stillen Gedanken empor zu den langsam ziehenden Wolken, die von einem letzten Glanz der sinkenden Sonne mit sanftem Schimmer übergossen waren. Die Träume seines Glückes füllte seine Seele. Wohl wußte er, daß ihm ein harter Kampf mit dem Vater bevorstand; doch er wußte auch, daß er siegen würde. Seine Gedanken blickten in die schöne Zukunft, und um ihn her versanken die Berge mit allem, was sie trugen.

Regungslos saß Franzl hinter ihm; als sich die Treiber schon dem Ende des Latschenfeldes näherten, nickte er trübselig: »Nix! Ich hab's ja gsagt!« Schon wollte er nach seiner Pfeife greifen, da vernahm sein scharfes Ohr ein Geräusch im Dickicht. »Obacht!« lispelte er. Tassilo hörte nicht. Franzl saß wie zu Stein geworden und blickte regungslos nach einer Latschengasse, in der das mächtige Haupt eines Sechzehnenders erschien, langsam und lautlos; über das Gesicht des Jägers floß funkle Röte – das war ein Hirsch, wie seit Jahren in Graf Egges Revieren kein zweiter geschossen worden war. Schon trat das herrliche Tier mit freier Brust aus der Dickung hervor, und noch immer ruhte die Büchse auf Tassilos Knien. In Franzl erwachte die Sorge, denn mit funkelnden Lichtern äugte das Wild schon nach den Gestalten der beiden Jäger; mit einer kaum merklichen Handbewegung faßte er Tassilos Joppe und zupfte. Nun erwachte der Träumer; im gleich Augenblick gewahrte er den Hirsch – aber auch der Hirsch erkannte seinen Feind und setzte in sausendem Sprung über die letzten niederen Büsche weg. Mit zurückgelegtem Geweih raste er über die schmale Talmulde und verschwand in der gegenüberliegenden Dickung, deren Äste über ihm zusammenschlugen; noch lange hörte man das laute Brechen im Gezweig.

Tassilo hatte wohl nach der Büchse gegriffen, doch keinen Versuch gemacht, sie an die Wange zu heben; sein zufriedenes Lächeln ließ vermuten, daß ihm das herrliche Bild dieser Flucht die größere Freude beschert hatte, als der glücklichste Schuß sie ihm hätte bereiten können.

Franzl freilich war anderer Meinung. Kopfschüttelnd und mit vorwurfsvoller Trauer sagte er: »Aber Herr Graf! Was haben S' denn da jetzt angstellt! Es ist wie 's reine Wunder, daß der Hirsch bei uns da kommen is. Und Sie lassen ihn durch! Mar' und Josef! Was wird der gnädige Herr sagen! Da gibt's an ordentlichen Spitakel!«

Nun wurde auch Tassilo nachdenklich; eine verdrießliche Szene, die aus diesem weidmännischen Schwabenstreich hervorwachsen konnte, erschien ihm als eine nicht sehr günstige Einleitung für alles andere, was sich in diesen Tagen zwischen seinem Vater und ihm entscheiden sollte; er mußte jeden Verdruß zu vermeiden suchen. »Wir brauchen keine Unwahrheit zu sagen,« meinte er, »aber wenn die Sache nicht von selbst zur Sprachen kommt, können wir schweigen.«

Franzl kraute sich hinter den Ohren. »Gscheiter wär's, wenn S' sagen möchten, Sie hätten Ihrem Herrn Vater so an Endstrumm Hirsch net wegschießen mögen.«

»Nein, Franzl! Das wäre gelogen. Nicht?«

»Freilich, ja!« Franzl atmete schwül. »Aber oft tut man sich hart mit der Wahrheit – beim Herrn Grafen.«

Das Jagen war zu Ende, und die Treiber begannen gegen den Hauptstand niederzusteigen. Hier schritt Graf Egge mit strahlendem, Gesicht umher und musterte der Reihe nach den Zehnender und die drei Gemsböcke, die er mit vier sicheren Schüssen zur Strecke gebracht.

In langen Sätzen kam Schipper über das Geröll heruntergesprungen. »Ich gratulier, Herr Graf!«

»Ja, heut war halt wieder 's richtige Stündl!« lachte sein Herr und ließ sich die vier grünen Brüche hinter das Hutband stecken. »Aber warum hat denn der deinig da droben net gschossen? Zwei von meine Gamsböck sind doch ihm zuerst angsprungen?«

»Ja, Herr Graf! Wannenbreit sind s' dagstanden vor uns, der Herr Graf Robert hätt auf alle zwei den schönsten Schuß ghabt. Aber weil er gmeint hat, die zwei Böck könnten vielleicht noch den Wechsel gegen Ihren Stand annehmen, drum hat er s' durchlassen. Und recht hat er ghabt. Der muß Ihnen gern haben, Herr Graf! Der vergunnt Ihnen was.«

Als Robert herbeikam, wurde er gnädig empfangen; Graf Egge legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Das hast du gut gemacht, Bertl. Du hast mir zuliebe getan, was ich an deiner Stelle schwerlich fertiggebracht hätte. Ich danke dir!« Seine gute Laune verschwand auch nicht, als Tassilo erschien. »Du bist leer ausgegangen?« fragte er lachend.

»Ja, leider!«

»Na, tröste dich! Vielleicht hast du morgen einen besseren Tag. Aber wo bleibt denn unser Salontiroler? Der Junge hat ja da droben gepulvert wie ein Feuerwerker. Ich bin nur neugierig, was bei ihm liegt!«

Es währte nicht lange, und Willy kam mit Moser unter erregtem Disput in die Mulde herabgestiegen.

»Na, na, rauft nur nicht miteinander!« rief ihnen Graf Egge entgegen. »Her zu mir, Junge! Was war denn los bei dir?«

In sprudelnden Worten begann Willy eine lange Rede, deren kurzer Sinn dahin lautete, daß er durch Mosers Schuld einen »kapitalen« Gemsbock »verpatzt« hätte.

»Mei' Schuld? Was? Mei' Schuld?« kreischte der Alte.

»Natürlich! Der Kerl hat mich ganz verrückt gemacht mit seinem ewigen: ›Schießen S', schießen S', schießen S'!‹«

»Natürlich! Weil S' den Gamsbock im besten Augenblick verpaßt haben! Hätten S' gleich gschossen, so wär er daglegen!« Moser zappelte vor Ärger mit Händen und Füßen. »Aber na! Da muß man warten, bis der Bock flüchtig wird! Und pulvert siebenmal hinter ihm her! Und trifft ihn net! Da möcht man ja gleich aus der Haut fahren!«

Lachend beendete Graf Egge den Streit, indem er zum Heimweg mahnte, um vor Einbruch der Nacht die Jagdhütte zu erreichen; er schritt voran, seine Söhne folgten ihm, und Moser tappte brummend hinter Willy her, während Schipper und Franzl mit den Treibern bei dem erlegten Wilde zurückblieben.

Immer dunkler wurden die Schatten des Abends, und am Himmel blitzten schon die ersten Sterne, als Graf Egge mit seinen Söhnen das Hochtal erreichte, in dem das »Palais Dippel« lag. Die Jagdhütte war schon in Sicht, da rief Graf Egge über die Schulter zurück: »Bertl! Komm her zu mir!«

Rasch holte Robert den Vater ein: »Papa?«

»Du! Die Geschichte mit den zwei Gamsböcken will mir nicht aus dem Kopf. Die Gelegenheit zu einem guten Schuß versagt man sich nicht ohne triftigen Grund, und ich habe so ein merkwürdiges Gefühl in der Nase, als hättest du das nicht umsonst getan? Also in Gottes Namen, schieß los! Was willst du?«

»Ich habe allerdings eine Bitte. Aber mit den zwei Böcken hat das nichts zu schaffen. Schipper sagte mir –«

»Schon gut! Komm zu deiner Bitte!«

Robert machte eine kurze Pause. »Sei nicht böse, Papa, aber ich bin wieder einmal scheußlich hereingefallen.«

»Du hast gespielt?« fragte Graf Egge in ahnungsvollem Schreck. »Und dein Versprechen vom vergangenen Sommer?«

»Ich gestehe, es war unrecht, aber man kann nicht immer ausweichen. Schließlich hat man doch auch Rücksichten –«

»So?« unterbrach Graf Egge. »Und die Rücksicht auf meinen Geldsack? Wo bleibt denn die? Du bist mir ein Feiner! Wenn du gewinnst, verbrauchst du das Geld für deinen Stall und deine sonstigen Scherze. Und verlierst du, so soll ich bezahlen. Dafür bedank' ich mich. Und ich sage dir auch: das ist das letztemal. Wieviel brauchst du?«

Die Antwort kam ein wenig zögernd: »Achtzehn –«

»Hundert?«

»Leider nein, Papa!«

»Tausend!« Das Wort klang wie ein erstickter Schrei nach Hilfe. Dann war Stille zwischen Vater und Sohn. Graf Egge schlug mit vorgebeugtem Kopf einen Sturmschritt an, als könnte er dieser Forderung mit der Schnelligkeit seiner Beine entrinnen. Robert versuchte nicht, das Schweigen zu brechen, hielt sich aber dicht hinter dem Vater. Vor dem Zaun der Jagdhütte blieb Graf Egge stehen; sein funkelnder Blick haftete im sinkenden Dunkel an dem bleichen Gesicht des Sohnes, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Das waren zwei teure Gamsböcke. Ein andermal will ich billiger jagen.«

Robert atmete auf.

»Wann brauchst du die Summe?«

»Die Anweisung muß morgen mit der Post abgehen.«

»Gut! Du sollst die haben. Aber jetzt höre, Robert! Das war der letzte Rest an meinem Geduldfaden. Kommst du mir ein zweites Mal wieder, so laß ich dich sitzen in der Patsche, und wenn es dir den Hals bricht. Darauf hast du mein Wort. Und ich, das weißt du, ich halte, was ich sage. Jetzt komm herein!«

»Ich danke, Papa, und verspreche dir –«

»Dank und Versprechen kannst du dir sparen! Du hast mir einen vergnügten Abend gründlich verdorben.«

Graf Egge trat in die Jagdhütte. In der Herrenstube zündete er die kleine Hängelampe an, holte das Schreibzeug aus dem Wandschrank und kritzelte mit schwerer Hand einige Zeilen auf ein Blatt; die Anweisung ließ er auf dem Tisch liegen und ging mit einem blasenden Seufzer aus der Stube, als wäre ihm schwül unter Dach.

Mit beiden Händen griff Robert nach dem Blatt und nickte zufrieden, als er gelesen hatte. Aus seiner Brieftasche holte er ein Kuvert hervor, das einen bereits geschriebenen Brief enthielt und schon die Adresse trug; in dieses Kuvert schob er die Anweisung und schloß den Brief. Dann rieb er die Hände und bewegte die Beine, als wäre er nach strapaziösem Ritt aus dem Sattel gestiegen; lächelnd steckte er eine Zigarette in Brand, warf sich auf das Bett seines Vaters und dehnte behaglich die Glieder.

Draußen vor der Tür ließen sich Schritte hören. Tassilo und Moser kamen mit Willy, dem der neunstündige Marsch wie Blei in den Gliedern zu liegen schien. Die beiden Brüder traten in die Herrenstube, und Moser, der seine gute Laune noch immer nicht völlig gefunden hatte, schürte auf dem Küchenherd ein Feuer an.

Inzwischen saß Graf Egge nahe bei der Hütte auf dem Trog des laufenden Brunnens, die Hände in den Hosentaschen, und brütete in heißem Ärger vor sich hin, bis ihn sein Büchsenspanner, den er in der Finsternis nicht kommen sah, mit den Worten weckte: »Aber Herr Graf! Wie können S' den in der kühlen Nacht da draußen sitzen! Mir scheint, es taugt Ihnen net, daß Ihr Fuß wieder a bißl besser is? Was? Jetzt gehn S' mir aber auf der Stell wieder in d' Hütten eini!«

Graf Egge erhob sich. »Ist das Wild versorgt?«

»Alles in Ordnung! Die drei Gamsböcke hängen bei der Holzhütten drüben, und der Hirsch liegt auf'm Schlitten. Die Träger können morgen in aller Fruh damit abfahren. Was wird denn kocht auf'n Abend?«

»Schmarren!« brummte Graf Egge.

»Und wieviel Flaschen Bier soll ich für die jungen Herrn aufstellen?«

»Bier? Warum denn Bier? Da lauft der Brunnen! Der heutige Tag ist mir schon teuer genug gekommen.«

Schipper wollte in die Hütte treten; unter der Tür drehte er sich wieder um und sagte mit gedämpfter Stimme: »Noch was Neus, Herr Graf! Der gute Hirsch mit dem Prügelgweih, den wir in der vorigen Woch gsehen haben –«

Nun wurde Graf Egge lebendig. »Was ist mit dem Hirsch?«

»Im Bogen is er gwesen. Einer von die Treiber hat ihn gsehen auf fünf Schritt. Der Hirsch hat sich durch d' Latschen abwärts gstohlen und is beim Herrn Tassilo naus. Der Franzl hätt's gern verschwiegen, aber z'letzt hat er's eingstehen müssen, daß sein Schütz den Hirsch übersehen hat.«

»Aber da soll ja doch ein heiliges Donnerwetter gleich alles in Grund und Boden schlagen!« schrie Graf Egge, dem eine Gelegenheit, den Ärger der letzten Stunden von sich abzuladen, mehr als willkommen war. Um die Taube, die Schipper hatte fliegen lassen, noch fetter zu machen, kam Franzl im unglücklichsten Augenblick zur Hütte. »Hornegger! Her zu mir!«

»Jawohl, Herr Graf!« klang aus der Finsternis die schwankende Stimme des Jägers, dem nicht viel Gutes schwanen mochte. Im Laufschritt erschien er und stellte sich in straffer Haltung vor seinen Herrn.

»Warum hast du mir nicht sofort gemeldet, daß der gute Hirsch im Treiben war?«

»Aber ich bitt, Herr Graf,« stotterte Franzl, »es is ja kei' Zeit zum Reden gwesen. Der Herr Graf is ja gleich davon, und ich hab bei die Gamsböck zruckbleiben müssen.«

»Das ist eine Ausrede, die ich absolut nicht dulde! Es war deine Pflicht, mir sofort die Patzerei zu melden, die dein Schütze gemacht hat, und du mit ihm! Oder habt ihr euch etwa verabredet zu schweigen?«

Es war ein Glück, daß Graf Egge bei der herrschenden Dunkelheit nicht bemerken konnte, was ich auf den Zügen des Jägers abspielte. Und da sich Franzl dachte, daß es genug wäre, wenn er allein sein Donnerwetter von der Sache abbekäme, sagte er: »Von einer Heimlichkeit is gar kei Red net gwesen! Ich allein bin schuld, ich hab halt in der Eil vergessen, die Meldung z'machen!«

»Gut! Also wieder ein Strich auf deiner Rechnung. Viel Platz hast du nicht mehr übrig. Es ist für heute noch dein Glück, daß ich nicht an eine Manklerei zwischen such beiden glaube. So etwas möcht' ich mich gründlich verbitten! Wo ich bin, da wird gejagt. Da werden keine Advokatenschliche getrieben. In meinem Revier bin noch immer ich der Herr. Und da geschieht, was ich will. Wer sich nicht fügt, der kann marschieren. Ob es nun einer von euch ist oder einer von meinen Buben!«

Graf Egges Stimme war so laut geworden, daß sie bis in die Herrenstube klangen. Robert rührte sich nicht auf dem Bett, Tassilo und Willy sprangen ins Freie, um zu sehen, was es gäbe – und dabei holte Willy sich an der niederen Hüttentür den ersten »Dippel«. Die Hand auf die Stirn drückend, fragte er: »Was ist denn los, Papa?«

»Was los ist? Frag' deinen gelehrten Herrn Bruder! Der wird's wissen. Und mit solchen ›Jägern‹ soll man eine Jagd halten! Und so was sitzt auf dem Stand und hat eine Büchse in der Hand! Ein Besenstiel wäre das richtige. Und der Hirsch, natürlich, der wird das ungefährliche Tintenfaß im Wind gehabt haben. Der hat ganz genau gewußt, welchen Schützen er sich aussuchen muß, um mit heiler Decke durchzukommen!«

Tassilo wußte nun, wem der wortreiche Zorn seines Vaters galt; doch er hatte genügend Gründe, jeden ernsteren Zwischenfall zu vermeiden, und hielt es für das beste, mit einem sein »Versehen« entschuldigenden Worte den Rückzug in die Hütte anzutreten.

Das machte aber der Szene kein Ende. Graf Egge war nun einmal im Zug, und das Rad seines Zornes lief polternd weiter. Willy suchte den Vater zu beruhigen, und auch Franzl wollte seinem Herrn die Überzeugung beibringen, daß die Sache doch eigentlich gar nicht so schlimm wäre. Nur Schipper mischte sich mit keiner Silbe in den lauten Disput; er kannte seinen Herrn besser als die Söhne ihren Vater, und war überzeugt, daß Graf Egge den stattlich geweihten Hirsch lieber lebendig wußte als von der Kugel eines anderen gefällt; da blieb ihm doch die Hoffnung, den Hirsch einmal vor die eigene Büchse zu bringen.

Die Szene vor der Hütte nahm erst ein Ende, als die Pfanne mit dem Schmarren auf den Tisch getragen wurde. Beim ersten Schritt in die Stube roch Graf Egge den Zigarettenrauch; aber er schien sich müde gescholten zu haben, streifte Robert nur mit einem wütenden Blick und warf den Hut auf das Bett. Da es am Tisch an Raum fehlte, mußten Franzl und Moser ihr Nachtmahl in der Küche nehmen; nur Schipper durfte am Herrentisch sitzen. Das Mahl begann unter unbehaglichem Schweigen. Tassilo aß sich satt, Willy zwang sich, einige Bissen zu kosten, und Robert saß mit gekreuzten Armen, ohne den Löffel zu berühren.

»Warum ißt du nicht?« fragte Graf Egge.

»Ich danke, Papa, mich hungert nicht.«

»Sooo? Es wäre begreiflicher, wenn heute der Appetit mir vergangen wäre. Aber warte nur, der Hunger wird dir schon kommen! Es soll mir kein anderer Bissen auf den Tisch als Schmarren. Wer mit mir jagen will, wird sich auch herablassen müssen, mit mir aus einer Schüssel zu essen. Schipper, du bist verantwortlich, daß in die Hütte nichts anderes eingeschmuggelt wird.«

Willy und Robert tauschten einen Blick des Unbehagens, und wieder war Stille am Tisch. Graf Egge und Schipper leerten die Pfanne. Als die »Tafel« endlich aufgehoben wurde und Graf Egge seinen Stummel mit der zweifelhaftesten aller Knastersorten stopfte, schlich Willy sich hinter dem Büchsenspanner in die Küche hinaus und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter.

»Schipperchen? Du wirst uns doch nicht verraten, wenn wir auf dem Heuboden eine Flasche Wein trinken, et cetera

Schipper zeigte eine ernste Miene. »Ich bitt, Herr Graf, tun S' was S' wollen, aber ich darf nix sehen! Wenn ich was sieh, muß ich's melden. Sie haben ghört, wie der Herr Vater gredt hat. Ich hab die Verantwortung. Ich darf nix sehen.«

Willy schien mit dieser Antwort völlig zufrieden, und Moser wurde zur nahen Holzerhütte geschickt, um die erste Ration der Kontrebande herbeizuschleppen und auf dem Heuboden in Sicherheit zu bringen. Als Willy die Stube wieder betrat, nickte er seinem Bruder Robert mit vergnügten Augen zu und fragte den Vater: »Wo bleibt deine Zither, Papa? Ich habe mich schon riesig gefreut, dich wieder zu hören.«

»So? Na, dann freue dich nur noch ein wenig länger!« brummte Graf Egge und warf sich, mit der Pfeife zwischen den Zähnen, auf das Bett. »Ich bin heute gerad in der Laune, euch was vorzududeln!«

Franzl kam in die Stube und legte vor Tassilo zwei Patronen auf den Tisch. »Ihr Büchsl hab ich a bißl durchgwischt, Herr Graf.« Er hängte das Gewehr an das Zapfenbrett.

»Das war überflüssig!« klang es vom Bette her. »Und ›Herr Graf‹? Wenn du dich bei ihm schön Kind machen willst, Hornegger, so mußt du ›Herr Doktor‹ sagen. Das hört er lieber.«

Franzl, dem die Luft in der Stube nicht geheuer schien, drückte sich schleunigst wieder zur Tür hinaus, während Tassilo sagte: »Du irrst, Papa, ich mache keinen Unterschied zwischen Titeln.«

»So? Man hat mir aber doch erzählt, daß auf dem Schild deiner Wohnungstür zu lesen steht: ›Doktor Egge‹ – kurzweg? Da muß dir der angebüffelte Doktor doch besser gefallen als dein angeborener Graf?«

»Mir gilt der eine soviel wie der andere. Daß ich auf dem Schild meiner Tür den ersteren vorziehe, das ist eine Konzession, die ich meinem Beruf mache. Zu mir kommen mancherlei Leute –«

»Mit Vorliebe die Wildschützen.«

»Das ist nicht der Fall, aber es würde mich nicht wundern, wenn es so wäre. Der arme Teufel, der im vergangenen Winter meine Hilfe suchte, vermutete ganz richtig, daß ich so viel von Jagd gehört und erfahren hätte, um eine Leidenschaft zu begreifen, die den Frieden einer ganzen Familie zu zerstören und einen Menschen zum Verbrecher machen kann.«

Graf Egge lachte. »Aaaah! Du gibst also wenigstens zu, daß ein Wildschütz ein Verbrecher ist?«

»Na, sieh mal, mir diesem Zugeständnis hast du Papa eine Freude gemacht,« fiel Robert ein, »und ich vermute, da du eigentlich etwas ganz anderes sagen wolltest. Oder nicht?«

Willy sah den Blick, den die Brüder tauschten, und versuchte einzulenken. »Natürlich ein Verbrecher! Der Kerl ist ja auch richtig verknurrt worden. Tas plädierte doch nur auf mildernde Umstände, und die waren in diesem Falle wirklich am Platz. Wenn man die Sache genau betrachtet, bestand das einzige Verbrechen dieses Menschen doch eigentlich darin, daß er nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner Eltern war. Wäre er mit dieser Leidenschaft als der Sohn eines reichen Vaters auf die Welt gekommen, so hätte er sich ein paar Reviere pachten können, wäre ein großer Nimrod geworden und dabei ein anständiger Mensch geblieben. Hab' ich nicht recht?« Willy ging auf den Vater zu und faßte ihn scherzend am Bart. »Sei mal ehrlich, Papa, und setze den Fall, daß du selbst als armer Teufel auf die Welt gekommen wärest. Ich glaube, aus dir wär' auch ein Wildschütz geworden, dazu noch ein riesig gefährlicher.«

»Nein!« entschied Graf Egge. »Ein Wildschütz gewiß nicht, wahrscheinlich ein pflichtgetreuer Jäger.«

»Ein solcher würde auch aus meinem Klienten werden, sagte Tassilo, »wenn du auf meine Bitte gehört und den Mann in deine Dienste genommen hättest!«

»Das hätt' mir taugen können nach aller Galle, die mir die Sache gemacht hat, und nach dem verwünschten Klatsch!«

»Geschäftsprinzip!« lächelte Robert. »Ein junger Advokat muß von sich reden machen. Und alle Achtung, das gelingt dir! Die Zeitungsschreiber beten dich an. Sogar in den sozialdemokratischen Blättern bist du einer ehrenvollen Erwähnung sicher.«

»Woher weißt du das?« fragte Tassilo mit mühsam bewahrter Ruhe. »Du liest doch nie eine Zeitung?«

»Wahrscheinlich habe ich Besseres zu tun. Aber die guten Freunde sorgen dafür, daß man immer das Nötigste über dich erfährt.«

»Das ist wohl die einzige Gelegenheit, bei der du dich um mich bekümmerst?«

»Du hast es deinen Brüdern schwer gemacht, mit dir in Verkehr zu bleiben. Bei dir soll eine Kollektion von Bassermannschen Gestalten aus und ein gehen, mit denen ein reinlicher Mensch nicht gern in Berührung kommt. Ich bin gewohnt, mit Leuten zu verkehren, in deren Nähe man sich die Taschen nicht zuzuknöpfen braucht.«

»Das Bild ist nicht gut gewählt, Robert! Gerade du mit deinen offenen Taschen wärst in der Nähe der Menschen, die zu mir kommen, viel weniger gefährdet als in deiner Gesellschaft und am Spieltisch.«

»Das sitzt, Bertl!« lachte Graf Egge schadenfroh. »Mit Worten schießt er besser als du.«

Robert nahm eine hoheitsvolle Miene an. »Das Vergnügen, mit Impertinenzen gegen mich anzufahren, vergönn' ich ihm. Die gute Gesellschaft zu respektieren, das läßt sich schwer von jemand verlangen, der mit dem eigenen Namen bereits abgewirtschaftet hat.«

Tassilo richtete sich mit blitzenden Augen auf. »Wie meinst du das?«

Willy, der die Nutzlosigkeit seiner diplomatischen Bemühungen einsah, verließ die Stube, während Graf Egge sich vom Bette erhob und langsam, den Pfeifenrauch in einem dünnen Faden vor sich hinblasend, zum Tische kam.

Ohne zu antworten, hatte Robert die Arme gekreuzt. Ein paar lautlose Sekunden verrannen.

»Hast du meine Frage nicht gehört?«

»Was ich sagte, bedarf keiner Erklärung. Du selbst hast eingestehen müssen: daß du auf deinem Geschäftsbetrieb auf den ererbten Titel verzichtest und dich mit dem Doktor begnügst.«

»Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich Vertrauen verlangen muß. Und da ist es nicht meine Schuld, wenn der Titel, der mir in die Wiege fiel, eher ein Hindernis für mich bedeutet und Anlaß zu einem Mißtrauen wurde, gegen das ich schwer zu kämpfen hatte.«

»Oho!« murrte Graf Egge. »Soll das ein Hieb auf den Adel sein?«

»Durchaus nicht, Papa! Wenn ich auch den Grafen nicht auf meine Tür schreibe, so schlag ich meinen Adel doch höher an als mancher andere, der die Krone auf jede Zigarettendose und auf den Knopf jeder Reitpeitsche gravieren läßt und der Meinung ist, daß er damit alle Verpflichtungen genügt hätte, die seine Geburt ihm auferlegt.«

»Bertl, das geht auf dich!« stichelte Graf Egge.

»Nein, Papa!« fiel Tassilo ein, ehe Robert antworten konnte. »Nur gegen deinen Einwurf wollte ich mich verteidigen. Ich bin stolz auf meinen Adel. Aber man kann nicht Vorrechte beanspruchen, ohne nicht auch seine Pflichten um so höher zu fassen. Adelige Herkunft stellt uns auf einen exponierten Posten, zu dem Hunderte von Augen leichter den Weg finden, als zu jedem Beliebigen, der recht oder schlecht die Aufgabe seines Lebens zu erfüllen sucht. Was wir Tüchtiges leisten, wird dem einzelnen von uns nur als etwas Selbstverständliches angerechnet. Wir beanspruchen ja, die ›Auserwählten‹ jedem Beliebigen, der recht oder schlecht die Aufgabe seines Lebens zu erfüllen sucht. Was wir Tüchtiges leisten, wird dem einzelnen von uns nur als etwas Selbstverständliches angerechnet. Wir beanspruchen ja, die ›Auserwählten‹ zu sein. Drum wird jede Ausschreitung und Mißartung hundertfach gesehen und sofort als typisch für uns alle bezeichnet. Mit Unrecht. Aber es ist nun einmal so, und darin liegt für uns eine doppelte Verpflichtung.«

»Großartig!« lachte Robert. »In einer Volksversammlung würdest du dich mit solchen Tiraden populär machen. Aber in Papas Jagdhütte?« Er sah zu seinem Vater auf, der den Pfeifenrauch in dicken Wolken vor sich hinpaffte. »Ich hoffe, Papa, du amüsierst dich! Er sagte bereits: Verpflichtung. Jetzt wird er gleich mit dem abgedroschenen Noblesse oblige! herausrücken.«

Graf Egge schwieg.

»Ja, Robert, das Wort ist alt geworden! Hätten wir es jung erhalten, so genösse der Adel noch jene Achtung, die ich ihm von Herzen wünsche, auch heute noch. Nicht nur bei unseren Bedienten. Und dann wäre mir auch die Erfahrung erspart geblieben, daß jeder von uns, den es zu ernster Arbeit treibt, einem nur schwer zu überwindenden Zweifel an seinen Fähigkeiten und seinem redlichen Willen begegnet, gerade weil er von Adel ist. Aber du hast recht, das ist kein Thema für die Jagdhütte. Und Papa wird müde sein. Es ist Zeit, daß wir ein Ende machen. Gute Nacht, Papa!«

Graf Egge blies eine Wolke vor sich hin und nickte schweigend.

Als Tassilo die Stube verlassen hatte, schob Robert sich hinter dem Tisch hervor. »Ein netter Herr! Was sagst du, Papa?«

Graf Egge machte die Augen klein und strich mit der Pfeifenspitze über den weißen Schnurrbart. »Ich sage: Du sei still! Wenn es auf einen paßt, was er sagte, so paßt es auf dich! Die Hoffnung, aus ihm noch einen Jäger zu machen, geb' ich auf. Aber lieber sitzt er mir hinter dem Schreibtisch als hinter dem verfluchten Möbel, an dem du auf meine Kosten die Nächte verbringst. Leg' dich schlafen!« Graf Egge pfiff durch die Finger. Während er an der Ofenkante die Pfeife ausklopfte, kam Schipper zur Tür hereingeschossen. »Mach die Fenster auf, daß der Zigarettengestank hinauskann, und richte mir das Bett!«

Wortlos ging Robert aus der Stube und kletterte über die Leiter auf den Heuboden, wobei er die »Scheußlichkeit« des ihm zugewiesenen Quartiers mit einem kräftigen Reiterfluch bedachte.

Für jeden der Brüder hatte Franzl ein Leintuch über das Heu gebreitet und eine wollene Decke zurechtgelegt. Die Kerze, die hinter den trüben Gläsern einer Laterne brannte, erleuchtete mit ihrem matten Schimmer den niederen Raum und das von Spinnweben überzogene Sparrenwerk des Daches. Tassilo hatte sich schon zur Ruhe gelegt. Auch Franzl war schon ins Heu gekrochen, ohne bei dem heimlichen Nachtmahl mitzuhalten.

Während Schipper in der Herrenstube Graf Egges Bein frottierte, taten Robert und Willy sich auf dem Heuboden an Niersteiner und Pschorrbräu gütlich und vertilgten den Inhalt einer Konservenbüchse.


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