Ludwig Ganghofer
Das Gotteslehen
Ludwig Ganghofer

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10

Die Strenge des Winters begann sich zu mildern, als die Osterwochen näherrückten. Es kamen schöne Tage mit reinen Lüften und klarer Sonne. Da hoben sich im Schein des Morgens die weißen Berge wie flimmernde Silberstufen ins tiefe Blau, und vom Schnee der Täler ging ein farbiges Gleißen aus, das die Augen blendete. Stieg die Sonne zur Mittagshöhe, so fing das Tauen und Schmelzen an. Überall im Bergwald fiel in schweren Klumpen der Schnee von den Ästen. Auf den Almfeldern, die gegen Süden lagen, erschienen gelbgraue Flächen, die immer größer wurden, bis die stahlblaue Dämmerung aus dem Schatten der Täler hinaufschwamm in den Rotschein der Berge.

So kämpfte der warme Tag für den Frühling, die kalte Nacht für den Winter. Der klammerte sich an den Felsen fest, bis der Lenz den siegenden Föhnsturm über die Berge schickte. Alle Bäche im Tal begannen zu schwellen, mit dem Sturmgeheul in den Lüften mischte sich Lawinendonner, der aus fernen Höhen ruhelos heruntertönte ins Klostertal.

Um diese Zeit war schwüle Luft auch innerhalb der Mauern des Stiftes. Die Chorherren schätzten ihr Leben allzu hoch, um nicht mit Bangen an das Gespenst zu denken, das vor der Krankenzelle kauerte, in welcher Irimbert von Immhof in brennendem Fieber um sein Leben rang. »Morbus transit in alois« – die Krankheit wäre ansteckend, hatte der Medikus erklärt. Außer ihm und Bruder Eligius, den der Dekan zur Pflege des Kranken bestimmt hatte, durfte kein anderer die Zelle betreten. Vor der Krankenstube war eine Reihe von Glutpfannen aufgestellt. Der scharfe Geruch der gifttötenden Kräuter, die man über die glühenden Kohlen häufte, quoll durch alle Räume des Stiftes. Er drang sogar hinunter bis in die Kellerstube, so daß Linhart Scharsach meinte: »Bei jedem Schluck, der einem durch die Gurgel rinnt, muß man den nahen Tod schmecken. Die Luft ist verpestet und der Wein dazu. Sauberen Dank haben wir davon, daß wir den üblen Vogel aus seinem Käfig lösten. Möcht nur wissen, wieso dem Dekan das Erbarmen so jählings eingeschossen ist?«

Herr Linhart Scharsach war seit einiger Zeit nicht gut auf Wernherus zu sprechen. »Er ist pröpstisch geworden! Der Baum seines Willens hat sich verwandelt in ein Rütl, das sich biegt, wenn es den Wind des Herren spürt.«

Es war ein scharfer Wind, der seit Wochen aus der Stube des Propstes hinfuhr über die trotzigen Köpfe. Herr Friedrich büßte mit Strenge jede Regung des Ungehorsams, und von den regelwidrigen Freiheiten, die sich im Leben der Chorherren eingebürgert hatten, hob er eine nach der anderen auf. Es schien in ihm der zähe Wille erwacht zu sein, Zucht und Ordnung in seinem Stifte wiederherzustellen. Liefen die Chorherren zum Dekan, um gegen die Härte des Propstes zu klagen, so zuckte Wernherus die Schultern. »Sein Vetter in Bayern ist stärker als unser Zorn. Wir müssen uns beugen.«

Unter dieser Strenge des Propstes hatte Linhart Scharsach am übelsten zu leiden. Die Zeit, in der die Kellerstube täglich dem Besuch der Chorherren offenstand, war auf eine Stunde nach dem abendlichen Mahl beschränkt. So fleißig Herr Linhart in dieser Stunde den Becher hob, es gelang ihm nur selten, seinen Kopf so schwer zu machen, um fest zu schlafen. Ging er mit klaren Sinnen zu Bett, so war sein Schlummer gequält durch böse Träume, die seinen Körper mit kaltem Angstschweiß badeten; immer sah er das weiße Antlitz eines Toten mit offenem Mund.

Eines Abends, in der zweiten Woche nach Ostern trank sich Linhart Scharsach so toll und voll, daß er auf eigenen Füßen nicht mehr in seine Zelle kam. Heinrich von Eschelberg und Bruder Medardus mußten ihn hinaufschleppen. Am andern Morgen verbot ihm Herr Friedrich den Besuch der Kellerstube und schloß ihn für einen Monat vom Tisch der Chorherren aus. Linhart Scharsach eilte in kochendem Zorn zu Wernherus. »Weil ich der Eurige gewesen bin mit Leib und Seel, drum kühlt er jetzt seine Wut an mir und hält mich kürzer wie jeden. Helft mir! Oder ich tu's den anderen nach, die sich lieb Kind beim Herren machen.«

Der Dekan schob an der Tür den Riegel vor und dämpfte die Stimme. »Kannst du schweigen?«

»Wenn's meinen Vorteil gilt, bin ich stumm wie ein Kalb, dem der Schlächter das Maul verbunden.«

»Die Salzburger Domherren haben mir eine Nachricht geschickt.«

»Eine, die gut ist?«

»Ich denke, sie soll es werden. Der Kaiser hat seinen Bastard und Liebling Enzio mit der schönen Witib des Ubaldo Visconti vermählt.«

»Daß ein ander ein schönes Weib kriegt? Soll das gute Nachricht sein? Für mich?«

»Jene Witib ist die Erbin von Sardinien, auf das der Papst einen Anspruch erhebt.«

»Und da rauft er sich mit dem Kaiser? Das wird ihm wenig helfen. Der Kaiser hat in Italien die Macht.«

»Das Glück des Kaisers hat sich gewendet. Er hat Brescia verloren. Alle lombardischen Städte erheben sich wider ihn. Der Papst hat die richtige Zeit erkannt, um Essig in die Wunde des Kaisers zu gießen. Am zwanzigsten März, am heiligen Palmsonntag, hat der Papst gegen Kaiser Friedrich den Bannfluch ausgesprochen.«

»Wieder einmal?« Linhart Scharsach lachte. »Was geht das uns an? Solang wir fest in unseren Pfründen sitzen, sollen sie in Rom blitzen und donnern, wie sie mögen. Wir halten zum Kaiser.«

Wernherus nickte. »Treuer als je! Es dient sich leichter einem Herrn, der weit und schwach ist, als einem, der uns mit starker Faust an die Mauer greift. Manch einem deutschen Fürsten sitzt der kaiserliche Herr zu nah und unbequem vor der Tür. Nur im Glück ist der Kaiser dieser widerwilligen Anhänger sicher. Wendet ihm das Glück den Rücken, so machen es die Fürsten wie das Glück und der Papst.«

»Jeder nach seinem Vorteil!«

»In Salzburg fürchten sie, daß der erste, der vom Kaiser abfällt, der Herzog von Bayern sein wird.«

In Linhart Scharsach schien das Verständnis aufzudämmern. »Meint Ihr, daß wir hoffen sollen, was die Salzburger fürchten?«

Wernherus lächelte.

»Und meint Ihr, es könnt eine Zeit kommen, in der ein hilfreicher Vetter die hundert Rosse zur Wahrung seiner eigenen Haut zu nötig hat, als daß er sie vor unsere Mauer legen möcht, wenn unserem Propst der Mantel über den Buckel rutscht?«

Wieder war ein stummes Lächeln die Antwort des Dekans.

»Ich dank Euch für die Botschaft!« Linhart Scharsach richtete sich auf. »Jetzt will ich fasten und dürsten, bis ich in zahlender Stund die Faust erheben kann.« Lachend ging er aus der Stube.

Wernherus sah ihm nach. »Zwei Löwen der Erde erheben die Tatzen widereinander. Das wird ein Kampf, der Kronen zertrümmert und Reiche zerstört. Und da freut sich einer, daß dieser Weltbrand die Stunde bringen wird, die ihm den Riegel der Kellertür zerschlägt! Und das ist Weltgeschichte! Mit dem Taumel einer Liebesnacht beginnt es und endet mit einem Rausch.« Wernherus machte eine Bewegung, als möchte er ein Gefühl des Unbehagens von sich abschütteln. »Ich will steigen. Da muß ein anderer fallen. Gott schuf die Schlechten, daß sie zum Guten helfen.« Da hörte er Schritte und die erregte Stimme des Propstes. Als er die Tür öffnete, sah er Herrn Friedrich durch den Korridor hinuntereilen, so hastig, daß die Pelzflügel seines Hausrockes hinter ihm flatterten – und sah den Bruder Schlächter, der hinter dem Propste zurückgeblieben war. »Eligius?« fragte Wernherus in Zorn. »Wer erlaubte dir, die Klausur der Zelle zu verlassen?«

»Mich hat der Medikus geschickt, um den Herrn zu holen. Der Kranke ist fieberfrei und wird genesen.«

Wernherus lächelte und trat in seine Stube zurück.

In der Tiefe des Ganges hatte Herr Friedrich schon die Treppe erreicht. Er eilte hinunter. Der Qualm der Glutpfannen quoll ihm entgegen. Um den stechenden Dunst nicht atmen zu müssen, deckte er den Ärmel des Pelzrockes über Mund und Nase. Vor der Tür der Krankenstube hielt er inne. Heiß erfüllt ihn die Freude, den Genesenen wiederzusehen, dem vom Tode Erstandenen den ersten Gruß des Lebens zu bieten. Doch er konnte auch ein Gefühl der Scheu nicht überwinden. Neben der Tür hing noch das schwarze Täfelchen mit der weißen Inschrift: Cave periculum contagionis!

Als Herr Friedrich hinter sich den Schritt des Bruders hörte, trat er in die Stube. Die weiße Zelle war erfüllt vom Wohlgeruch eines Blumenwassers, mit dem der Medicus die Wände und den Estrich besprengt hatte. Die milde Luft des Frühlings hauchte um das offene Fenster, durch das man in der Ferne die grünen Wiesen, den dunklen Wald und die noch weißen Berge unter blauem Himmel sah. Linde Morgensonne lag auf dem Gesims und umflimmerte die Zweige eines Apfelbaumes, der zu blühen begann.

Der Medikus begrüßte den Propst. Auf das Lager des Genesenen deutend, sagte er: »Ecce recreatus, domine, ex longinquitate gravissimi morbi!«

Herr Friedrich stand erschüttert. In seiner Erinnerung lebte noch immer das Bild, wie Immhof im Kapitelsaal allen Zorn seiner Seele dem Gegner ins Gesicht geschleudert hatte, hoch aufgerichtet und stolz, ein Anblick voll jugendlicher Kraft und strenger Schönheit. Und wie mußte er ihn wiedersehen! Das Bild eines Lebens, welches atmet und dennoch zerbrochen ist für immer! Ein abgezehrter und entkräfteter Körper, die Arme dürr und gelb, die Haut der abgemagerten Hände von Narben zerrissen, das lang gewordene Haupthaar weiß wie das Haar eines Greises, und zwischen diesen weißen Strähnen ein welkes und gealtertes Gesicht, in dem nur die Augen noch zu leben schienen, diese großen, stillen und dunklen Augen.

Immhof war so matt, daß er die Hand nicht heben konnte, um sie dem Fürsten zu reichen. Nur mit den Augen konnte er grüßen.

Keines Wortes mächtig, ließ sich Herr Friedrich auf den Rand des Lagers nieder, faßte scheu die Hand des Kranken und streichelte sie mit stummer Zärtlichkeit. Erst nach einer Weile konnte er fragen: »Immhof? Wie geht es dir?«

»Gut!«

Das war wie eine Stimme, die von jenseits des Lebens kam. Dann war es still in der Zelle. Vor dem offenen Fenster klang das Gezwitscher eines Finken und das feine Summen der Bienen.

Da fühlte der Propst einen Druck der Hand, die er in der seinen hielt. »Was willst du?«

»Sagt mir, Herr, was ist dem Greimold geschehen?«

»Sei ohne Sorge! Der hauset in Frieden.« Mit staunendem Lächeln betrachtete der Propst den Kranken, dessen Körper sich streckte wie in einem Gefühl des Wohlbehagens. »Solang ich lebe, soll keiner den Greimold stören in seinem freien Heim! Aber sag mir, Immhof, ist nichts anderes in dir als die Sorge um das Wohl eines Bauern? Hast du an dein neues Leben keine bessere Frage zu stellen?«

»Nein.«

»Keine?«

»Dank ich meine Erlösung Eurer Güte?«

Seufzend schüttelte Herr Friedrich den Kopf. »So lieb du mir warst, ich hätte den Mut dieser Güte nie gefunden. Es ist Wernherus, der die Mauer fallen machte.«

»Wernherus?« Ein müdes Lächeln irrte über Immhofs welken Mund. »Ein neues Rätsel zu den vielen meines Lebens! Soll es lösen, wer mag! In meiner stillen Nacht dort unten hab ich es verlernt, den Rätseln der Erde und des Himmels nachzuspüren. Ich erkannte, daß es zwecklos ist.« Tief atmend schloß er die durchsichtigen Lider, und seine Stimme wurde zu mattem Flüstern. »Die Augen schließen und träumen! Das ist von allem das Beste. Nur mit dem Herzen sehen, nur in die eigene Seele blicken. Für sich selbst der Schöpfer werden, der eine Welt von makelloser Schönheit aus dem Nichts erbaut. Diese neue Welt bevölkern mit Blumen, mit guten Menschen und mit einem liebenden Gott. Und alles Gewonnene still und tief in sich verschließen. Wer das vermag, ist unter tausend Atmenden der einzige, der lebt.«

Schweigend saß der Propst. Das Bild der Gegenwart floß ihm zusammen mit einem Bilde der Erinnerung. »Das ist von allem das Beste!« Hatte nicht Dietmar Scharsach mit dem letzten Hauch seines Atems auf diesem gleichen Lager die gleichen Worte gesprochen? Wenn auch in anderem Sinn! Und wenn von diesen beiden jeder in einem anderen Ding das »Beste« des Lebens erkannte? Welcher fand das rechte? Jener sterbende Greis, der von der Schwelle des Todes noch in Sehnsucht die Arme zurückstreckte nach einem warmen Erdenglück, das ihm ein grausames Schicksal zerbrochen hatte? Oder dieser Jüngling, dem in wunschloser Abkehr von aller Wirklichkeit nur wesenlose Bilder die müde Seele füllten, jetzt, da er aus dem Grab erstanden, da sein Leib aufs neue zu atmen begann und das warme Leben nach ihm die Arme streckte? Aber war es denn noch ein Leben, dem dieser »Erlöste« entgegenging? So verwandelt! So zerstört! »Immhof!« Mit einem Blick voll Kummer drückte Herr Friedrich die magere Hand des Kranken. »Ich kam mit einer Hoffnung und sehe jetzt, sie haben nur deinen Leib aus der Mauer geholt, dein Leben ist dort unten geblieben, du bist ein toter Mann!«

Da öffnete Irimbert die Augen. Sie waren klar und ruhig. »Nein, Herr, ich lebe! In meinem Herzen ist Traum und Freude. Jetzt erst leb ich! Als sie mir das Urteil sprachen, glaubten sie mich in die Nacht zu stoßen. Diese Nacht ist mein Tag geworden. In tausend sinnenden Stunden hab ich dort unten von mir abgestoßen, was tot und leer an meinem Leben und Denken war. Stück um Stück ist um mich her eine Welt zerfallen mit ihrem Unwert und ihren Götzen. Dann ist ein Neues in mir gewachsen. Licht und Frühling! Und eine Blume sah ich. Und gläubig lernte ich zu einem Schöpfer beten, aus dessen Händen so reine Schönheit kam.«

Langsam beugte sich Herr Friedrich zu dem Kranken nieder und betrachtete scheu das abgezehrte Gesicht, das sich matt zu röten begann. Was Immhof sprach, erinnerte ihn an die seltsamen Worte, die er in jener Nacht durch die Mauer vernommen hatte, und an sein eigenes Wort, das er in Schreck gestammelt: »Das ist Irrsinn!« Wieder erwachte die gleiche Sorge in ihm. »Frühling? Nur Frühling in dir? Immhof? Fühlst du nicht auch den Frühling, der da draußen kam? Fühlst du die Sonne nicht?«

»Ja, Herr! Die fühl ich. Doch in mir ist Sonne, die schöner leuchtet.«

»Und das Lied des Finken? Hörst du das?«

»Ja, Herr! Das hör ich. Doch in meiner Seele hör ich ein Lied, das noch holder klingt.«

Herr Friedrich stellte keine Frage mehr. Je länger er in diese klaren Augen sah, desto ruhiger wurde seine Sorge. Was aus Immhof redete, konnte nichts anderes sein als ein Nachhall des phantastischen Trostes, mit dem der Eingekerkerte die Schauer seiner Finsternis gelindert hatte.

»Immer und immer hab ich dieses Lied gehört, das meine Blume sang. Nur selten schwieg es. Dann klangen die anderen Stimmen. Das war böse Zeit.«

»Andere Stimmen?«

»Wenn Eure Chorherren in der Kellerstube ihre trunkenen Gesänge brüllten, klang es durch alle Mauern bis zu mir.« Die weißen Brauen des Kranken furchten sich. »Dann sah ich die Nacht, die mich umgab. Frierend kroch ich von einem Winkel in den anderen, um dem Abscheu meines Körpers und den Ratten zu entfliehen, die immer hungrig waren und scharfe Zähne hatten.« Von einem Schauer gerüttelt, schloß Irimbert die Augen. »Fragt den Wernherus, Herr, ob sein Gott auch die Ratten erschuf!«

Der Medikus legte dem Propst die Hand auf die Schulter. »Ihr sollt den Kranken so viel nicht sprechen lassen.«

Herr Friedrich nickte. »Erlös ihn bald von diesem Bett! Wie lange muß er noch liegen?«

»Eine Woche.«

»Führst du ihn zum erstenmal ins Freie, so tu es, wenn die Chorherren beim Mahl sitzen. Da klingt der Lärm, den sie machen, nicht hinunter in den Kreuzgang. Freie Luft zum erstenmal? Die soll er allein genießen, ohne Störung.«

Irimbert schien dieses flüsternde Gespräch nicht zu hören. Er lag mit geschlossenen Augen und atmete ruhig.

 

Ein Mittag; die Sonne mild und in den linden Frühlingslüften kein Hauch.

Fast senkrecht fielen die goldenen Strahlen in den kleinen Klostergarten, den der Kreuzgang mit seinen zierlichen Doppelsäulen im Viereck umgab; ein Gärtl, das sich ansah wie ein Spielzeug. Zwei schmale, weiß besandete Wege kreuzten sich zwischen vier Rasenbeeten. In der Mitte eines jeden Beetes stand ein junger Kirschbaum, noch ohne Laub, die Zweige schon übersät mit Blütenknospen. Neben den Wegen blühten die ersten Blumen des Frühlings, Veilchen, Primeln, Lilien und duftende Bergaurikeln; der Bruder Gärtner hatte diese Blumen so gepflanzt, daß sie Figuren bildeten: ein Kreuz, einen Kelch, ein brennendes Herz und die Initialen heiliger Namen.

Flimmernd spielte die Sonne um den Kreuzgang, und hineinleuchtend unter die Bogen der kleinen Doppelsäulen, umschimmerte sie einen frischen Grabstein. Schon viele Steine, welche die Namen und Wappen der heimgegangenen Chorherren zeigten, waren zwischen die Fliesen des Kreuzganges eingelassen oder in die Wände gemauert. Mit einer großen, kunstvoll aus rotem Marmor gemeißelten Platte, unter welcher Eberwein, der erste Propst von Berchtesgaden, seit hundert Jahren schlummerte, begann die lange Reihe und endete mit dem jungen Stein, unter dem der alte Scharsach seine Ruhe gefunden.

An diesem Stein hingen mit sinnendem Blick die Augen des Genesenden. Zwischen den Säulen saß er auf der niederen Brüstung in der Sonne, das Gesicht von Schatten überhaucht, die Schulter und das weiße Haar von Glanz umleuchtet. Still lagen ihm die welken Hände im Schoß, während sein Blick vom letzten der Steine hinglitt über die anderen. Was mochte unter diesen Steinen alles begraben liegen an Kraft und freudigem Schaffen, an Schwäche und gärendem Unzweck, an frommem Glauben und nagenden Zweifeln, an Haß und Liebe, an halber Erkenntnis und zufriedener Torheit, an Menschenfreude und Menschenweh? Und alles zur Ruhe gekommen, eines dem anderen gleich geworden, das Bittere wie das Süße!

»Schauet, Herr«, sagte Bruder Eligius, der zu Immhofs Füßen saß, »da ist in der linden Sonn ein Buttervögelein ausgekrochen!«

Irimbert betrachtete den gelben Falter, der eben erst aus der Puppe geschlüpft war; seine Flügel waren noch runzlig und kraftlos, während er langsam über den Stengel einer Lilie hinaufkribbelte; in der Sonne glätteten sich die Schwingen, und ihre zarten Rippen streckten sich. Immhof lächelte. »Die Raupe machte aus ihrer häßlichen Wahrheit einen schönen Traum und wurde ein Schmetterling!«

Wieder saßen die beiden schweigend, bis Eligius sich erhob. »Die Sonn geht über die Dächer. Kommet, Herr, ich führ Euch hinauf!« –

Nach einigen Tagen bedurfte Irimbert, wenn er in das sonnige Gärtl hinunterstieg, keines Führers mehr. Als ihm die Chorherren, die vom Refektorium kamen, zum erstenmal im Kreuzgang begegneten, gingen die einen mit ruhigem Gruß an ihm vorüber, die anderen sprachen ihn an und schwatzten von der schönen Frühlingszeit, als sprächen sie zu einem fügsam gewordenen Kind, das man an die überstandene Strafe nicht erinnern will. Immhof ließ sich ihr Gerede schweigend gefallen. Je mehr er sich verschloß vor ihnen, um so freundlicher wurden sie. Ihr Wohlwollen nahm eine Form an, die ihn reizte. Immer wieder drängte sich ihm die Frage auf: »Welche Wahrheit verbirgt sich hinter ihren Masken, welche Absicht verstecken sie vor mir?«

Einmal sagte er's ihnen ins Gesicht: »Seid ihr andere Menschen geworden? Dann ist ein Wunder geschehen, und ihr habt Ursach, euren Gott zu preisen. Seid ihr die gleichen geblieben, die ihr wart, wozu die Heuchelei? Laßt mich in Ruhe!«

In Nachsicht lächelten sie zu diesem schroffen Wort. Nur Herr Pabo erwiderte mit frommem Ernst: »Gott und die Kirche haben in Gnade an dir gehandelt. Du hättest Grund, dich zu erniedrigen und dankbare Demut zu zeigen.«

»Erniedrigung? Die mag dir geziemen, Pabo, der du sie predigst. Mir laß meinen Stolz! Er muß eine Tugend sein, weil er dir mißfällt.«

Dem Kaplan stieg das Blut zu Kopf, er wollte heftig antworten; da fiel der Eschelberger mit heiterem Lachen ein: »Den Immhof solltet ihr predigen lassen am nächsten Bußtag! Er wird den Bauern von der Kanzel zurufen: ›Hebt die gescherten Köpfe, seid stark und stolz, es gibt keine schönere Tugend!‹ Solches Evangelium möcht ihnen besser gefallen als Pabos fromme Christenlehre: ›Beuget euch und ducket in Ergebung die Köpfe, bedenkt, daß ihr schwache Menschen seid und daß die Schwäche des einen der Schwäche des anderen hilfreich sein muß in christlicher Liebe!‹ So hat Herr Pabo am Ostertag geredet. Sag, Immhof, wie hättest du gepredigt?«

Irimbert richtete sich auf, als ränne durch seinen müden Körper eine Welle frischen Blutes. »Ich hätte unter den Schwachen einen Starken gesucht. Diesem einen hätt ich zugerufen: ›Fühle die Kraft deines Lebens und nütze sie, sei wie ein Baum, dann wirst du Schatten geben, in dem sich die Schwachen nach heißer Mühsal kühlen!‹ Euch aber sag ich: Der Wille eines einzigen, der stark war, hat auf Erden des Guten mehr getan als die schwache Liebe, die ihr predigt und die in euren Seelen wohnt wie die Elster in ihrem Horst.«

Es wäre zu einem bösen Auftritt gekommen, hätte sich nicht Herr Konrad von Bergheim, der Kellermeister, der schon durch die Fülle seiner Erscheinung beruhigend wirkte, ins Mittel gelegt. »Haltet Frieden, ihr Herren! Ihr habt ihm Galle zu trinken gegeben. Wundert euch nicht, wenn er Essig in eure Becher gießt. Bedenket, er ist ein Kranker, noch allweil ist ihm der Wein verboten. Die Wasserschlemmerei versäuert das Gemüt. Und bedenkt, wie jung er noch ist! In einem Jüngling ist alles unreif und töricht.«

»Auch Jesus von Nazareth war ein Jüngling. Willst du ihn unreif und töricht nennen? Ein Glück, daß Bruder Medardus nicht hier ist. Er würde schreien: ›Du hast Gott gelästert, in die Mauer mit dir!‹« Irimbert kehrte den Chorherren den Rücken und verließ den Kreuzgang.

Herr Pabo lief zum Dekan, um gegen Immhof zu klagen. Da fand er üblen Empfang. »Der Schuldige bist du! Ich hab euch befohlen, jede seiner Launen zu dulden. Denke deines Eides, Pabo, und gehorche!«

Der Kaplan gehorchte. Schon am folgenden Tage war er unter den Freundlichen gegen Irimbert der Freundlichste. Aber es fehlte ihm bald an Gelegenheit, den Eifer seines Wohlwollens zu betätigen. Immhof ging den Chorherren aus dem Weg und blieb in seiner Zelle, versunken in ein Buch, das ihm der Propst gegeben hatte. Es war der Titurel des Wolfram von Eschenbach.

Täglich kam Herr Friedrich, um eine Stunde bei dem Schweigsamen zu verplaudern. Auch dem Propste gegenüber blieb Irimbert wortkarg und verschlossen. Nur wenn die Rede auf das Werk des Wolfram kam, öffnete die Begeisterung seine Lippen. »Wie konnte solch ein reines und schönes Werk entstehen in einer Zeit wie der unsrigen?«

Herr Friedrich lächelte. »Die schönsten Blumen wachsen immer, wo Mist gefahren wurde. In Zeiten, die erträglich sind, schreibt man keine Bücher oder schlechte. Ein tiefes Kunstwerk ist immer steingewordenes Herzblut, das dem Künstler aus schmerzender Wunde floß.«

Mit dem Propste kamen manchmal auch Saaleck und Pütrich. Der Gast, der sich am häufigsten einstellte, war der bucklige Isengrimm. Irimbert schien zu fühlen, daß es dieser boshafte Spötter gut mit ihm meinte, und so ließ er es gern geschehen, wenn ihm der Bucklige mit seinen derben Späßen den schwermütigen Ernst zu verscheuchen suchte.

Die sonnigen Morgenstunden und die milden Abende verbrachte Immhof in einem der kleinen Mauergärten, die hinter den Wänden des Kapitelsaales auf engem Raum hinausgebaut waren über die steilen Felsen, mit denen der Priesterstein sich hinuntersenkte in das Tal der Ache. Da saß er oft lange Stunden regungslos an die Brüstung der Mauer gelehnt, während sein Blick emporspähte über die Gehänge des Hohen Göhl, dessen Kuppen noch bedeckt waren von tiefem Schnee. Wo dort oben der knospende Buchenwald mit den dunklen Fichtenwäldern zusammenfloß, dort sah man über den Kamm der Wipfel etwas hervorragen wie einen grauen Reisigstrauß, die noch blätterlose Ulme im Gotteslehen mit dem Sparrenwerk des Lugaus in ihrer Krone.

Eines späten Nachmittags, am Vorabend des ersten Mai, saß Immhof einsam in dem kleinen Garten. Seine dürstenden Augen hingen an der grauen Stelle über den Wäldern. Nichts anderes sah er, nicht den Zauber des erwachenden Frühlings, nicht den reinen Glanz der Lüfte. Er hörte nicht die Stimmen, die aus dem Bachtal heraufklangen, nicht den Lärm, der vom Klosterhof herübertönte, wo sie den Maibaum aufrichteten, um den die dienenden Brüder, die Falkner und Troßbuben des Stiftes am kommenden Morgen beim Klang der Blätterpfeife den Reien tanzen wollten. Er hörte nicht den schwebenden Hall der Glocke, die zum Feierabend läutete, und hörte die Schritte nicht, die sich auf dem Sandweg näherten. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, blickte er auf wie ein Erwachender.

Wernherus stand vor ihm.

Seit jenem Abend, an dem sie Kapitel gehalten, hatte Irimbert den Dekan nicht mehr gesehen. Bei seinem Anblick stieg ihm das Blut in die Stirn.

Freundlich grüßte Wernherus. »Ich seh dich genesen, Immhof, und seh es mit Freude.«

Irimbert schwieg, im Blick die Frage: Was will er?

»Bis heute hab ich die Begegnung mit dir vermieden. Ich wollte dich nicht erregen. Jetzt bist du genesen und gekräftigt. Jetzt wird diese Begegnung härter für mich sein als für dich. Aller Vorwurf, den du mir zu machen Ursach hast –«

»Vorwurf? Nein! Ich habe in der Nacht, in die mich Euer Urteil bannte, so viel Licht gefunden, daß ich meinen Richtern im Ernst nicht grollen darf.«

»Ich fühle, du willst mir diese Stunde leichter machen. Und sehe, daß du erkanntest, weshalb ich kam.«

»Euer Scharfsinn täuscht Euch über meine Schwäche im Rätsellösen.«

»Ich kam, um die Versöhnung mit dir zu suchen.«

Die Hand übersehend, die ihm Wernherus bot, trat Irimbert befremdet zurück. Seine Stimme klang hart. »Versöhnung? Ich verstünde diesen Wunsch, wenn mein vernichtetes Leben für Euch noch irgendwelchen Nutzen hätte. Solchen Nutzen seh ich nicht. Deshalb glaub ich Eurem Wunsche so wenig wie den wohlwollenden Masken Eurer Freunde.«

»Laß dir sagen, Immhof –«

»Ihr seid suchen gekommen, was zwecklos ist. Das war doch sonst nicht Eure Art. Und daß Ihr die eigene Natur vertauschen sollt? Ich bin der letzte, der das wünschen möchte. Man muß die Dinge und Menschen nehmen, wie sie sind. Ich verlange vom Winter nicht, daß er Frühling sei, und verlange vom Raubtier nicht, daß es sich verwandle in ein Lamm. Der den Winter und den Wolf erschuf, wird wissen, warum er sie nicht anders machte. So seid auch Ihr, wie Ihr sein müßt. Ich habe keinen Groll gegen Euch.«

Irimbert wollte den Garten verlassen. Wernherus vertrat ihm den Weg. »Immhof! Könntest du mir ins Innere sehen, wie Gott es sieht!«

»Gott?« unterbrach ihn Irimbert, mit einer Furche auf der Stirn. »Ihr wißt aus Erfahrung: Euer Gott und der meine vertragen sich nicht. Oder seid Ihr gekommen, um meinen Dank zu holen? Wie Bruder Medardus die Steuer holt? So nehmt ihn! Obwohl das Leben, das Euer Wille mir ließ, keines Dankes wert ist.«

»Dank? Wofür?«

»Für Eure Laune, die meine Mauer brach.«

Verwundert blickte Wernherus auf. »Deine Mauer fiel, weil die Chorherren erkannten, daß schweres Unrecht an dir geschah. Als sie dich erlösen wollten, hab ich dagegen gesprochen, ich allein. Und weißt du, warum? Neben der Reue, die mich erfüllte, war die Furcht in mir, als ein Schuldiger vor dir stehen zu müssen, vor dem Opfer meines ungerechten Zornes.«

Wie das ehrlich klang! Fast schien es einen Augenblick, als möchte Immhof diesen Worten glauben. Dann lächelte er. »Dekan! Ich möcht Euch einmal schlafen sehen.«

»Mich schlafen sehen? Weshalb?«

»Um zu erfahren, welches Gesicht Euer wahres ist, jenes, das ich kenne, oder das Gesicht, das Ihr mir heute zeigt. Oder ein drittes? Das könnte mir nur der Schlaf verraten. Der lügt nicht.«

Wernherus blieb geduldig. »Ich merke mit Kummer, daß mein redliches Wort in dieser Stunde dein Ohr nicht findet.«

»Zwischen Eurem Wort und meinem Ohr steht eine Mauer.«

»Da hast du recht. Ich weiß auch, das ist die Mauer nicht, die dort unten fiel. Es ist der Unglimpf, den ich, falsch berichtet, wider die Ehre deiner Mutter verübte.« Wernherus sah, wie eine Flamme des Zorns über Immhofs bleiche Wangen schlug. Beschwichtigend hob er die Hände. »Laß mich sagen, wie sehr ich mein Unrecht fühle, wie tief ich es bereue! Aus diesem Vorwurf, der dich maßlos reizen mußte, ist alles hervorgewachsen wie ein Ungewitter aus schwülem Tag. Die Erkenntnis meines Unrechtes begann in mir, als ich erfahren mußte, daß ich eine häßliche Lüge nachredete, die dein Bruder ersonnen, um dich zu verderben, um die reine Seele deiner Mutter tödlich zu treffen in ihrer Liebe zu dir. Und daß es Lüge war, das kann ich heute noch beweisen.«

»Die Ehre meiner Mutter bedarf keines Beweises!« unterbrach ihn Irimbert. »Ich bin ihr Sohn. Das ist mir Beweis genug.« Seine Stimme klang nicht mehr so schroff.

Wernherus hatte ein feines Ohr. »Ich sehe, daß dein gerechter Zorn sich mildern will und muß zufrieden sein mit dem Gewinn dieser Stunde. In Geduld will ich den Tag erwarten, an dem wir Freunde werden.«

»Freunde? Ihr und ich?«

»Ja, lieber Immhof! Ich will das Unrecht sühnen, das ich an dir beging. Jeden Heiltrunk will ich dir bieten, um dein Herz einem neuen Frühling des Lebens zu öffnen.«

Staunend betrachtete Immhof den Dekan. »Herr Wernher! Wenn es möglich wäre, daß sich die Nacht in Tag verwandelt, so könnt ich glauben, dieses Wunder hätte sich in Euch vollzogen.«

»Dein Leiden hat dieses Wunder in mir gewirkt. Wie soll ich es dir beweisen? Kann ich dir einen Wunsch erfüllen?«

»Nein.«

»Immhof! Es war heute nicht zum erstenmal, daß ich dich einsam hier an der Mauer sah. Ich fühlte, wie deine Sehnsucht hinausverlangt in die Freiheit. Die geb ich dir. Steig auf die Berge! Ich gebe dir freien Tag für morgen, bis zum Abend. Wenn du willst, auch für den anderen Tag. Suche den Hilpot auf, geh jagen mit ihm! Jetzt singt der Urhahn im Bergwald droben. Willst du? Ich sehe, wie dir die Freude aus den Augen leuchtet. Heil zum Weidwerk, lieber Immhof! Ich will sorgen, daß sie dir ein Jägerkleid in die Zelle legen und eine Weidmannswehr. Und morgen freue dich deiner Freiheit!« Lächelnd, mit freundlichem Gruße ging Wernherus davon.

Irimbert stand unbeweglich, wie gefesselt von einem Bann, der sein Denken verwirrte. Dann atmete er auf, als wäre in seiner Seele von allen Worten des Dekans nur das letzte zurückgeblieben: »Freiheit!« Die Arme gegen die Berge streckend, stammelte er in die Dämmerung hinaus: »Ich komme!«

 

Am andern Morgen, noch ehe das Frühlicht graute, war Irimbert wegfertig, im Jägerkleid, mit der Armbrust auf dem Rücken. Als er aus seiner Zelle hinunterstieg, fand er im Klosterhof schon reges Leben. Die Brüder lachten und schwatzten, während sie die Schaubänke für die Chorherren und die frommen Schwestern aufschlugen, die zum Tanz der Gesindleute als Zuschauer geladen waren. Scharf hob sich vom dämmerigen Himmel der hohe, schlanke Mast des Maibaumes ab, der zwischen flatternden Wimpeln geziert war mit allen Insignien des Leidens Christi.

Auch draußen in der Bürgergasse war das Leben schon wach. Hier errichteten die Söhne der Handwerker und Kaufleute ihren Maibaum, den die Abzeichen des Ackerbaues und aller Gattungen des Handwerks schmückten. Auf der Spitze des Baumes, über dem mit Bändern gezierten Maikranz, war eine doppelflügelige Wetterfahne angebracht, ein Spielhahn auf der einen Seite, eine Spielhenne auf der anderen. Wenn der Wind das Fähnl drehte, rannte der Hahn wie in verliebtem Taumel der Henne nach. Das große Spiel des Lebens!

Junge Leute kamen mit Lachen und Singen aus dem Tal herauf. Wenn sie dem Jäger begegneten, der wie ein Träumender seinem Wege folgte, sahen sie verwundert in dieses abgezehrte, vom weißen Haar umhangene Jünglingsgesicht.

Als Irimbert im Tal die Ache überschritten hatte, begann der helle Tag. Am Kreuz der Wolfsreut war er schon vorübergestiegen. Da scholl ihm in der Stille des Morgens das Jauchzen einer heiseren Stimme entgegen. Und es war ein unheimlicher Zug, der sich hervorlöste aus dem Morgenschatten des Waldes.

Wenn zur Winterszeit, während der Schnee alle Wege verschloß, dort oben unter den Dächern der Bergbauern ein leidender Mensch sein Leben endete, banden sie die Leiche auf ein Brett und versenkten sie in den Schnee. Der Frost des Winters schützte sie vor Verwesung. Zerschmolz im Frühling das weiße Grab und gab den Toten wieder frei, dann trugen sie ihn hinunter zur geweihten Erde. Und nun brachten sie solch ein »kaltes Leut« getragen. Mit Haupt und Füßen ruhte das Totenbrett auf den Schultern zweier Männer. Ein junges Mädel, ein Greis und noch zwei andere gaben dem Hingeschiedenen das Geleit. Sie zeigten trauernde Mienen, doch der erste Schmerz um den Toten war längst erkaltet in ihnen, zerschmolzen mit dem Schnee. Während sie beteten mit eintönigem Gemurmel, tanzte der »traurige Jacho« wie ein lustig gewordener Narr dem Zuge voran, mit dem Eisenkreuz in den Armen. Er schrie und jauchzte, als hätte er einen Hochzeitsreigen anzuführen. Irimbert entblößte das Haupt, als der Zug an ihm vorüberging. »Ein Kluger, der das große Rätsel löste!« Noch lange während er durch den Wald emporstieg, hörte er das gurgelnde Geschrei des Wahnsinnigen. Und übers Tal herüber, aus dem Klosterhof und von der Bürgergasse, klang der Jubel, der seine tollen Sprünge um den Maibaum machte.

Die Sonne tauchte über den Berggrat herauf und streute ihre flimmernden Lichter über das junge Laub, das gleich winzigen grünen Herzen aus allem Gezweig der Buchen sproßte. Als Irimbert zum Gehöft des Jägers kam, sah er die Greisin auf der Hausbank sitzen. In Gedanken drehte sie die Spindel. Wildfelle waren zum Trocknen ausgebreitet, der Brunnen murmelte, und die Bienen summten. Nichts schien verändert an dieser Stätte, alles war wie damals im Herbst; nur daß sich der Goldglanz des welkenden Laubes verwandelt hatte in junges Grün.

»Guten Morgen, Mutter Hanna!«

Die Greisin hob das Gesicht. »Was willst du? Ich kenn dich nit.«

»Einen Winter ist's her, da hab ich das Wams deines Buben getragen, den der Baum erschlug.«

»Du bist's Herr?« Ruhig blickte Hanna an ihm hinauf. »Viel mußt du gelitten haben.«

»Jetzt bin ich weise wie du. Schmerz und Freude sind mir geworden, daß ich sie nimmer scheiden kann.«

Hilpot erschien in der Haustür. Erschrocken sah er den Jäger an. »Ja, Mann«, sagte Mutter Hanna, »er ist es schon, um den du getrauert hast den ganzen Winter. Getrauert wie um keinen von unseren Buben.«

»Herr! Du mein lieber Herr!« Ein anderes Wort brachte der Alte nicht aus der Kehle, während er zu Irimbert aufsah und ihm die Hände drückte. Dann fand er nur die ein Frage: »Willst du jagen? Ich führ dich auf einen Urhahn.«

Irimbert schüttelte den Kopf. »Jagen? Nein! Ich will zum Greimold ins Gotteslehen.« Seine Stimme bebte.

»Darf ich mit? Bis zur Wies hinauf?«

»Komm!«

Während der Alte ins Haus lief, um seine Kappe zu holen, fragte Mutter Hanna: »Weißt du nit, Herr, wie's meinem Buben geht?«

»Ich denke, daß er frohen Tag hat heut. Sie tanzen den Reien um den Maibaum.«

»Der Weg zu uns herauf ist offen seit einem Mond. Noch allweil ist der Bub nit dagewesen. Seit demselbigen Herbsttag nimmer. Du bist flinker.« Seufzend netzte Mutter Hanna die Finger und drehte die Spindel.

Hilpot kam über die Schwelle gesprungen. »So, Herr!«

Als sie zum Waldsaum schritten, blieb Irimbert stehen und lauschte, als müßte er auch heute wieder das Lied der Blinden hören wie an jenem Abend im Herbst. Nur der Morgenwind ging flüsternd über das junge Laub der Buchen.

Die Sonne war höher gestiegen, ihre Lichter flimmerten schon um die Wurzeln der Bäume. Etwas Stilles und Keusches erfüllte den Wald. Die jungen Gräser spitzten schon überall hervor und durchbrachen das verfaulte Laub. Einzelne Schneeflecke lagen noch umher, und neben ihren schmelzenden Rändern blühten schon die kleinen, blaßblauen Frühlingssterne. Ein Wildbach rauschte so gleichmäßig, daß sein Rauschen wie Stille wirkte. Sein Wasser war noch milchig vom Schnee und von den Frühlingsmuren. Zwischen den Bäumen schimmerten in der Sonne mit smaragdenem Grün die Wiesen, die das Gotteslehen umzogen.

Am Hag des Lehens war das Tor geschlossen, und auf einem kleinen Turm, der aus Balken geschränkt war, saß ein Wächter, wie bei der Schanze einer Burg, die in Fehde steht. Es war der Steinhauser. »He, Fürsenn«, rief er ins Gehöft, »sell drunten seh ich zwei Mannsleut. Den einen kenn ich, das ist der Hilpot. Der kehrt wieder um. Der ander kommt. Den kenn ich nit. Und eilig muß er's haben. Ruf den Hauswirt!«

Raschen Ganges kam Irimbert über die Wiesen heraufgestiegen. Sein suchender Blick eilte dem Wege voran. Er sah nur den geschlossenen Hag, dessen Flechtwerk erhöht und gefestet war. Am Hag entlang hatte man einen breiten Graben ausgeworfen, in dem sich das Wasser eines Wildbaches sammelte; alle Bäume, die in der Nähe des Hages gestanden, waren niedergeschlagen, am Graben alle Büsche ausgerottet. Das Flügeltor, das früher den Hag geschlossen, hatte sich in eine feste Schlagbrücke verwandelt, die sich vor Irimbert mit rasselnden Ketten über den Graben legte. Hinter der Brücke stand der Gotteslechner im Tor; er trug die Eisenhaube, über dem ledernen Wams das Kettenhemd, und führte das blanke Schwert wie einen Stab. Ruhig den Jäger messend, sagte er: »Dein Gewand hat Klosterfarben. Schicken mir deine Herren eine Botschaft?« Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund. »Ich bin der freie Herr von Mitteralben und Vordereck. Was will das Kloster von mir?«

In Sorge betrachtete Irimbert den Gotteslechner. »Greimold? Kennst auch du mich nimmer? So führe mich zu deinem Kind! Seine blinden Augen werden mich erkennen.«

Da kam es vor freudigem Schreck wie ein Wanken über den starken Mann. Der Steinhauser und der Altsenn, die mit ihren Streitäxten hinter ihm standen, sahen, daß ihm das Eisen entfiel. Keines Wortes mächtig, streckte er die Hände, riß den Jäger an sein Herz und umschloß ihn wie einen Sohn, den er wiedergefunden. Als stünde eine drohende Gefahr da draußen, zog er ihn von der Brücke in das Gehöft und rief den beiden Männern zu: »Die Schlagbruck auf! Und keiner geht ein! Jetzt hab ich den Buben, jetzt soll ihn mir keiner mehr nehmen.« Er wurde ruhiger und betrachtete dieses abgezehrte Gesicht, die gebleichten Haare. »Bub! Wie haben sie dich zugerichtete! Um meinetwillen!«

»Nein, Greimold! Mir geschah, wie mir geschehen mußte.«

Der Gotteslechner hatte die Faust erhoben und rief gegen das Tal hinunter: »Gottesmänner!« Wieder faßte er Irimberts Hände. »Sag, Bub, soll es Botschaft sein, daß du kommst? Sind sie schon hinter dir? Laß sie nur kommen! Bei mir bist du sicher. Acht Mannsleut sind wir. Eisen ist genug im Haus. Und schau dir die Mauer an!« Eine starke, aus klobigen Felsblöcken gefügte Ringmauer mit Scharten und Zinnen, mit einem Tor, über dem ein Fallgitter aus schweren Balken hing, umzog in engem Kreis das Haus und die Ställe. »Wir haben sie gebaut, noch eh der Schnee geschwunden ist. Die sollen mir die da drunten so leicht nit werfen!«

Irimbert drückte die schwielige Hand des Bauern. »Jeder Stein dieser Mauer ist wie ein Wort, das von deiner Sorge erzählt und von hartem Winter. Es ist Frühling worden, Greimold! Ich bringe gute Botschaft, bringe deinem Haus den Frieden. Der Propst hat dein Recht erkannt und wird dich schützen. Solang er lebt, soll niemand dich stören in deinem freien Heim.«

»Bub? Und das ist wahr?«

»Das hab ich aus Herrn Friedrichs eigenem Munde.«

Der Gotteslechner brauchte Zeit, um diese neue Freude in sich erwachen zu lassen. Lachend schrie er den beiden Männern zu: »Steinhauser! Fürsenn! Keiner braucht wachen mehr. Der Bub ist da. Mein Haus hat Fried. So schönen Maien hab ich noch nie gesehen. Vergelt's Gott deinem Herrn! Sag nur, Bub, wie muß ich deine Botschaft lohnen?«

»Führ mich zu deinem Kind!«

»Das Kindl! O Jesu mein! So komm doch, Bub!« Greimold zog den Jäger zum Mauertor. Da blieb er stehen. »Nein, Bub! So geht's nit. Wart noch ein Kitzel! Das muß ich ihr sänftlich beibringen. Sie könnt den Tod haben von der jähen Freud.« Er wurde ernst und sagte zögernd: »Ich mein, es ist besser, wenn du's weißt. Das Kindl ist dir gut. Sie hat gebanget um dich und hat gezittert Tag und Nacht wie ein frierendes Blüml, das unterm Schnee keine Sonn nimmer spürt. Gelt, laß ihr das bißl Freud! Und sag ihr nit, wieviel du leiden hast müssen! Sie könnt's nit hören.«

Irimbert nickte schweigend; heiße Röte war ihm in die bleichen Wangen gestiegen.

»Sie weiß nichts anderes, als daß deine Herren dich fortgeschickt haben, weit in die Ebnet hinaus. Und – ja, Bub, da muß ich dir noch was sagen. Du mußt ihr einmal erzählt haben vom schönen Glück und seinem Erdenbruder Schmerz. Und selbigsmal, wie ich ihr sagen hab müssen, daß du nimmer kommst, da hat sie mit ihrer hellen Seel den Bruder Schmerz gesehen. Als ein Leibhaftiger ist er vor ihr gestanden. Und sie hat ihn geschaut, völlig wie du jetzt bist, so, mit dem schneeweißen Haar!«

»Greimold! Laß mich nicht warten!«

»Ja, Bub! Ich bring sie heraus. Der Tag ist schön. Da müsset ihr wieder sitzen beim Ulmenbaum!«

Der Gotteslechner eilte durch das Mauertor und trat ins Haus. Die weiße Zenta kam ihm entgegengesprungen und kehrte mit ihm zurück in die Stube. Regungslos, das schmale Gesicht so weiß und müd wie das Antlitz einer Kranken, ruhte Jutta beim offenen Fenster in ihrem Sessel. Ihre Hände, die im Schoße lagen, hielten einen Zweig mit weißen Blüten. Als Greimold zu ihrem Sessel trat, sah er, daß sie schlummerte. »Schau, jetzt kommt ihr das Glück wie ein schöner Traum!« Er faßte ihre Hände.

Sie erwachte und hob die verschleierten Augen. »Vater?«

»Hast du geschlafen, Kind?«

»Ich bin so müd gewesen. Da hab ich die Augen zugetan.«

»Am hellen Tag? Aber schau, die Sonn ist schön! Da hab ich dich wecken müssen.«

Das feine Ohr der Blinden hörte aus dem Klang seiner Stimme die Erregung, die er verbergen wollte. »Vater?« Sie richtete sich auf. »Du redest, als wär eine Freud in dir?«

»Ja, Kind! Wie gut du sehen kannst! Ich bring eine Maienfreud für dich.«

Sie lächelte matt. »Mich tät nur eins noch freuen. Das wird nimmer sein!«

»Seit der Schnee geschwunden, hast du mich oft gefragt nach seinem Blüml. Allweil hab ich dir sagen müssen, es ist erfroren. Und jetzt –«

Da begann sie heftig zu zittern. »Sag mir's!«

»Jetzt hebt das Blüml zu treiben an.«

Mit heißer Welle floß ihr die Freude über das schmale Gesicht. In Sehnsucht streckte sie die Arme. »Tu mich führen! Laß mich das Blüml schauen!«

»Ja, Kindl, komm! Und daß sein Blüml wieder blüht, ich mein, das ist ein gutes Zeichen.«

Sie schien nicht zu hören. Während er sie führte, waren ihre Hände suchend ausgestreckt, und wie eine Träumende redete sie vor sich hin. »Es blüht! Ich hab's gewußt. Sein Blüml kann nit sterben.« Als sie hinaustrat in den schönen Morgen, fühlte sie die Sonne und atmete lachend auf: »Dir, Vater, hab ich glauben müssen. Aber allweil ist in mir eine Stimm gewesen und hat anders geredet wie du.«

»Und die hat wahr geredet!« stammelte Greimold. »Ich hab gesprochen, wie ich's verstanden hab. Nie hätt ich mir denken können, daß ein totes Blüml wieder lebendig wird. Das ist geschehen wie ein Wunder. Da könnt ich jetzt alles andre auch noch glauben!«

»Vater!« Sie umklammerte seinen Arm und hob in dürstendem Lauschen das heiße Gesicht.

»Kind! Daß sein Blüml wieder blüht, das ist mir völlig, als wär's eine Botschaft von ihm. Ich hab gemeint, daß er nimmer kommt. Und jetzt –« Lachend führte Greimold die Blinde unter den Bogen des Mauertores und nickte dem Jäger zu.

Die Augen groß geöffnet, löste sich Jutta aus Greimolds Armen. »Vater? Da muß einer sein.« Sie streckte suchend die Hände, und der Jubel einer jähen Hoffnung erstickte fast ihre Stimme. »Ich spür, es ist einer gekommen.«

Da klang es ihr leis entgegen: »Juttula!«

Mit erloschenem Laut seinen Namen stammelnd, eilte sie auf ihn zu, als wäre sie sehend geworden. Als sie seine Hände fühlte, wurde sie ruhig. Wortlos stand sie vor ihm, das erhobene Gesicht übergossen vom Glanz ihrer Freude, die zierliche Gestalt und das Geringel des Goldhaares umschimmert von der Frühlingssonne. Auch Irimbert wußte kein Wort zu sprechen. Er hielt ihre Hände in den seinen. Wie ein Dürstender trinkt, so sah er in ihre großen Augen, die für ihn keinen Schleier hatten. Ihm waren sie wie ein klarer Brunnen ihrer Seele.

Greimold sagte lachend: »Kind? Bub? Weiß denn jetzt keines von euch ein Wörtl?«

Mit sachter Hand strich Irimbert über Juttas Haar. »Sie haben lang geblüht, die Eisblumen. War das harte Zeit für dich?«

Da lächelte sie. »Das ist doch alles vorbei. Wie's gewesen ist, das weiß ich nimmer. Jetzt hab ich alles vergessen. Jetzt weiß ich nur eins noch, du bist da!«

Wieder schwiegen sie. Und Greimold sagte: »Geh, Bub, führ sie hinüber zum Ulmenbaum! Daß sie da drüben wieder sitzen kann mit dir, das ist allweil ihr Träumen gewesen.«

Langsamen Schrittes gingen sie zur Ulme und ließen sich nieder im sonnig durchwirkten Schatten des Baumes, an dessen Zweigen das Grün noch kaum zu knospen begann. Sie saßen Hand in Hand. Greimold konnte nicht hören, ob sie sprachen; er sah nur, daß die weiße Zenta, die vor den beiden auf dem Rasen lag, verwundert und aufmerksam die Ohren spitzte und bald den Jäger betrachtete, bald wieder ihre junge Herrin.

Aufatmend nahm Greimold die schwere Eisenhaube vom Kopf und strich mit dem Ärmel über die Stirn. »Soll doch keins am Leben verzweifeln! So schiech eine Not auch ist, es steigt doch allweil eine Freud wieder auf, wie Sonnschein nach einer bösen Nacht.« Noch einen Blick hinüberwerfend zur Ulme, schritt er durch den Bogen des Mauerbogens. Bei der Haustür trat ihm die Helgard erregt entgegen. »Hauswirt? Ist das der Jäger, von dem das Hauskind allweil geträumt hat?«

»Ja, Gardli, der ist es.«

Als Greimold in die Herdstube kam, hörte er die Magd in der Hofreut jauchzen und singen. »Schau nur, wie sich das Mädel freut für mein Kind! Und ist den ganzen langen Winter so eine ungute Raffel gewesen. Alles maiet! Alles im Haus!« Er ging in seine Kammer und öffnete den Deckel einer alten, mit Eisen beschlagenen Truhe. Sie barg das seidene Festgewand, das Greimolds Vater getragen hatte, als er sein Heim und Haus von Gott zu Lehen nahm. Greimold legte die Eisenhaube dazu, das Kettenhemd und das Wehrgehänge. »So! Jetzt hast du wieder Ruh, du freier Herr von Mitteralben und Vordereck!«

 


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