Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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Erstes Buch

1

Schwül und dunstig lag der heiße Nachmittag über dem Bergwald. An den Buchen rührte sich kein Blatt, an den dunklen Fichten schwankte kein Wipfel.

Aus der Tiefe des Tales klang zuweilen ein verschwommener Laut herauf – die schwere Luft erstickte jeden Ton zu einem unbestimmten Geräusch. Sonst keine Stimme des Lebens, kein Vogelruf im Bergwald. Nur manchmal ein leises Rascheln, wenn ein dürrer Zweig durch die Blätter fiel.

In dieser Stille ein leichter Schritt. Auf dem tiefer liegenden Pfad, zwischen sonnigem Laubwerk, schimmerte ein weißes Gewand.

»Gundi?«

Der fragende Ruf klang durch den stillen Wald wie der Ton einer silbernen Glocke. Dann ein perlendes Lachen. An einer Wendung des Pfades erschien eine schlanke Mädchengestalt in duftigem Sommerkleid. Hut und Fächer flogen ins Moos, und zu Füßen einer riesigen Buche, die mit weitgespannten Ästen den Platz überschattete, ließ sie sich niedersinken. Leuchtend hob sich die weiße Gestalt mit ihren feinen Linien aus dem grünen Grund; unter dem Saum des Kleides lugten die schmalen Füßchen hervor, deren zierliche Schuhe von den scharfen Steinen des Bergpfades übel gelitten hatten; zwischen dem kurzen, fein gefälteten Ärmel und dem hohen blaßgelben Lederhandschuh zeigte sich ein schmaler Streif des rosigen Armes; unter raschen Atemzügen, von denen sie jeden wie eine Erquickung zu genießen schien, hob und senkte sich die junge Brust. Gleich einer Blume, die in der Sonne dürstet, hing das Köpfchen auf die Schulter; ein schmales, edles Gesicht, nun freilich glühend wie Purpur, umrahmt von aschblondem Haar, dessen losgesprungene Löckchen sich schimmernd um die Stirne kräuselten; darunter zwei große blaue Augen, lichter als das Blau der Veilchen, dunkler als die Bläue des Himmels und staunend, strahlend in heiterer Lebensfreude.

Als sie den Schatten gesucht, war es diesen lachenden Augen entgangen, daß an dem Stamm der Buche ein Täfelchen befestigt hing, ein »Marterl«. Das verwitterte Bild mit der halb erloschenen Schrift erzählte, daß an dieser Stelle vor Jahr und Tag der Tod ein Leben zerbrochen habe. Hier ruhte sie, lächelnd und träumend in ihrer Jugend und Schönheit. Und die Erde, auf der sie ruhte, hatte Blut getrunken.

Gewannen die dunklen Schatten, die den Ort umschwebten, Macht über die junge Seele? Das Lächeln schwand von den Lippen des Mädchens, der Frohsinn ihres Gesichtes verwandelte sich in sinnenden Ernst. Ihre Augen blickten ziellos durch eine Bresche des Waldes hinunter in die Tiefe, in der zwischen steilen Ufern der schöne Bergsee gebettet lag, umwoben von Dunst und Sonnenglast. Der glatte Spiegel des Wassers war anzusehen wie straff gespannte, schimmernde Seide.

Da flog es dunkel über den See. Ein schwerer Wolkenball hatte sich vor die Sonne geschoben, die schon nahe dem Grat der westlichen Berge stand. Und das ganze Bild der Landschaft war plötzlich verwandelt. Es schien, als hätte der See sich emporgehoben aus der Tiefe, sein Glanz und Schimmer war erloschen, wie ein riesiger Smaragd, tiefgrün und düster, dehnte sich die wellenose Flut zwischen den steilen Felsenufern, die näher gerückt erschiene und schwermütige Farben zeigten. Trüber Schatten dämmerte, ein sachtes Flüstern erhob sich in den Blättern, die Wipfel und Zweige der Fichten begannen zu schwanken, und wie eine Unglückskunde den sorglosen Schläfer weckt, so flog ein rauschender Windstoß durch den Wald. Dann wieder Stille. Nur fern aus den Lüften klang noch ein murrender Hall.

Die Einsame blickte scheu umher, hinunter auf den See, den schon ein feines Netz von Linien überkräuselte, und empor zum Himmel, der sich rasch mit Gewölk zu umziehen begann. Ihre Stimme hatte sorgenden Klang, als sie gegen den Pfad hinunterrief:

»Tante Gundi?«

Ein ächzender Laut war die Antwort. Aus der Senkung des Pfades tauchte eine rundliche Gestalt hervor. Ein schillerndes Seidenkleid von altmodischem Schnitt umzwängte die ausgiebigen Formen der ältlichen, mehr als wohlgenährten Dame. Den Strohhut hatte sie am Gürtel befestigt, und während sie mit den Händen das Kleid gerafft hielt, trug sie den Sonnenschirm unter den Arm geklemmt. Die zu einem Nest geschlungenen Zöpfe hatten sich gegen das linke Ohr verschoben, und ihr tiefes Schwarz stach gegen die ergrauende Farbe der glatt über die Schläfe gescheitelten Haare sehr bedenklich ab. Das hochgeborene Fräulein Adelgunde von Kleesberg schien auch sonst mit Toilettenkünsten sehr vertraut; das verrieten die schwarzen Striche über den kleinen, hurtigen Augen und der weiße, flaumige Teint der gepolsterten Wangen. Das war nun freilich eine Kunst, die sich wenig schickte für eine Wanderung durch den steilen Bergwald. Die reichlichen Perlen, die der Erschöpften von der Stirne sickerten, hatten Furchen durch den weißen Teint gezogen, und wo dieser Perlen Weg gegangen war, glühte eine dunkelrote Linie der erhitzten Haut durch den Puder.

Der Anblick, den die alternde Dame bot, rechtfertigte das Lachen, mit dem sie von ihrem harrenden Schützling empfangen wurde. »Tante Gundi, wie siehst du aus!«

Fräulein von Kleesberg schien eine wütende Entgegnung auf der Zunge zu haben, aber Erschöpfung und Atemnot benahmen ihr die Sprache. Sie ließ den Sonnenschirm fallen und sank mit einem Seufzer in das Moos. Da verwandelte sich die heitere Laune des Mädchens in Erbarmen.

»Armes Tantchen! Nun mach' ich mir wahrhaftig Gewissensbisse!«

»Kitty! Du bist ein Ungeheuer!« Fräulein von Kleesberg keuchte noch was von »Narretei«, von »Hitze« und »schattigem Park«, von »Schaukelstuhl« und »verwünschten Bergen«, von »Eigensinn« und »kindischer Ungeduld«. Dabei zerrte sie das Taschentuch hervor, um Stirn und Wangen zu trocknen; als sie das Tüchlein sinken ließ, glich ihr brennendes Vollmondgesicht einer Palette, auf dem man Weiß und Rot und Schwarz in konfusen Mischungen durcheinandergerieben hatte.

Mühsam unterdrückte Kitty das Lachen. »Wie kannst du mir böse sein, weil ich Papa eine Stunde früher sehen wollte. Seit vier Monaten, seit der Hahnenjagd, hab' ich ihn nicht mehr gesehen. Und denk' nur, die Freude, die es ihm machen wird, wenn ich ihn so überrasche, mitten im Bergwald –« Ihre Worte erloschen unter einem dumpfen Rauschen, das den Wald durchzog. Sie warf einen Blick zum Himmel; dort oben sag es schon bedrohlich aus. Spähend blickte sie zur Höhe des Waldes und sagte kleinlaut: »Lange kann Papa nicht mehr ausbleiben. Hier müssen wir mit ihm zusammentreffen. Er hat keinen anderen Weg, um vom Jagdhaus herunter an den See zu kommen.«

Auch Gundi Kleesberg schien das dumpfe Rauschen, das über den Wald gefallen, nicht geheuer zu finden und vergaß alle Müdigkeit. »Herr du mein Gott im Himmel, da kommt ein Gewitter! Fort! Nach Hause!«

»Tantchen, ich bitte dich –«

»Nein! Ich bleibe keine Sekunde mehr!« Mühselig raffte Gundi Kleesberg sich auf und jammerte: »Ich hab' es mir gleich gedacht, daß bei dieser Narrheit so was herauskommt!« Stöhnend hob sie ihren Sonnenschirm von der Erde und trippelte hastig davon, jeden unsicheren Tritt mit leisem Aufschrei begleitend.

In Mißvergnügen blickte Kitty ihr nach, unschlüssig, ob sie folgen sollte. Ein rollender Donner entschied ihren Zweifel. Sie warf noch einen sehnsüchtigen Blick empor durch den wogenden Bergwald und rief mit glockenheller Stimme: »Papa!« Nur das Rauschen des Windes gab ihr Antwort. Schon wollte sie gehen; da fiel ihr Blick auf das Martertäfelchen an der Buche. Neugierig bog sie einen überhängenden Zweig beiseite. Mit ländlicher Kunst war auf dem Täfelchen eine waldige Berggegend abgebildet; ein grün gekleideter Mann, die Büchse im Arm, lag ausgestreckt auf der Erde, und über seiner Stirn schwebte ein rotes, von einem Schein umzogenes Kreuzlein. Unter dem Bilde stand in verwaschener Schrift zu lesen:

»Hier an dieser Stelle wurde Anton Hornegger, Gräflich Egge-Sennefeldischer Förster, am heiligen Johannistag erschossen aufgefunden.

Böse Tat ist hier geschehen,
Und der Mörder ist entflohn,
Gottes Aug' hat ihn gesehen,
Gottes Zorn erreicht ihn schon!
R. I. P.
Wanderer, ein Vaterunser!«

Unwillkürlich bekreuzte sich Kitty. Ein leises Grauen kam ihr aus dem Gedanken, daß sie hier geruht hatte, auf dieser Erde, die getränkt war mit dem Blut eines Ermordeten. »Tante Gundi!« stammelte sie und fing zu laufen an.

Hinter ihr rauschte der Bergwald, und über das finstere Gewölk leuchtete der Schein des ersten Blitzes, der sich in der Ferne entlud.

Eine Minute, und Kitty hatte Tante Gundi eingeholt, die der erste Blitz um das letzte Restchen ihrer Fassung brachte. Wie eine Verzweifelte beteuerte sie, daß ihr Leben eine grausame Qual, daß sie nur zum Elend geboren wäre. Eine Lungenentzündung war das Gelindeste, was sie für sich als Ende dieses »neuen Unglücks« prophezeite, in das sie »wieder einmal aus blinder Liebe« hineingerannt wäre.

Kitty schwieg und half nach Kräften, um diesem ausgewachsenen Häuflein Jammer den Niederstieg auf dem unbequemen Wege zu erleichtern. Nur einmal, als Tante Gundis Klagelied sich in scheltende Gereiztheit gegen die »Anstifterin des Unglücks« verwandelte, bracht Kitty ihr Schweigen: »Ich habe dir doch gesagt: bleib du zu Hause und laß mich allein gehen!«

Auch im Stadium hochgradiger Verzweiflung vergaß Adelgunde von Kleesberg nicht, was sie ihrer Stellung schuldig war. Zürnend hob sie das brennende Gesicht und erklärte: »Eine Gräfin Egge-Sennefeld in deinem Alter geht nicht allein.«

Schmollend verzog Kitty das Mäulchen. »Ach was, hier im Gebirge, in Papas eigenem Walde!« Und nach kurzem Schweigen fügte sie bei: In meinem Alter? Siebzehn Jahre! Wie alt muß man denn werden, um allein gehen zu dürfen?«

»So alt wie deine Mutter war, als sie ihre eigenen Wege ging.«

»Nein, Tante Gundi sagte das nicht; es blieb in ihren Gedanken; sie sagte nur: »Ich hoffe, daß du dieses Alter niemals erreichen wirst!«

Kitty fand nicht Zeit, über den Sinn dieser unverständlichen Wendung nachzudenken. Die ersten schweren Tropfen fielen klatschend auf die Blätter. Ohne ein ausgiebiges Bad schien das Abenteuer nicht ablaufen zu wollen. Kitty faßte die Gundi Kleesberg, die jetzt dem Weinen näher war als dem Schelten, energisch unter dem Arm, um sie in rascheren Gang zu bringen. An einer Biegung des Pfades jubelte sie: »Wir sind gerettet!«

Zwischen Büschen schimmerten die grauen Bretter einer Scheune, die im Winter zur Fütterung des Hochwildes diente. Hundert Schritt seitwärts durch den Wald, und das schützende Dach war erreicht, ehe das Unwetter begann. Die Scheune war von drei Seiten geschlossen. Da hatten die beiden Flüchtlinge auch den Sturmwind nicht zu fürchten, der den schwer fallenden Regen in schiefen Strähnen über den Berghang peitschte. Erschöpft sank Adelgunde von Kleesberg auf ein Restchen Heu, das vom Wildfutter des letzten Winters noch verblieben war; das Gesicht drehte sie gegen den finsteren Winkel, um die Blitze nicht zu sehen. Kitty hatte rasch ihre gute Laune wiedergefunden. »Das ist lieb von Papa, daß er so zärtlich für seine Hirsche sorgt – und für mich, wenn ich zufällig in den Regen komme!« Sie lauschte.

Was war das? Eine Stimme? Dazu noch eine singende! Und eine jener Weisen, wie sie in den Bergen heimisch sind. Nun erblickte Kitty den Sänger. Geradeswegs kam er den steilen Bergwald heruntergestürmt, den Schutz der Hütte suchend. Es war ein Jäger in grauer Lodenjoppe und kurzer Lederhose, die Büchse hinter dem Rücken, in den Händen den Bergstock, den er klirrend zwischen die Steine stieß, um sich auf dem abschüssigen Hang hinwegzuschwingen über Felsbrocken und gestürzte Bäume. Mit großen Augen sah Kitty ihm entgegen und wußte nicht, ob sie mehr über die eiserne Kraft dieses Burschen staunen sollte oder über den sorglosen Mut, mit dem er bei jedem Sprung um Hals und Glieder spielte.

Jetzt hatte er die Hütte erreicht. Ohne die Damen zu gewahren, trat er unter das vorspringende Dach. Gewehr und Bergstock lehnte er an die Bretterwand, schüttelte sich, daß die Tropfen von der Joppe flogen, und während er das grüne Filzhütl abnahm, um das Wasser fortzuschleudern, das sich in der hohlen Krempe angesammelt hatte, lachte er: »Sakra noch amal, jetzt hätt mich aber 's Wetter bald erwischt!«

Bald erwischt? Er troff vor Nässe am ganzen Leib. Dabei trug er den aus grobem Loden geschnittenen Wettermantel sorgfältig gerollt zwischen den Riemen des Rucksackes. Für sich selbst hatte er nicht gesorgt; aber das blaue Taschentuch hatte er um das Schloß der Büchse gebunden, damit die Waffe von der Nässe nicht leiden möchte. Lachend blickte er hinaus in das Strömen und Gießen. Die lichtbraunen Haare, die sich sonst in widerspenstigen Ringeln durcheinanderkräuselten, klebten ihm feucht und glatt an Stirn und Schläfen, ein hübsches, männliches Gesicht umrahmend. Aufgezwirbelt saß ein braunes Bärtchen über dem lachenden Mund. Hell und offen blitzten die Sterne seiner dunklen Augen in die Welt, und ihr froher Blick milderte den Ernst der Stirne.

Ein greller Blitz fuhr über den Bergwald hin, der Donner schmetterte, und aus dem Schuppen klang Tante Gundis Wimmerschrei.

Der Jäger spitzte die Ohren. »Mir scheint, da hör ich wen?« Rasch griff er nach Bergstock und Büchse und trat in die Hütte.

Kitty erkannte ihn. »Aber das ist doch unser Franzl!«

Der Jäger machte verblüffte Augen. »Mar' und Joseph! Gnädigs Fräuln! Ja, wie kommen denn Sie daher?«

»Das Gewitter überraschte uns. Ich wollte Papa erwarten.«

»Da hätten S' lang warten dürfen! Der Herr Graf kommt heut nimmer runter.«

»Kommt nicht?« Ein Schatten flog über Kittys Züge. »Er weiß doch, daß ich gestern in Hubertus eingetroffen bin. Ich habe heut früh den alten Moser mit der Nachricht zur Hütte hinaufgeschickt.«

»Ja, der Herr Graf hat 's Briefl kriegt.«

»Und kommt nicht?« Kitty fragte erschrocken: »Papa ist krank?«

Franzl lachte. »Aber Fräuln Konteß! Unser Herr Graf? Und krank? Der reißt Bäum aus mit seine sechzig Jahr. Ah na! Dem fehlt kein Haarl net!«

»Aber weshalb kommt er nicht? Es muß ihm doch Freude machen, mich wiederzusehen.«

Betroffen schaute Franzl in Kittys Augen; der Klang ihrer Worte brachte ihn aus seiner fröhlichen Ruhe. »Aber freilich,« stammelte er, »gwiß freut er sich! Aber gwiß!«

Kitty stand schweigend; ihre Finger knitterten an den Blättern des Fächers.

»Aber schauen S', Fräuln, deswegen müssen S' Ihren Hamur net verlieren!« tröstete Franzl. »Der Herr Graf hat halt an sakrisch guten Gamsbock im Wind. Sie wissen ja, wie er is. Da laßt er net aus, bis der Bock sein Kügerl net droben hat.«

»Ein Gemsbock!« Kittys Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber Fräuln Konteß!« Franzl nahm den Hut ab und kraute sich hinter dem Ohr. »Ich kann ja nix dafür!« Nun hörte er aus der Tiefe des Schuppens ein leises Gewimmer. »Was is denn?« Er trat näher. »Jegerl, 's alte Fräuln!« Gundi Kleesberg hielt das Gesicht tief eingedrückt in das Heu, und Franzl suchte die Wimmernde aufzurichten. »Fräuln! Um Herrgotts willen! Was haben S' denn? Is Ihnen was gschehen?«

Die Kleesberg stöhnte: »O Gott, o Gott, dieses entsetzliche Gewitter!«

Nun mußte der Jäger lachen. »Aber sind S' doch gscheit! Dös hört schon wieder auf. In die Berg kommt so was gschwind, aber lang dauert's net. Da, es wird schon aber bißl lichter im Gwölk!«

Zögernd richtete Tante Gundi sich auf. Im gleichen Augenblick fuhr nahe bei der Hütte ein Blitz herunter; aller Grund schien verwandelt in Flammen, und Erde und Luft erzitterten unter einem rasselnden Donnerschlag. Ächzend warf Gundi Kleesberg sich wieder über das Heu; auch Kitty wich mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe der Hütte zurück.

»Macht nix!« lachte Franzl. »Is schon gschehen!«

Mit diesem letzten Schlag hatte das Unwetter sich ausgetobt. Es folgten nur noch schwache Blitze, die matt hinleuchteten über das wogende Gewölk und einen sanft verrollenden Donner weckten.

Während Franzl unter geduldigem Trösten neben der Kleesberg stehenblieb, trat Kitty unter das Vordach der Hütte hinaus und trank in tiefen Zügen die würzige Luft, die den Wald durchhauchte. Die Wolken klüfteten sich, helles Licht floß über Berg und See, und der Regen versiegte. In sachten Stößen strich der Wind durch die Bäume und schüttelte die Tropfen von allem Gezweig.

Rings um die Hütte hatte sich eine breite Pfütze gebildet, und überall auf dem Berghang sprudelten die Regenbäche.

»Da wird sich der Heimweg hart machen,« meinte Franzl, »wie, zeigen S' amal her, gnädigs Fräuln, was haben S' denn für Schucherln an?«

Kitty hob das Kleid und streckte das Füßchen vor.

»Da schaut's schlecht aus!« jammerte Franzl. »Hundert Schritt in so einer Nässen, und 's Schucherl fallt Ihnen wie Zunder vom Füßl.«

Sorgenvoll betrachtete Kitty den überschwemmten Grund. »Aber wie kommen wir nach Hause?«

»Gar net schlecht! Passen S' nur auf!« Franzl zog den Wettermantel aus dem Bergsack und warf die Büchse hinter den Rücken. Dann rollte er den Mantel auseinander und schlang das weiche Tuch mit scheuer Achtsamkeit um Kitty. Gleich einer grauen Mumie stand sie von den Schultern bis zu den Füßen eingehüllt, und wie sie das Köpfchen reckte, um Kinn und Wangen aus den Falten des Mantels frei zu bekommen, war sie einem Schmetterling zu vergleichen, der aus der Puppe schlüpfen will. Noch ehe sie recht begriff, was mit ihr geschehen sollte, hatte Franzl sie auf seine Arme gehoben wie ein Kind, dessen Last er kaum zu spüren schien. Lächelnd ließ sie ihn gewähren; dann plötzlich stammelte sie: »Aber was geschieht mit Tante Gundi?«

»Alles der Reihe nach!« erwiderte Franzl.

Jetzt wurde Gundi Kleesberg lebendig. Händeringend kam sie und schwor die heiligsten Eide, daß sie um alles in der Welt nicht allein bliebe in diesem »gräßlichen« Wald.

Franzl tröstete: »Wölfe und Bären gibt's net bei uns, und die Mäus haben noch nie an Menschen anpackt. Bleiben S' nur schön da, bis ich wiederkomm! Ich trag 's gnädig Fräuln nunter ins Kapuzinerhäusl, da kann's warten unter Dach, bis a Schiffl kommt. In zehn Minuten bin ich wieder da.«

Während die Kleesberg wie eine Niobe jammerte, trat er hinaus in den Wald und wanderte mit sicherem Schritt davon. Als eine steilere Stelle kam, blickte er lachend zu Kitty auf und sagte: »Es geht schon! Meine Füß haben Augen im Wald und eiserne Zähn zum Beißen! Tun S' Ihnen net fürchten, gnädigs Fräuln!«

Lächelnd schüttelte Kitty das Köpfchen, schob eine Hand aus den Falten des Mantels heraus und nahm den Strohhut ab; der Wind, der ihre Wangen umwehte, tat ihr wohl; träumend blickte sie in den stiller werdenden Wald, und ihre Züge nahmen einen sinnenden Ausdruck an: »Sag' mir, Franz – der Förster Anton Hornegger, das war dein Vater?«

»Ja, gnädigs Fräuln! Wie kommen S' jetzt da drauf?«

»Ich bin dort oben bei der Buche gewesen. Das war ein schweres Unglück für dich und deine Mutter!«

Franzl antwortete nicht gleich. »D' Mutter hat's freilich schwer verwunden, und 's Unglück hat aus ihr an alts und stills Weiberl gmacht. Ich, mein Gott, ich war selbigsmal noch a kleiner Bub, der net recht verstanden hat, was er verliert. Jetzt weiß ich, was dös heißt, kein Vater nimmer haben. Manchmal kommen so Sachen über ein', wo man kein Rat nimmer weiß, und wo jeder andere Bursch zum Vater geht und fragt. Wen frag denn ich? D' Mutter will ich net veralterieren mit meinen Sorgen. Sonst hab ich kein Menschen net.« Die Worte waren ruhig gesprochen; dennoch klang aus ihnen etwas empor wie aus dem Schacht eines Brunnens.

Herzlich hingen Kittys Augen an dem Gesicht des Jäger. »Man weiß noch immer nicht, wer es getan hat?«

»Nix! Net der gringste Verdacht! Aber leben tut er schon noch, derselbig! Und wann mich unser Herrgott liebhat, führt er mich amal zamm mit ihm.« Kitty fühlte den Arm erzittern, der sie umschlungen hielt. »Und wenn der Strich, der bei der Rechnung gmacht wird, weg geht über mich – auf so was muß unsereiner gfaßt sein alle Tag. So is halt 's Jägerleben in die Berg. Da gehst im Wald umanand und denkst an nix. Und hinter die Bäum steht einer drin. Und auf amal, da kracht's. Und aus is's! Wenn's sein muß, in Gotts Namen! Tust halt den letzten Schnaufer, schaust noch amal auffi zu die höchsten Wänd, machst deine Lichter zu, und bhüt dich Gott, du schöne Welt! Ich denk mir, so hat's mein Vater gmacht. Wer weiß, leicht mach ich's ihm nach amal.«

Die Sonne war über die Seeberge schon hinabgesunken; nun lugte sie aus einem tiefen Talspalt wieder hervor, und der goldige Schein, den sie warf, durchleuchtete das von Tropfen glitzernde Laub und wob einen wundersamen Schimmer um die feuchten Stämme. Die kleinen Vögel des Waldes waren lebendig geworden und huschten umher; doch ihr Gezwitscher erlosch unter einem dumpfen Rauschen, das vom nahen Seeufer einhertönte.

Kitty schien kein Auge zu haben für die leuchtende Schönheit des Bergwaldes. Was sie gehört hatte, gab ihr zu denken.

»Franz? Du hast von Sorgen gesprochen. Was für Sorgen sind das, die du hast?«

Ein heftiges Wort schien dem Jäger auf der Zunge zu liegen. Doch er schüttelte den Kopf. »Ah, nix! So Jagergschichten halt!«

»Kann ich dir helfen?«

Wieder schüttelte er den Kopf und sah dankbar zu ihr auf.

Nun lächelte sie, und der Schelm erwachte in ihren Augen. »Bist du verliebt?«

Franzl lachte. »Das ging mir grad noch ab! Ich muß mich eh schon giften gnug.«

Sie schlug ihn leicht mit dem Fächer auf den Mund und lachte mit ihm.

Nun war der ebene Grund erreicht, und Franzl stand ratlos. Der Wetterbach, der hier in den See mündete – in trockener Zeit ein Bächlein, das mit einem Schritt zu übersetzen war – hatte sich in einen tobenden Gießbach verwandelt, der in einem nahen Felsenwinkel aus steiler Höhe niederstürzte und mit schäumenden Wellen über das grobe Steingeröll wegrauschte. Von dem Stege, der sonst über das Bett des Baches führte, war keine Spur mehr zu sehen; seine Balken mochten weit draußen schwimmen im See. Und hinüber mußten die beiden, der Zugang zum See war ihnen abgeschnitten, da der Gießbach zur Linken hart an eine steil in den See abfallende Felswand lenkte. Jenseits des Baches lag eine sanft ansteigende, mit alten Ahornbäumen bestandene Grasfläche, die sich vom Seeufer zwischen dem Bach und einer verwitterten Felswand bis zur Schlucht des Wasserfalles emporhob. Über die Wipfel der Bäume herüber lugte das Türmlein einer Eremitage, die an die Felswand angebaut war.

Sehnsüchtig schaute Kitty dort hinüber und streifte mit besorgtem Blick die schäumenden Wellen. Franzl hatte den Ausweg schon gefunden: eine gestürzte Fichte, die den Bach überbrückte. Rasch entschlossen schritt er auf den Baumstamm zu. Kitty sträubte sich, als sie seine Absicht erkannte. Franzl lachte. »Tun S' Ihnen net fürchten, gnädigs Fräuln! Über so a Bäuml geh ich weg in der stockfinstern Nacht. Lassen S' mir nur den Hals schön frei.« Kitty verstand ihn kaum, das Rauschen des Wassers übertönte seine Worte. Und nun hatte er die luftige Brücke schon betreten. Sicher, wie auf ebener Erde, schritt er über den schwankenden Stamm. In Kitty erwachte die Angst; der Anblick des schießenden Wassers machte sie schwindeln. Stammelnd schlang sie die Arme um den Hals des Jägers. Unter diesem Ruck drohte Franzl das Gleichgewicht zu verlieren. »Lassen S' mein Hals aus!« mahnte er; nur noch angstvoller umklammerte sie ihn; und da begann er auf dem schwankenden Stamm zu laufen. Schon war er bis auf wenige Schritte dem Ufer nahe, da glitt ihm auf dem nassen Baum der Fuß aus. Von Kittys Lippen flog ein Schrei. Im Wanken wagte Franzl den Sprung ans Ufer. Glücklich erreichte er den festen Grund, doch die Bürde, die er trug, raubte ihm beim Aufsprung das Gleichgewicht, und er drohte sich rücklings zu überschlagen. In diesem Augenblick griffen zwei fremde Arme helfend zu und rissen den Stürzenden auf sicheren Grund. Kitty war einer Ohnmacht nahe. Sie fühlte nur, daß sie aus Franzls Armen glitt, und als sie die Augen öffnete, lag sie an der Brust eines jungen Mannes, und neben ihr stand Franzl, lachend, aber mit blassem Gesicht.

In Verwirrung richtete Kitty sich auf. Schwer wie Blei lag ihr die überstandene Angst in allen Gliedern. Sie mußte den Arm ergreifen, den der junge Fremde ihr bot. Was er sagte, konnte sie bei dem Rauschen des Wassers nicht verstehen. Den besten Weg über trockene Plätzchen suchend, führte er sie zur Eremitage und ließ sie auf die Steinbank niedersinken, die neben der Tür in die Mauer des kapellenartigen Häuschens eingelassen war.

Halb aus Bruchsteinen, halb aus dicken Baumklötzen gefügt, mit niederer Tür, zwei kleinen Fenstern und einem zierlichen Glockentürmchen über dem Rindendach, lehnte sich die Klause an die graue Felswand. Unter dem vorspringenden Dach war an den Balken des Firstes eine rote Marmortafel befestigt, die in verblaßter Goldschrift die Worte trug: »Hier wohnt das Glück.«

Wer hatte die Klause erbaut? Wer diese Inschrift angebracht? Und wie reich mußte jenes Glück, das hier erblüht war, gewesen sein, da jene, die es genossen, den Drang empfunden hatten, ihren Dank in Stein zu meißeln. Das Flecklein Erde, das diese Hütte trug, schien wie geschaffen, um ein verschwiegenes Glück vor dem Blick der Menschen zu bergen. Vom rauschenden Wildbach, vom weiten See, den das Gezweig der Bäume verschleierte, und von ragenden Felswänden umgrenzt, schob sich das kleine, samtgrüne Tal in das Herz des Berges, wie ein feines Kämmerchen inmitten eines riesigen Palastes, versteckt und abgeschieden, geschmückt mit allen Reizen der Natur.

Frischer und würziger hauchte nach dem vertobten Gewitter die reine Bergluft, saftiger leuchtete alles Grün an Busch und Bäumen. Hell glitzerten die über alle Felsen niederrinnenden Wasserfäden, und in buntem Feuer leuchteten die vom Dächlein der Klause fallenden Tropfen.

Nun erlosch der Sonnenschein, und alle Farben der Umgebung dämpften sich wie von einem zarten Schleier überzogen.


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