Ludwig Ganghofer
Das Gotteslehen
Ludwig Ganghofer

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11

Das wurde nach einem schönen Tag im Gotteslehen ein fröhlicher Abend. Damit auch das Heimgesind von dem Frieden kosten sollte, der ins Haus gekommen, stellte Greimold den Leuten ein Metfäßl in die Tenne. Da hielten sie bei Sternenglanz und Fackelschein um eine Birke, die sie aus dem Wald holten, ihren Maitanz.

Freilich gab's für sechs Tänzer nur eine einzige Tänzerin. Die Ruglind wollte von der »Narretei« nichts wissen, und das Weib des Steinhausers, ein schwächliches und bleiches Ding, das für einen Mettrunk in die Tenne gekommen, durfte nicht tanzen.

Die Helgard aber warf sich mit ausgelassenem Frohsinn von einem Arm in den andern und sprang den Hoppeldei und den Heierleis, bis ihr der Atem verging. Auch der Met begann ihr heiß in den Kopf zu steigen. Im Übermut ihrer Laune sang sie auf das Weib des Steinhausers ein Spottlied:

»Die nit hupfet und springt,
Die geht mit dem Kind,
Muß rüehwig sitzen
Beim Hoppeldei
In Ängsten und Hitzen
Eiapopei!«

Die Jungsennen lachten, und der Steinhauser schmunzelte stolz, während sein Weib rot wurde vor Scham und Ärger. Die Ruglind gab es dem kecken Mädel zurück: »Wirst dir mit deinem Spott das Unglück rufen! Wie lieber du springst und lachst, so leichter wird man dich trügen.«

Diese Warnung schien Helgards übermütige Laune noch zu steigern. Mit hellem Jauchzer hob sie den Metbecher und sang:

»Ein Vöglein muß fliegen,
Und mein Herzl fliegt mit,
Will mein Schätzel mich trügen,
So wehr ich's ihm nit!«

Lachend schwang sie den Becher. »Das bring ich meinem Buben zu!« Bei dem hastigen Trunk überschluckte sie sich, und einer der Jungsennen mußte ihr mit den Fäusten auf den Rücken trommeln, daß sie den Atem wieder fand. Das war dem Altsenn zuviel des Spaßes. »Feierabend, Leut! Jetzt wird schlafen gegangen. Der Hauswirt will Ruhe haben, es ist ein Gast unter Dach.« Er litt keine Widerrede und löschte die Fackel aus.

Ruglind und Helgard hatten ihre Kammern drüben im Haus. Als sie hinüberkamen, sahen sie in einem offenen Fenster der Stube noch den roten Schein der Herdglut schimmern. Verstohlen guckte Helgard in das Fenster, und dann kicherte sie immerzu, während Ruglind sie fortzog in ihre Kammer.

In der Stube, neben dem Herd, lag Irimbert auf einem aus Fellen bereiteten Lager ausgestreckt. Noch wachend, blickte er mit träumendem Lächeln in die glimmenden Kohlen. Draußen sangen die Jungsennen mit halblauten Stimmen ein Lied in die Nacht hinaus. Das klang zusammen mit seinen Träumen. Hob er die Augen, dann sah er im offenen Fenster ein Stück des tiefblauen Himmels mit funkelnden Sternen. So ruhte er, ohne sich zu regen. Als er sich einmal bewegt hatte, war in Juttas Kammer die weiße Zenta murrend aufgestanden, und er hatte eine wispernde Stimme gehört: »Weiße, sei still! Tust ihn ja wecken!« Und da rührte er sich nimmer.

Stumm rannen die Stunden der Nacht dahin.

Als Irimbert am Morgen erwachte, war es noch still im Haus. Vor dem Fenster, um das der erste Frühschein graute, murmelte der Brunnen. Und eine Drossel schlug. Das mußte bei der Ulme sein! Leis erhob er sich und trat ins Freie. Man konnte kaum bis zur Mauer sehen. Ruhiger Nebel füllte die Lüfte. Irimbert hörte, daß in den Ställen drüben die Sennen schon bei der Arbeit waren. Am Brunnen badete er das Gesicht und schüttelte die Tropfen aus dem weißen Haar.

Dann saß er auf dem Rand des Troges und blickte in den plätschernden Wasserstrahl, bis ihn die Stimme des Hauswirtes aus seinem Sinnen weckte. »Guten Morgen, Bub! Wie hast du geschlafen?«

»Wie ein Glücklicher schläft.«

»So ist dir's gegangen wie mir. Nach langer Zeit die erste Nacht ohne wachsende Sorg! Aber magst du nit hereinkommen? Das Kindl deckt schon den Tisch zum Frühmahl.«

Sie traten in die Stube. Jutta stand bei dem mit blauem Linnen überbreiteten Tisch und legte die hölzernen Teller. »Guten Morgen, Irmi!« Sie kam dem Jäger entgegen, frisch wie eine Blume, die ihre Sonne fand und alles Trauern der kalten Zeit vergaß.

Dann saßen sie beim Frühmahl um den Tisch, so heiter plaudernd, als wäre nie der Schritt einer ernsten Stunde durch diesen Raum gegangen. Mit zärtlicher Sorge bediente Jutta ihren Gast; sie kannte in der Stube jeden Weg und jedes Gerät wie eine Sehende; und jeder kleine Dienst, den sie dem Jäger bieten durfte, war ihr wie eine Freude, die sie von ihm empfing.

Draußen in der Hofreut begann es lebendig zu werden. Das Gebrüll der Rinder und das Blöken der Schafe mischte sich mit dem hellen Klang der Schellen und den lauten Stimmen der Sennen.

»Vater?« fragte Jutta, als sie den Lärm vernahm. »Treiben die Heimleut zur Waldhut aus?«

»Ja, Kind! Es maiet, die harte Zeit ist um, jeder Weg ist wieder offen und fahrlos. Gelt, Bub?« Greimold nickte dem Jäger zu und erhob sich. »Als Hauswirt muß ich mit hinunter. Das ist alter Brauch. Es tät meine Sennen verdrießen, wenn ich daheim blieb. Vor Abend bin ich wieder da. Bub? Kannst du bleiben so lang?«

»Ja, Greimold, ich bleibe.«

Jutta schmiegte sich in überglücklicher Freude an die Brust des Vaters, als er den Arm um ihre Schulter legte, um sie hinauszuführen in die Hofreut. Der Nebel hatte sich in zarten, bläulichen Duft verwandelt, der den Himmel noch verhüllte. Die Sennen, schon fertig zur Ausfahrt, hielten die lärmende Herde in gedrängter Schar zusammen. Die weiße Zenta umkreiste sie mit lautem Gebell. Greimold ging auf den Steinhauser zu. »Ich sorg schon, daß deine Rinder gut in die Waldhut kommen. Tust du mir dafür einen Weg?«

»Gern. Was für einen?«

»Sind wir draußen auf dem Talweg, so such ich acht jährige Kalben aus und die acht besten von meinen Schafen. Die treib hinunter ins Kloster und sag, das schickt ihnen der Gotteslechner als Vergelt's Gott! Sie haben mir den Frieden geschickt und eine Freud dazu. Da muß ich danken.«

»Bauer, sei fürsichtig! Dein Dank ist wie doppelter Albenzins. Gib acht, sie schreiben das wieder ins Buch und machen ein Recht daraus.«

Lachend schüttelte Greimold den Kopf. Und als wäre die Sache für ihn erledigt, fragte er: »Was ist denn, ich seh dein Weib nit?«

»Die hat wieder einen schiechen Tag und muß die Bettstatt hüten!« sagte der Steinhauser, halb mit Seufzen, halb mit Lachen. »Wenn ihr der Bub im Leben einmal soviel Freuden macht wie Prast und Schmerzen, noch eh er da ist, so muß mein gutes Weibl einmal die gesegnetste von allen Müttern werden.«

Mit Jauchzen zogen die Jungsennen am Mauertor das Fallgitter in die Höhe, und der Altsenn, den grauen Kopf entblößend, trat vor den Hauswirt hin und sagte den gereimten Fahrtspruch auf.

»Komm, Bub«, rief Greimold dem Jäger zu, »führ uns das Kindl her! Sie muß den Segen sprechen. Das hat sie in jedem Maien getan, seit die Mutter nimmer da ist.«

Durch den blauen Duft des zerfließenden Nebels begann die Sonne niederzuglänzen, als Jutta gleich einer jungen Priesterin zur Benedeiung die Hände erhob. Mit klingender Stimme sprach sie den Almsegen und den alten Bannspruch wider das Raubwild.

Greimold stellte sich an die Spitze des Zuges. Sich bekreuzend, schritt er durch das Mauertor hinaus. Die Jungsennen und Helgard jauchzten um die Wette, mit seiner rauhen Kehle begann der Altsenn das Fahrtlied anzustimmen, und die Herde setzte sich unter Gebrüll und Schellengeläut in Bewegung. Ruglind mit ihrem Karren schloß den Zug. Bis sich die Herde in den Wald verlor, blieb Helgard, noch immer jauchzend, unter dem Hagtor stehen. Ein Liedl trällernd, ging sie zur Kettenwinde, um die Schlagbrücke aufzuziehen. Als sie zurückkehrte in die Hofreut, kicherte sie in übermütiger Laune vor sich hin und guckte dem Jäger nach, der die Blinde hinüberführte zur Ulme.

Mit närrischen Sprüngen tollte die weiße Zenta vor den beiden her und spielte mit dürren Ästen, die der Wintersturm von der Ulme geschlagen. Jutta hörte das Gebell der Hündin und sagte: »Schau, wie munter die Weiße heute ist! Meinst du, daß sie auch den Maien spürt?«

»Freilich, Juttula! Frühling ist Freude für jedes lebende Ding, ob Mensch, ob Tier oder Blume. Er ist das große Wunder der Natur, ihr ewiger Schmerzenstrost.«

»Ja, Irmi, das muß wahr sein! Wie müd und traurig bin ich gewesen in der langen Eisblumenzeit! Und jetzt?« Unter träumendem Lächeln griff sie mit beiden Händen in die Luft. »Vergelt's dir Gott, du lieber Frühling, du!«

Nun waren sie bei der Ulme. Jutta hob das glühende Gesicht, und ihre Hände umschlossen die Hand des Jägers. »Wie gut du führen kannst! Kein Steinl hab ich gemerkt auf meinem Weg. So möcht ich allweil gehen. Gelt, du führst mich noch ein lützel?«

»Wohin?«

»Zu deinem Blüml!«

Eine Bergaurikel, die beim Hag auf einem sonnigen Fleck zu blühen anfing, war »sein Blüml« geworden. Greimold, als er nach einer Blüte suchte, hatte die Aurikel gefunden, und mit gläubiger Freude hatte Jutta die Täuschung des Vaters für Wahrheit genommen.

Irimbert führte sie, und Jutta streckte die Hände. Vor der Blume ließ sie sich nieder. Achtsam berührte sie mit zitternden Fingern jedes Blatt und die knospende Blüte. »Schau nur, über Nacht sind die Blättlein noch gewachsen«, stammelte sie in Freude, »und die Knospen tun sich schon auf!« Sie wollte sich niederbeugen. Da rückte sie erschrocken beiseite. »Gelt, ich verdeck dem Blüml die Sonn? Lieber möcht ich selber im ganzen Leben die Sonn nimmer spüren, als daß ich deinem Blüml einen einzigen Sonnenstrahl nehmen möcht.«

In tiefer Bewegung blickte Irimbert auf die Blinde nieder, und als sie sich erhob, nahm er sie in den Arm wie ein Bruder die Schwester. Er wollte sie zur Bank unter der Ulme führen. Da sagte Jutta: »Ich weiß einen Platz, der schöner ist! Tust du mir was zulieb, Irmi?«

»Alles!«

»Mir ist, als müßt ich heut dem blauen Himmel ein lützel näher sein. Magst du mich hinauf zum Lugaus führen?«

Diese Bitte machte ihm Sorge. »Das ist hoch und steil.« Sie lachte, hell und heiter wie ein glückliches Kind. »Aber geh! Ich bin schon hundertmal droben gewesen, mit dem Vater, mit der Helgard, mit dem Reimold. Und oft schon allein. Ich seh den Weg.« Sie ging mit gestreckten Armen auf die Ulme zu und huschte über die Stufen hinauf. »Irmi, wo bist du? Fang mich!«

Erschrocken sprang Irimbert auf die Treppe zu und eilte hinauf, mit jedem Sprung ein paar Stufen nehmend. Erst als sie droben in der luftigen Krone des Baumes auf dem schmalen Bänkl saßen und Jutta an seiner Seite sicher war, hatte er Augen für die wundervolle Fernsicht, die im Morgenglanz des Frühlings vor ihm offen lag. Ein Laut des Entzückens stieg ihm aus der berauschten Seele.

»Irmi?«

»Mädchen! Ach, Mädchen! Wenn du das sehen könntest!« Er preßte ihre Hand, und seine Stimme bebte. »Wie dieser Morgen ist! Dieser flutende Glanz der Sonne, dieses leuchtende Wunder des Frühlings, diese reine Keuschheit des jungen Tages, diese große, weit ergossene Schönheit der Erde! Wenn du das sehen könntest!«

Zitternd, erregt vom trunkenen Klang seiner Stimme, schmiegte sie sich an ihn. »Sag mir's, Irmi! Sag mir, wie du es siehst! Und ich seh es auch.«

»Eben jetzt, dort unten, als wir noch unter der Ulme standen, da war noch weißer Nebel über uns, der alles verhüllte und zwischen Himmel und Erde lag wie luftgewordene Milch, wie schwebender Schleier. Nun lösen sich die Schleier, nun weichen die Nebel, verwandelt in fliegendes Gold. Aus den brennenden Klüften des Himmels fällt es mit leuchtenden Bändern in den Morgen der Erde nieder, wie Flammenblicke aus blauen Gottesaugen. Wie schön ist dieses Wunder der Sonne, Juttula! Siehst du das?«

»Ja, Irmi! Das seh ich alles!« lispelte die Blinde. Doch das dürstende Suchen, das aus ihren erregten Zügen sprach, verriet, daß sie mit seinen Worten mehr empfing, als die Augen ihrer Seele zu fassen vermochten.

»Dieser flutende Sonnenzauber liegt ausgegossen über den sinkenden Wald. Jeder Wipfel strahlt wie von heiligem Schein umgeben. Das wirre Gezweig der Buchen ist anzusehen wie blitzendes Goldgespinst, das sich in schimmernde Luft verwandeln möchte. Und drüben über dem Tal, da gleichen die fernen Wälder im Glanz des Morgens einem Meer mit grünen und blauen Wogen. Über diesen Fluten leuchten die gezackten Wände der Berge und die schneebedeckten Zinnen wie erstarrter Wogenschaum, goldig und silberweiß, Welle hinter Welle, bis hinaus in eine Ferne, in welcher Himmel und Erde ineinanderschwimmen mit blauem Glanz. Und zwischen Wäldern und Bergen das Tal der Menschen! Die Wiesen mit ihrem reinen Grün! Dazwischen die Hütten und Häuser, jedes Dach in der Sonne wie ein funkelnder Edelstein! Jeder Bach ein blitzendes Feuer! Wie hundert leuchtende Maienwünsche, alle nach einem einzigen Ziel gerichtet, rinnen die hundert Bäche zusammen in einen glänzenden Fluß. Der windet sich durch schattige Klüfte hinaus ins ebene Land, das vor den Bergen da draußen in der Ferne liegt wie ein großer und blauer See mit stiller Flut. Umgoldet von der Morgensonne, steigt aus dem blauen Grund eine schimmernde Insel herauf, eine Stadt, die Salzburg mit ihren Mauern und Dächern, mit ihren Türmen und Kirchen. Armseliges Menschenwerk! Aber Sonne und Ferne machen daraus einen leuchtenden Märchentraum. Aus Feuer und Luft gebildet, scheint es heraufzusteigen aus blauer Tiefe, unnahbar und wundersam wie die Burg der Seligen! Ach, Mädchen, Mädchen! Wenn du das sehen könntest!« Er legte den Arm um die Blinde und drückte ihre Hand an seine Brust.

Sie schwieg.

Das weckte ihn aus der trunkenen Stimmung des Augenblicks. Er sah das dürstende Suchen, das aus ihren Zügen redete, und fühlte, daß der Rausch seiner schauenden Freude in ihr einen Wunsch erweckt hatte, der unerfüllbar war. Er fühlte, daß sie sehen wollte, was sie nicht sehen konnte, was das dämmerige Wissen ihrer Kinderseele nicht zu fassen vermochte.

»Juttula?« fragte er beklommen. »Siehst du, was ich dir sage?«

Wie einem guten, geduldigen Kinde, dem eine Freude versprochen und dann verweigert wurde, so zitterte um ihren Mund ein wehes Lächeln. Sie atmete tief und stockend. Dann sagte sie leise: »In meiner Lichtzeit einmal, da haben sie zur Sonnenwendnacht ein großes Feuer gezunden in der Hofreut. Die Mutter hat mich hinausgeführt, daß ich das Feuer schauen soll. Da ist ein Wind gekommen. Der hat das Feuer aufgehoben, viel höher noch, als unser Hausdach ist. Und da hab ich gemeint, es täten die tausend Stern vom Himmel herunterfallen. Das ist schön gewesen. Aber ich bin ein lützel erschrocken. Und grad so ist mir's jetzt gewesen. Jedes Wörtl, das du gesagt hast, ist über mich hergefallen wie ein brennender Stern. Und ich hab nichts anderes gesehen wie lauter Feuer.«

Sinnend schwieg sie eine Weile.

»Jetzt weiß ich, daß alles noch tausendmal schöner sein muß, als ich es seh. Das hast mir du gesagt. Wenn ich's nur sehen könnt!«

Er wußte kein Wort zu finden. In Vorwurf wider sich selbst und in zärtlicher Sorge streichelte er die Hand der Blinden. Ihr feines Gefühl erriet den Grund seines Schweigens. Da wurde ihr Lächeln wieder hell und heiter. »Weil ich so viel nit sehen kann wie du, deswegen mußt du dich nit kümmern. Ich hab einmal den Vater zum Steinhauser sagen hören: Alles muß man nit haben wollen. Ich seh so vieles, was schöner ist. Und die Menschen, die mir lieb sind, seh ich alle. Dich auch!«

»Mich siehst du?«

Ihr Gesicht leuchtete, als wäre Maisonne in ihrem Herzen und davon ein Abglanz auf ihren Wangen. »Ich seh dich so gut, als tät ich noch lichte Augen haben. Jetzt bist du wieder da. Mehr will ich nimmer.«

Nun saßen sie so still, daß eine Drossel, die in den Wipfel der Ulme geflogen kam, die zwei Menschen nicht erkannte. Immer wieder flötete sie ihren süßen Schlag. Die Stimme einer Gesellin gab ihr Antwort drüben am Waldsaum, und da flatterte sie davon.

Lauschend hatte Jutta das glühende Gesicht erhoben. »Wie schön das war!«

»Ich weiß ein Lied, das noch schöner klingt. Das ist mein Trost und Geleit gewesen in einer langen Nacht. Jetzt will ich es hören in heller Sonne!« Seine Stimme zitterte. »Juttula! Sing mir dein Mailied!«

»Das kennst du?«

Sie lehnte sich lächelnd an den Stamm der Ulme zurück und begann zu singen.

»Es lachet um und um der Wald,
Es blumet auf der grünen Hald –«

Nicht mit fröhlichem Kinderjauchzen, wie damals im Herbste, sang sie das Lied. Sie sang es träumend, mit leise versunkener Stimme.

»Ein Maidl ruht allein im Gras
Und weinet. Warum tut sie das?
Sie weinet, weil im Maien
Kein Bub sie holet zum Reien.
Da kommt mit Veiglein um die Stirn
Der Mai selbeigen zu der Dirn
Und tut sich lieb der Armen
Erbarmen.«

Das war kein Singen mehr, nur noch ein Flüstern, wie das dankbare Gebet einer glücklichen Mädchenseele.

»Huliadei!
Sei willkommen, süßer Mai!«

Die großen Augen hinausgerichtet in das sonnige Blau des Morgens, sagte sie: »Ich seh dich, Irmi, und seh die Veiglein um deine Stirn.«

»Juttula!«

Wie mit sachten Fingern spielte der linde Hauch des Morgens durch das Gezweig der Ulme. Jedes von den kleinen, durchsichtigen Blättern, die über Nacht aus den Knospen gebrochen, war im Glanz der Sonne anzusehen wie ein Funke, der eine Flamme werden möchte.

 

Der leuchtende Maitag versank zu einem schönen Abend, als Irimbert in seinem Jägerkleid durch den Bergwald hinunterstieg, so kräftigen Schrittes, als wäre neues Leben erwacht in seinem zerbrochenen Körper. Dieses neue Leben, das er in seinem Herzen fühlte, hatte köstlichen Wert, hatte Ziel und Zweck.

Als er zur Wolfsreut kam und das Kreuz gewahrte, blieb er stehen. Wie gut verstand er die Liebe und das Opfer jener Mutter, die um ihres Kindes willen das Licht ihrer Augen zerdrückt und ihr Blut vergossen hatte! Das war nicht Torheit und nicht Irrsinn. Sie glaubte an die Wunderkraft ihres Opfers. Mit Freuden hätte auch er das Licht der eigenen Augen dafür geopfert, um diesem holden Kinde den hellen Blick zu geben, nur einen einzigen sehenden Tag! Nicht das stille Träumen in grauer Dämmerung, die keinen schwarzen Schatten, aber auch keine leuchtende Helle hat, nicht das ruhige Lächeln unter Schleiern, die alles häßliche verdecken, aber auch das Schöne trüb verhüllen, nicht das geduldige Trinken aus dem barmherzigen Becher der anderen, nicht der blinde Glaube, sondern das eigene Erkennen, das helle Schauen, nur das ist Glück und Trost des Lebens! Alle Freude dieses Tages, alle strahlende Schönheit dieses Morgens hatte ihn das gelehrt.

»Dunkel ist der Anfang unseres Weges, dunkel sein Ende. Doch zwischen Finsternis und Finsternis geht unser Weg durch einen Tag mit heller Sonne. Ihn müssen wir schauen mit klarem Blick, aus seiner Schönheit den Schöpfer ahnen, dessen Wesen und rätselvollen Willen kein menschlicher Verstand erfaßt und den in glücklicher Stunde nur das Gefühl ermißt, um ihn zu lieben. Er läßt geschehen, was wir häßlich nennen, und wir müssen es ertragen. Er gießt verschwenderisch seine Schönheit über die Herzen auserwählter Menschen wie über die Erde im Frühling, und wir dürfen sie genießen. Mehr von ihm wissen zu wollen, ist Torheit. Mögen die Schwachen im Geiste, wie sie zur Winterszeit ihre zitternden Glieder in Pelze hüllen, auch um die fröstelnde Seele das Mäntelein eines Glaubens hängen, der ihnen Trost verspricht nach allen Leiden. Ein Starker mit hellen Augen bedarf eines solchen Trostes nicht. Ruhig nimmt er das Unbegreifliche hin, ihm genügt die Spanne seines Lebens, und wenn es endet, wünscht er seiner erlöschenden Seele nicht, daß sie zwecklos dauern möchte. So geht er, reich in seiner Sterblichkeit, mit schauendem Blick seine kurze Straße. Sein Auge zeigt ihm das giftige Kraut am Wegrain und das ekle Gewürm, doch er sieht auch die Blume in Duft und Farben, die singende Drossel und den Adler im Blau. Über alles Niedrige sieht er hinweg mit einem Lächeln, alles Große und Schöne grüßt er mit jubelndem Laut. Kein Haß der anderen, die sich zerfleischen in der Narretei ihres unverstandenen Daseins, kann ihn berühren und stören. Ihre Freude genießt er mit, auf ihre Schmerzen legt er hilfreich seine Hand. Ihm ist jedes Leid nur die Schwelle zu erneuter Freude. Er kann nicht verlieren, nur immer gewinnen. Ihn drückt und hemmt von jenen Ketten keine, die tausend andere in ihrer furchtsamen Torheit schleppen. Sein Leben ist frei, er kennt nur jene Schranke, die ihm der eigene, redliche Wille setzt. Je schärfer sein Aug' allen Unwert sieht, um so höher gilt ihm jeder Wert, den er am Leben erforschte. Und geschieht es in einer Sonnenstunde, daß ihm von allen Wundern des Lebens das holdeste die Seele berührt, jenes süße Wunder, das sein Wesen verwandelt zu trunkenem Gefühl, ihn seiner selbst vergessen macht und jede Regung seiner Seele weiht zu einem flammenden Freudenopfer für das geliebte Geschöpf, dann ist ihm geschehen, was der Raupe geschah, die zum Falter wurde! Dann ist der Zweck seines Lebens erfüllt. Wie der Zweck der Sonne, zu leuchten! Wie der Zweck der Erde, zu blühen! Sein ganzes Leben ist Frühling worden und blühender Weg, den nicht ein müdes Erlöschen endet, nur ein letzter jubelnder Schrei. Alles Dunkle versinkt, alles ist Glanz geworden, alles ist irdische Schönheit, die sich ins Göttliche steigert. Und die schauenden Blicke trinken diese Schönheit in seligem Rausch! O Licht der Augen, du Quell des Glückes!«

So sprachen aus stürmendem Gefühl heraus die Gedanken Irimberts, während er im Glanz des Abends von der Wolfsreut niederstieg ins Tal. »Nur sehen! Wenn sie nur sehen könnte! Nur ein einziges Mal allen Rausch der wissenden Freude fühlen, die Schönheit der Erde schauen, den Glanz der Sonne, den blühenden Mai!« Er wußte, daß dieser Wunsch seiner Liebe nach Unmöglichem verlangte. Auch diesen Schmerz empfand er noch wie Freude. Emporblickend über den Bergwald, der im Rotglanz der scheidenden Sonne brannte, hob er die Arme. »Mädchen! Schwester! Ich kann dir das Licht der Augen nicht geben. Aber meine Augen sollen die deinen werden. Jede Freude des Lebens, die in mir ist, soll überfließen in deine Seele.«

Den Sonnenschein des vergangenen Tages nachgenießend, sah er alle kommende Zeit, wie dieser Tag ihm erschienen war. Diesem holden Geschöpf ein sorgender Bruder zu sein, ihrem Vater ein schützender Freund. Was wollte er mehr? Warum sollte das nicht werden und dauern können?

Er blickte zum Kloster hinauf, dessen Fenster im Abendschein wie blutrote Lichter brannten. Warum sollten ihm die dort oben dieses reine Priestertum nicht vergönnen? Gab es keinen Preis, um sie willig zu machen? Keinen Weg, auf dem die Versöhnung zu finden wäre? Hatten sie nicht barmherzig und in Erkenntnis ihres Unrechts seine Mauer gebrochen? Hatte nicht Wernherus ihm mit freundlichem Wort die Hand zum Frieden geboten? Lebte nicht doch ein menschliches Gefühl in ihnen allen? Warum waren sie nur seine Feinde geworden, weil er sie reizte und beleidigte?

Hastigen Ganges, als könnte er es nicht erwarten, auf seine Fragen die ersehnte Antwort zu finden, hatte er die Achenbrücke überschritten. Da blieb er betroffen stehen.

Inmitten einer kleinen Waldwiese sah er ein weißes Zelt errichtet. Gewaffnete Knechte banden die von Staub und Schweiß bedeckten Pferde an die Pflöcke. Vor dem Eingang des Zeltes war eine hohe Lanze mit flatterndem Fähnl aufgerichtet. Die weiße Seide zeigte einen blauen Helm mit goldenem Bienenkorb als Zimier, das Wappen der fränkischen Grafen von Immhof. Und dort, der Gepanzerte, der, noch bedeckt vom Staub eines weiten Rittes, ermüdet im Grase lag und einem Schreiber flüsternd die Worte vorsagte, die der Griffel aufzeichnen sollte? Das war Herr Wieting, der alte Marschalk der Immenburg.

»Eine Botschaft meines Bruders?«

Erregt von dieser unerwarteten Begegnung, trat Irimbert auf den Marschalk zu. Als er das Gesicht des Alten sah, stieg das Bild seiner Knabenzeit in ihm auf. Er sah die Mutter mit ihrem stillen Lächeln, die weiße Halle, die Linden im Hof, Turm und Mauern. Und Herr Wieting, dem damals die Haare noch nicht grau waren, bot ihm lachend die Hand: »Irmi? Junkerlein? Willst du reiten auf meinem Roß?« Die Wehmut dieser Erinnerung zitterte aus Irimberts Stimme, als er den Marschalk ansprach: »Seid gegrüßt, Herr Wieting! Was führt Euch von Franken ins Berchtesgadnische Land?«

Verwundert blickte der Alte auf, ohne sich zu erheben. »Du kennst mich, Jäger?«

»Und mich, Herr Wieting, mich kennt Ihr nicht?«

Forschend betrachtete der Marschalk den Jäger. Ein abgezehrtes Antlitz, um das die weißen Greisenhaare schwankten! In diesem gealterten Gesicht zwei Augen, die in heißer Jugend glänzten? Er schüttelte den Kopf. Doch er schien sich zu fragen: »Wo hab ich diese Augen schon gesehen?« Langsam erhob er sich. »Sei, wer du magst! Du bist wohl Jäger im Stift? Weil du mich kennst und mir freundlichen Gruß geboten, magst du mir wohl einen Gefallen tun?«

»Welchen?«

»Dem Chorherren Irimbert von Immhof sollst du die Botschaft bringen, die ich da schreiben lasse.«

»Warum suchet Ihr diesen Chorherren nicht droben im Stift?«

»Das hat seinen Grund.« Herr Wieting blickte zum Kloster hinauf. »Erst will ich ihn haben für mich allein, eh uns die anderen dazwischenreden.«

Lächelnd trat Irimbert dicht vor den Marschalk hin. »Herr Wieting! Seht mich doch an! Oder haben sie so ganz einen anderen aus mir gemacht?«

Befremdet trat der Alte zurück: »Wer bist du?«

»Vor Jahren, als Knabe noch, da hab ich du zu dir gesagt: ›Guter Wieting!‹ Und wenn du mich reiten ließest auf deinem Roß, stand meine Mutter in der Halle der Immenburg und winkte dir dankbar zu, weil du ihrem Liebling eine Freude machtest.«

»Allmächtiger Gott im Himmel!« stammelte der Marschalk. »Herr Immhof! Das seid Ihr!« Er faßte Irimberts Hände und hielt sie mit starkem Druck. »Ja! Ihr seid es! Trotz Jägerkleid und weißem Haar. An Euren Augen hätt ich es merken sollen. Ihr habt die Augen Eurer Mutter.« Eine Weile schwieg er. »Herr! Was hat die Kirchenluft aus Euch gemacht! Wenn ich des lieben Buben denk! Oder seid Ihr krank gewesen?«

»Ja, Wieting! Krank! Aber jetzt?« Aus Immhofs Augen flog ein heller Blick über den Bergwald hinauf. »Jetzt bin ich genesen.«

»Gott sei's gedankt!« Die Stimme des Alten schwankte. »Und so nehmt meinen Gruß, Herr Immhof! Jetzt bin ich Euer Mann. Was gehen mich die anderen da droben an! Mein Herr seid Ihr. Und Euch gehört meine Treu.«

»Deine Treu?« Irimbert lächelte. »Das kann doch nicht die Botschaft sein, die mir mein Bruder sendet?«

»Euer Bruder?« Befremdet sah ihn der Marschalk an.

»Was will er von mir?«

»Ich versteh nicht, wie Ihr redet! Euer Bruder liegt schon drei Mond lang unter dem Stein.«

»Mein Bruder?« stammelte Irimbert erblassend. »Mein Bruder? Tot?«

»Das wißt Ihr nicht?«

Schweigend ließ sich Immhof auf einen Felsen nieder und bedeckte das Gesicht. Der Tod, der ihm kalt in die schöne Freude dieses Tages trat, erschütterte ihn in tiefster Seele. Alles Leid, das über sein Leben gekommen, hatte dieser Bruder auf ihn geworfen. Dennoch trauerte er um den Toten. Blut seines Vaters und ein Stück Leben und Herz seiner Mutter war mit diesem Heimgegangenen ins Grab gesunken. Der Tod löscht allen Vorwurf aus.

»Herr? Das habt Ihr nicht gewußt?« brach Wieting das Schweigen. »Es ist mir durch den Kopf gegangen, als könnt es so sein. Drum bin ich geritten, um mir ein Wort von Euch zu holen.«

Immhof schwieg noch immer.

»Als harte Buß für manches Unrecht ist der Tod über Euren Bruder hergefallen. Ein Bauer, dem er die schmucke Tochter genommen, hat ihn im Wald erschlagen. Es war ein übles Sterben.«

Irimbert blickte auf. Seine Züge wurden hart, als wären sie aus Stein gebildet.

»Der Viztum hat die Nachricht an das Kloster gemeldet, denn bei Euch, Herr, steht die Entscheidung über das Erbgut Eures Bruders. Ein Auftrag um den anderen ist mir vom Kloster zugekommen, jeder in Eurem Namen. Ich hab denken müssen, Ihr wollet Euer schönes Erbgut an das Kloster geben. Aber klaren Entscheid hab ich nie gehört. So kann's nicht bleiben. Wir müssen wissen auf der Immenburg, wer unser Herr ist. Drum bin ich gekommen, um Euer eigen Wort zu hören.«

Mit zornblitzenden Augen sah Immhof zum Kloster hinauf, um dessen Dächer ein letzter Strahl der Sonne schimmerte. Jetzt verstand er die Barmherzigkeit, die seine Mauer niedergerissen hatte. Jetzt verstand er die reuevolle Güte des Wernherus. Nicht den Leidenden hatten sie erlöst, nur den reichen Erben, dessen Hand eine Burg mit Türmen und Mauern zu vergeben hatte, Wälder und Felder, Dörfer und Höfe. Ein Lachen, hart und zornig, schüttelte von seinen Lippen.

»Herr?»

Irimbert hörte nicht. Während sein brennender Blick dort oben am Kloster hing, schien in seiner Seele ein Kampf zu wühlen, schmerzvoll und ernst. Nun erhob er sich mit wehem Lächeln, als hätte er in diesem stummen Kampf eine Freude des Lebens von sich abgelöst. »Ich habe mit dir zu reden, Wieting! Mit dir allein.«

Sie traten ins Zelt.

Der Schreiber, ein junger Bursch im Kleid der Fahrenden, hielt noch immer das Pergament mit der halb geschriebenen Botschaft auf den Knien. Er wartete geduldig. Es dämmerte schon, als Herr Wieting im Eingang des Zeltes erschien. Wie mürrischer Kummer sprach es aus seinem Gesicht. Er winkte den Schreiber zu sich. »Steck ein Wachslicht an! Dann komm herein mit deinem Schreibzeug!«

Langsam wandelte sich der schöne Abend zu linder Nacht. Bevor das letzte Licht verzitterte, schlug im Wald noch eine Drossel. Dann war es still. Nur noch das Rauschen der Ache.

Schon lag's mit tiefem Dunkel über dem Tal, als Irimbert und Wieting wieder ins Freie traten.

»Wird er kommen? Meinst du?« fragte Irimbert erregt.

»Kann ein Jude verdienen, so ist ihm kein Weg zu weit.«

»Josephus heißt er?«

»Josephus. Er gehört zur Regensburger Judenschaft, die der Kaiser dem Bischof Sigfried zur Nutzung verpfändet hat.«

»Und die Tochter des Viztums, die er heilte, war blind seit ihrer Kindheit?«

»Seit ihrem neunten Jahr. Jetzt hat das Fräulein Augen, die schärfer sehen als die meinen.«

»Wieting!« Der Name klang wie ein erstickter Schrei. »Schaffe mir diesen Mann!«

»Lebt er noch, so schaff ich ihn, Herr! Wie Ihr es haben wollt: Über fünf Mond, am Michelstag, zur Mittagszeit soll er warten auf Euch hier auf dem Fleck, auf dem wir stehen.«

»Ich danke dir, Wieting! Leb wohl!«

»Herr!« Der Marschalk faßte die Hand, die ihm Irimbert geboten hatte. »Was Ihr in dieser Stunde verbrieft und beschlossen habt, soll das fest und wahr sein?«

»Fest und wahr!«

»Herr! Ein Säckl mit schwerem Gold kann viel bewirken in Rom. Ich tu die Fahrt und bring Euch die Lösung von Eurem Eid. Dann kehrt heim zur Immenburg als unser Herr, zu dem wir stehen in Treu!«

»Einen Eid, der geschworen ist, löst nur der eigene Wille. Solchen Willen hab ich nicht. Sieh mich an! Ich tauge nimmer unter Menschen und in die Welt. Was mich erfüllt an Leben, wurzelt unter dem Himmel dieser Berge. Anderes will ich nicht. Lebt wohl, guter Wieting! Grüß mir das Haus meines Vaters! Grüße das Grab meiner Mutter und jede Stätte, über die ihr Fuß gegangen! Und grüße meinen Vetter Wolfgang! Er wird der Immenburg und dir ein freundlicher Gebieter sein.«

»Herr!«

Raschen Schrittes war Irimbert schon hinausgeschritten in die dunkle Nacht.

Schweigen blieb hinter ihm. Nach einer Weile, als er die Straße zum Kloster hinaufstieg, konnte er die Stimme Wietings hören, deren rauher Laut das Rauschen der Ache übertönte: »Den Sattel auf jedes Roß! Wir reiten.«

Irimbert ließ sich am Wegrain nieder und lauschte, bis der Hufschlag der trabenden Rosse fern verhallte.

Noch lange saß er regungslos, das Gesicht in die Hände vergraben. Dann stieg er zum Kloster hinauf.

Leute begegneten ihm und grüßten. Bald hier, bald dort vor einer Hütte stand mit Kichern und Geflüster ein junges Paar, das sich der Mainacht freute. Die Bürgergasse war belebt, die alten Leute saßen vor den Haustüren, die Kinder spielten noch, und beim Brunnen schwatzten die Mägde. Fröhliches Leben herrschte auch im Klosterhof. Unter der Säulenhalle des Brüderhauses saßen sie mit Lachen im Dunkeln und ließen die Kanne kreisen. Aus der Kellerstube, deren Fenster offenstanden, hörte man heiteren Lärm und den Gesang der zechenden Chorherren:

»Vinum forte, vinum purum
Reddit hominem securum
Et depellit frigora.
Sed acerbum linguas mordet,
Intestina cuncta sordet,
Corrumpendo corpora.
« Wein, der rein, und Wein, der stark ist, / Macht, daß froh man bis ins Mark ist, / Wärmt die Seel wie Sonnenglanz. / Doch der saure beißt die Zungen, / Kränkt uns Nieren, Herz und Lungen / Und verseucht den Körper ganz.

Hatte sich die Strenge des Propstes schon gemildert? War der Riegel schon gefallen, den er vor die Kellertür gelegt?

Als Irimbert nach dem Fürsten fragte, wurde ihm der Bescheid, daß Herr Friedrich den schönen Tag benützt hätte, um seinem Lieblingsfalken den ersten Flug nach einem Reiher zu vergönnen. Er käme auch über Nacht nicht heim ins Kloster, sondern bliebe draußen am Königssee in einem Jägerhaus.

»Und Herr Wernher?«

»Der schafft noch in seiner Stub.«

Irimbert betrat die von einer Wachslampe erleuchtete Stube des Dekans. Unwillig über die Störung, erhob sich Wernherus vom Holdenbuch. Beim Anblick des Gastes verwandelte sich sein mürrisches Gesicht in freundliche Miene. Lächelnd ging er ihm entgegen und stutzte, als er den harten Ernst dieser bleichen Züge und diesen flammenden Blick gewahrte. Eine unbehagliche Sorge schien sich in ihm zu regen. Doch mit heiter klingenden Worten sagte er: »Gottes Gruß, lieber Immhof! Wie ist dir die Jagd bekommen? Bringst du dem Küchenmeister einen Urhahn mit?«

»Den Chorherren die Schüssel zu füllen, ist Eure Sorge, Herr!« Irimbert übersah die Hand, die ihm Wernherus bot. »Ich habe nicht gejagt, nur ein Geschäft erledigt.«

»Ein Geschäft?«

»Ich habe die Immenburg vergeben.«

Dem Dekan stieg dunkle Röte in die Stirn.

»Ihr wißt doch, meine Mauer fiel, weil ich der Erbe meines Bruders bin.«

Wernherus vermochte seinen Zorn nicht zu beherrschen: »Das hat Herr Friedrich dir verraten!«

»Nein! Herr Wieting, der Marschalk der Immenburg, hat mich gesucht und gefunden. Er trägt das Pergament mit fort, auf dem mein Wille gesiegelt steht. Dieser Wille hat doppelten Weg. Ob die Immenburg meinem Vetter Wolfgang als freier Besitz gehören soll oder ob sie an das Kloster fällt, von dem sie mein Vetter zu Lehen nimmt, das hängt von Euch ab.«

Aller Zorn in den Augen des Dekans war plötzlich erloschen. »Das hängt von mir ab?« Er atmete auf. »Du willst einen Handel mit uns schließen? Gut!« Lächelnd schob er einen Stuhl zurecht und ließ sich nieder. »Das Erbgut deines Bruders soll an das Kloster fallen. Welche Bedingung stellst du?«

»Dem Bauer im Gotteslehen sollt Ihr die Freiheit seines Besitzes nicht stören, solang er lebt oder ein Erbe nach ihm. Aus keiner Ursach soll das Kloster ein Anrecht haben, Gericht zu halten über diesen freien Mann. Nur der kaiserliche Viztum richtet über ihn, sonst keiner.«

Verwundert blickte Wernherus auf. Er nickte, ohne sich zu besinnen. »Weiter?«

»Von Stund an, bis dieser Sommer vergangen ist, bis zum Festtag Allerheiligen soll mir das Kloster jede Freiheit gewähren, die ich verlange: Freiheit des Wortes, Freiheit in meinem Tun und Handeln, Freiheit meiner Wege.«

Wernherus zog die Brauen zusammen, als läge hinter diesem Wort ein Sinn verborgen, den er erst noch erforschen müßte. »Freiheit? Auch wider deinen Eid als Chorherr?«

»Nein! Ich halte meinen Eid und bleibe, was ich bin: Chorherr zu Berchtesgaden.«

»Nur Freiheit wider Hausgesetz und Regel?« Ruhig nickte Wernherus. »Gut! Welche Bedingung weiter?«

»Noch eine letzte.« Um Immhofs Lippen zuckte ein bitteres Lächeln. »Ich fürchte, Herr, sie wird Euch kränken.«

»Rede nur!«

»Ich habe Eure Gerechtigkeit gesehen. Ihr habt mich in die Mauer geworfen, weil ich Euch gefährlich erschien. Ihr habt mich aus der Mauer gelöst, weil ich zur Biene wurde, die ihren Honig geben soll. Gab sie ihn, so ist sie wertlos und kann zertreten werden. Ich will mich schützen. Mir könnte geschehen, was Ihr ein Unglück nennen würdet. Am Festtag Allerheiligen wird mein Vetter Wolfgang von Immhof aus der Hand des Propstes die Immenburg zum Lehen nehmen, wenn er mich an diesem Tage noch als lebenden Mann an Eurer Seite findet.«

Wernherus antwortete nicht gleich. Dann sagte er, als begänne ihn die Sache heiter zu stimmen: »Dein Mißtrauen geht weit. Ich wünsche dir ein langes Leben. Aber unser aller Leben steht in Gottes Hand. Wenn dir ein Unfall widerführe, gegen den wir machtlos sind?«

»Dann wäre die Immenburg für das Kloster verloren. Betet zu Eurem Gott, Wernherus, daß er mein Leben schützt.«

»Ich hoffe, er wird mein Gebet erhören. Und deine Entscheidung soll verbrieft werden? Noch heute?«

»Ja.«

Wernherus ging auf die Tür des anstoßenden Raumes zu und rief den Bruder Scriptor in die Stube. Irimbert sagte dem Schreiber die Worte vor, die er aufzuzeichnen hatte. Als die Urkunde unterschrieben war, drückte der Bruder mit vergnügtem Schmunzeln das Siegel des Stiftes auf das Pergament. Und Wernherus fragte mit lächelndem Spott: »Willst du noch, daß ich den Handel vor Zeugen beschwöre?«

»Nein! Der Vorteil, den Ihr für das Kloster seht, wird diesen Handel besser schützen als Euer Eid.« Er wandte sich ab und ging aus der Stube.

Schon am anderen Morgen wieder, bevor noch der Tag erwachte, verließ Irimbert im Jägerkleid und mit der Armbrust das Kloster. Spät am Abend kehrte er heim mit dem heiteren Lächeln eines Träumenden. Da sagte ihm der Bruder Kämmerer, daß Herr Friedrich ihn erwarte. Als Irimbert in die Stube des Propstes trat, saß Herr Friedrich, den Falken schaukelnd, müde und verdrossen in seinem Sessel.

»Immhof? Was ist das für ein Narrenstreich mit diesem Testament? Daß du dem Greimold eine Mauer baust zu seinem Schutze, das versteh ich. Aber Freiheit für einen Sommer? Jeder andere an deiner Stelle hätte die Gelegenheit benützt, um sich volle Freiheit und Erleichterung zu sichern, die im Stifte möglich ist, nicht nur für kurze Zeit, sondern für das ganze Leben.«

»Ich glaube, das tat ich. Man zählt das Leben nicht nach Nächten, die man verschläft, sondern nach Tagen mit heller Sonne, nach Stunden, in denen man fühlt und erlebt. Mit Zeiten, deren Wert ich nicht kenne, will ich nicht rechnen. Dieser Sommer soll mir gelten als mein Leben. Ich weiß, er wird so schön sein, daß er sich schöner nicht wiederholen könnte. Zeitigt seine Blüte die Frucht, die ich vom Herbst erhoffe, so schuf ich ein Menschenglück und habe mein Leben ausgenossen. Was weiter kommt, soll sein, wie es mag.«

Herr Friedrich schüttelte den Kopf. »Das versteh ich nicht.«

»Um es zu verstehen, müßtet Ihr in Eurer Seele haben, was in der meinen ist.« Immhof lächelte. »Und bedenket, Herr, der Händler, mit dem ich feilschen mußte, heißt Wernherus. Hätt ich zuviel gefordert, so hätt ich vielleicht die Grenzen seiner Habsucht erfahren und auch das wenige nicht gewonnen. Nun hab ich erreicht, was ich brauche, um ein sehendes Glück zu bauen. Mehr will ich nicht. Doch eine Frage, Herr! Habt auch Ihr gewußt, daß ich in der Mauer dort unten der Erbe meines Bruders wurde?«

Herr Friedrich wurde ein wenig verlegen. »Mein Schweigen war ein Teil des Preises, der deine Mauer fallen machte. Um dir das Leben wiederzugeben, dafür hätt ich noch Schlimmeres auf mich genommen als dieses Schweigen. Dafür hätt ich dem Teufel sechs von seinen sieben Schwänzen weggelogen! Du lebst! Jetzt schilt mich!«

Die müde Gutherzigkeit dieses Wortes löschte in Irimbert jeden Groll. »Nein, Herr! Jetzt dank ich Euch! Mein Leben ist reich geworden.« Den Propst in Sorge betrachtend, trat er näher. »Euch, Herr, seh ich verändert. Wo ist Euer Lachen? Eure Spottlust? Auf Eurer Stirn liegt ein Kummer.«

Seufzend machte der Propst eine Bewegung mit der Hand. »Mein Falk ist heute schlecht geflogen. An solchem Tage fahren mir alle Widrigkeiten meines Lebens durch die Sinne wie einem Sünder nach der Beichte die vergessenen Laster. Oder fang ich zu altern an? Hab ich den Arm nimmer, um den Falken richtig zu schwingen? Es könnte sein? Du bist genesen. Immhof! Mich haben diese Wochen krank gemacht. Wie ein Licht, das vor dem tränenden Erlöschen noch einmal heißer brennt, so hab ich's versucht, mich aufzuraffen aus meiner Schwäche. Aber man heuchelt alles, nur die Kraft nicht. Meine Strenge strengt nur mich an, sonst keinen. Dazu noch das andere! Mein Wölflein Wernherus scheint schon die Witterung zu haben, daß mir die Lehne hinter dem Rücken bricht.«

»Herr? Seht Ihr Gefahr für Euch?«

»Für mich? Was liegt an mir? Ein schwankender Strohhalm mehr oder weniger. Vor einem halben Jahr hab ich dich fallen lassen aus Schwäche, in der Sorge um meinen eigenen unheiligen Leib und habe mich noch gerauft um Hut und Mantel. Jetzt ist Sorge in mir, die um Besseres geht. Komm, setz dich! Laß mich herausschwatzen, was mich drückt. Dein Aug hat einen Blick, der verriegelte Herzen öffnet. Das macht: Du bist ein Mensch! Bleib es, Immhof! Ob dich die anderen auch erschlagen drum. Eine Stunde Mensch sein, und wär's in Schmerzen, wiegt hundert Jahre eines käuenden Tieres in sattem Behagen auf. Mensch sein! Hätte man nur die Kraft, daß man's immer wäre! Dann könnte man alles andere missen, den ganzen Plunder, mit dem man das Leben beschwert.«

Wie warme Sonne war es in Immhofs Augen. Er faßte die Hand des Propstes. »Welche Sorge bedrückt Euch?«

»Ich bin in Kummer um meinen Vetter Bayern. Mit Liebe häng ich an diesem stolzen und kraftvollen Geschlecht, von dessen Blut ein Tropfen auch durch meine Adern rinnt. Tapferkeit und Kaisertreue haben den ersten Wittelsbacher auf den Herzogsstuhl gehoben. Das will der Enkel jetzt vergessen. Mein Vetter ist ein starker, guter und kluger Mann, nur zu fromm, für einen Fürsten zu fromm. Ein Fürst soll mit klaren Augen sehen, nicht mit Augen, die der Weihrauch umnebelt. Und da ist jetzt dieser Albert Behaim, dieses Passauer Pfäfflein, dieser Störenfried von ganz Bayern, der als Maulwurf des Papstes den Boden der eigenen Heimat unterwühlt. Der hat das Ohr des Herzogs, reißt ihn vom Kaiser los und führt den Betörten segnend in die Arme des Papstes. Ich hab meinen Vetter gewarnt, hab ihn beschworen, seiner Treu nicht zu vergessen. Der Behaim hat mir grobe Antwort geschickt und droht mir mit dem Bann.«

»Diese Drohung fürchtet Ihr?«

Herr Friedrich lächelte. »Der Bannbrief hinge mir gut am Tor meines Stiftes. Wenn nur das andere nicht wäre! Da haben sie jetzt auf des Behaim Rat einen Bund geschmiedet: der Babenberger, Wenzel von Böhmen und mein Vetter. Den Herzog Abel von Schleswig wollen sie zum Gegenkönig erheben. Das bringt üble Zeiten für das Reich. Ich bin in Sorg um meinen Vetter und sorg mich um unser schönes deutsches Land. Ach, Immhof, diese Fürsten! Diese deutschen Fürsten! Wenn sie nur Augen hätten! Wenn sie nur sehen möchten, daß jeder an seinem eigenen Haus den besten Stein zertrümmert, wenn er in Eigennutz die treulose Faust wider Reich und Kaiser hebt. Was könnten wir Deutsche sein, wenn unsere Fürsten einig wären! Die Herren der Welt! Aber wie ein Lamm, das seine Hirten im Rausch erschlugen, so liegt das Reich in seinem rinnenden Blut. Ringsum sitzen die hungrigen Aasvögel und der große Kuttengeier. Jeder will seinen Brocken haschen. Und da läßt sich mein Vetter Bayern von dem großen Geier unter die schwarzen Flügel nehmen. Ich sage dir, Immhof –« Herr Friedrich verstummte. Reinold, der Falkner, war in die Stube getreten, bleich, mit scheuen Augen. »Bub? Was bringst du?«

»Nichts Gutes, Herr!«

»Das seh ich dir an. Heraus damit!«

»Der neue Sakerfalk –«

»Was ist mit dem Vogel?«

»Er weigert den Fraß, pludert die Federn auf und hat das weiße Häutl über den Augen.«

Im Ärger begann der Propst zu jammern und zu schelten. Der ernste Mann, den die Sorge um Großes drückte, war plötzlich verwandelt in ein greinendes Kind, das ein Spielzeug zu verlieren fürchtet. Er nahm den Weißfalken auf den Arm, denn er wollte seinen Liebling nicht unbehütet in der Stube lassen, und ohne sich um Immhofs Gegenwart zu kümmern, ohne noch ein Wort zu sagen, eilte er mit Reinold davon, hinunter in die Falkenkammer.

Der erkrankte Sakerfalk verendete noch in der Nacht, desiderio libertatis, aus Sehnsucht nach der Freiheit, wie der Medikus behauptete, den man in die Falkenkammer gerufen hatte. Dieser Verlust verdoppelte die Sorge, die Herr Friedrich seinem Liebling, dem Weißfalken, widmete. Auf jeden Schritt und Tritt im Stifte mußte ihm der Beizvogel nachgetragen werden, ins Refektorium, in den Kapitelsaal und in das Münster. Jeden schönen Tag benützte der Fürst, um zur Beizjagd auszureiten. Das wurde in ihm wie ein Fieber, wie ein Durst, den kein Trunk zu stillen vermag. Bei jedem neuen Ritt genoß er diese Freude – »wie ein verblühendes Weib«, sagte Linhart Scharsach eines Abends in der Kellerstube mit lachendem Spott, »das bei jedem Kuß des Geliebten fürchtet, es könnte der letzte sein.«

Im Kloster ging das Leben wieder den alten lärmenden Gang. Während der Propst wie ein lebenslustiger Junker hinter seinem Falken ritt, schaltete Wernherus als ungestörter Herr im Stift. Nur die äußerlichen Ehren fehlten ihm, alle Macht besaß er und übte sie mit milder Hand, als hätte er Ursach, sich die Chorherren zu Freunden zu machen. Jede Freiheit, die sie verlangten von ihm, gewährte er. Und sie hatten reichliche Zeit, diese Freiheit zu nützen. Am Himmelfahrtstage war zu Berchtesgaden ein päpstlicher Diakon erschienen, um die Kirche zu versiegeln und den Bannbrief an das Tor zu nageln, weil das Stift dem Kaiser die Treue nicht kündigen wollte. Nun hatten die Chorherren ausgiebige Muße für das Weidwerk, und die Bauern nahmen es nicht übel auf, daß sie in der Heuernte durch keine Kirchenpflicht gestört waren. Die Glocken schwiegen, man las keine Messe, man spendete kein Sakrament. Damit die gläubigen Bauern ihr Tröpfl Himmelstrost, wenn sie es nötig hatten, trotz allem nicht entbehren sollten, wurde der jüngste der Münsterkapläne zum »Zwingpfaffen« ernannt. Auf einem Maultier mußte er täglich in die Dörfer reiten. Wo ein Kind zu taufen war, einem Toten das letzte Geleit zu sprechen oder ein junges Paar zu segnen, wurde der Kaplan vom Maultier gehoben und mit Gewalt gezwungen, die heilige Handlung vorzunehmen. Das war freilich ein arger Frevel. Jeder Bauer, der sich solcher Gewalttat unterstand, mußte zur Buße fünf süße Käse an das Kloster zahlen.

So hätten sich die Chorherren in ungetrübter Muße dieses Sommers freuen können, wären nicht die Tage gewesen, an denen Irimbert im Kloster blieb. Von dem Testament, das in der Dekanstube verwahrt lag, wußten sie längst. Diese Nachricht hatte ihnen eine lachende Stunde geschenkt. Das Lachen verging ihnen, als sie merken mußten, welchen Sinn die Bedingung hatte: »Freiheit des Wortes!« Wie eine Geißel führte Irimbert dieses freie Wort und klatschend fielen die Peitschenhiebe seines Spottes auf ihre Köpfe nieder. Eine Zeitlang machten sie gute Miene zu dem bösen Spiel. Lachend sagte der Eschelberger: »Wir müssen denken, daß wir sind wie gefürstete Herren, die ihren Hofnarren halten. Ab und zu ein Pritschenschlag ist gesund und macht die schläfrige Haut wieder munter.« Und Herr Pabo meinte: »Wenn seine üble Weisheit zwischen unseren Mauern bliebe, möchte ich sie ertragen wie Bienenstiche, ohne die man keinen Honig schöpft. Aber ich fürchte, er trägt sie auch hinaus auf seine heimlichen Wege und macht das hörige Volk in seinem Glauben irr. Das Volk braucht den Glauben.«

»Nein, frommer Pabo«, unterbrach ihn Irimbert, »das Volk braucht euren Glauben nicht. Ihr aber braucht den Glauben des Volkes, um euch zu mästen.«

Der Eschelberger lachte wieder: »Er hat sich in der Mauer das Nagen abgewöhnt, und da rechtet er jetzt mit Gott, der uns hungrigen Menschlein die Zähne gab und uns gemacht hat, wie wir sind.«

»Daß ihr nicht anders wurdet, kann mich nicht wundern. Weil euer Gott sich selbst nicht genug war, erschuf er eure Welt und euch. Wie hätte ein Werk gelingen können, das ein Unzufriedener schuf?«

»Luzifer!« schrie Herr Pabo. »Er redet wie Luzifer!«

»Der Lichtbringende?« Immhof atmete tief. »Ich wollte, der wär ich! Euch würde ich das Licht nicht bringen. Aus Barmherzigkeit. Ihr seid wie das schmatzende Tier im dunklen Stall und würdet erblinden vor jedem hellen Strahl.«

»Luzifer!« schrie ihm Herr Pabo nach. Und dieser Name blieb ihm: Pater Luzifer! Sie nannten ihn nicht mehr anders. Was sie dulden mußten, wurde ihnen unerträglicher von Tag zu Tag. Es sammelte sich in ihnen eine knirschende Wut gegen Immhof. Wäre nur nicht die schöne, stolze Burg mit Türmen und Mauern gewesen, mit Wäldern und Feldern, mit Höfen und Dörfern! Diese Hoffnung mußten sie um bitteren Preis erkaufen. Linhart Scharsach tröstete sie: »Die zahlende Zeit wird kommen. Geduldet euch bis zum Festtag Allerheiligen!« Und dann hatten sie auch den Trost der armen Schelme, die gemartert werden, immer nach der schlimmsten Qual war ihnen Ruhezeit vergönnt, um aufzuatmen. Das waren die Tage, an denen Irimbert das Stift verließ, um die »Freiheit seiner Wege« zu nützen.

Wenn er an klarem Morgen im Jägerkleid aus dem Tor des Klosters hinaustrat, schien er beim ersten Schritt auf die Straße in einen anderen Menschen verwandelt zu sein. Er atmete auf wie einer, der aus dumpfem Kerker in strahlende Helle tritt. Die hörigen Bauern, deren Hütten auf seinem Wege standen, lernten ihn kennen, verloren die Scheu vor seinem jugendlichen Greisengesicht und wurden ihm gut. Er wußte Trost für ihre Sorge und linderte häufig einen Kummer ihres engen Lebens. Ihr Handschlag, ihr dankender Gruß war eine Freude für ihn. Und stieg er aufwärts durch die grünen, von leisem Rauschen und Geflüster erfüllten Hallen des Bergwaldes, so flogen seine Blicke dem steilen Weg voraus, in Sehnsucht und Ungeduld.

 

Im Gotteslehen war stille Sommerzeit. Die Ställe leer, das Vieh zu den Hochalmen aufgetrieben und Greimold mit den Sennleuten droben bei der Herde. Außer dem Geplauder des Brunnens hörte man in der Hofreut nur selten einen anderen Laut als das Gebell der weißen Zenta und den trällernden Liedersang der Helgard.

War Jutta allein, so saß sie mit ihrem Flechtwerk oder mit der Spindel im Schatten der Ulme, lächelnd vor sich hin träumend, bis der laue Abend dämmerte und Helgard kam, um die Blinde ins Haus zu holen. War »Irmi der Jäger« zu Gast im Gotteslehen, dann verbrachte sie die Sonnenstunden an seiner Seite auf dem Lugaus in der Krone des Baumes, oder sie wanderte mit ihm, von seiner Hand geführt, auf die Wiesen hinaus, in den schattigen Wald oder zu den kühlen Schluchten der Bergbäche.

An Tagen, für welche Irimbert sein Kommen versprochen hatte, kam manchmal auch Greimold von den Almen herunter, um mit den »Kindern« das Mahl zu teilen und ein Stündl mit ihnen zu verschwatzen. Stieg er wieder hinauf zur Herde, so blieb er alle paar hundert Schritte stehen und sah mit dem lachenden Blick eines Glücklichen auf sein Heimwesen hinunter, dessen Dächer in der Sonne leuchteten.

Zwei Tage vor dem Johannisfeste kam der Steinhauser von den Almen heim und verließ das Haus nicht mehr. Das hatte seinen Grund. Und da hörte man ihn den ganzen Tag zwischen Haus und Tenne schaffen, immer mit einem lustigen Lied.

Am Abend vor dem Feste, während überall auf den Almen die Sonnwendfeuer leuchteten, lief er in keuchender Hast davon, um Mutter Hanna zu holen. Als er wieder heimkehrte, allein – die alte Frau hatte minder flinke Füße und war zurückgeblieben –, sah er, daß sich neben der Schwelle seines Hauses etwas Graues bewegte. Erst erschrak er. Als er den traurigen Jacho erkannte, lachte er froh hinaus in die graue Mondnacht. »Bist du schon da? Hast du dir die Narrenaugen schon gesalzen, daß du weinen kannst zu meiner Freud?« Der Irrsinnige erwiderte keinen Laut. Er hob nur das Gesicht. Und da sah der Steinhauser im Mondlicht die Augen des armen Narren flimmern und hörte das leise Klirren der Kette.

Lachend trat der Bauer ins Haus. Eine Weile später kam Mutter Hanna. Die Nacht verging, und es wurde Morgen, ohne daß die Freude, auf die der Steinhauser wartete, zum Leben erwachen wollte. Die Sonne stieg. Wie ein lebloser Klumpen hockte der traurige Jacho neben der Schwelle. Seine Arme hielten das Eisenkreuz umschlungen, und seine rot geränderten Augen starrten unbewegt hinaus in den Glanz des Tages.

Wieder kam der Abend. In später Stunde, als das Mondlicht schon wie weiße Milch über alle Gehänge der Berge floß, wollte Helgard die Schlagbrücke beim Hagtor aufziehen. Da sah sie einen über die Wiesen herunterkommen. Es war der Bauer. Sein erster Wort, wie immer, war eine Frage nach Jutta.

»Die ist wohl und freudig. Der Jäger ist dagewesen, und zum Abend hat sie so viel Blumen heimgetragen vom Wald, daß man ein Duften spürt im ganzen Haus.«

»Und sind die Buben daheim?«

»Was für Buben?«

»Meine Sennbuben. Weil drunten Markt ist, hab ich ihnen Verlaub gegeben, daß sie hinuntergehen. Vor Abend hätten sie wieder droben sein müssen auf der Alben. Noch allweil ist keiner da.«

»Hauswirt, ich hör die Buben. Sie steigen durch den Wald herauf.«

Man hörte erregte Stimmen, die sich den mondhellen Wiesen näherten.

»Was sie nur haben mögen, daß sie so röhren?«

»Met im Kopf!« Helgard ging lachend ins Haus zurück.

Unter dem Hagtor erwartete Greimold die Sennen. Als sie beim Mondlicht den Hauswirt erkannten, begannen sie zu laufen und schrien mit wirren Stimmen durcheinander. Greimold konnte nur verstehen, daß drunten in der Marktgasse etwas geschehen wäre, etwas Seltsames, ein Wunder. Er hieß sie schweigen, und dem Junghirten, der ihm unter den vieren der einzig Nüchterne schien, befahl er, allein zu reden. Da hörte er eine Mär, die ihn selber heiß erregte und ihm doch so unglaublich vorkam, daß er immer wieder den Kopf dazu schüttelte.

Ein Salzburger Seidenkrämer, Walter Schlier mit Namen, war am Abend vor dem Johannistag zum Markt nach Berchtesgaden gekommen und hatte dem Kloster die Budensteuer geweigert, weil er vom Salzburger Bischof einen Brief besaß, der ihm das Recht zu freiem Handel gab. Da hieß es: »Zahl die Steuer! Was der Salzburger sagt, das gilt in Salzburg, nit bei uns.« Der Mann wehrte sich um sein Recht. Als ihm der Fronbot sein Täschl vom Gürtel reißen wollte, schlug ihm der Schlier die Faust ins Gesicht. Die Schergen wollten ihn fassen, der Mann wurde flüchtig und rannte gegen den Untersberg hinauf.

»Und heut«, erzählte der Junghirt, »um die Mittagszeit ist der Walter Schlier auf dem Markte gestanden und hat von einem Wunder geredet, das ihm begegnet ist. In der Mondnacht hätt er den Heimweg suchen wollen über den Untersberg, und da hat er sich in seiner Angst verlaufen, daß er nimmer aus und ein gewußt hat vor lauter Gestein und Klüften. Und wie er in seiner ärgsten Not ein Stoßgebet tut, da steht ein frommer Bruder vor ihm.«

»Die Leut«, fiel erregt ein anderer von den Sennen ein, »die Leut sagen, der Bruder hätt ausgeschaut wie das Steinbild auf dem Gruftdeckel, unter dem Herr Eberwein begraben liegt.«

»Ja, Bauer, und in Gütigkeit hat er zum Schlier gesagt: ›Mußt dich nit fürchten, bedrängter Mann!‹ Und hat gesagt: ›Tu beten zum ewigen Helfer in allen Nöten, und wenn dein Gebet christgläubig ist, will ich dir zeigen, was kein Menschenaug noch gesehen hat!‹ Und derweil der Schlier in aller Inbrunst sein Beten anhebt, pochet der fromme Bruder mit seinem heiligen Kreuz an die Steinwand, da tun sich die Felsen auseinander wie ein Tor.« »Jetzt, Hauswirt«, rief von den Sennen einer, »jetzt mußt du lusen!«

»Und da ist in den Berg hinein ein Gang gewesen, großmächtig, und der Bruder führt den Walter Schlier allweil tiefer und tiefer, durch hundert Kammern. Die Wand haben geglitzert wie von Gold und Edelstein. Und zuallerletzt, da sind sie in eine Kirch gekommen. Die ist groß gewesen wie ein Bergtal mit dem Himmel drüber. Und schön, hat der Schlier gesagt, schöner als wie von den Salzburger Kirchen die allerschönste.«

»Und Sonn und Mond und Stern«, rief ein anderer, »haben droben im Kirchendach geschienen.«

»Nein, du, das hat der Schlier nit erzählt, das haben die Leut dazugemacht. Der Schlier hat bloß erzählt, daß in der Höh ein Singen gewesen ist, wie wenn die Engel psalmieren täten, und beim Altar haben hundert Bischöf die Meß gelesen, und tausend Rittersleut in silbrigem Harnisch haben gebetet in der Kirch. Und zumittelst drin ist ein Tisch gewesen. Und an dem Tisch ist der Kaiser gesessen.«

»Der Kaiser?« Greimold schüttelte den Kopf. »Der König Wute, willst du sagen?«

»Der Kaiser, Hauswirt, der Kaiser! Der Kaiser Rotbart, von dem sie lügen, daß er im Judenland versunken war in einem reißenden Wasser.«

»Bub! Das ist unsinniges Zeug!«

»Wahr ist's, Hauswirt! Alles ist wahr! So heilig wahr, wie daß ich leb!« Dem Buben versagte fast die Stimme. »An dem steinernen Tisch ist der Kaiser gesessen, und siebenmal ist sein roter Bart herumgewachsen um den Tisch. Den blauen, gestirnten Kaisermantel hat er um, gegürtet ist er mit seinem guten, gerechten Schwert, in Händen hat er den Kaiserstab und den goldenen Apfel. Und hat die Kaiserkron!« Die Augen des Hirten glänzten im Mondlicht. »Die Kaiserkron! Und ein lichter Schein geht aus von jedem Zinken!«

»Geh, du!« fiel der andere Senn wieder ein. »Der Schlier hat's anders erzählt. Der Bart ist bloß dreimal um den Tisch gewachsen. Wie du's machst, so hat's doch der Schlier nit gesehen!«

»Aber ich seh's! Ich! Und mir, Hauswirt, mir mußt du glauben! Der Kaiser ist wie schlafend gewesen. Und wie im Schlaf hat er den frommen Bruder gefragt: ›Fliegen die Raben noch allweil um den Berg?‹ Die Raben! Verstehst du das, Hauswirt? Und wie der Bruder sagt: ›Noch allweil fliegen sie!‹, da hat der Kaiser die blitzhellen Zornaugen aufgetan. Ein Schildklingen und Schwerterklirren ist dahingegangen durch die ganze Kirch. Der Schlier ist auf den Tod erschrocken. Aber der fromme Bruder hat ihn bei der Hand genommen, hat ihn fortgeführt und hat in Gütigkeit geredet zu ihm, er sollt nur fromm und christlich bleiben und geduldsam in schiecher Zeit auf die gute hoffen. Die bleibt nit aus. Ein Tag wird kommen, da steigt der Kaiser mit seinen tausend Rittern aus dem Berg herauf. Den goldnen Kaiserschild wird er aufhängen draußen im Walserfeld. Und Recht und Fried wird sein in der Welt und Glück und Freud. Kein Schlechter soll den Tag überleben, kein Unchrist, der wider Gott und die heiligen Kirchen schreit, kein Vogt, der die armen Leute geschunden hat, und kein Klosterpropst, der lieber hinter den Falken her ist, statt daß er den Christen heiligen Trost und Zuspruch bietet.«

»Und solche Red«, unterbrach der Gotteslechner den Hirten, »solche Red hat der Schlier auf offenem Markt unter den Leuten tun dürfen? Und von den Fronboten hätt ihn keiner gefaßt?«

»Wart nur, Hauswirt! Wirst es hören gleich. Kein Klosterpropst! So hat der Schlier erzählt. Und eine Fürsag hat der fromme Bruder getan: Es tät einen Wandel geben im Gadnischen Land, und ein neuer Herr tät kommen, der fromm ist und gerecht und der es gut meint mit den Leuten! Und der Schlier, weil ihm völlig gewesen ist, als tät er träumen, greift auf den Boden hin und hebt ein Steinl auf. Und da ist ein Donnersausen gewesen, und der Schlier ist draußen gestanden im hellen Tag und hat keine Höhl und keinen Weg in den Berg mehr gesehen. Aber das Steinl hat er in der Hand gehabt. Und wie er's anschaut, ist's ein Goldpfennig, und dem Kaiser Rotbart sein Bild ist drauf. Den Goldpfennig, Hauswirt, hab ich gesehen! Den hab ich selber gesehen!«

»Ja, Hauswirt! Den hat er hergezeigt!« beteuerten die Sennen. Und einer erzählte: »Schier zerrissen haben die Leut den Schlier. Jeder hat den Goldpfennig sehen wollen. Aber da sind schon die Fronboten dagewesen, ein ganzer Hauf. Trunken tät er sein oder lügen, hat's geheißen, und dem Kloster möcht er was anhängen, weil ihm der Vogt sein Maultier und sein Seidengut gepfändet hat.«

»So haben die Schergen geredet?« fragte Greimold. »Und sie haben den Mann gefaßt?«

»Aus allen Leuten haben sie ihn herausgerissen. Und wie ihn der Vogt im Klosterhof hat peitschen lassen, hat man den Schlier in Schmerzen schreien hören bis über den Markt hinaus.«

»So muß es wahr sein!«

»Die Leut sind gewesen wie rauschig. Und viel hat nimmer gefehlt, so hätten sie das Klostertor eingeschlagen. Aber die einen sind gelaufen, daß sie's daheim erzählen können, und die andern –«

Da schrie der Junghirt mit erstickter Stimme: »Hauswirt! Sell schau hinüber!« Er umklammerte den Arm des Bauern. »Auf dem Totenmann, auf dem alten Richtberg geht ein Feuer auf! Und zum Watzmann schau hinaus! Und zum Untersberg!«

Überall auf den vom Mondlicht grau umflimmerten Höhen loderten die Feuer auf, als wär's eine zweite Sonnwendnacht.

»Kommet, Sennen, kommet!« Der Bub war wie ein Trunkener. »Zur Alben hinauf! Wir müssen's machen wie die andern! Und müssen dem guten Kaiser ein Feuer zünden!«

Jauchzend sprangen sie davon und eilten über die Wiesen hinauf. Greimold stand noch unter dem Hagtor und blickte über das Tal nach den lodernden Feuern. Immer wieder schüttelte er den Kopf, und dennoch begann der Glaube in ihm zu keimen. »Das muß der Steinhauser hören!« Als er hinüberging zum Heimwesen seines Inrainers, vernahm er in der stillen Mondnacht ein bitterliches Schluchzen. Neben der Schwelle sah er den »traurigen Jacho« sitzen. »Du?« Er lachte. »Weinst du ein neues Leben an? Da komm ich von einer Freud zur andern!« An dem schluchzenden Narren vorüber trat er in den Hausflur, um als erster dem Steinhauser und seinem neugeborenen Glück einen guten Wunsch zu bieten. Erschrocken blieb er stehen. Aus der Stube vernahm er eine erwürgte Stimme. »Ich kann's nit sehen, laß mich hinaus, Mutter Hanna, ich kann's nit sehen!«

Greimold wollte die Tür öffnen. Sie wurde von innen aufgerissen, und der Steinhauser taumelte über die Schwelle heraus. Mit beiden Fäusten stieß er den Gotteslechner aus seinem Weg und stürzte hinaus in die Mondnacht. Die Tür der Herdstube war offengeblieben. Mit zitterndem Schein erleuchtete eine rußende Talglampe den Raum, und Greimold sah das Weib des Hilpot am Tische stehen und etwas Regungsloses in weißes Linnen hüllen. »Mutter Hanna! Was ist geschehen?«

»Sein Kindl ist tot gekommen«, sagte die Greisin, »es wär ein Bübl gewesen.«

Dem Gotteslechner waren die Augen feucht, als er hinaustrat in den Mondschein, um den betrogenen Vater in seinem Leid zu trösten. Der Steinhauser lag auf der Erde, das Gesicht in die Arme gedrückt. Unter freundlichem Zuspruch führte ihn der Gotteslechner zu einer Bank, die im Garten unter einem Birnbaum stand. Hier saßen sie, und Greimold streichelte dem Bauer das struppige Haar. Draußen in weiter Nachtferne sah er die Freudenfeuer des hoffenden Volkes leuchten. Seufzend murmelte er vor sich hin: »Das Leben hat Nöten, für die kein Kaiser hilft, und tät er auch kommen mit hunderttausend Rittern!« Er blickte hinauf zum mondhellen Himmel, an dem nur wenige Sterne wie winzige Feuerpunkte sichtbar waren. Dann begann er laut und hastig zu reden, damit der Steinhauser die Schritte der Mutter Hanna nicht hören sollte, die das Haus verließ, mit einem grauen Ding auf den Armen. Von allen Trostworten, die Greimold suchte, wollte der Steinhauser keines hören. »Für was soll ich noch leben? Sag mir's Bauer! Für was denn?«

»Für eine neue Freud, auf die du hoffen mußt! Schau den Birnbaum an! Im letzten Jahr hat ihm der Reif die Blüten verbrannt. Heuer im linden Mai hat er blühen dürfen, und du wirst ernten können und Most haben. So geht's uns Menschen auch. Hinter allem Reif scheint wieder gute Sonn. Geh, komm, ich führ dich hinein in die Stub.«

»Ich kann's nit sehen!«

»Die Mutter Hanna hat's fortgetragen.«

Da streckte der Steinhauser seine Arme in die Nacht hinaus.

»Komm, laß dich hineinführen zu deinem armen Weibl! Hättest doch alle Freud mit ihr teilen mögen. So mußt du ihr auch helfen, allen Kummer tragen!«

»Ja, Bauer, hast recht! Das arme Weibl!«

Als sie zur Haustür kamen, saß der traurige Jacho noch immer neben der Schwelle. Er weinte nimmer. Mit aufgerissenen Augen, die im Mondlicht flimmerten, glotzte er wie ein erschrecktes Tier die beiden Männer an. Beim Anblick des Irren überfiel den Steinhauser eine sinnlose Wut. »Narr, du verfluchter! So schrei doch und lach! Bei mir ist der Tod daheim. Warum hast du weinen müssen? Und hast mich hoffen lassen auf eine Freud?« Er wäre über den Irrsinnigen hergefallen, wenn es Greimold nicht verhindert hätte: »Laß den armen Teufel in Ruh! Aller Verstand im Leben geht irr. Da darf auch die Narrheit einmal danebengreifen.«

Der traurige Jacho hatte sich erhoben, stumm und scheu. Während er davontrollte wie ein Betrunkener, klirrte bei jedem Schritt die Kette an seinen Lenden.

Und der Steinhauser, der sich von Greimold in die Stube führen ließ, ging einem neuen Schmerz entgegen. Zwei Tage später starb sein Weib. Als man die Tote auf dem Brett hinuntertrug ins Tal, schleppte der Steinhauser auf seinem Rücken einen schweren Pack, die fünf süßen Käse für den »Zwingpfaffen«. Das Weib sollte den Himmel nicht verschlossen finden, »weil der Papst mit dem Kaiser rauft und die Kirchen versiegelt«. Der stille Zug ging durch den leuchtenden Sommerwald. Kein Jauchzer und kein Jodelruf des traurigen Jacho. Auf Steinwurfweite kam der stumme Narr hinter dem Zuge hergeschlichen. Mit beiden Armen drückte er das Eisenkreuz an seine Brust, und aus den rot geränderten Augen tropften ihm große Tränen über den weißen Bart.

 

Gleich einem ahnungslosen Kind, das von einer schützenden Hand vorübergeleitet wird an gähnender Tiefe, wandelte Jutta mit dem träumenden Lächeln ihres blinden Glückes an dem schweigsamen Schmerz vorüber, der Haus an Haus mit ihrem Vater wohnte. Ihre feinen Sinne, die sonst auf jeden Laut und jeden Schritt geachtet, schienen nur noch auf ein einziges gerichtet. Die Zeit, welche »Irmi der Jäger« an ihrer Seite verbrachte, war ihr heller Tag. Die Einsamkeit, in der sie sein Kommen erwartete, war ihre dunkle, träumende Nacht.

Je näher der Sommer dem Herbste rückte, desto häufiger kam Irimbert vom Tal heraufgestiegen zum Gotteslehen. Als das Grün der Buchen schon zu welken anfing, kam er jeden Tag. Wie ein wunschlos Glücklicher hatte er die blühende Schönheit dieses Sommers an Juttas Seite genossen, die Plauderstunden im Schatten der Ulme, droben im Lugaus und im Dämmerspiel des Waldes. Je näher die Tage des Herbstes kamen, desto mehr befiel ihn sorgende Unruh. Was aus seinem eigenen Leben werden sollte, danach fragte er mit keinem Gedanken. Sein Dasein erfüllte sich in der zärtlichen Sorge für dies holde Kind, dem er das Glück der sehenden Augen zu bringen hoffte. Dann mochte sein eigenes Leben versinken oder dauern, wie es wollte.

Was mit verschwiegener Sehnsucht in seiner Seele zitterte Tag und Nacht, würde sich das erfüllen? Er duldete in sich keinen Zweifel an diesem Glauben. Die Kunst des Arztes durfte nicht versagen, das Wunder dieser Heilung mußte Wahrheit werden. Aber wird dann auch alles andere so kommen, wie es sein erster Gedanke ihm gezeigt hatte? Wird Jutta den Freudenrausch, der im Sehen liegt, so tief empfinden, wie er selbst ihn fühlte? Wird ihr die Flut des Lichtes, die Wahrheit des Lebens und der Erde so schön und wertvoll gelten, daß sie für den leuchtenden Gewinn das kindliche Dämmerglück ihrer Blindheit geben konnte, lächelnd, ohne zu verlieren? Wird ihr dieses neue, helle Leben so vieles bringen, daß sie ohne Schmerz vergessen konnte, was sie einst besaß? Auch jenen vergessen, der ihr Freund und Bruder war?

Wenn nicht? Was dann?

Diese zweifelnde Sorge wollte nicht mehr zur Ruhe kommen. Eine Enttäuschung hatte er schon erfahren müssen, und sie hatte diese Sorge in ihm geweckt. »Ich muß sie vorbereiten auf den sehenden Tag, er darf ihrem erschlossenen Auge nicht plötzlich kommen, nicht unvermittelt und erschreckend.« So hatte er begonnen, die unklaren Begriffe ihrer träumenden Blindheit den wirklichen Dingen des Lebens näherzubringen. Doch auf jedem Wege der Erkenntnis, den er sie führen wollte, begegnete er immer wieder einer Schranke ihres kindlichen Glaubens. Sie konnte den Tod nicht begreifen, nur das Leben, nicht die schreiende Not der Menschen, nur die stille Freude. Sie wollte nur die Stunde genießen, in der ihre Hand in der seinen lag, den Duft der Blumen atmen, die er brach für sie, und dem Klang seiner Stimme lauschen. Alles Schöne verstand sie. Wollte er sie über das Blumenfeld ihrer Träume hinübertragen zur Erkenntnis einer schmerzlichen Wahrheit, dann sah er auf ihrem Gesicht ein neues Erschrecken. Und da verstummte er, um ihr nicht weh zu tun. Sprach er wieder, so ließ er sie die schönen Bilder schauen, die sie sehen konnte, sehen wollte. So wurde er für ihre gläubige Seele zum Schöpfer einer Welt von makelloser Schönheit, in der kein Schatten grinste, nur die Freude lächelte. Diese Welt war bevölkert mit guten Menschen, und über dem Blau des Himmels wohnte ein freundlich waltender Gott. Sprach er so und sah er das glückliche Leuchten ihrer Augen, dann überkam es ihn oft, als könnte er selbst an die schattenlose Schönheit glauben, die seine Zärtlichkeit vor ihrer schauenden Seele erstehen ließ.

Als es Herbst geworden, erkannte Irimbert mit ratloser Sorge, daß er, statt Jutta vorzubereiten für den sehenden Tag, in ihrem Herzen einen Glauben erzogen hatte, der nicht bestehen konnte, wenn ihre Augen sehend wurden für die Wahrheit des Lebens.

Es kam der Michelstag. Mit einem Morgen in Glanz und Farben.

Irimbert saß wartend bei der Achenbrücke, dort, wo Herrn Wietings Zelt gestanden. Mit brennenden Augen, von wühlender Sorge erfüllt, spähte er über die Salzburger Straße hinaus. Stunde um Stunde. »Wenn er nicht käme?« Diesen Gedanken empfand er wie eine Freude, die er sich selbst nicht eingestehen wollte.

Mittag war schon vorüber, als er einen Reiter auf staubigem Maultier erscheinen sah.

Wie in einer Gewitternacht beim zuckenden Strahl eines Blitzes inmitten der Finsternis plötzlich eine schöne Landschaft in klaren Farben aufleuchtet, so zuckte es ihm mit hellem Trost durch die Nacht seiner Sorge: Sie wird sehen! Licht ist Glück und Freude. Und der schöne, reine Glaube, der ihre Seele erfüllt, ist so unerschütterlich, daß ihn keine Wahrheit des Lebens zerstören kann! Sie wird sehen und kann nur gewinnen, nicht verlieren!

Der Reiter war über die Brücke gekommen, verhielt das Maultier und blickte suchend umher. Es war ein Mann mit bleichem und ernstem Gesicht, das ein schwarzer Bart umkräuselte. Seine Augen waren klar und klug, doch sie hatten einen scheuen Blick. Sein Rücken war gekrümmt, als wäre ihm die Demut in den Knochen erstarrt. Er trug eine hohe Pelzmütze und einen langen braunen Rock mit dem gelben Judenfleck. Vor seinen Knien hing ein Zwerchsack über den Sattelknauf.

Irimbert war auf den Reiter zugetreten. Die Erregung erstickte ihm fast die Stimme. »Bist du Josephus, der Arzt aus Regensburg?«

Der Fremde betrachtete den Jäger mißtrauisch. »Herr Irimbert von Immhof?«

»Der bin ich.«

Der Mann wollte aus dem Sattel steigen. Irimbert faßte den Zügel des Maultiers. »Bleib nur! Ich führe dein Tier.« Da sah er, daß das Gewand des Mannes beschmutzt und zerrissen war. »Bist du gestürzt?«

Josephus schüttelte den Kopf, und ein bitteres Lächeln huschte um seinen Mund. Statt zu antworten, deutete er nur auf den gelben Fleck an seinem Rock.

Dunkle Röte stieg in Immhofs Stirn, während er dem Juden die Hand reichte. »Ich dank Euch, Josephus, daß Ihr gekommen seid!«

»Dank? Wozu? Bin ich doch bezahlt! Wie ein Fürst hat er gezahlt, Euer Sendmann. Besser wie ein Fürst. Ich kenn Fürsten, die schuldig bleiben.«

»Hat Euch Herr Wieting alles gesagt?«

»Er hat mir viel gesagt.«

»Hofft Ihr, das Mädchen heilen zu können?«

»Erst muß ich sehen die Augen.«

Das Maultier führend, eilte Irimbert dem Bergwald zu. Immer hastiger steigend, schleppte er das träge Tier am Riemen hinter sich her, bis er selbst eine Weile rasten mußte, weil ihm der Atem versagte. Als sie die Wiesen vor dem Gotteslehen erreichten, begann sich die flutende Sonnenhelle mit abendlichem Glanz zu färben. Glitzernde Fäden, gleich schimmergewordenen Traumgedanken, schwammen in der klaren Luft. Am Hagtor war die Schlagbrücke hochgezogen. Während Josephus aus dem Sattel glitt, pochte Irimbert mit dem Kolben der Armbrust an die Bohlen. Man hörte die trällernde Stimme der Helgard, dann senkte sie die Brücke mit rasselnden Ketten. Beim Anblick des Fremden machte das Mädel verwunderte Augen. »Helgard!« Irimbert vermochte kaum zu sprechen. »Führe das Maultier in den Stall! Dann steig hinauf zu den Alben und hole den Hauswirt heim!«

»Der ist drunten im Wald. Heut, am Michelstag, haben sie heruntergetrieben zur Waldhut.«

»Hole den Hauswirt! Schnell!«

»Was ist denn?« fragte Helgard, die zitternde Erregung des Jägers erkennend. »Wird doch kein Unglück sein?«

Irimbert eilte schon mit Josephus dem Tor der Mauer zu. Da gewahrte Helgard den gelben Tuchfleck am Gewand des Fremden. Sie spuckte auf den Weg, den er gegangen. Um den Zaum des Maultieres zu fassen, hüllte sie die Hand in eine Falte ihres Rockes.

Im Haus begann die weiße Zenta zu bellen.

Irimbert trat in die Herdstube, während Josephus auf der Schwelle stehenblieb. Mit glücklichem Lächeln, von der Sonne umflossen, die durch das offene Fenster strahlte, kam Jutta dem Jäger entgegen. »Ich hab dein Pochen gehört. Wie lang das gedauert hat vom Hagtor bis zu mir!«

Wortlos umfaßte Irimbert die Hand des Mädchens.

Zenta lärmte noch immer, als wäre ein böser Störenfried ins Haus getreten. Heiter begann die Blinde zu schelten: »Weiße! Was willst nur? Das ist doch der Irmi! Geh und leg dich!« Während die Hündin knurrend zum Herd hinüberschlich, hob Jutta lauschend das Gesicht. »Irmi? Da muß noch einer sein!«

»Ja.« Das Wort erstickte ihm in der Kehle.

Sie erschrak. »Was hast du? Deine Hand zittert.«

»Nein, Juttula, meine Hand ist ruhig.«

»Aber wie du redest?«

»Das ist nur, weil ich so rasch gegangen bin.«

Sie nickte lächelnd, als verstünde sie das. Die großen Augen nach der Tür richtend, fragte sie: »Wer ist das?«

»Ein Freund.«

»Gottes Gruß, lieber Mann!«

»Ich hab ihm erzählt von dir. Und neulich sah er dich im Wald. Nun will er nicht glauben, daß du blind bist.«

Sie nickte gegen die Tür. »Ja, Mann, ich bin blind, schon seit ich ein Kindl gewesen.«

»Darf er deine Augen sehen?«

»Gern!« Sie lachte. »Komm nur, Mann, und schau!«

Die weiße Zenta fing wieder zu knurren an, als Josephus von der Tür kam. In lateinischer Sprache sagte er leis zu Irimbert: »Puella veluti verna dei cogitatio!« – Ein Kind wie ein Frühlingsgedanke Gottes! Und völlig ein anderer schien er geworden. Sein Gang war aufrecht, sein Auge ruhig, und freundliche Milde hatte den herben Ernst seiner Züge gelöst.

Irimbert atmete auf, als hätte der veränderte Anblick des Arztes die Hoffnung, die ihn erfüllte, noch gesteigert. Schweigend trat er zurück. Was hier geschah, erschien ihm wie eine heilige Handlung, die keine Störung duldete. Mit beiden Händen hatte Josephus sanft das Gesicht der Blinden umschlossen und gegen das Licht gewendet. Lange betrachtete er die matt verschleierten Augen. Nun machte er mit beiden Daumen eine rasche Bewegung. Die Blinde zuckte unter leisem Schmerzenslaut zusammen. Aber sie sagte gleich: »Es hat gar nit weh getan.«

Josephus lächelte. »Es hat getan sehr weh. Und das ist gut.« Er nickte zu Irimbert hinüber und sagte ruhig: »Sanari potest!« – Ihr Leiden ist heilbar!

Irimbert erblaßte. Immer hatte diese Hoffnung in seinem Herzen gewohnt wie fester Glaube. Dennoch stürmte dieses erlösende Wort auf ihn ein, als sollte geschehen, was ihm unmöglich erschien. Er stand einen Augenblick wie gelähmt. Dann eilte er unter jubelndem Laut auf die Blinde zu und umschloß sie mit den Armen. »Irmi?« stammelte sie erschrocken. »Um Christi Lieb! Was ist dir?«

»Wie soll ich es sagen! Nicht erschrecken sollst du! Was dieser Tag dir gibt, ist namenlose Freude. Der Freund, den ich brachte, ist Josephus, ein Arzt. Er wird dich heilen, wird deine Augen dem Licht erschließen. Du wirst sehen, Juttula! Sehen! Sehen!«

Ihr Gesicht war weiß wie ein Linnen. Von heftigem Zittern befallen, klammerte sie sich an seinen Arm. Nur langsam erwachte in ihr das Verständnis seiner Worte, die ihre lauschende Seele überschütteten wie mit einem Rausch der zärtlichsten Freude. Ihre Wangen färbten sich, und aus den groß geöffneten Augen drang ein Leuchten, als hätte sich der Schleier dieser verdunkelten Sterne schon jetzt gelöst und dem Licht erschlossen. »Sehen! Dich sehen! Dich!« Alle Seligkeit eines menschlichen Herzens war in diesem hauchenden Laut. »Dich sehen! Und den Vater! Die guten Menschen alle! Das blaue Himmelsdach und den grünen Wald! Die schöne, schöne Welt! Irmi, hilf mir! Ich kann's nit tragen allein. So viel Freud ist das!« Sie vergrub das Gesicht an seiner Brust. Schritte klangen in der Hofreut. »Vater!« Mit hellem Schrei fuhr Jutta auf. »Der Vater! Das ist der Vater!«

Greimold, der in Schreck diesen Schrei vernommen hatte, erschien mit blassem Gesicht auf der Schwelle. Da sah er sein Kind mit lachendem Jubel die Arme nach ihm strecken. Als er die Blinde umschlungen hielt und die Botschaft des Glückes hörte, das dieser Tag dem Leben seines Kindes und seinem eigenen Herzen versprach, wußte er sich vor Freude kaum zu fassen. »Bub! Lieber Bub! Das hast mir du gebracht! Allen Sonnschein in meinem Haus hast du mir gegeben. Und meinem Kindl hast du ein neues Leben geschenkt.«

Irimberts Augen leuchteten. Aller Zweifel war gelöst in ihm, alle Sorge beschwichtigt, und Ruhe war in seinem Herzen, schöne, glückliche Ruhe.

Greimold gebärdete sich wie ein Berauschter. Dem Josephus zerquetschte er fast die Hände. Und die Helgard schickte er gleich wieder hinunter zur Waldhut. »Sag den Sennleuten, daß sie heim treiben morgen in aller Früh! Wenn das Hauskind den sehenden Tag erlebt, müssen die Heimleut dabei sein! Alle müssen dabei sein, die meinem Kindl gut sind.«

Es galt auf diesen Tag noch ein Warten in heißer Ungeduld. Josephus brauchte eine Woche, um die kranken Augen für die Heilung vorzubereiten. Auch war ihm die Zeit zu sonnig; man mußte einen Morgen mit trübem Himmel und schwachem Licht erwarten. Dann war es Greimold selbst, der die Stunde der Heilung in abergläubischer Sorge verzögerte. »Jetzt ist der Mond im Schwinden. Es kann doch in solcher Zeit ein Heilwerk nie gelingen. Wartet, bis der Mond im Wachsen ist!« Lächelnd fügte sich Josephus.

Inzwischen war es auf dem Vordereck schon von einem Gehöft zum anderen gedrungen: »Ein Jud ist da. Der will dem Kindl im Gotteslehen das Augenlicht wiedergeben.« Auch drunten im Jägerhause wußten sie es längst. Eines Tages, als Mutter Hanna mit Hilpot von der Sache schwatzte, sagte er: »Da muß ich hinauf. Wenn das gute Kindl zum Licht erwacht, muß ich dabeisein.«

Mutter Hanna schüttelte den Kopf. »Bleib lieber daheim! Da tätest du nur sehen, wie ein neues Weh für das Kindl anhebt.«

Das wollte der Alte nicht verstehen. »Neues Weh?«

»Weil die Freud ein selten Ding ist. Und weil ich weiß, was ich weiß. Bleib lieber daheim! Und vergiß nit, daß du ein Mann des Klosters bist. Was geht dich der Gotteslechner an?«

»Zwischen dem Kloster und dem Gotteslechner ist Fried.«

»Wie lang?« Mutter Hanna hob die tanzende Spindel. »Sei gescheit! Und verhehl's vor unserem Buben, was droben geschieht! Er soll der unsrige bleiben.«

Das hinderte den Alten nicht, auf dem Heimweg von jedem Pirschgang an das Hagtor des Greimold zu pochen. Nur das Versprechen, vor seinem Buben zu schweigen, hielt er. Dieses Schweigen wurde ihm leicht. Wenn Reinold daheim bei den Eltern war – er kam in der letzten Zeit fast jede Woche einen Tag, denn die Falken waren in der Mauser, und Herr Friedrich hielt sich wie ein Gefangener seiner selbst in die Stube eingeschlossen –, so ging Mutter Hanna ihrem ausgewachsenen Sorgenkind keinen Schritt von der Seite.

Eines Tages, als der Oktober schon in die vierte Woche ging, kam Reinold atemlos aus dem Tal heraufgestiegen. Am Waldsaum traf er den Vater. »Ist es wahr, daß im Gotteslehen ein Jud ist, der dem Hauskind droben das Licht wiedergeben will?«

»Woher weißt du das?«

»Drunten im Kloster sagen sie's. Der Bruder Medardus hat's heimgebracht von einer Zinsfahrt.«

»Der kommt hinter alles!« brummte der Alte. »Und daß hinter dem Gotteslechner ein Erbkind bleiben soll, das lichte Augen hat und für das Leben einen jungen Hausmann suchen kann, das taugt ihnen nit, denen im Kloster!«

»Ist's wahr, Vater?«

»Ich soll nit reden drüber. Aber weil du's eh schon weißt: Ja, es ist wahr.«

Die Augen des jungen Falkners glänzten, als wäre diese Wahrheit für ihn eine Hoffnung. »Vater? Wann soll das sein?«

»Von heut an in drei Tag, wenn der Mond ins Wachsen kommt.«

Da klang vom Haus herüber die Stimme der alten Hanna: »Bub! Die Mutter ist auch noch da.« Als sie die Hand des Sohnes in der ihren hielt, fragte sie mißtrauisch: »Was hast du geredet mit dem Vater?«

»Vom Kloster. Und daß ich harte Zeit hab. Der Herr ist übellaunig, wie er nie gewesen.«

Zärtlich strich ihm die Mutter mit der welken Hand über das Blondhaar und tat ihm an diesem Tag zuliebe, was ihre Sorge nur ersinnen konnte. Als er am Abend ging, ein wenig angeheitert vom Met und satt für eine Woche, fragte sie: »Wann hast du wieder freien Tag?«

»So bald nimmer!« Er lachte, als wäre eine heimliche Freude in ihm. »Der Weißfalk hat bald ausgemausert, Herr Friedrich kann's eh schon nimmer erwarten, und da geht's dann hinter den wilden Enten her, bis der Schnee fallt.« Während er hinunterstieg durch den roten Herbstwald, hörte Mutter Hanna noch lang die singende Stimme.

Drei Tage später, als der Mond im Wachsen war, machte Hilpot sich schon am frühen Morgen zu einem Bergweg fertig. Mutter Hanna ließ ihn ziehen, ohne ein Wort zu sagen. Sie wußte, wohin er ging. Aber sie wußte auch, daß ihn keine Widerrede halten würde. »Soll er halt gehen! Weil nur der Bub nichts weiß und weit davon ist!«

Der Morgen war trüb. Mit grauer Ruhe hing der Herbstnebel über dem Bergwald – ein Morgen, wie ihn Josephus sich gewünscht hatte.

Als Hilpot zum Gotteslehen kam, stand Helgard als Pförtnerin bei der Schlagbrücke. Den Jäger ließ sie durchschlüpfen; den Männern und Weibern, die aus der Nachbarschaft zusammengelaufen waren und das »Wunder des Juden« gern gesehen hätten, verwehrte sie den Eintritt. Hilpot eilte dem Haus entgegen. Drüben bei der Ulme sah er einen sitzen, grau, vom Nebel umflossen. Die scharfen Augen des Alten vermochten noch zu unterscheiden: Der trägt das Jägerkleid und hat weißes Haar. Da lief er in Freude hinüber. »Herr! Du!«

Die Stirn auf die Hand gestützt, saß Irimbert so versunken in Gedanken, daß er Schritt und Stimme des Alten nicht hörte.

Verwundert betrachtete ihn der Jäger. »Lieber Herr, was ist dir?«

Wie ein Erwachender blickte Irimbert auf.

»Herr? Warum bist du allein? Du, der dem Greimold und seinem Kind den heutigen Tag gegeben hat? Du solltest in Freuden dabeisein, wenn's geschieht! Warum trauerst du?«

Ein müdes Lächeln. »Hast du nicht auch den Frühling lieb? Und den leuchtenden Sommer?«

»Freilich, wohl!«

»Wird dir nicht auch die Seele bang, wenn das Schöne versinkt, und es kommt der Winter, der alles zerdrückt, was dir geblüht hat?«

»Freilich! Aber der Nebel von heut, der schadet nit. Weit ist der Winter freilich nimmer. Aber sonnschöne Zeiten kommen noch allweil. Und wie magst du heut an Wetter und Winter denken?«

»Ja, guter Hilpot, da hast du recht! Geh nur! Und willst du mir was zuliebe tun?«

»Alles, Herr!«

»So bleib im Hause, bis Josephus sagt: Es ist gelungen. Dann komm und sag es mir!« Irimberts Stimme drohte zu erlöschen. »Und gleich mußt du kommen! Noch bevor es der Greimold mir sagen will.«

»Ja, Herr«, stammelte der Alte, »ich lauf, was ich laufen kann!«

An den Stamm der Ulme gelehnt, blieb Irimbert allein und blickte hinaus in den grauen, unbeweglichen Nebel. Die glückliche Ruhe, die jene beiden Wörter des Arztes: »Sanari potest« ihm in die Seele gegeben, wo war sie hin? Nur schmerzvoller Sturm noch in seinem Herzen. Jetzt, da für Jutta das helle Leben gewonnen war, mußte er auch des Lebens denken, das ihn selbst erwartete, einsam, geschieden von Glück und Freude.

Nicht in der Nacht seiner Mauer, nicht im Jubel des Wiedersehens, in keiner von den träumerischen Sonnenstunden dieses Sommers hatte er es so tief empfunden wie jetzt, daß jede Fiber seines Lebens an dem holden Geschöpf hing, nicht wie das Herz des Bruders an der Schwester hängt, sondern mit der dürstenden Liebe des Mannes. Jetzt war es in ihm, dieses »einzig Göttliche im Menschen«, diese Flamme, aus der die Ewigkeit des Lebens steigt! Und war Feuer, das nicht wärmen durfte, nicht Leben schaffen, nur brennen, genährt von Sehnsucht, die sich nie erfüllen konnte. Zwischen seiner Liebe und allem Glück, nach dem sie dürstet, liegen tiefe Wasser, die nie verlaufen, hohe Berge, die nicht fallen. Nur diese letzte Freude noch hören: »Ihre Augen sind sehend geworden, ihr neues Leben hat begonnen!« Fort ohne Abschied, hinunter ins Tal, von der Höhe seines Sommerglückes in den Winter seines Lebens, der atmender Unzweck sein wird, Frieren und Dürsten!

Drüben am Hagtor rasselten die Ketten der Brücke. Mit grobem Schelten hatte Helgard die Neugierigen fortgeschickt. Und als sie wieder einen mit langen Sprüngen vom Wald heraufkommen sah über die nebeligen Wiesen, trat sie flink an den Kettenhaspel und zog die Brücke auf. Da rief eine atemlose Stimme: »Gardli! Tu auf und laß mich ein!« Als Helgard die Stimme erkannte, wurde sie blaß. »Warum kommt er? Heut?« Zornig lachend wollte sie schon an der Kettenwinde den Riegel schließen. »Gardli«, bettelte die Stimme draußen, »tu's mir zulieb!« Da warf sie den Riegel zurück und ließ die Kettenwinde laufen, daß die Brücke fiel. »Vergelt's Gott!« Mit diesem kurzen Dank wollte Reinold an Helgard vorüberspringen. Sie haschte seine Hand. Sprechen konnte sie nicht Ihre heißen Augen redeten deutlich. Es hätte für ihn nur eines Blickes bedurft, um zu verstehen. Aber Reinold schien es eilig zu haben. »Laß aus!« Unwillig befreite er seine Hand und rannte dem Haus entgegen.

Helgard ballte die Faust; doch sie konnte dem schmucken Buben im Ernst nicht böse sein; er hatte ihr allzu gut gefallen, heute mehr als je! Wie er sich aufgeputzt hatte! Sein bestes Gewand und auf der Kappe ein Sträußl neben der Schwanenfeder! Gleich bunten Flügeln wehten die gezahnten Prunkärmel hinter ihm her, und das lockige Blondhaar flatterte um seinen Nacken.

Als Reinold in den Hausflur treten wollte, kam der Gotteslechner aus der Tür gestürzt. Mit dem Ellbogen schob er den Falkner beiseite, schien ihn gar nicht zu kennen, wollte nur freien Weg haben. »Irmi! Irmi!« rief er und rannte über den Hof, hinüber zur Ulme. »Irmi! Irmi!«

Irimbert sprang erschrocken auf. »Greimold? Die Heilung ist mißlungen?«

»Nein, Bub! Es ist noch gar nit geschehen. Allweil fragt sie nach dir, allweil suchen ihre Händ. Der Josephus meint, sie tät ruhiger sein, wenn du bei ihr bist!«

»Komm!«

Sie eilten ins Haus. Dem Gotteslechner voran, trat Irimbert in die Herdstube. Bei Juttas Anblick überkam es ihn, als wollten ihm die Sinne schwinden.

Am Erker waren die Läden geschlossen, die Fenster noch mit dunklen Tüchern verhängt. Nur ein einziges kleines Fenster stand offen. Und der Altsenn war schon mit einem Tuch bereit, um auf einen Wink des Arztes auch hier das Licht zu dämpfen.

Umflossen von dem matten Nebelschein des Morgens, der durch das kleine Fenster in die Stube drang, saß Jutta in einem Lehnstuhl, Brust und Schultern von weißem Linnen umhüllt. Fast so weiß wie dieses Tuch war ihr Gesicht, aus dem ein zitterndes Spiel von Angst und Hoffnung redete. Beim Klang des Schrittes, der sich von der Tür näherte, schien alle Angst in ihr zu schweigen. Und als sie die Hand des Freundes gefunden, war sie ruhig und konnte lächeln.

Mit Sorge sah Irimbert die vielen Menschen in der Stube. Außer Greimold und dem Altsenn waren noch die vier Junghirten und Ruglind da, der Steinhauser im Herdwinkel, die Helgard bei der Tür und neben Hilpot der junge Falkner. Ob die nicht stören würden? Josephus, der ein Stück Linnen zu einem Bausch zusammendrückte und in Wasser tauchte, schüttelte den Kopf. »Sie sollen bleiben«, sagte er, »wir schwachen Menschen werden tapfer, wenn wir wissen, man sieht uns.« Er legte das nasse Leinen auf die Lehne des Sessels, in welchem Jutta ruhte, trocknete die Hände, faltete aus schwarzem Tuch eine Binde und begann in einem Kästl zu kramen, das er aus dem Zwerchsack genommen.

Irimbert meinte in der Hand des Arztes ein blitzendes Ding zu sehen, und da rann es ihm wie Eis durch Herz und Adern. Doch als Josephus mit ruhigem Lächeln zum Sessel kam, schienen seine Hände leer zu sein.

»Bist ein tapferes Mägdlein, du! So tapfer ist gewesen noch keine!« sagte er scherzend. »Komm, laß mich noch einmal sehen deine Augen! Brauchst dich nit zu fürchten! Jetzt tu ich noch nichts. Ich will nur sehen –« Er beugte sich über die Stirn der Blinden, hob mit den gespreizten Fingern seiner linken Hand die Lider von ihren Augen. Und da blitzte es zweimal in seiner Rechten. Ein Seufzer – ein leiser Schrei.

Und während Josephus hastig die feuchte Leinwand über Juttas Augen legte, rief er dem Mann beim Fenster zu: »Das Tuch übers Licht!«

Das Fenster war verhängt. Sanftes Zwielicht in der Stube. Und Schweigen ohne Laut.

Jutta atmete schwer, die Hände zitterten in ihrem Schoß.

Da fragte Josephus: »Hat es getan sehr weh?«

Sie wollte sprechen. Nur ihre Lippen bewegten sich.

»Sag, Mägdlein! Wie ist dir?«

»Mir ist gewesen, als war mir die Sonn ins Herz gefallen.«

Da wandte Josephus das Gesicht über die Schulter und sagte zum Gotteslechner: »Mann! Dein Kind ist nimmer blind.« Er löste das Tuch von Juttas Augen und strich ihr mit dem Leinen sanft über die Wangen, wie um zwei Tränen fortzuwischen.

Eine Weile saß sie unbeweglich wie in namenlosem Staunen. Nun ließ sie den zögernden Blick über die schweigenden Menschen gleiten. Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Ein erstickter Schrei. Sie streckte die Arme nach dem jungen Falkner. »Ich seh dich, Irmi, ich seh dich!«

Reinold lachte ein bißchen dumm. Und bei der Tür machte Helgard eine Bewegung, als möchte sie schreien: »Der ist es nit!«

Jetzt klang in Freude eine Stimme: »Kindl! Mein Kindl, mein liebes!«

»Vater! Wo bist du?« Da stand ein Mann vor ihr, mit altem Gesicht und grauem Haar. Den kannte sie nicht. Sie wollte den Vater sehen. »Vater! Vater!« Ihre Augen suchten. Und plötzlich erschrak sie in tiefster Seele. Sie sah ein bleiches, abgezehrtes Gesicht, von weißem Haar umhangen, mit Augen, in denen der Gram wie Feuer brannte. Wehrend streckte sie die Hände und stammelte: »Der Schmerz!«

Josephus legte ihr die schwarze Binde um die Augen. Sie atmete auf, als wäre ihr wohl in diesem Dunkel. »Irmi?« Sie fühlte seine Hand, sie hörte seine Stimme: »Ich bin bei dir!« Aber wie diese Stimme klang! Ganz erloschen! »Bist du auch erschrocken?« fragte sie. »Hast du ihn auch gesehen?« Sie hörte keine Antwort. Nur den Josephus hörte sie sagen: »Mägdlein, jetzt mußt du dich ruhig halten!« Er reichte ihr einen Trank, der ihr den Schlummer bringen sollte. Dann schickte er die Leute aus der Stube. Der Vater und Irimbert durften bleiben.

An dem kleinen Fenster, das nur verhängt war mit dem Tuche, wurde der Laden geschlossen. Den Eingang verhüllte man mit dickem Loden, damit kein Schimmer von Licht, wenn die Tür geöffnet wurde, in die Stube dringen könnte. In diesem Dunkel sollte Jutta eine Woche bleiben, immer mit der Binde vor den Augen. Sollte die Heilung nicht gestört werden, so durfte kein Tageslicht zu ihr in die Stube dringen. Schon die trübe Dämmerung, in der sie sehend geworden, war schmerzende Helle für sie geworden. Ein Sonnenstrahl, der vorzeitig ihre Augen träfe, würde sie blenden für Lebenszeit.

Das schärfte Josephus dem Gotteslechner ein. Dann verließ er die Stube. Drüben bei der Tenne schürte er, wie seit Wochen an jedem Tag, ein kleines Feuer an, setzte einen Dreifuß über die Flamme und kochte in irdenem Topfe sein Mahl.

 

Die Heimleute, der alte Jäger und Reinold, die unter erregtem Schwatzen noch beisammen in der Hofreut standen, spähten immer wieder zur Tenne hinüber. Der Altsenn meinte: »Ich glaub's nit, der ist kein Jud! So ein Heilwerk ist wie Wunder. Das bringt doch nur ein guter Christ mit Gottes Beistand fertig.« Dann wieder schwatzten sie von der »lieben sehenden Zeit«, der das Hauskind entgegenging. Sogar dem Steinhauser huschte ein Lächeln über die vergrämten Züge. »Die wird eine Zeit haben, daß sie meinen könnt, es wär der Kaiser schon aufstiegen aus seinem Berg!«

»Und du«, sagte der Junghirt zu dem Falkner, »du kannst dir was einbilden, weil du der erst gewesen bist, den sie sehen hat mögen.«

Reinold nickte stolz. Es schien seine Freude nicht zu stören, daß ihm Helgard unter heiserem Gelächter den Rücken kehrte. Da trat der Gotteslechner aus dem Haus. Seine Sennen drückten ihm die Hand, einer nach dem andern. Er war noch bleich. Aber mit dem Lachen eines Glücklichen sagte er: »Dank schön, ihr guten Leut! Ich weiß, meine Freud ist die eurig, wie's meine Not gewesen. In meinem Haus ist's worden wie heut am Tag, aller Nebel vergeht, und liebe Sonne ist über uns. Jetzt muß ich hinüber und muß dem Josephus mein Vergelt's Gott sagen!« Er ging zur Tenne.

Reinold hatte den Vater beiseite gezogen: »Ich muß mich tummeln, daß ich hinunter komm. Sag's der Mutter nit, daß ich dagewesen bin. Sie könnt sich sorgen.«

»Ich lüg nit. Jetzt bist du dagewesen, jetzt soll sie's wissen. Warum denn Sorg? Du hast doch von deinem Herren Verlaub gehabt?«

Reinold wurde verlegen. »Freilich, freilich!« Und lachend sprang er davon. Beim Hagtor stand die Helgard, mit dem Rücken die Kettenwinde deckend. Wie eine zehrende Flamme hing ihr Blick an dem schmucken Buben. »Tu die Schlagbruck nieder«, sagte er, »ich muß mich eilen.« Sie schwieg und rührte sich nicht.

»Hörst du nit? Meinen Weg tu auf!«

Da lachte sie. »Wie herrisch er redet! Weil ihn das Hauskind zwischen Licht und Nacht verwechselt hat mit einem andern?« Wieder lachte sie.

Er wurde rot vor Ärger. »Red nit solchen Unsinn, du!«

»Hat sie nit Irmi zu dir gesagt?«

»Den sie gesehen hat in Freud, der bin ich gewesen.«

»Den sie lieb hat, das ist der ander. Und ich tu ihr die Augen auf. Das tu ich. Heut noch!«

»Tu, was du magst! Wenn mich die Juttla wieder sieht, wird sie schon Reini sagen. Daß mir der ander den Weg nit verlegt, da ist was gut dafür. Und du? Geh lieber ins Haus und bleib in der schwarzen Stub! Die Sonn scheint, da wachsen die Rosmucken.« Unsanft schob er das Mädel beiseite und schlug an der Kettenwinde den Riegel zurück. Laut rasselnd stürzte die Brücke nieder und fiel mit dumpfem Schlag über den Graben hin.

Das machte einen Lärm, der in die dunkle Stube drang. Jutta erwachte aus ihrem unruhigen Schlummer. Als hätten böse Träume ihren Schlaf gequält, so angstvoll klang ihre Stimme. »Irmi?«

»Ich bin bei dir!« Er nahm ihre suchende Hand.

»Einen Berg hab ich gesehen. Der ist gefallen und hat die Alben zugedeckt und die Blumen und unser Haus und dich und mich. Das ist ein Lärm gewesen, als ob es wettern tät.«

»Du hast geträumt. Was dich weckte, war der Lärm, den draußen am Tor die Brücke machte.«

Da fragte sie: »Ist er fortgegangen?«

»Wer?«

»Der mir so weh getan hat in den Augen.«

»Meinst du –« Seine Stimme versagte. »Meinst du den Josephus?«

»Ich weiß nit, wen ich mein!« Sie schlug den Arm um seinen Hals, und er fühlte, daß sie zitterte an allen Gliedern. »Wo ist der Vater gestanden?«

»Er stand vor dir und streckte die Arme.«

»Nein, du! Der mich nehmen hat wollen, den kenn ich nit. Und wer sind die fremden Leut gewesen? Warum ist keins bei mir gestanden. Nur du! Dich hab ich gleich gesehen. Das ist Freud gewesen, ich kann's nit sagen!« Zitternd schmiegte sie sich an seine Brust. »Wie das nur sein hat können, daß ich dich gesehen hab und den anderen auch? Kann er denn sein, wo Glück ist?«

»Wer?«

»Der Schmerz. Du mußt ihn doch auch gesehen haben?«

»Ja!«

Das war ein Laut, daß Jutta erschrocken fragte: »Fürchtest du ihn auch?« Seinen Hals umklammernd, stammelte sie: »Wie hat er kommen dürfen? Hat ihn denn eins gerufen?«

»Der ist immer da, wo Augen zum Licht erwachen. Er wohnt im Leben, und wir können ihn nicht verscheuchen. Das ist Wahrheit, die ich dir nimmer hehlen darf. Alle Schönheit und Freude des Lebens, die du sehen sollst, werden dich trösten. Da wirst du vergessen –«

»Nein! Vor dem erschrickt die Freud. Sein weißes Gesicht ist traurig. Seine Augen haben mir weh getan. Den mag ich nimmer sehen. Lieber blind sein!«

»Sei ruhig! Ich sorge dafür, daß du ihn nimmer siehst. Niemals wieder!« Er hörte in der Dunkelheit ihr leises Lachen.

»Jetzt weiß ich es, Irmi! Wie der böse Lärm mich geweckt hat, ist er zum Tor hinausgegangen. Und du allein bist da! Nur du und meine Freud!«

Unter dem Loden, der den Eingang verhüllte, hatte jemand die Tür geöffnet. »Greimold? Du?«

»Ich bin's, die Helgard.«

Irimbert hörte, wie sich die Magd zum Herdwinkel tastete. Jutta hatte das Geräusch der Tür nicht vernommen, nicht die flüsternden Stimmen. Nur einer war bei ihr! »Nur du und meine Freud! Ich seh dich allweil! Das ist, als wär's ein Trinken und doch ein Dürsten. Wie mir, so muß einem Menschen sein, der das Glück sieht. Seine Schwester, weißt du, die schöne Frau! Nein, du, die hauset nit in der Unterwelt. Die ist bei uns. Hätt ich die Augen nit verbunden, ich tät sie sehen. Alles an ihr muß sein wie Sonnenschein und Glanz. Das geht mir ins Herz. Das ist in mir so hell und süß –« Erschauernd drängte sie sich in seine Arme, an seine Brust.

In Jubel und Qual empfand er es, das war nicht mehr die stille, wunschlose Liebe einer Schwester. Das war die Liebe eines Weibes, dessen Herz in Glut erwachte. Welche Stillung würde der sehende Tag dieser Sehnsucht bringen? Juttas erster Blick ist irrende Freude gewesen, der zweite sah den bleibenden Schmerz. Ein Zwiespalt ist in ihre Seele geworfen, den der sehende Tag verschärfen wird. Unselige Stunde, die ihm den Gedanken gab, ihre Augen sehend zu machen! Ihre Blindheit war treues Glück, ihr sehendes Erkennen wird Elend sein!

Ruhig atmend lag sie an seiner Brust, und ihre Arme begannen sich zu lösen. War es das Übermaß der Freude, das ihre Kraft erschöpfte? Oder wirkte der Ruhetrank, den Josephus ihr gereicht hatte? Diesen Schlummer nützen? Und fort! Es erwachten Gedanken in ihm, die ihn erschrecken ließen vor sich selbst. Ob es nicht Wohltat für sie wäre, wenn die Heilung mißlänge? Ob seine Liebe nicht das Recht hätte, noch mehr, die Pflicht, ihr Leben zu wahren wider allen Schmerz, ihr die Binde von den Augen zu lösen, das Fenster aufzustoßen für die Sonne, ihr das Glück der Blindheit wiederzugeben? Da schrie es in seiner Seele: Gottesschänder! Willst du dich vergreifen am Heiligsten! Ist eines heilig an Welt und Leben, so ist es das Licht. Auch wenn es Schmerzen zeigt und Elend. Licht! Mit dem kleinsten Worte haben die Menschen das Größte genannt. Licht und Gott! Zwei Worte für die gleiche Kraft, nach deren Wesen die Menschen ewig forschen werden, ewig vergebens. Licht und Gott! Sie geben, und wir müssen nehmen: Schatten und Glanz, den Frühling und den Winter, Tod und Leben, den Schmerz und die Freude, das Grauen und die Schönheit!

Wie ein Betender das Heilige küßt, mit scheuer Lippe, berührte Irimbert das Haar der Schlafenden und das schwarze Tuch. Sanft ließ er sie aus seinen Armen in den Sessel gleiten. »Helgard?«

Aus dem Dunkel kam eine erloschene Stimme. »Jäger? Was willst du?«

»Hüte ihren Schlummer!« Lautlos ging er aus der Stube. Als er hinaustrat ins Freie, mußte er die Augen schließen. Sie waren an die stundenlange Finsternis gewöhnt und ertrugen die Sonne nicht. »Menschenaugen!«

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Es war der Gotteslechner. »Wie geht's dem Kind?«

»Sie schläft, und die Helgard ist bei ihr.« Irimberts Stimme wurde rauh. »Greimold, ich habe mit dir zu reden.«

Der Bauer lächelte, und stolze Freude glänzte in seinen Augen. »Ja, Bub! Ich hab mir's eh schon gedacht, daß du mir's heut noch sagen wirst. Komm, wir gehen hinüber zum Ulmenbaum! Das ist euer Lieblingsplätzl gewesen. Da sagst du es mir.« Er wollte den Arm um die Schulter des Jägers legen und sah das verstörte Gesicht, die gramvollen Augen. »Bub, was ist dir?«

»Was ich dir zu sagen habe, ist anderes, als was du erwartest. Komm!«

In wachsender Sorge sah Greimold zu dem Jäger auf, während sie hinaustraten durch das Mauertor und hinübergingen zur Ulme.

Von den Heimleuten war niemand mehr in der Hofreut. Auch Hilpot und der Steinhauser waren gegangen. Der weite Platz vor dem Haus lag still in der Sonne, deren Glanz wie schimmerndes Gold um die Balkenwände und um die geschlossenen Fensterläden spielte. Drüben bei der Tenne saß Josephus neben dem erlöschenden Feuer auf der Erde, das Gesicht gegen Osten gewendet. Er hatte den Gebetsriemen um die Hand gewunden, und während seine Lippen sich flüsternd bewegten, glitt sein schauender Blick über das traumhaft schöne Bild der Erde hin, über den roten Buchenwald, über die Almen, die in der Sonne wie Kupfer glänzten, und über die steilen Wände und Zinnen, die eine Wetternacht der letzten Woche schon mit silberweißem Schnee überschleiert hatte. Die Mittagshöhe des Himmels, wo die Sonne stand, war klein und rein. Hinter dem Watzmann und seinen steinernen Kindern wuchsen, wie dunkle Gedanken aus einer zum Sturm erwachenden Seele, klumpige Nebel aus dem Blau heraus und sammelten sich über den Bergspitzen zu schweren Wolkenhauben.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als aus der Herdstube zwei Stimmen herausklangen in die Sonnenstille der Hofreut – eine Stimme dabei, die immer lauter wurde und sich erregte in Qual und Angst.

Im Torbogen der Mauer erschienen Irimbert und der Gotteslechner, die von der Ulme kamen. Der Bauer ging gebeugt, mit dem Blick eines Menschen, dem eine Freude seines Lebens zerbrochen wurde. Unter dem Tor blieb Irimbert stehen und streckte dem Gotteslechner die Hände hin. »Greimold? Soll auf meinem bitteren Weg auch noch ein Vorwurf hinter mir gehen? Solltest du nicht verstehen können, wie alles kam? Und daß ich wider Willen zerstören mußte, während ich das Glück deines Kindes zu erschaffen hoffte?«

Der Bauer hob das Gesicht. »Herr Immhof!« Er schüttelte den Kopf, suchte nach Worten, und plötzlich umklammerte er Irimberts Hände. »Nein, ich kann nit ›Herr‹ zu dir sagen! Laß mir das alte, liebe Wörtl ›Bub‹! Mein Bub, hab ich mir allweil dazu gedacht! Aber ich seh's ein, da liegen tiefe Wasser dazwischen und hohe Berg.« Er atmete, als läge ein Stein auf seiner Brust. »Daß ich dir harb sein könnt? Wie magst nur so was denken! Nur Gutes hast du in unser Leben gesät. Wie ein Samen aufgeht, das kann der Sämann nit zwingen. Ich bleib dir gut. Meinem Kindl, freilich, dem kommt ein sehender Tag, der härter sein wird wie jede Nacht. Aber gelt, wie du gehen hast wollen, so gehst du nit? Gib ihr noch einmal die Hand und laß ihr den Glauben: Morgen kommt er wieder! Ich will schon finden, was ich ihr morgen sag und übermorgen, einen Tag um den andern, bis der Josephus ihr das Tüchl von den Augen nimmt. Dann muß ich ihr freilich alles sagen. Mit Lügen muß man einem Blinden die Schmerzen trösten. Eins, das Augen hat, muß Wahrheit haben. Wenn's auch weh tut!«

Erschrocken verstummte Greimold. Aus der Herdstube klang die angstvolle Stimme seines Kindes. »Bub, sie schreit deinen Namen!« stammelte er. Da hörten sie es wieder, alle beide: »Irmi! Irmi!«

In Sorge eilten sie zum Haus hinüber und vernahmen die Stimme Juttas, wie in Angst und Jubel:

»Er kommt! Das ist er! Sein Schritt! Er kommt, und ich will ihn sehen. Laß mich, Gardli, um Christi Lieb! Ich muß ihn sehen, ich muß, ich muß!« Man hörte Lärm, als wäre ein Sessel gefallen, und hörte das Kreischen der Helgard. An einem Fenster des Erkers wurde der Laden aufgestoßen, und Jutta, mit der schwarzen Binde um das weiße Gesicht, stand in der flutenden Sonne.

»Kindl! Jesus Maria!« schrie der Gotteslechner. Und Irimbert wie ein Verzweifelter: »Barmherziger Himmel! Jutta! Zurück! In die Stube zurück!«

Nicht seine Worte, nur seine Stimme schien sie zu hören und jubelte: »Irmi, Irmi!« Und riß die Binde vom Gesicht. Da war Sonne vor ihren Augen, blendende Sonne. Unter leisem Wehlaut, der noch ein Lächeln war, taumelte sie zurück, mit der Hand nach ihren Augen greifend.

Der Gotteslechner und Irimbert, mit erblaßten Gesichtern, stürzten ins Haus. Als sie in die Stube kamen, sahen sie die Helgard zitternd an die Wand des Erkers gelehnt – und Jutta neben ihr, von der Sonne des offenen Fensters umgossen, in der einen Hand die Binde, die andere wie suchend ausgestreckt. Sie erkannte die Arme, die sie umschlangen und aus der Helle des Fensters zogen. Ihre Wange an Irimberts Schulter schmiegend, hauchte sie: »Ich hab dich gesehen. Alles ist Glanz an dir gewesen. So kann kein anderer sein.«

Am Fenster hatte Greimold in Hast den Laden geschlossen. Jetzt rannte er aus der Stube, und draußen hörte man ihn schreien: »Josephus! Josephus!«

Während Irimbert mit zitternden Händen die Binde um Juttas Augen legte, fragte er tonlos: »Fühlst du Schmerz in den Augen?«

»Nein, Irmi! Nit ein lützel. Mir ist so wohl, so gut! Ich hab dich gesehen, und ich seh dich allweil noch.«

Er führte sie durch die dunkle Stube zu ihrem Sessel. Da kam Josephus. Schweigend hörte er, was geschehen war. Dann verlangte er einen brennenden Span, nahm die Binde von Juttas Gesicht und hielt ihr das zuckende Flämmlein nah vor die Wimpern. Lang betrachtete er diese ruhigen Augen, die das Licht so gut ertrugen. Schweigend nickte er vor sich hin, legte die Binde über die Lehne des Sessels, gab dem Gotteslechner das Spanlicht in die Hand, und da schien er wieder jener erste Josephus geworden, mit gekrümmtem Rücken, mit scheuem Blick, der ängstlich von einem Gesicht zum andern glitt.

»Josephus?«

»Ich will nur holen, was ich brauche«, sagte er demütig, »gleich komm ich wieder.« Hastig, immer schneller, ging er zur Tür.

Irimbert stand wortlos, Juttas Hände an seiner Brust.

»Schau nur«, stammelte Greimold, »jetzt hat er ganz vergessen, daß er dem Kindl das Tuch wieder umtut.« Er löschte den Span, zertrat auf den Dielen die glimmende Kohle, nahm die Binde und legte sie um Juttas Augen. »Helgard! Um Christi willen! Du bist doch bei ihr in der Stub gewesen! Wie hat denn so was geschehen können?« Noch immer stand die Magd an der Wand und rührte sich nicht. »So red doch!»

»Ich weiß nit, wie's geschehen ist. Ich glaub, sie ist wach worden. Und da hab ich geredet mit ihr und hab ihr sagen müssen, wie alles gewesen ist, und wo ein jedes gestanden war in der Stub, der Hauswirt, und – ich weiß nit, wie's geschehen ist! Sie hat's auf einmal getan. Und gar nimmer halten hat sie sich lassen.« Ihre Worte erstickten plötzlich in Tränen, und schluchzend ging sie aus der Stube.

»So ein Mädel! Ist dabei! Und wehrt's dem Kindl nit! Was meinst du, Bub? Weil sie das bißl Licht gesehen hat, das kann ihr doch keinen Schaden tun! Oder meinst du, sie muß drum leiden?«

»Nein.«

Die feste Ruhe dieses Wortes beschwichtigte im Gotteslechner die schlimmste Sorge. Er beugte sich über den Sessel und flüsterte: »Kindl?« Da hörte er, daß sie im Dunkel aufatmete, als hätte er sie aus Traum und Schlummer geweckt. »Sag, Kindl! Wie ist dir denn?«

»Gut, Vater!«

Wo nur Josephus so lange blieb? Greimold ging zur Tür, um zu horchen, ob er nicht käme. So stand er eine Weile, bis er in Ungeduld die Stube verließ. In der Hofreut schrie er: »Josephus! Josephus!« Weil alles still blieb, eilte er hinüber zur Tenne. Hier sah er Asche liegen, die noch rauchte. Von Sorge befallen, halb schon die Wahrheit erkennend, rannte er in den Stall.

»Josephus! Josephus!«

Der Platz, auf dem das Maultier des Juden gestanden, war leer.

 


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