Ludwig Ganghofer
Das Gotteslehen
Ludwig Ganghofer

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12

Mittag war vorüber. Während überm Watzmann und den Lattenbergen die Wetterwolken immer dichter wuchsen, blinzelte die Sonne noch in den Laienhof des Klosters. Hier war es stiller als sonst. Die Fronboten waren mit Bruder Medardus zu einer Zinsfahrt ausgezogen, in der Falknerstuben hörte man keinen Laut. Nur die Mühlsteine polterten, und zwei gewaffnete Knechte, welche die Torwache hielten, schwatzten mit Lachen von einem Mädel, über das »der wachsende Herbst« gekommen wäre. »Hat sich halt den Ellbogen an den Maibaum angestoßen!« Sie verstummten und hoben lauschend die Köpfe.

Ein dröhnender Klang des Schallbeckens weckte den Torwart, der in seinem engen Gelaß die Augen geschlossen hatte. Bevor er sich ermuntern konnte, wurde draußen vor dem Tor schon wieder mit Ungestüm an das Becken geschlagen. »Hui! Der hat's aber nötig!« Als der Alte durch den Guckaus einen Blick auf die Straße warf, bekam er flinke Füße. »Auf! Die Schlagbruck nieder!«

Auf erschöpftem Pferde, dem der Schaum von den Nüstern tropfte, jagte Herr Linhart Scharsach in den Klosterhof. Sein Gewand war mit Staub bedeckt, sein Gesicht von Schweiß überronnen. Ohne sich um das Roß zu kümmern, eilte er durch das Tor des Stiftes und über die Treppe hinauf zur Stube des Dekans. Hans Pütrich und Saaleck begegneten ihm. Sie sprachen erregt, mit halblauten Stimmen. Als sie den Linhart Scharsach gewahrten, verstummten sie. Er ließ sie vorübergehen, sah ihnen nach und lachte höhnisch. Die beiden schienen dieses Lachen nicht zu hören. Rasch bogen sie im Korridor um die Ecke, und Pütrich flüsterte: »Sie wissen es! Komm! Wir reiten!«

»Wohin?« – »Zum Herren!«

»Warum sollen wir tun, was zwecklos ist? Ob heut oder morgen, erfahren mußten sie's. Und was sie kochen, das weiß Herr Friedrich. Er will's nicht ändern. Er gibt sich selber auf. Daß er uns heut daheim ließ, als er hinausritt zu seiner ›letzten Freude‹, wie er am Morgen lachend zu mir sagte? Und daß er uns seit Wochen so von sich wegschob? Das hat seinen Grund. Er will nicht, daß wir unter dem neuen Herrn noch übler sitzen sollen, als es ohnehin der Fall sein wird. Sei ruhig und laß kommen, was kommt! Wir können's nicht ändern.«

Auf der Treppe hatte Linhard Scharsach hinter den beiden die Faust erhoben. »Zahlende Zeit ist gekommen! Für euch und für einen andern noch!« Als er die Stube des Dekans erreichte und mit Lärm über die Schwelle trat, erhob sich Wernherus vom Tisch, an dem drei Schreiber bei der Arbeit saßen. Mit einer Handbewegung schickte der Dekan die Schreiber aus der Stube. Linhart Scharsach wartete nicht, bis Wernherus mit ihm allein war. »Mein Roß ist hin. Aber die Botschaft, die dem Propst zum Nachtmahl gestern in die Stub geflogen ist und die er verhehlt hat vor Euch, die kenn ich jetzt!« Er lachte. »Ich versteh's auch, daß sie ihm eine ruhlose Nacht gebracht hat bei Kerzenschein bis zum Morgen! In Salzburg wissen sie alles seit drei Tagen. Der schöne Dreibund, den der Bayer mit dem Babenberger und dem böhmischen Wenzel geschlossen, ist in Fetzen gegangen.«

»Seit wann?«

»Seit der Babenberger im Sack hat, was im trüben zu fischen war: die grüne Steiermark. Der gute Bayer hat ihm verholfen dazu, und hinter seinem Rücken hat der Babenberger mit dem Kaiser Frieden geschlossen. Das hat den treuen Böhmen stutzig gemacht.« Wieder lachte Herr Linhart. »Seine Friedensboten sind unterwegs zum Kaiser.«

Ungeduld in den Zügen, beugte sich Wernherus vor und streckte die Hände, als möchte er dem Chorherren den Rest der Botschaft von den Lippen reißen. »Und Herzog Otto?«

»Hat von Franken her die Kaiserlichen im Land, hat Gegner auf allen Seiten. Herzogin Agnes ist vor Schreck in ein böses Fieber gefallen. Der Herzog hat sein Heer im Stich gelassen und ist nach Prag geritten, daß er den böhmischen Leu hinter den Ohren kraut und in seiner zwieschwänzigen Seel die Treu wieder aufweckt. Ich mein, er wird heimkommen wie ein Metzger, dem die Kalben zu teuer sind.«

Wernherus richtete sich auf. Seine heißen Augen schienen in weite Ferne zu blicken, während ihm dünne Röte in die hageren Wangen stieg. Dann ging er ruhig zur Schreiberstube und sprach hinein: »Man soll zwei Pferde satteln, das meine und eines für Linhart Scharsach.«

»Reiten?« Herr Linhart machte verwunderte Augen. Jetzt schien ihm ein Gedanke zu kommen, der ihn mit Sorge erfüllte. »Ist Herr Friedrich außer Tor?«

»Am Morgen ist er ausgeritten mit seinem Falken, vergnügt wie ein Junker, der den Frühling sieht, auch wenn es herbstet.«

»Geritten? Mit dem Falken? Jetzt? Wo sein Weißfalk noch allweil nicht ausgemausert hat?«

»Kluge Leute nützen die Zeit, von der sie wissen, daß sie kurz ist.« Wernherus begann sich für den Ritt zu kleiden.

»Da könnt Ihr noch scherzen, Dekan? Ich denk von dieser Beizjagd üble Dinge. Gebt acht: Herr Friedrich hat Falken und Federspiel im Stich gelassen. Der dreht uns allen eine Nas und ist gegen Landshut geritten.«

Wernherus lachte. »Das hättest du getan. Herr Friedrich gönnt seinem Liebling einen letzten Flug nach wilden Enten.«

»Ich hoff nur, daß Ihr recht habt!« sagte Linhart. Dann trat er auf Wernherus zu. »Und wenn ich geholfen hab zu allem, was Euch taugt? Wer soll den Weißfalk haben?«

»Du!«

»Und was wird sein am Festtag Allerheiligen?«

»Was du sagst: ein Festtag! Und Herr Linhart Scharsach, der Kämmerer, soll an der Seite des Propstes stehen, der die Immenburg vergibt als Gotteslehen.«

»Herr Wernher!« Dunkle Röte war über Linharts Stirn geflogen. »Ihr sollt mich finden bei Eurem Roß. Ich will meinem Herrn den Bügel halten. Das ist ein Vorrecht meiner Würde.« Lachend eilte er davon.

Ein kalter Blick hinter ihm, ein verächtliches Lächeln.

Als Wernherus und Linhart Scharsach vor dem Portal des Stiftes in den Sattel stiegen, wurde vor dem Außentor schon die Schlagbrücke niedergelassen. Da huschte einer, hinter dem die bunten Ärmel wehten, atemlos zur Torhalle herein und machte den Knechten ein Zeichen, daß sie schweigen möchten. Der Wärtl haschte seinen Arm. »Bub! Du Satansbraten! Wo bist du gewesen? Herr Friedrich ist ausgeritten.«

»Der Herr? Geritten?« stotterte Reinold erschrocken. »Doch nit zur Beizjagd?«

»Wohin denn sonst?« Beim Anblick der Angst, die dem schmucken Buben aus den Augen redete, erwachte in dem Alten das Mitleid. »Ich schweig schon. Hol dein Falknerzeug und schau, daß du weiterkommst. Bei den Untersteiner Moorwiesen beizt er auf Enten.«

Reinold wollte in der Tür der Falknerkammer verschwinden, als Wernherus aus dem Klosterhof geritten kam. »Falkner!«

Scheu sah Reinold an dem Reiter hinauf und zitterte unter dem Blick, der ihn musterte.

»Warum bist du nicht bei deinem Herrn? Wo kommst du her?«

»Ich hab gemeint, daß Herr Friedrich nit reitet heut.«

»Wer gab dir Urlaub?«

Reinold schwieg.

»Wo warst du?«

»Ich bitt, Herr Wernher, ich bin nur ein Sprüngl daheim gewesen.«

»Dein Heim und Haus ist die Falknerstube des Klosters.« Wernherus winkte dem Torwart. »Der Bub soll in den Block bis zum Abend. Zum Nachtmahl gebt ihm ein Dutzend mit der Rute. Dann mag er laufen, wohin er will. Leute, die ihre Heimat nicht unter dem Dach ihres Herrn haben, kann ich nicht brauchen in meinem Dienst.«

Der junge Falkner stand erschrocken. Als er den Dekan zum Tor hinausreiten sah, atmete er schon wieder auf. Einen halben Tag im Block liegen, das war nicht das schlimmste von allen Übeln. Und die Rute? Allzu kräftig würden die Knechte sie nicht schwingen, er wußte zuviel von ihren Heimlichkeiten. Und daß man ihm die Tür wies, das taugte ihm. Es wartete auf ihn eine neue Heimat, in der ein linderes Weilen für ihn war als im Heubett der Falknerstube. Nur um die schmucke Tracht war ihm leid. Aber der Erbsohn im freien Gut zu Mitteralben und Vordereck konnte sich ein Wams mit Pelz und Litzen schaffen, mit silbernen Knöpfen dran!

Der Wärtl kam und sagte mit Brummen: »Bub, es geht nit anders! Herrenwort! Ich muß dich krummschließen.« Da machte der Alte verwunderte Augen, weil Reinold ihm die Hände hinbot, als wäre das Sitzen im Block von allen Freuden des Lebens die schönste. –

Um die gleiche Stunde hielt Herr Friedrich im roten, sonnleuchtenden Buchenwald, der die Moorwiesen von Unterstein umgab, seine fröhliche Mittagsrast. So aufgeräumt und heiter hatte ihn sein Falknergesind noch nie gesehen, auch nicht bei der glücklichsten Reiherbeize zur Maienzeit. Und die ganze Jagdlese des Morgens bestand nur aus einem Moorhuhn und zwei wilden Enten!

Inmitten des bunten Trosses lag der Fürst auf seinem Mantel in der Sonne, ließ sich den feurigen Rechberg schmecken und scherzte mit dem Kammermeister, mit den Falknern und mit den Stöberbuben, als hätte er allen Unterschied zwischen Herr und Knecht vergessen. Wenn von den Falknern einer, keck geworden durch die Laune des Herrn, eine derbe Geschichte zum besten gab, hörte Herr Friedrich lachend zu, streichelte seinem Falken mit der Schwanenfeder den Rücken, als wäre dieses sanfte Krauen ein Wohlbehagen auch für ihn selbst, und zupfte dem Vogel, der noch nicht ausgemausert hatte, jedes graue Fläumchen fort, das sich hervorschob aus dem weiß gesprenkelten Gefieder.

Als die Sonne hinter das wachsende Gewölk der Berge tauchte, sprang er auf und rief: »Sehet, der Waldsaum da drüben hat noch Sonne! Kommet hinüber! Die soll uns noch wärmen!« Das war ein lauter, lachender Tumult, als das ganze Jagdlager mit Falknern, Beizvögeln und Rossen hinter dem Herren her war, um der letzten warmen Sonne dieses Tages nachzulaufen. Sie streckten sich wieder aus und dehnten sich behaglich in dem milden, goldigen Luftgezitter. Von neuem begann das Schwatzen und Lachen, die Stöberbuben balgten sich in der Sonne, bewarfen sich mit rotem Laub, und zwei Falkner begannen ein Reienlied des Nithart anzustimmen:

»Die Heid in lichtem Farbenkleid
Hat Maienzeit!
Winter, fahr von hinnen,
Der Sommer will uns minnen!«

So zierlich, wie das Lied anhub, ging es nicht weiter. Es kam ein Zwiegespräch: Die griesgrämliche Mutter, die durch Schaden klug wurde und erfuhr, wie schlecht die Männer sind, gibt ihrer Tochter gute Lehren. Das Mädel will des Lebens Weisheit nicht mit Ohren hören, will sie empfinden am eigenen Leib.

»Und der ist weiß!
Es müßt mich ewig reuen,
Tät keiner sich dran freuen!«

Herr Friedrich lachte und tat einen tiefen Zug aus der Bitsche, daß der Kammermeister warnte: »Herr, Ihr müßt Euch freien Kopf erhalten, wollet Ihr auf die Enten, die mit dem Abend zum Einfall streichen, noch einen letzten Ritt tun!«

»Noch einen, ja! Noch einen letzten!« Herr Friedrich nahm seinen weißen Liebling auf die Hand, warf sich zurück in die Sonne, schwang den Falken, und während der stille Fall der welken Blätter über ihn niederging, schwatzte er halb wie ein Berauschter, halb wie ein Träumender zu dem Vogel auf, der die Schwingen reckte: »Sonne über dir! Blauer Himmel, der dich ruft, und blaue Lüfte, die dich tragen. Steige! Je näher dem Licht, so ferner bist du allem zappelndem Gewürm der Tiefe, allem Ekel und Unwert. Höher und höher! Je tiefer die Sonne fällt, um so höher mußt du steigen! Immer noch einen Blick in ihren Glanz, immer noch ein Schimmer ihres Lichtes auf deinen Schwingen! Steige, steige!«

Aller Lärm verstummte, und verwundert sahen die Falkner ihren Herren an, als klänge aus seinen lachenden Worten ein Laut heraus, der ihren Frohsinn erdrückte und den Ernst in ihnen erwachen machte.

»Steige! Steige! Und kommt auch über dich die Nacht, so findet sie dich in der Höhe, auf stolzem Flug, einsam und frei! Du allein der Starke! Und sie alle unter dir, die Schwachen, nach Würmern grabend wie ein Dachs in der Frühlingsnacht oder eingesperrt in ihre Höhlen, ein warmes Lichtlein nährend, mit dem sie die Nacht verjagen wollen, weil sie zittern vor ihr. Du nicht! Du zitterst nicht! Dein letzter Flügelschlag ist stärker als dein erster war. In dir ist die Kraft gewachsen. Steige, steige!«

Da lösten sich zwei Reiter auf trabenden Rossen aus dem Walde hervor.

Herr Friedrich erhob sich, den Falken auf der Hand. Dann fing er ein Lachen an, als sollten ihm die beiden, die da geritten kamen, den Frohsinn dieses Tages noch erhöhen. »Gottes Gruß, ihr treuen Herren, ihr getreuesten von den Meinen!»rief er ihnen zu. »Warum bemüht ihr die armen Gäule, die so gern bei der Krippe liegen? Ist euch die Luft in euren Mauern zu dumpf geworden? Habt ihr Sehnsucht, meine Sonne zu teilen?«

Wernherus verhielt das Pferd. »Es ist ernste Pflicht, die mich den Propst zu Berchtesgaden suchen läßt. Wichtige Botschaft ist gekommen.«

»Behalte sie für dich! Ich bin ohne Neugier!« unterbrach ihn Herr Friedrich lachend. »Reite nur wieder heim! Halte Rat mit den Deinen! Tu, was du willst! Ich lasse dir freie Hand, wie damals, als die Mauer des reichen Erben fiel. Reite, mein treuer Wernherus! Wenn es Nacht geworden, komm ich.«

»Herr«, fiel Linhart Scharsach höhnend ein, »die Botschaft ist wichtiger, als Ihr denken mögt.«

»Wichtig? Meinst du? Wichtig für dich? Denn für mich, du redlicher Sohn deines Vaters, gibt es nur eine einzige Botschaft noch, die wichtig ist. Ich hoffe, da kommt sie!«

Zwei von den Stöberjungen, die Herr Friedrich ausgeschickt hatte, um die verflogenen Enten zu suchen, kamen atemlos durch den Wald gelaufen. »Wir haben sie, Herr, sie liegen fest, auf dem dritten Weiher!«

Herr Friedrich hob den Falken. »Auf und hin!« Er eilte zu seinem Pferd. Im Nu war der ganze Troß lebendig, und während der Propst mit dem Kammermeister gegen den Weiher ritt, liefen die Falkner hinter den Pferden her, und die Stöberjungen rannten nach zwei Seiten durch den Wald davon.

Verblüfft sah Linhart Scharsach zu Wernherus auf. »Hat man so was schon erlebt? Er muß doch wissen, um was es geht. Entweder ist er ein Narr geworden –«

»Oder es könnte sein, daß er klüger ist als wir alle.«

Der Troß der Falkner war schon im Wald verschwunden, und die Stimmen schwiegen. Diese Stille währte nicht lang. Der Weiher, auf dem die Enten lagen, war nicht weit entfernt. Nun mußte ihn Herr Friedrich erreicht haben, denn es erhob sich ein jubelnder Lärm, den der helle Jagdruf des Propstes noch übertönte. Der Schrei des Falken gellte, die Stimmen entfernten sich, und von einem Gehäng des Waldes klang das Gepolter rollender Steine. Nun plötzlich ein wirres Geschrei wie in Schreck und Jammer. Dann Stille.

Linhart Scharsach hob sich lauschend im Sattel auf. »Da muß was geschehen sein! Er wird doch nicht meinem Falken –«

Sie ritten in den Wald hinein. Auf keuchendem Roß kam ihnen ein Falkner entgegengejagt und kreischte: »Herr Wernherus! Gott sei uns gnädig, ein Unglück ist geschehen! Herr Friedrich –«

»Was ist mit ihm?« schrie Linhart Scharsach.

»Er ist gestürzt und muß sich groben Schaden getan haben. Ich soll reiten und den Medikus holen.«

»Bleib!« rief Wernherus. »Erst will ich sehen, was geschah. Du wartest auf meinen Befehl.« Er ritt dem Weiher zu.

Linhart Scharsach sprengte mit einem Fluch an die Seite des Dekans. »Das kommt uns zu übler Stund. Tragen sie ihn heim als einen Leidenden, und rührt sich das Mitleid in den Chorherren –«

»Schweig!«

Als der Wald sich lichtete, sahen sie auf dem Abhang eines steilen, mit Geröll bedeckten Hügels das Pferd des Propstes liegen, schon verendet; einer der Knechte hatte dem schwer verletzten Tier den Gnadenstoß gegeben. Mit kalkweißen Gesichtern standen die Falkner und Stöberbuben um Herrn Friedrich her. Sie hatten ihn zum Ufer des Weihers getragen, und der Kammermeister stützte das Haupt des Fürsten mit seinem Arm. Wernherus war aus dem Sattel gesprungen. Er schickte mit schweigendem Wink die Falkner und Buben fort, die ihm jammernd entgegenkamen. »Herr Friedrich?« Seine Stimme klang unsicher. Als er das Gesicht des Propstes sah, dem schon der Tod auf die Stirn geschrieben war, schien alle Erregung in ihm zu schweigen. Ruhig fragte er: »Ihr seid gestürzt? Und schwer verletzt? Redet, Herr, was soll geschehen, um Euch zu dienen?«

Der Propst versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Nur die Arme konnte er bewegen. Von den Hüften abwärts war sein Körper gelähmt, wie schon gestorben. Der Sturz über das Steingeröll des steilen Hügels hatte ihm das Rückgrat gebrochen. Seufzend ließ er den Kopf zurückfallen an die Brust des Kammermeisters und blickte zu Wernherus auf. »Die Raben!« Er lächelte matt. »Wüßt ich nicht selber, wie es steht um mich, ich hätt es dir aus den Augen gelesen. Ohne Scheu, atme nur auf! Der fromme Bruder im Untersberg hat wahr gesprochen, und du hattest keine Mühe dabei. Der Himmel ist augenscheinlich auf deiner Seite!«

»Herr, das ist unchristliche Rede!«

»Ja! Ich bin ein schlechter Christ. – Meister, wo ist mein Falk?«

Der Kammermeister hob ihm das Haupt ein wenig höher. »Sie bringen ihn schon.«

»Hat er die Ente geschlagen?«

»Ja, Herr!«

»Nur halbes Gefieder. Und so schöner Flug!« Herr Friedrich streckte die Hand. »Ich will ihn sehen.«

»Denkt nicht an irdische Dinge«, sagte Wernherus, »versöhnt Euch mit Eurem Gott!«

»Mit dem meinigen? Der wird mir gnädig sein. Wär's der deinige, Wernherus, dann hätt ich ein böses Sterben. Siehst du, das hab ich vom Immhof gelernt: unterscheiden zwischen Gott und Gott. Den Immhof grüß mir noch! Er wird harte Zeiten sehen unter deiner Hand. Wenn er klug ist, spielt er euch einen Streich, der euch die Mäuler sauber macht. Aber raub ihm alles, und er wird noch reich sein. Wie mein Falk, so ist er. Nur halbes Gefieder noch. Und so schöner Flug!« Da brachten sie den verkappten Beizvogel und die Ente, die er geschlagen hatte. »Gib ihn mir!« Herr Friedrich streckte die Hände. »Wie ich gelebt hab, will ich sterben, mit dem Falken auf meiner Faust.«

Linhart Scharsach trat dazwischen. »In die Faust eines Sterbenden gehört das Kreuz. Nicht der Beizvogel. Das ist Freud für einen, der noch lebt. Gib den Falken, Bub! Der soll sitzen auf meiner Faust!«

Ein Zornblick funkelte in den Augen des Sterbenden. Mit gewaltsamer Anstrengung raffte er sich halb von der Erde, haschte eine Schwinge des Vogels und riß ihn an sich. »Du, Scharsach, willst meinen Falken erben? Auf deine Faust gehört die Krähe, die nach Aas geht. Nicht der kaiserliche Falk. Daß er sitzen müßte auf deiner Hand? Solche Unehr will ich ihm sparen.« Mit heiserem Lachen krampfte Herr Friedrich die Hände um den Hals des Falken. Sie wollten die Tat des Sterbenden hindern. Seine Finger waren wie eiserne Klammern. »Was mein ist, nehm ich mit.« Er fiel zurück, den erwürgten Falken noch in der Faust. »Jetzt greift nach dem Eurigen! Und spart euch die fünf süßen Käse für meinen letzten Segen! Wo ich liege mit meinem Falken, das gilt mir gleich.« Seine brechenden Blicke trafen den Himmel, an dem die drängenden Wolken den letzten Glanz des Abends erstickten. In den Zügen des Sterbenden begann es zu wühlen, als überkäme ihn die Todesfurcht. Noch einmal bewegten sich seine blutleeren Lippen. »Ich bin ein Sünder. Es gibt einen Gott. Der wird vergeben.«

Seine Arme regten sich nimmer, doch seine Augen blieben offen. Er atmete noch. Wernherus sah mit kaltem Blick auf ihn nieder, wandte sich wortlos ab und stieg in den Sattel. Linhart Scharsach folgte ihm. Während sie durch den Wald hinausritten, sagte Wernherus: »Zum erstenmal in seinem Leben war Kraft in ihm.« Es klang wie Hohn. »Du, Linhart, hast den Schaden des Schwächeren.« Sie trafen den Falkner, der noch immer in Angst mit seinem Pferde wartete. »Dem Herren ist nimmer zu helfen«, sprach ihn Wernherus an, »geh zu den anderen und bete mit ihnen, bis er die Augen schließt! Wenn es Nacht geworden, schaffet den Toten in das Kloster heim mit allen Ehren, die seiner Würde gebühren.«

Als die beiden Reiter die Straße gewannen, ließen sie ihre Pferde jagen, daß hinter ihnen der Staub in grauen Wolken aufging.

Es wollte dämmern. Früher kam der Abend als sonst. Die Wolken hatten schon den ganzen Himmel dunkel überzogen, alle Berge in dichte Schleier gehüllt. Noch schwieg der Sturm. Wie ängstliches Harren war's in den Lüften.

In dieser beklemmenden Stille schrillten die Klänge der Kapitelglocke über das Tal hinaus. Von allen Glocken die einzige, die man während des Kirchenbannes läuten durfte, denn sie war nicht geweiht. Und der den Strang zog, mußte Unruh in den Händen haben,– die Töne der Glocke folgten einander wie stotternde Laute.

Auf den Feldern hoben bei dem entwöhnten Klang die hörigen Bauern lauschend die geschorenen Köpfe und fragten: »Warum läuten sie?«

Vor einer Hütte, nahe bei der Wolfsreut, saß ein Greis mit seinem spielenden Enkelkinde, das sich aus welken Blättern ein Häuschen baute. Verwundert blickte das kleine Mädel auf und fragte den Großvater: »Ahnli? Tun sie dem Kaiser läuten, weil er aufsteigt aus dem Berg?« Der Alte zog das Kind in seine Arme. »Ich mein, der säumet noch ein Weil! Wir Alten erleben's nimmer. Aber du, Kindl, wirst ihn sehen, gib acht! Tu dich gedulden! Und fallt eine Not über dich, so denk: Er kommt, und ich erleb's noch.«

Mit großen Augen blickte das Kind hinüber zum Untersberg, der wie ein grauer Riese in der Dämmerung lag, und sagte nach einer Weile: »Schau, Ahnli, der Jäger beim Kreuz sell drüben, der sitzet noch allweil! Gelt, der harret auch auf den Kaiser?«

»Auf dem muß Not liegen, ja, weil er gar so träumig ist. Kannst recht haben, Kindl, der harret auch!«

Es war zu weit hinüber, als daß der Einsame, der auf der Wolfsreut saß, diese Worte hätte hören können. Dennoch blickte er auf wie einer, der eine rufende Stimme vernahm. War es die Glocke, die ihn lauschen machte? Jetzt erhob er sich. Noch lange stand er und betrachtete die Erde zu seinen Füßen. Da waren kleine Stellen, auf denen das Gras noch nicht vergilben wollte und üppiger stand als auf dem übrigen Steingrund. »Ist hier das Blut der Alheid geflossen? Hat alles Opfer des Lebens keine andere Wirkung, als daß es die Erde düngt zu fetterem Wuchs?« Irimbert preßte die Hände über seine brennenden Augen. Dann wandte er sich und stieg über den Hügel hinunter, langsam, immer wieder den Schritt verhaltend, als wüßte er nicht, welchen Weg er gehen, welches Ziel er suchen sollte.

Nahm alle »Blüte seines Lebens« nicht ein Ende wie das Heilwerk des Josephus? Waren die Gedanken seiner Qual nicht hinter seinem Herzen her wie die Steinwürfe der Sennen hinter dem fliehenden Juden? Schrie nicht der gleiche Vorwurf auch hinter ihm: »Du hast sie betrogen um das Licht, hast ihre Augen zerstört, statt sie zu heilen, hast den Brunnen ihres Lebens vergiftet!« War dieser Vorwurf, den er im Irrsinn seines Herzens wider sich erhob, nicht ebenso ungerecht wie der sinnlose Vorwurf gegen den Mann, der das Beste seiner Kunst gegeben und doch mit seinem Können gescheitert war? An was? An dem Zufall, der ein schmuckes Knabengesicht in die Stube führte? An dem unbedachten Wort einer Magd? An der Ungeduld eines liebenden Weibes? An dem Verlangen des menschlichen Herzens, auch schön zu sehen, was ihm teuer ist?

Bei aller Marter, die ihn erfüllte, durfte er sich sagen: Ich bin ohne Schuld! Nicht die Kraft seiner Liebe war irr gegangen. Er war nur gescheitert auf den rinnenden Wassern des Lebens, über deren Lauf kein Menschenwille Macht hat. In seiner Seele schrie die Frage: »Was jetzt? Wo ist ein Trost für diese neue Nacht, die noch tiefer dunkelt, seit sie ein verheißendes Licht gesehen?« Zur Antwort blieben seine Gedanken so stumm, wie Josephus geblieben. Den hatte er nah bei der Wolfsreut an einer Quelle gefunden, an der sich der mißhandelte Jude das Blut vom Gesicht wusch. Furchtsam den Wald durchspähend, hatte Josephus sich erhoben und hatte am Riemen sein Maultier mit sich fortgezogen, das von den Steinwürfen der Sennen so übel zugerichtet war, daß es den Reiter nicht mehr tragen konnte. »Josephus und ich! Und das Glück, das ich schaffen wollte!«

Es dunkelte schon. Am Klostertor war die Brücke niedergelassen, als hätte sie auf einen gewartet, welcher kommen sollte. Auch das Innentor war geöffnet, die beiden Höfe von den Feuern der Pechpfannen rot erleuchtet. Fronboten und Reisige standen in Gruppen beisammen; aus der Falknerstube hörte man Geschrei, als bekäme einer die Rute; unter der Säulenhalle des Innenhofes klang das Stimmengewirr der Brüder und aus allem Lärm heraus noch die Stimme des Medardus. Ein Windstoß fegte über die Dächer, und die Pfannenfeuer zuckten, das gab über allen Mauern einen ruhelos gaukelnden Kampf zwischen Dunkel und Helle.

Irimbert durchschritt die beiden Höfe, ohne zu sehen, ohne zu hören. Immer die ratlose Frage in ihm: Was jetzt? Vor seinem Blick nur immer das weiße Mädchengesicht mit der schwarzen Binde. Unheilbare Nacht auf ihren Augen, und in diesem Dunkel ihre wachsende Sehnsucht, ihre dürstende Liebe! Und nun soll sie einsam bleiben, den Trost seiner Stimme nicht mehr hören, nicht mehr den Druck seiner Hände fühlen, nicht mehr sagen können: »Du bist bei mir, mehr will ich nicht.« Drei Tage noch bis zum Festtag Allerheiligen. Dann war der nutzlos geschlossene »Handel« zu Ende, seine Freiheit verfallen. Daß er von jenen, die er mit der Geißel seiner Wahrheit gepeinigt hatte, keine Schonung erwarten durfte, das wußte er. Was kümmerte ihn das eigene Schicksal? Nur die Ruhe, nur das Glück der Geliebten! Anderes wollte er nicht. Wo blühte dieses Glück? Auf welchem Wege war es zu finden? Ihre sehende Stunde war Irrtum und Angst, ihre Blindheit wird Sehnsucht und einsames Elend sein! Wenn nicht das Licht, wenn nicht die Nacht – was dann ist Glück für sie?

Wenn es ihm gelänge, seine Freiheit zu erzwingen, um neben Juttas Leben das seine zu stellen als Trost in ihrer Nacht? Seine Hände waren leer. Kein Preis mehr, den er dem Händler hätte bieten können! Wie sie lachen würden, wenn er käme: »Erfüllet mir eine Bitte! Der Handel, den ich schloß, war unklug. Zerreißt das Pergament, wir wollen neuen Handel schließen! Nehmt das Erbgut meines Bruders, aber seid barmherzig: Gebt mir meine Freiheit, ich brauche sie für das Glück einer Blinden!«

Hörte er ihr Lachen, ihren höhnischen Jubel nur in Gedanken? Wie ein Erwachender blickte er um sich her, sah die Tür des Kapitelsaales und hörte jubelnde Stimmen. War kostbare Botschaft für das Stift gekommen? Da fand er sie vielleicht in guter Laune? Wie ein zitterndes Flämmchen war die Hoffnung in ihm. Es war die einzige, die er hatte, er mußte sie versuchen. Und Herr Friedrich, das wußte er, würde ihm Hilfe sein. Vielleicht auch Pütrich und Saaleck? Und der bucklige Isengrimm?

Vor der Tür des Kapitelsaales legte er die Armbrust fort. Schon wollte er auch das Wehrgehänge mit dem Messer von der Hüfte lösen. Da zuckte ihm ein Gedanke durch die Sinne, geboren aus aller Verzweiflung seiner Seele. Bleich, mit brennenden Augen richtete er sich auf. Seine Hand, die den Griff des Messers umfaßte? War diese Hand denn leer? Hatte er nicht sein Leben noch zu verkaufen? Er schlug den Mantel um das Wehrgehäng und trat in den Saal.

Da schwieg der Lärm. In diese Stille hinein rief Pabo, der Kaplan: »Ecce Lucifer! Jetzt kommt Licht in unsere Nacht.« Und Linhart Scharsach lachte: »So ist nie noch ein Wolf gekommen, von dem man geredet hat!« Ein Gelächter erhob sich.

Wie betäubt, mit irrenden Augen blickte Irimbert in den Saal. Über den Marmorstufen, auf dem Sessel des Propstes, saß Wernherus im gezobelten Mantel und mit dem Scharlachhut, die Flamme des gesättigten Stolzes in den Augen. Und während das Gelächter noch immer wuchs, kam der bucklige Isengrimm mit höhnenden Worten auf Immhof zugetänzelt und zischelte: »Kehr um! Leg alle Weisheit in deine Beine! Du bist verloren.«

Irimbert stand wie zu Stein geworden. Seine Augen gewahrten das Unbegreifliche: Wernherus im Fürstenkleid! Und wie dumpfes Sausen war's in seinen Ohren: »Herr Friedrich tot!« Seine Augen umflorten sich. Da sah er wieder die höhnende Grimasse des Buckligen und hörte sein Gezischel: »Rette dich, Immhof!« Mit grober Faust stieß Linhart Scharsach den Buckligen zurück. »Was hast du mit ihm zu flüstern?« Lachend neigte sich der Krüppel: »Habt ihr nicht alle geschrien: Luzifer? Soll ich allein das Recht nicht haben, mich vor dem Licht zu beugen? Licht ist ein göttlich Ding, auch wenn es der Teufel bringt.« Neues Gelächter erhob sich. Auch Linhart Scharsach lachte mit. »Was für ein Licht meinst du? Das süße Licht, das er über die Blinde im Gotteslehen gebracht hat? Oder das Licht, das ihm heut noch aufgehen soll?«

Die Hand unter dem Mantel bergend, streckte sich Immhof. Sein Gesicht war weiß. Ein Blick über den Saal, ein Blick zur Tür. Zwischen ihm und der Tür stand Linhart Scharsach, der ihm zurief: »Schau dorthin, wo dein Herr ist! Die Geister im Untersberg haben wahr geredet: Ein neuer Herr ist gekommen, stark und gerecht. Und wie gerecht er ist, das sollst du merken. Was stehst du noch allweil? Beuge das Knie vor deinem Herrn!«

Propst Wernherus erhob sich. »Schweige, Linhart!« Sein Gesicht war ruhig. »Den Chorherren Irimbert von Immhof soll keiner von euch zwingen, das Knie zu beugen vor mir, der ich sein Herr geworden. Er gab uns das Erbe seines Bruders, wir haben ihm Freiheit des Wortes zugesichert, Freiheit seiner Wege und Freiheit in allem Tun. Das soll redlicher Handel bleiben.«

Schweigend trat Irimbert in die Gasse zwischen den Stühlen der Chorherren. Bei der hölzernen Schranke, die den Raum des Saales teilte, blieb er stehen, die Augen auf den Propst gerichtet.

»Komm näher, Immhof! Ohne Sorge! In aller Freiheit wollen wir reden miteinander.«

»Ohne Sorge bin ich. Und Eure Stimme ist klar. Ich höre sie.«

»So frag ich dich: Willst du mir aus freiem Willen huldigen als deinem Fürsten?«

»Aus freiem Willen? Nein!«

Schreiend hoben alle die Fäuste gegen ihn. Wernherus lächelte. »Tue, was du willst! Du bist ein freier Mann. Drei Tage noch. Aber ich höre zu meiner Sorge, daß du Wege gehst, die gefährlich sind. Dein Leben ist ein kostbares Gut für uns. Dir könnte geschehen, was wir ein Unglück nennen würden. So hab ich allen Grund, dein teures Leben zu schützen. Linhart Scharsach! Du sollst mir bürgen dafür, daß Irimbert von Immhof am Festtag Allerheiligen lebend in unserer Mitte steht. Ich gebe dir sechs gewaffnete Knechte zu deiner Hilfe. Vergiß nicht: Er ist ein freier Mann. Störe ihm nicht die Freiheit seines Wortes, nicht die Freiheit seiner Wege. Aber begleite ihn auf Schritt und Tritt, bei Tag und Nacht! Wo er ruht, da ruhst du, wo er geht, da gehst du!«

Linhart Scharsach lachte. »Das wird Speck kosten. Da muß ich jeden Tag hinaufrennen ins Gotteslehen.«

»Ich will deinem Schützling und dir die steilen Wege sparen. Heinrich von Eschelberg! Nimm alle Schützen und Fronboten! Hinauf ins Gotteslehen! Noch in dieser Nacht! Störe dem redlichen Mann dort oben nicht die Freiheit seines Besitzes, hörst du! Wir sind nicht seine Richter. Ihn richtet nur der kaiserliche Viztum. Aber seine Tochter ist dem Gericht der Kirche verfallen. Gegen dieses Weibsbild ist Klag erhoben, daß sie einen Chorherren seines Eides vergessen machte und Zauber mit einem Juden trieb, um durch höllische Künste das Licht ihrer blinden Augen zu erlangen.«

Irimbert taumelte, wie von einem Faustschlag ins Gesicht getroffen.

»Das erregt dich, Immhof?« fragte Wernherus. »Was geschient, ist Sorge für dich. Die Waffen Gottes sind stumpf in dir. Ich fürchte, du könntest so bösem Zauber erliegen. Ich fürchte, daß er dich verlocken könnte, an eine Reise zu denken, die uns vor dem Festtag Allerheiligen nicht willkommen wäre. Du hast Freiheit des Wortes. Sprich! Was willst du erwidern?«

»Daß Ihr besudelt, was rein ist und heilig!« brach es mit keuchendem Schrei aus Immhof heraus. »Daß Ihr die Niedrigkeit noch überbietet, die ich Euch zugetraut. Daß ich den Eid zerbreche, den ich Euch geschworen!« Er riß das Messer unter dem Mantel hervor. »Und daß mich Linhart Scharsach nicht hindern soll, vor Euch zu schützen, was ich liebe!« Sich wendend, stieß er die hölzerne Schranke vor sich auf. Tobender Lärm erhob sich im Saal. Schreiend und mit gestreckten Fäusten waren Scharsach, der Eschelberger, die beiden Kapläne und Ulrich von Thurn hinter dem Fliehenden her. Schon hatte Immhof die zu den Gärten führende Treppe gewonnen, als Linhart Scharsach ihn erreichte und am Mantel faßte. Da schlug ihm Irimbert den Knauf des Messers ins Gesicht. Der Taumelnde versperrte den anderen auf der Treppe den Weg. Immhof gewann die Tür, stieß den Riegel auf und schrie einen jubelnden Laut in die Nacht hinaus. Sie war das Licht für ihn, die Freiheit.

Dort, bei der Mauer, wo er viele Stunden in Sehnsucht hingesonnen, wußte er eine Stelle. Da reichte der Rasen bis hoch herauf an die Felsen. Er hörte die schreienden Stimmen schon hinter sich im Garten. Ohne Besinnen wagte er den Sprung in die Tiefe. Die Wucht des Sturzes schleuderte ihn eine Strecke über den steilen Hügel hinunter. Er raffte sich auf. Und wieder ein Schrei des Jubels, als er fühlte, daß ihm die Glieder gehorchten. Ein Jagen ohne Rast, die Wiesen hinunter, über die Brücke im Tal und durch den Wald hinauf, bis er die Wolfsreut erreichte. Da hielt er inne, an das Kreuz geklammert, um Atem zu schöpfen und zu lauschen. Im Tal und auf der Straße noch alles still. Nur der wehende Sturm und das Rauschen der Ache. Und drüben über dem Tal die leuchtenden Feuer des Stiftes – Licht, das friedlich schimmerte in die Finsternis.

Er jagte weiter, den steilen Weg hinauf, weiter und weiter, atemlos, und rastete nur, wenn ihm vor Erschöpfung die Glieder versagen wollten.

Nicht weit vom Jägerhause saß am Wegrain ein schluchzender Mensch, dessen buntes Falknergewand auch im Dunkel der Nacht noch farbigen Schimmer hatte. Der erschrak, als er den Fliehenden heraufkeuchen hörte über den Weg, und rief mit erwürgter Stimme: »Wer bist du?«

Immhof hörte nicht. Vor Erschöpfung waren ihm alle Sinne wie erloschen. Er eilte vorüber, weiter und weiter. Seine Kräfte begannen zu schwinden. Immer häufiger mußte er rasten. Als er die Wiesen vor dem Gotteslehen erreichte, war sein Lauf nur noch ein Taumeln mit brechenden Gliedern. Der tobende Sturm, der über die Halden fegte, erstickte seinen Atem und schleuderte den Entkräfteten zu Boden. Stöhnend raffte er sich wieder auf. Und schrie.

Im Gotteslehen schliefen sie nicht. Nur Jutta schlummerte. Alle anderen wachten. Sie hörten im rauschenden Sturm den Schrei von den Wiesen her. »Ein Mensch in Not?« Greimold riß ein brennendes Scheit aus dem Herdfeuer. »Leut, da müssen wir helfen!«

Sie rannten hinaus und ließen die Brücke nieder. Da taumelte Irimbert dem Gotteslechner in die Arme. »Das Tor! Schließet das Tor! Sie kommen.« Das rang sich noch mit heiseren Lauten aus seiner Kehle. Dann stürzte er bewußtlos vor die Füße des Bauern hin. Zu Tode erschrocken hob ihn Greimold auf seine Arme. »Steinhauser! Wahr das Tor und die Mauer! Feuer zum Hag! Das Eisen in jede Faust. Ich trag den Buben in die Stub.«

Ein Rennen und Hasten begann zwischen Hag und Mauer, zwischen Haus und Ställen. Dabei kein Laut, der das Brausen des Sturmes übertönte und den ruhigen Schlummer hätte stören können, der auf Juttas Augen lag. Nur manchmal ein leises Klirren wie von Eisen, manchmal ein Gepolter auf den kleinen Holzstiegen, die zu den Wehrgängen der Mauer führten.

Auf dem Turme beim Hagtor, unter dem Wächterdache, brannte schon das Pechfeuer, als im Sturm die ersten Tropfen fielen. Jetzt ein Regen wie ein stürzender See.

Da hörten sie vor dem Hagtor eine schreiende Stimme. Der Altsenn wollte den Hauswirt holen, aber die Helgard stammelte: »Das ist der Reini! Lasset um Christi Lieb den armen Buben ein! Er muß versaufen im Regen da draußen.« Bevor es die Männer hindern konnten, hatte sie den Riegel der Kettenwinde zurückgestoßen und ließ die Brücke fallen. Mit triefenden Kleidern kam Reinold durch das Tor gesprungen und duckte sich gleich in den Schutz des Wächterdaches. Während der Steinhauser, über die Eigenmächtigkeit der Helgard scheltend, die Brücke wieder aufzog, fielen die Jungsennen mit erregten Fragen über den Falkner her, was denn wäre, ob das Kloster den Hader wieder anhöbe gegen das Gotteslehen. Reinold wußte nur, daß er im Block gelegen, daß ihm der Rücken blutete und daß man ihn zum Klostertor hinausgestoßen hatte. Das sagte er ihnen nicht. Als ihn der Altsenn bei der Schulter faßte, stöhnte Reinold vor Schmerz. Der Helgard schossen die Tränen in die Augen, und erschrocken griff sie nach der Hand des Buben, als hätte sie gefühlt: Dem ist Hartes geschehen.

Er riß sich los und wollte ins Haus. Zögernd stand er wieder. Die Erregung der anderen hatte ihn ängstlich gemacht. Ratlos sah er in die ernsten Gesichter und schien nicht zu wissen, was er beginnen sollte. Da faßte Helgard seine Hand und riß ihn mit sich fort, am Haus vorüber. Als sie in der dunklen Tenne standen, begann die Magd ein Schluchzen, als wäre sie von Sinnen. Erschrocken hörte Reinold und verstand: Ein Unglück ist geschehen, der Jud ist fort, das Hauskind ist blind für alle Zeiten, und der andere ist bei ihr! Wie ein Stein, der aus den Lüften fällt und ein Haus zertrümmert, schlug diese Botschaft in die rosige Hoffnung seines Lebens ein. Er brach in Tränen aus wie ein Kind und warf sich über die Hafergarben. »Alles kommt über mich! Alles Unglück im Leben! Über mich kommt alles!«

»O Jesu mein! O du armer, lieber Bub!« Sie hängte sich an ihn, weinte mit ihm eine Weile, suchte ihn zu beruhigen, streichelte ihm das nasse Haar und küßte ihm die Hände, den Hals, die Wange. Er hatte nicht die Kraft, diese heißen Arme von sich abzuwehren. In dem Schmerz, der auf seinem Rücken brannte, war ihm die Zärtlichkeit wie Balsam. Er ließ sich trösten. Es war finster in der Tenne. Da sah er die »Rosmucken« nicht, fühlte nur die Wärme eines jungen Körpers, der sich zitternd an den seinen drängte. Klosterdienst und Erbgut, Mutter und buntes Kleid, alles versank für ihn im Trost des Augenblickes, unter den glühenden Küssen der verliebten Magd.

Mit rauschenden Strömen ging der Regen über die Dächer nieder, in der Hofreut schwamm das Wasser, und der Widerschein der Pechfeuer glitzerte wie laufende Glut in dem Wellengeriesel, das der kalte Sturmwind über die Regenlachen jagte. Beim Hagtor hielt der Altsenn die Wache. Den Steinhauser, die Junghirten und Ruglind schafften bei der Mauer und in den Wehrgängen. Keines fragte: »Was soll geschehen?« Im Winter hatten sie für den Fall einer ernsten Stunde alles abgeredet. So taten sie es jetzt. Wenn der Regen sie durchnäßt hatte bis auf die Haut, ließen sie die Arbeit eine Weile ruhen und stellten sich unter Dach ans Feuer, um ihre Kleider wieder zu trocknen.

Es war schon die halbe Nacht vorüber, als der Steinhauser an ein Fenster der Herdstube pochte. »Hauswirt!«

Greimold kam aus der Stube. »Was bringst du?«

»Wo die Weg heraufsteigen aus dem Wald, gehen Feuer auf.«

Schweigend schritt der Bauer zum Tor und stieg auf den hölzernen Turm. Rings um den Hag her sah er am Waldsaum vier lodernde Feuer durch die Schleier des Regens leuchten. Lange blickte er wortlos auf den trüben Schein. Dann sagte er ruhig: »Die Nacht ist naß und kühl, sie wärmen sich halt die Hand.« Er stieg hinunter. Als er am Pechfeuer vorüberging, sah ihm der Steinhauser ins Gesicht und erschrak. Greimolds Züge waren verändert, wie um Jahre gealtert, Stirn und Wangen so grau wie Asche.

»Bauer?«

»Komm!«

Sie gingen zum Haus. Bei der Tür legte Greimold dem Steinhauser die Hand auf die Schulter. »Jetzt bleibst du bei der Tür da, gelt? Ich mein, wir haben noch Ruh bis zum Morgen. Sonst täten sie nit im Wald die Feuer zünden. Bis der Morgen kommt, will ich mein Kindl sicher wissen.«

»Meinst du, es wird so ernst?«

»Ernster, als du dir denken kannst. Drum bleib bei der Tür! Laß mir von den Heimleuten keins in die Stub, bis ich wiederkomm.«

Der Steinhauser schien zu verstehen, was diese Worte bedeuteten. Er nickte.

Als Greimold in die Stube trat, die der Schein des Herdfeuers trüb erleuchtete, stand Irimbert bei der Kammertür, auf den Atem der Schlummernden lauschend. Aus seinen Zügen sprach noch die Erschöpfung. Seine Augen hatten Leben und heißen Glanz.

Der Gotteslechner streckte ihm die Hände hin. »Bub, jetzt bring ich die Antwort auf deinen Fürschlag. Du hast recht: Für mein Kind ist im Lehen kein Bleiben mehr. Was deine Lieb ihm bieten will, das nehm ich an. Daß du ihr eine liebe Heimat schaffen wirst, das weiß ich. Ob's auf der Immenburg oder sonstwo ist auf der Welt, ihr Glück und Ruh wird allweil sein, wo du bist! Festere Heimat kann ich meinem Kind nit schaffen. Auf dich, Bub, ist Verlaß. Für Leben und Sterben.«

»Ja, Greimold!« Irimberts Stimme war klar und fest. »Tiefe Wasser sind verlaufen, und hohe Berge sind gefallen. Mein Leben ist frei. Es soll deinem Kinde gehören. Und ich schwör es dir: Ich will dem Glück deines Kindes eine Heimat schaffen, ruhig, schön und unverlierbar!«

Forschend sah der Bauer in diese heißen, doch ruhigen Augen. »Bub? Es ist was an dir, das geht mir ins Herz, ich weiß nit wie. Aber du bist du! Ich kann meinem Kindl Besseres nit geben, als deine Liebe ihm gibt. Und die Zeit ist eilig. Ihr zwei müßt fort, noch heut in der Nacht.«

»Und du?«

»Ich geh mit euch, denn ich muß euch führen. Von meiner Kammer geht ein heimlicher Weg bis über den Wald hinauf. Den hat mein Ahnl gegraben für die Stund der Not, die er kommen hat sehen. Nur der Steinhauser und ich, sonst kennt ihn keins von den Heimleuten. Droben bei den Alben ist in der Felswand ein heimliches Stübl mit Lager und Herd. Da könnt ihr rasten bis zum Abend. Von der Wand geht ein leichter Weg bis zur Klostergrenz und zum Paß. Und über offene Alben geht's hinunter ins Halleiner Tal. Bis sell hinauf, da führ ich euch. Dann kehr ich um. Da darfst du mich nit irr machen. Mein Kindl ist sicher bei dir. Ich muß für meine Heimleut sorgen, muß ihnen Brot und Leben wahren. Ich denk, das Kloster wird lieber guten Handel schließen, eh wir von seinen Knechten die Halbscheid erschlagen. Geht alles, wie ich denk, so sind meine Leut versorgt, und dir und meinem Kind hab ich freien Weg geschaffen.«

»Das ist Hoffnung, die dich betrügen wird.«

»Nein, Bub, red mir's nit aus! Ich mein, bis zum Abend bin ich droben bei euch. Und herunten ist alles gut. Jetzt komm, ich weck das Kind. Und derweil du redest mit ihm, will ich alles richten zur Fahrt, daß ihr Zehrung habt und was nötig ist.« Er drückte Irimberts Hände, sah ihm in die Augen und versuchte zu lächeln. Dann ging er rasch in die Kammer. »Kindl! Wach auf!«

»Vater?« klang eine schlaftrunkene Stimme. »Jetzt hätt ich schier gemeint, es tät mich ein anderer wecken! Gelt, es ist Tag?«

»Ja, Kindl, heller Tag!«

»Und der Irmi?«

»Der ist da.«

Die weiße Zenta kam aus der Kammer. Beim Feuer sitzend, streichelte Irimbert der Hündin die Stirn. Das tat er wie unbewußt, während er auf die Stimmen in der Kammer lauschte und vor sich hin ins Leere blickte, träumenden Glanz in den Augen.

Nun trat sie über die Schwelle, mit der schwarzen Binde um daß weiße, lächelnde Gesicht, im Arm des Vaters, der sein Kind an die Brust gedrückt hielt, als gälte es einen Abschied auf lange Zeit.

Irimbert faßte ihre suchenden Hände. Sprechen konnte er nicht. Sein leuchtender Blick redete stumm: »Ich bin bei dir. Ich halte und habe dich. Jetzt bin ich dein für Tod und Leben.«

Als er sie zum Sessel führte, ging Greimold aus der Stube. Jutta fragte: »Ist der Josephus da?«

»Noch nicht.«

»Ich möcht ihm sagen, daß meine Augen schon ein lützel besser sind. Allweil hab ich einen lichten Schein, auch durch das Tüchl noch. Das muß der liebe Tag sein. Gelt?«

»Unser Tag, der nimmer erlöschen wird!«

Lächelnd zog sie seine Hand an ihre Brust und plauderte leise vor sich hin: »Allweil seh ich einen roten und blauen Schein. Und zumittelst drin, da seh ich dich, völlig anders, als ich dich gesehen hab in meiner blinden Zeit. Viel größer bist du. Dein Jägerkleid ist dunkel, wie ein Baum im Wald. Und so dunkel wie dein Kleid ist dein Gesicht. Aber dein langes Haar ist um dich her wie ein Glanz, den ich schier nit schauen kann. Und deine Augen sind wie ein schönes Feuer. Die schauen mich an, daß ich mein, es fallen mir zwei große Sonnen ins Herz hinein.«

Er atmete auf wie ein Erlöster, von dem eine drückende Kette fällt. »So siehst du mich?«

»Und gelt, so bist du?«

»Ja. So bin ich. Wie gut du sehen kannst! Du brauchst den Josephus nimmer.« Er löste die Binde von ihren Augen.

»Und gelt, jetzt darf ich auch bald hinaus in den Tag schauen und alles sehen, was schön ist?«

»Heute noch, Juttula! In dieser Stunde noch!«

»Du führst mich, gelt?«

»Ich führe dich, immer und immer. Es wird ein weiter Weg sein, den wir heute gehen, in Tag und Sonne, über die Wiesen und durch den Wald, bis zu den Alben hinauf.«

»Irmi!«

»Weißt du noch, Juttula? Damals, als wir zum erstenmal bei der Ulme saßen? Was du mir damals von den Alben sagtest, weißt du das noch?«

Sie nickte. Und Freude leuchtete in ihren Augen, die ohne Schleier waren, hell und klar wie die Augen sehender Menschen. »Zu den Alben, wo so viel Blumen sind, da möcht ich hinauf! Nur ein einzigs Mal! Gelt ja? Das meinst du? Und die Alben soll ich sehen?«

»Noch heut!«

»Und du führst mich?«

»Ja.«

Sie erhob sich, als wäre in ihr eine freudige Sehnsucht, die sich nimmer gedulden wollte. »Irmi! Komm!«

Der Gotteslechner kehrte zurück, hinter den Schultern eine Kraxe, die mit allerlei Vorrat, mit Kleidungsstücken und Lodenzeug beladen war. Er sperrte die weiße Zenta in Juttas Kammer, brannte am Herdfeuer eine Pechfackel an und ging den beiden voraus.

Der Steinhauser, der vor der Tür auf der Holzbank saß, gewahrte den Fackelschein, der aus dem Flur hinausfiel über die dunkle Hofreut. Er hörte noch das Hauskind in lachender Freude schwatzen: »Tatst du nit sagen, das ist der Weg zu den Alben, so tät ich glauben, wir sind in meines Vaters Stub!« Er hörte die Stimme des Jägers: »Da geht es steil hinunter, ich will dich tragen!«

Dann vernahm er ein dumpfes Geräusch, wie den Fall einer schweren Kellertür.

Jetzt war es still im Haus. Das währte nicht lang. In Juttas Kammer begann die weiße Zenta zu winseln und zu bellen.

Der Steinhauser saß und wartete, Stunde um Stunde.

Der Regen wurde schwächer, ein eisiger Wind fuhr über die Berge, und in das stäubende Geriesel mischten sich wehende Flocken, die zerschmolzen, wenn sie die Erde berührten.

Als der Morgen kalt und grau zu dämmern anfing, sah man, daß auf den Bergen dichter Schnee gefallen war, bis über die Almen herunter. Und es stöberte noch immer um die hohen Wände.

Der Tag begann. Da leuchtete im Hausflur das Licht der Fackel. Greimold, bis an die Knie mit gefrorenem Schnee behangen, trat aus der Tür und löschte den Pechbrand in einer Regenlache.

»Sind sie gut hinaufgekommen?« fragte der Steinhauser.

Der Bauer nickte und ließ sich mit schwerem Seufzer auf die Hausbank fallen.

Scheu sah ihm der andere ins Gesicht. »Ist denn die Sorg in dir so schiech?«

Der Bauer nickte.

»So red doch ein Wörtl! Dein Schweigen rührt einen an wie Eis.«

Der Gotteslechner hob das Gesicht. »Steinhauser! Es schreit in mir: Ich seh im Leben mein Kindl nimmer.«

Da schoß die Helgard an den beiden vorbei und huschte mit abgewandtem Gesicht ins Haus. Gleich darauf kam die weiße Zenta aus dem Flur gesprungen und jagte suchend über die Hofreut, durch das Mauertor und zur Ulme hinüber. Und im Haus die Stimme der Helgard: »Bauer, Bauer!« Sie kam unter die Tür, halb erschrocken, halb verlegen. »Wo ist denn das Hauskind?«

»Wo das Glück ist!« sagte der Bauer leis. Dann sah er zur Helgard auf: »Geh nur! Und koch den Heimleuten ein Mahl, ein festes, mit dem sie auslangen den ganzen Tag.« Eine Weile saß er schweigend. Jetzt erhob er sich. »Steinhauser, das Leben ist hart. Aber man muß sich halt doch drum wehren bis auf den letzten Streich. Ich will's versuchen, ob ich meinen Heimleuten noch freien Weg schaff. Und mir einen Weg zu meinem Kind.«

Von den Wiesen, die vor dem Hagtor lagen, hörte man den Klang eines Hornes.

»Blast nur, ja! Erst muß ich mein Eisen holen.«

Als er zum Hagtor kam, mit dem Wehrzeug seines Vaters gerüstet, rief ihm der Steinhauser zu: »Herr Wernher ist draußen.«

»So viel Ehr? Der Propst gar selber?«

»Nein, Wernherus ist's.«

»Das ist der Propst. Herr Friedrich ist ein toter Mann seit gestern.«

Die Sennen standen mit erschrockenen Gesichtern. Und der Junghirt rief:

»Die Untersberger haben wahr geredet! Ohne Sorg, ihr Leut! Der neue Herr im Gaden muß gerecht sein und gut. So ist die Fürsag gewesen.«

Greimold war auf den hölzernen Turm gestiegen. Vor dem Hagtor draußen, inmitten der Wiese, saß Wernherus im Sattel. Neben dem Pferde stand ein Gewaffneter, mit geschlossenem Visier, an der Lanze ein weißes Fähnl, und nicht weit von ihm der alte Hilpot mit dem Jagdhorn. Die Schützen und Reisigen, über die zwanzig, waren weit zurück.

»Sie tragen das weiße Tuch und wollen reden mit uns!« sagte der Bauer und stieg zum Tor hinunter. »Ruglind, gib acht auf die Weiße, daß sie nit ausspringt! Und tu das Tor auf! Steinhauser und Fürsenn, ihr gehet mit hinaus!«

»Bauer, sei fürsichtig«, zickelte der Steinhauser, »die haben das Friedenstuch oft schon ausgehangen!«

»Das weiß ich.« Greimold lächelte. »Es ist ein Recht aller redlichen Leut, daß sie von den Schlechten allweil wieder das Gute glauben. Ihr weißes Fähnl macht mit dem Speer ein halbes Kreuz. Dem vertrau ich zur Hälft.«

Sie traten vor das Hagtor.

Der Steinhauser blieb mit dem Altsenn bei der Brücke stehen, und Greimold ging dem Propst entgegen.

Wernherus saß unbeweglich im Sattel. Seine Stimme klang freundlich, als er den Gotteslechner ansprach: »Daß wir kommen, Bauer, braucht dir keine Sorge zu machen. Wenn du dem Kloster nicht weigerst, was wir zu fordern ein Recht haben, so sind wir Freunde, und dein Hag hat Frieden.«

Greimold schwieg.

»Kennst du den Chorherrn Irimbert von Immhof?«

»Den kenn ich. Gut.«

»Kam er heute nacht in deinen Hag?«

»Ja, Herr Wernher.«

»Er hat gehandelt wider seinen Eid, ist klosterflüchtig. Weißt du das?«

»Daß er aus dem Kloster hat flüchten müssen, um meinem Kind einen üblen Weg zu sparen, das weiß ich, ja!«

»Dein Kind soll sicher sein wider alle Klage. Aber gib uns den Immhof heraus, noch heute, jetzt!«

»Das wird sich hart machen. Was einer nit hat, kann einer nit geben.«

»Was soll das heißen?«

»Daß Herr Immhof nimmer in meinem Hag ist.«

Ein Zornblick funkelte in den Augen des Propstes. »Bauer! Du spielst um alles, was dein ist! Um Haus und Kind!«

»Mein Kind ist sicher.«

Unter dem geschlossenen Helm des Gewaffneten, der die Lanze mit dem weißen Fähnl trug, klang ein rauhes Lachen.

»Und Immhof?« fragte der Propst. »Wo ist er?«

»Auf Wegen, die weit von Euch sind. Schon seit der halben Nacht. Den holet Ihr nimmer ein, Herr, auch mit dem Roß nit. Aber daß Ihr den steilen Weg nit umsonst geritten seid, so nehmt mein Haus! Schwört meinen Heimleuten ihr Brot und Leben zu und mir den freien Weg außer Land –«

Wernherus ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Davon reden wir ein andermal.« Er wandte das Pferd und ritt über die Wiese gegen den Wald hinunter.

Der Gotteslechner sah ihm nach und nickte. »So müssen wir halt über die Mauer miteinander reden.« Er wollte zum Hagtor gehen. Da schrien die beiden Männer bei der Brücke erschrocken auf, und Hilpot kreischte: »Wehr dich, Bauer!« Greimold faßte nach dem Eisen und drehte das Gesicht. Da sah er die Klinge der Lanze blitzen und empfing den tödlichen Stich in die Kehle. »Gottesmänner!« Ein Blutstrom erstickte sein letztes Wort: »Kaiser, steig auf!« Er stürzte entseelt zu Boden.

Der Steinhauser hatte die Axt geschleudert; sie traf und zerschmetterte den geschlossenen Helm; der ihn getragen hatte, blieb unversehrt. Linhart Scharsach war es. Barhäuptig, mit klirrenden Sprüngen, eilte er den Reisigen entgegen, die schon mit Geschrei über die Wiese kamen.

Jammernd waren die Sennen aus dem Tor gestürzt und halfen dem Steinhauser die Leiche bergen. Als sie die Brücke aufziehen wollten, kam noch einer in den Hag gesprungen: Hilpot, der Jäger. Sie wollten ihn zurückstoßen. Da rief der Alte:

»Ich bin der Eurige! Laßt mich ein! Mein Eid ist gestorben mit meinem Herrn. Jetzt will ich stehen, wo das Recht ist.«

Die Brücke war aufgezogen. Der Steinhauser legte den Toten quer über den Torweg und hob die Faust. »Ein Lump ist jeder von euch, der seiner Treu vergißt und wegsteigt über den Hauswirt!«

Solcher Mahnung bedurfte es nicht. Der Mord, den sie mit angesehen, hatte ihnen allen das Feuer des Zornes ins Blut geworfen.

Helgard, von dem Lärm der Stimmen aus dem Haus gerufen, stand bleich und zitternd. Als man draußen schon anfing, die Brandpfeile gegen den Hag zu werfen, rannte sie wie von Sinnen davon, hinüber zur Tenne. »Bub! Wach auf! Wach auf!«

Reinold hob den Kopf aus den Hafergarben. Er trug das Gewand eines Sennen, das ihm Helgard in der Nacht gebracht hatte – in den eigenen, durchnäßten Kleidern hätte er frieren müssen, der arme Bub! Halb ausgeschlafen, mit duseligem Kopf, schien er sich auf die Dinge nicht recht besinnen zu können, schien nicht zu wissen, wo er war. Erschrocken riß er die Augen auf, als Helgard mit einem Sturz von schluchzenden Worten über ihn herfiel. Ratlos starrte er sie an. »Gardli! Um Christi Lieb! Wie komm ich denn noch hinaus?« Sie mußte denken für ihn und fand einen Weg zur Flucht: vom Stalldach auf die Mauer, mit einem Sprung hinunter, und von der Krone eines Birnbaums über den Hag hinaus. Nun wußte er genug und wollte sie von sich abwehren. Sie umklammerte seinen Hals, küßte ihn ein letztes Mal und atmete auf, als sie ihn über die Mauer verschwinden sah.

Dem Hilpot flüsterte sie zu: »Er ist draußen und sicher.« Der Alte verstand nicht, was sie meinte, und es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hatte heiß bei der Mauer zu schaffen.

Bis zum Abend vor dem Festtag Allerheiligen, unter Regen und Schnee, vermochten sie sich zu halten. Als die Balken des Mauertores zu brechen drohten, warf der Steinhauser einen Pechbrand auf das Hausdach, einen anderen in die Stube des Greimold. Asche sollte den Weg bedecken, den das Hauskind gegangen war.

Sie wehrten sich mit letzter Kraft. Als das Tor gebrochen lag, war es nur noch ein kurzer Kampf, ein blutiger. Der alte Hilpot, der Junghirt, die Ruglind und der Steinhäuser lagen still auf der Erde, die vier Sennen mit ihren Wunden standen gefesselt, und sieben Knechte des Stiftes hatten es mit ihrem Leben bezahlen müssen, daß der letzte Freihof im Gaden ein Gut des Klosters wurde.

Linhart Scharsach mit den Fronboten durchstöberte im Haus alle Räume, die das Feuer noch nicht ergriffen hatte. Die Ställe durchsuchten sie, den Tennboden und die Scheunen. Sie fanden nur die Helgard und ließen sie wieder laufen.

Als man die gefesselten Sennen davonführte und das Vieh zusammentrieb, wurde zwischen der Mauer und dem halb verbrannten Hag noch ein stiller Schläfer gefunden, der unter einem Birnbaum lag, mit dem Bolz in der Stirn. Um seines Kittels willen hatte ihn einer der Klosterschützen für einen Sennen gehalten, der entfliehen wollte. Mit gellendem Schrei warf sich die Helgard zu dem Toten nieder, und schluchzend lag sie über ihm, während die Fronboten mit Stangen und Äxten das Feuer zu löschen suchten. Denn die wehenden Funken bedrohten die Ställe, die das Kloster gewonnen hatte. Und die Schafe und Schweine mußten gerettet werden.

Unter dem Rauschen der Flammen und dem Krachen des stürzenden Gebälks hörte man immer wieder das Gebell und Heulen eines Hundes. Ruhelos jagte die weiße Zenta umher. Sie suchte und suchte. Auf die Wiesen rannte sie und kehrte zurück. Immer weitere Kreise zog sie, auf und nieder durch den Wald. Mit Gewinsel fiel sie im höher liegenden Gehölz eine Fährte an und jagte bergauf, den Almen zu. Sie kam in Schnee. Immer wieder verlor sie die Fährte, immer wieder fand sie die unter der weißen Decke schon halb erloschene Spur.

Der Wald ging zu Ende.

Über offene, dicht beschneite Almgehänge jagte das suchende Tier, verlor sich zwischen Geröll und huschte am Fuß einer hohen Steinmauer in einen dunklen Spalt, der die Felsen durchschnitt. Eine Rindenwand, durch deren Ritzen heller Lichtschein zitterte, sperrte dem Tiere den Weg. Eine Stimme klang, mit Lachen und Plaudern. Man hörte ein Feuer knistern. Unter Gebell und Winseln begann die Hündin an der Wand zu scharren.

»Die Weiße! Das ist die Weiße!« rief es in der Felsenstube. »Und der Vater kommt!«

Ein schmales Türlein wurde aufgerissen, und dunkel stand Jutta in dem flackernden Schein, der die kleine Felsenhöhle erfüllte.

Mit so ungestümer Zärtlichkeit sprang die weiße Zenta an ihrer Herrin hinauf, daß Jutta taumelte. Ein Arm umfing sie.

»Ich bitt dich! Führ mich hinaus! Dem Vater entgegen!«

Irimbert zögerte. Doch er tat ihr den Willen.

Während Zenta sich in ihrer Freude wie toll gebärdete, traten die beiden hinaus in den dunkelnden Abend.

Der Wind war still geworden, nur spärlich fielen noch die Flocken, und durch die langsam ziehenden Wolken schimmerten ein paar verlorene Sterne.

Mit dem ersten Blick, den Irimbert hinunterwarf über Almen und Bergwald, sah er den Feuerglanz des brennenden Hauses, halb verschleiert vom Rauch, der schon heraufquoll bis zu den Felsen.

Er atmete tief. Und fester umschlang sein Arm die Blinde.

»Siehst du ihn, Irmi? Kommt er?«

»Nein, Juttula! Der Vater kommt nicht.«

»So muß ihm die Weiße davongelaufen sein. Aber morgen, gelt da ist er bei uns?«

»Morgen? Da sind wir bei ihm!«

Sie standen schweigend.

Dann plötzlich fragte die Blinde: »Was ist das, Irmi? Allweil spür ich was im Gesicht. Das ist, als ob es Eisblumen wären? Wie kann das sein? Es ist doch blühende Zeit! Gelt, ja?«

»Blumen und Blumen, überall, wohin du siehst. Und was du auf deinen Wangen fühlst, sind fliegende Blätter von ihren Kelchen. Die sind so kühl vom Tau, der die Blumen tränkte.«

»Wenn ich nur eins haschen könnt! Aber wie ich's greifen will, ist's fortgeflogen.«

Wieder schwiegen sie.

Auch die weiße Zenta war ruhig geworden. Sie stand mit gesträubtem Haar, noch atemlos von dem jagenden Lauf, mit hängender Zunge, und stierte hinunter auf das brennende Haus.

Da sagte Jutta: »Es ist wie Rauch in der Luft. Sell drunten wo, da muß ein mächtiges Feuer sein.«

Er preßte die Blinde an seine Brust. »Wie gut du sehen kannst! Ein Feuer, groß und hell und lodernd!« Das klang wie eine Stimme der Verzweiflung und doch wie jubelndes Glück.

»Das Feuer brennt in deines Vaters Hofreut. Das haben die Heimleut in Freud gezunden.«

»Wie in der Sonnwendnacht? Und horch nur, Irmi, ich mein, daß ich Stimmen hör, sell drunten!«

»Sie singen! Hörst du es nicht? Sie jauchzen!«

»Warum haben sie so viel Freud?«

»Weil das lachende Glück im Gotteslehen Einkehr hielt. Weil das Hauskind ein Bräutlein wurde.«

»Irmi!«

Mit zitternden Armen hob er sie empor und küßte ihren Mund.

»Irmi! Was tust du mir?«

Das stammelte sie erschrocken. Dann ein selig dürstender Laut. Und seinen Hals umklammernd, trank sie die Glut seiner Küsse.

Wie weiße, gaukelnde Blütenkelche fielen die Flocken in der Dämmerung. Immer spärlicher fielen sie. Langsam verzog sich das Gewölk, und am Himmel, der sich klärte, flimmerten die ewigen Lichter. Die reine Luft war kalt wie in einer Frühlingsnacht, in der ein Reif die Blumen umschauert.

Lautlos gingen die Stunden hin. Nur manchmal das Klirren eines Steines, der sich aus den Wänden löste, über die Felsen rollte und still im Schnee versank.

Ein falber Schein zog über den Grat des Hohen Göhl herauf. Die Sterne erloschen wie junge Augen, die müde sind und noch immer schauen wollen. Alles Dunkel wurde grau, in allem Grau erwachten die Farben, ein bläulicher Glanz war über den Schnee gegossen.

Als hätte ein Wunder die beschneiten Berge mit Rosen beworfen, so begannen die Zinnen des Watzmanns und der Watzmannkinder aufzuleuchten, rot und rot. Diesem blühenden Glanze gegenüber, auf dem Göhl und auf dem steilen Jenner, waren alle Zacken und Grate gesäumt mit einer blitzenden Linie, die den blauen Schatten der Felsen vom Blau des Himmels teilte.

Strahlen schossen auf, als wäre hinter den Bergen dort oben eine Welt in Brand geraten. Aller Rauch und Nebel, der das tiefe Tal verhüllte, fing zu schimmern an, und über die weißen Almen ging es wie flutendes Feuer hin.

Die Sonne kam.

Das glomm und glitzerte in den Lüften und über dem Schnee, daß Irimbert, als er aus der Felsenkammer hinaustrat in den strahlenden Bergmorgen, geblendet die Lider schließen mußte. Juttas Augen ertrugen den Glanz und blickten hinaus in allen Schimmer des Morgens, groß und klar und ruhig wie sehende Augen, die im Wachen träumen. Langsam und schweigsam schritten die beiden durch den linden Schnee.

Die weiße Zenta tollte vor ihnen her, häufig verschwindend in den glitzernden Wolken, die sich auf steilem Hang unter den Sprüngen des Tieres von der Schneedecke lösten.

In den Mantel gehüllt, vom Arm des Geliebten umschlungen, ruhte Jutta auch im Schreiten noch an seiner Brust. Gestrüpp und Stein vermeidend, jeden Schritt ihres Weges überwachend, führte er die Blinde am Fuß der steilen Gehänge über ebenen Grund.

»Wie lind das Gras ist, über das wir gehen!« sagte sie. »Und alles ist blumig, gelt?«

»Wie gut du sehen kannst! Ein blühender Mai um uns her! Blumen und Blumen überall. Der blauen Sterne und der roten Rosen sind so viele, daß sie das grüne Gras bedecken wie der Himmel die Welt.«

Sie nickte, den verklärten Blick der blinden Augen ins Leere gerichtet. »So viel Blumen! Und ich weiß, warum!« Ihre Stimme wurde ein Flüstern. »Irmi? Siehst du sie nit? Allweil geht sie vor uns her. Und allweil grüßt sie mich.«

Er preßte die Blinde in seinen Arm und stammelte in Jubel: »Du siehst das Glück!«

»Die schöne Frau! Die seh ich, Irmi! Und völlig ist sie, wie du gesagt hast. Alles ist hell und weiß an ihr. Ein Schein geht von ihr aus. Den seh ich, Irmi! Und wo ihr weißer Mantel schleifet, wachsen Blumen. Allweil lacht sie uns an. Das ist in mir, ich kann's nit sagen! Schau, ich mein schier, daß ich singen müßt!«

Sie atmete tief und wurde stumm. Lächelnd streckte sie die Arme. Von ihren Schultern glitt der Mantel in den Schnee. Und da endete ihr Weg. Sie standen am Rand der Felsen, träumende Tiefe unter ihnen.

Wie war es schön dort unten, auch ohne Sonne! Im Duft des Schattens glich das sinkende Tal einem Spiegel, darin sich das Blau des Himmels brach. Und der beschneite Wald so zierlich und winzig, als hätte dort unten der Schnee geblüht und weiße Blumen getrieben.

Immhof blickte in die Tiefe. Dort unten lag es und winkte – das Glück, das unverlierbar ist, das keinen Irrtum kennt und keine Täuschung fürchtet. Ewige Blindheit und ewige Helle! Und über weiße Blumen zu ihm ein Weg, den kein müdes Erlöschen endet, nur ein letzter jubelnder Schrei! Und ihr Leben von diesem blühenden Wege nur getrennt durch einen Schritt ins Leere, durch eine kurze Qual.

Der Geliebten auch diesen einzigen Schmerz ihres Lebens noch ersparen? Konnte er das?

Fester umschlang er sie, und ruhig faßte seine Hand den Griff des Messers.

Noch einmal blickte er über die Almen zurück und hinunter gegen das von Rauch und Nebel verschleierte Klostertal. Er stand hoch aufgerichtet, stolz den Mund umspielt von einem verächtlichen Lächeln. Dort hinter ihm das staubige Leben mit seinen Schmerzen und seinem Haß, mit seiner Torheit und seinem Würmerkampf. Und hier in einsamer Höhe der reine Tag, Schönheit und Ruhe, das Glück, die Liebe. »Sie harret auf uns. Komm, Irmi, laß uns gehen.«

»Wir sind daheim.«

Ein Rauschen erhob sich über ihnen, als hätte ein gewaltiger Vogel seine Schwingen geöffnet.

Hatte die Sonne den Schnee gelöst? Oder Zenta, die verschwunden war?

Eine wirbelnde Wolke, weiß und in die Breite wachsend, stäubend wie fallendes Wasser, kam über die steilen Gehänge niedergerollt.

»Irmi? Was ist das, was ich hör?«

»Sie öffnen das Tor und lassen die Brücke nieder. Siehst du das schöne Haus? Groß und weiß. Da sollen wir wohnen. Ewig und ewig.«

»Du! Und ich!«

»Und das Glück mit uns.«

Sein Arm umklammerte sie, und ihre Lippen mit den seinen schließend, drückte er den Stahl in ihre Brust.

Sie seufzte nur. Das war nicht ein Hauch in Schmerzen, nur ein seliger Laut unter Küssen. So hing sie noch an seinem Halse, während ihr Leben schon hinüberschlummerte in das ewige Glück. Und schon umwirbelte sie der weiße Staub, die rollende Wolke schlang ihren wehenden Mantel um die beiden her, und donnernd stürzte die Lawine über alle Felsen nieder in das schattige Tal.

 

Der Bannbrief hing an dem Tor des Stiftes, und im Turm des Münsters waren die Glocken stumm. Doch die Riesenglocke der Berge hatte zu heiligem Tod geläutet, dröhnend, mit gewaltigem Schall.

Von ihrer Stimme ein Widerhall ging weit über alle Täler, über die Almen und Wälder hin.

Die still gewordenen Kämpfer, die um den rauchenden Aschenhaufen des verbrannten Hauses lagen, hörten nicht mehr.

Aber im Hag des Jägers hoben beide – die Greisin, die mit den Händen im Schoß auf der Schwelle ihres Hauses saß, und Helgard, die neben Mutter Hanna auf der Erde kauerte – bei diesem Rollen und Dröhnen die Gesichter, als hätten sie für einen Augenblick ihres stummen Jammers vergessen.

Und drunten im Tal, bei der Achenbrücke – da waren sieben Zelte errichtet, Speere waren aufgestellt, mit dem Bienenkorb auf dem Fähnl, Rosse lagen an der Koppel, und beim Feuer ruhten gewaffnete Knechte. Die horchten auf, als es durch die herbstlichen Lüfte ging wie Gewitterschlag im Sommer.

Aus einem der Zelte trat ein Jüngling in schimmerndem Eisenkleid und blickte lauschend zu den ziehenden Nebeln auf, die den Himmel und die Sonne verschleierten. Eine hohe, kraftvolle Gestalt, die mit dem Stahl, der die schlanken Glieder umschützte, wie in eins verwachsen schien. Dunkel fielen die Locken auf die Schulterstücke des Panzers. Und ein Gesicht, als wäre ein versunkenes Leben wieder auferstanden! Nur daß es jenem anderen glich wie der lachende Mai dem schwermütigen Herbst. Und andere Augen! Augen von lichtem Braun und strahlender Helle. Während er noch stand und lauschte, trat der alte Wieting zu ihm.

»Herr Immhof! Schauet hinauf zum Kloster! Sie kommen wieder. Aber der eine, auf den wir harren, ist nicht dabei. Jetzt fang ich an, sein Wort zu verstehen, wie's gemeint war.«

Mit einem großen Troß von Falknern und Knechten erschienen sie in ihren pelzverbrämten Festgewändern, die beiden Kapläne, Hans Pütrich und Herr Linhart Scharsach, der Kämmerer.

Mit allem Segen des Himmels grüßend, im Namen des Propstes, nomine reverendissimi nostri domini Wernheri, luden sie den ritterlichen Herren Wolfgang von Immhof zu Tisch und Bett des Klosters.

Statt aller Antwort fragte Herr Immhof mit seiner hellen, klingenden Stimme: »Ist unter euch der Chorherr Irimbert von Immhof, mein edler Vetter?«

Sie schwiegen, ratlos und verlegen.

»So genügen mir Schild und Lager in meinem Zelt.«

Da begann Herr Linhart Scharsach zu reden, wohlwollend und ehrenfest, mit derber Herzlichkeit, wie nur gute Menschen zu reden vermögen.

Immhof unterbrach ihn: »Spart Euch die schöne Rede, frommer Herr! Mir ist geboten, am Festtag Allerheiligen und hier auf dieser Stelle den Chorherren Irimbert von Immhof zu erwarten. Kommt er, so bin ich ein Lehensmann des Klosters.«

»Und kommt er nicht?«

»So gehorch ich seinem Wort: Ich ziehe zum Kaiser und nehme die Immenburg als Lehen aus seiner Hand.«

Sie gingen, Ärger in den roten Gesichtern und Zorn in den Augen. Nur Hans Pütrich lächelte, als hätte er Freude an diesem Tag.

Stunde um Stunde verrann.

Als es Abend wurde, sagte der alte Wieting mit einer Stimme, schwer und zögernd: »Herr! Die Sonn ist drunten. Wir können reiten.«

»Laß uns noch warten bis zum Morgen!« Herr Immhof legte dem Marschalk die Hand auf die Schulter und sagte ernst: »Wieting, ich fürchte, du hast recht, er kommt nicht. Und dir ist leid um ihn. Du hättest lieber ihm gedient als mir?«

»Ja, Herr! Hättet Ihr ihn gekannt! Hättet Ihr ihn gesehen als Buben! Was hätt aus ihm nicht alles werden können. Und was haben sie gemacht aus ihm!« Der Alte wandte sich ab und trat zum Feuer.

Beim Rauschen der Ache und unter zitternden Sternen verging die dunkle Nacht.

Und dann ein Morgen, klar, in strahlender Sonne.

Die Brücke dröhnte vom Hufschlag der vielen Rosse.

Auf schwerem Rappen, um dessen Schenkel die Säume des bunten Satteltuches flatterten, ritt Wolfgang von Immhof seinen Burgleuten voran. Seine Locken wehten im Morgenwind um die Ränder des blitzenden Helmes. Auf den silbernen Buckeln seines Schildes, auf den Schuppen seines Eisenhemdes und auf den blanken Schienen weckte die Morgensonne ein Glitzern und Gefunkel, daß der Ritter anzusehen war wie eine menschgewordene Flamme.

Neben der Straße, im Frühschatten des welken Buchenwaldes, lag der »traurige Jacho« eingewühlt in das rote Laub. Als er die Rosse traben hörte, richtete er sich auf. Er sah den schimmernden Reiter kommen. Als hätte dieses Bild der Kraft und des Lebens einen hellen Strahl in die Nacht seiner Sinne geworfen, so fing er, das Eisenkreuz über dem Kopfe schwingend, ein Jauchzen und Schreien an, daß der entblätterte Wald von seiner Stimme widerhallte.

Herr Immhof wandte sich im Sattel. Er lächelte, als er den jubelnden Narren tanzen sah, und warf noch einen Blick hinaus über das sonnige Tal des Gadens, über die roten Wälder und die weißen Berge. Hoch im Morgenglanz der Sonne schwamm ein winziger Schatten. Es war ein Adler, der im Blau seine ruhigen Kreise zog.

Die Rosse trabten und verschwanden.

 

Den ganzen Winter, Abend für Abend, erzählten sie's in allen Stuben der hörigen Bauern: »Am Festtag Allerheiligen, wie das Gotteslehen verbrennen hat müssen und die Lahnen gedonnert haben, ist ein Häuflein von den Untersbergen ausgeritten. Die haben sich umgeschaut im Gaden und sind verschwunden. Gebet nur acht, bald steigt er auf, der Kaiser!«

Einer trug es dem anderen zu, und wenn sie sprachen davon, überleuchtete die harten, ernsten Gesichter ein Lächeln der Hoffnung.

 


 


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