Ludwig Ganghofer
Das Gotteslehen
Ludwig Ganghofer

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5

Nach kurzer Wanderung durch ungebahnten Wald erreichten Greimold und Irimbert einen Weg, auf dem sie Seite an Seite gehen konnten. Da brach der Jäger das Schweigen. »Sag mir, Greimold, ich verstand wohl die Falschheit des Medardus und seinen Anschlag gegen dich, aber ich verstehe nicht, was ihr geredt habt von Steuer und Holdenzins. Was soll das bedeuten, daß du ein Dienstmann des Himmels bist? Und daß dein Heimwesen den Namen Gotteslehen trägt?«

»Das weißt du nit? Und stehst doch im Dienst des Klosters?«

»Nicht lange noch.«

»Seit wann bist du in unserem Tal?« – »Seit dem Sommer.« »Da kannst du freilich noch nit Bescheid von allem haben. Deine Herren werden auch in der Jägerstub nit aushaspeln, was sie spinnen im Kapitelsaal.« Mit herbem Lachen betrachtete Greimold seine Handgelenke, die ihn noch schmerzten vom Druck der Stricke. »Schau, Irmi, das alles ist so: Es hat das ganze Berchtesgadener Land vor hundert Jahren und darüber den Grafen von Sulzbach zugehört. Aber bloß der Forst und Wildbann ist ihr Eigen gewesen. Die paar hundert Leut, die im Tal und auf den Alben gehaust haben, sind auf ihren Heimwesen gesessen als freie Bauern von alters her. Aber die Herren meinen, sie müssen Knechte haben. Und wie's in der Ebnet draußen angefangen hat, daß die Burgherren dem Bauer sein freies Mannsgut nimmer vergunnt haben, schau, da hat's auch der Sulzbacher Graf so gemacht und hat einen Burgmann übers Gadnische Land gesetzt, der die Bauren schinden hätt sollen und Zins und Steuer von ihnen heben, als wären die Gadener seine hörigen Leut. Aber selm, da sind die Bauren noch andere Kerle gewesen als wir heutigentags. Die haben sich wie richtige Mannsleut um ihr freies Recht gewehrt. Und wie der Graf gemerkt hat, daß er wenig ausrichtet, hat er einen Zwingvogt in unser Tal geschickt. Der hat Watzmann geheißen. Wie die Leut erzählen, ist er ein Ries gewesen, doppelt so groß wie andere Menschen, und sieben Buben hat er gehabt, jeder ein Ries wie der Vater, und die haben gehaust im Land als wie die Werwölf. Kein Weib und Mädel ist sicher gewesen vor ihnen. Jeden Mann, der sich gewehrt hat um sein Gut, haben sie niedergeschlagen. Heut noch erzählen die Leut, es wär selbigsmal oft ein Morden gewesen, daß der Seebach vor lauter Blut völlig rot gelaufen ist. Von selm her, meinen die Leut, haben die Bachferchen die blutroten Tupfen am Leib. Aber wie die gadnischen Bauern im ärgsten Jammer gelegen sind, hat sich der Himmel ihrer Not erbarmet und hat ihnen zur Hilf einen frommen Mann ins Tal geschickt.«

Der Jäger lächelte. »Hieß er nicht Eberwein?«

»So hat er geheißen. Und weil er das Grausen gesehen hat, das der Zwingries und seine Buben anrichten im Land, hat er mit starkem Gebet zum Himmel gerufen. Da ist ein Wunder geschehen, Jäger! Mit der Faust hat Gott herausgelangt aus dem blauen Himmelsdach und hat von allen Bergen den höchsten in Scherben geschlagen und hat den Riesen und seine Buben in Stein verwandelt für ewige Zeiten. Ob's so gewesen ist, das weiß ich nit. So erzählen sie's in der Klosterkirch am Eberweinstag von der Kanzel runter. Und das ist wahr, daß selbigmal ein Berg gefallen ist, daß heut noch die hausgroßen Steintrümmer überall im Tal umeinanderliegen und daß die endsmächtigen Felszinken auf dem gebrochenen Berg der Steinries Watzmann und die Watzmannkinder heißen! Und derselbig fromme Mann, der Eberwein, der hat das Kloster gebaut, zumittelst in einem finsteren Wald, wo ein Priesterstein aus der Heidenzeit gestanden hat, und dreißig Jahr lang hat er im Gadnischen Land als frommer und guter Herr gewaltet. Ist ein Gottesmann gewesen, ein Heilbringer fürs ganze Tal und seine Leut. Recht und Ordnung hat er aufgerichtet, überall hat er den Klosterwald roden lassen, hat urbaren Boden draus gemacht und hat ihn aufgeteilt an die Bauren, hat ihnen gewiesen, wie man den Lein baut und das Wintertraid, wie man das Holzwerk schichten und schrägen muß für gute und feste Häuser. Den ersten Salzberg hat er aufgetan, daß tief aus der Erd heraus der Wohlstand in unser Tal geronnen ist wie ein dicker Bach. Und Schnitzerleut hat er kommen lassen von weit her aus dem Partnachgau, und da hat er Schul gehalten im Winter, und so haben's die Gadnischen gelernt, wie man Hausrat macht und schönen Kram für die Stuben schnitzt. Selbigsmal ist gute Zeit im Tal gewesen, jeder Bauer hat sicher hausen können in seinem Recht und Eigen. Ist einer in Not gefallen, so hat er nur brauchen zum Kloster laufen, und da hat er Hilf und Trost gefunden. Das ist anders heut!«

Der Gotteslechner sah dem Jäger ins Gesicht. Seine Stimme klang heiß erregt.

»Das Kloster hat Macht gewonnen und ist reicher worden mit jedem Jahr. Wie im Traid das Unkraut, so wachsen die Neider im Glück. Drum hat das Kloster bald einen schiechen Handel mit dem Salzburger Bischof und bald mit den Brüdern zu Reichenhall. Das kostet Geld. Drum brauchen sie Bauren, die fleißig steuern. Und Händel kosten Blut. Drum brauchen sie hörige Leut, die ihre Buben fürs Kloster erschlagen lassen. Das sind nimmer Gottesleut, die da drunten im Kloster sitzen, das sind Kriegsmänner und Weltherren. Und was dem Sulzbacher Grafen vor hundert Jahr mit Burgmannen und Zwingriesen nit geraten ist, das hat das Kloster fertiggebracht. Im ganzen Tal umeinander hauset kein freier Bauer nimmer. Ich bin der letzt! Dem einen haben sie in der Sterbstunde die brennende Höll unter dem Kreister angezunden, daß er aus Todesangst seiner Kinder Gut ans Kloster gegeben hat. Dem andern haben sie das Weib über den Hals geschickt, bis er dem Hausfrieden zulieb seine Hand hat binden lassen. Den einen haben sie mit Gut und Lachen rumgebracht, den anderen mit ihrem Zorn. Der einzig von allen, bei dem kein Mittel geholfen hat, das ist mein Ahnl gewesen. Der ist zäh geblieben. Doch wie mein Vater unser freies Heimwesen übernommen hat, da ist ihnen was Neues eingefallen.«

Der Bauer lachte rauh.

»Mein Vater war ein guter und fester Mann. Hätt ihm einer bloß mit dem Finger an sein freies Gut gerührt, er hätt zugeschlagen mit Händ und Füß. Aber wie halt jeder Mensch seinen Fehl hat – mein Vater ist ein lützel hoffärtig gewesen, hat herrenmäßige Kleider angelegt, hat sich ein Roß zum Reiten gehalten und dazu einen Schützen mit der Armbrust und mit gewäppeltem Rock. Und mit der Hoffart hat ihn das Kloster eingefangen. Zu jeder Festlichkeit ist er geladen worden, zum Gejaid und zur Falkenbeiz, zu jedem Liebeshof und Singertag, gradso wie die Lehensherren des Klosters. Und ist er geladen worden, so hat's geheißen: der freie Herr von Mitteralben und Vordereck. Das hat er gern gehört. Aber das halbe Gut ist draufgegangen beim Herrenspielen. Selm bin ich ein Bub in die zwanzig Jahr gewesen. Es hat mich gewurmt in tiefster Seel, wenn ich merken hab müssen, wie die Klosterherren hinter meinem Vater herlachen. Und oft, bei aller Lieb, hab ich ihm ein grades Wörtl gesagt. Er hat nit hören mögen. Ein Herr heißen, ist seine ganze Freud gewesen. Und arg verdrossen hat's ihn, daß er bei jeder Festbarkeit den Lehensherren den Fürtritt hat lassen müssen. Und einmal, bei einem Singertag im Kloster, wie der wieder auf dem letzten Sessel hat sitzen müssen, ist ihm der Zorn gekommen, daß er geschrien hat: ›Ich bin so gut ein Lehensmann wie der Hallturner und der Vogt vom Hangenden Stein, ich bin ein besserer noch, mein Lehensherr ist der mächtigste von allen Fürsten, der liebe Gott, der alles in der Welt gemacht hat und von dem ich mein freies Gut und Eigen zu Lehen hab.‹ Da hat's ein Lachen gegeben als wie beim Fasnachtspiel. Herr Konrad, der Propst, hat Schweigen geboten und hat meinen Vater beim Wort genommen, wie der Falk einen Zeisig faßt. Ein Lehensmann des lieben Gottes? Wo ist der Lehensbrief? Wann hast du den Lehenseid geschworen? Und da haben sie meinen Vater niederknien lassen auf ein seidenes Kissen, und es hat der Propst an Gottes Statt den Eid von ihm genommen und im Namen Gottes haben sie den Lehensbrief gesiegelt. Für die Klosterherren ist's eine lustige Mummerei gewesen, bei der sie ihren Nutzen gesehen haben. Für meinen Vater und für mich ist's böser Ernst geworden. Mein Vater in seiner blinden Freud hat beim Festmahl zu tief in den Krug geschaut, in der Nacht auf dem Heimweg hat er mit dem Roß einen schiechen Sturz getan, und drei Tag später ist der gute Lehensgesell des lieben Gottes ein toter Mann gewesen.«

»Greimold! Und du?«

»Am Gedingtag haben sie mich im Namen Gottes auf Einhalt meiner Lehenspflicht geklagt. Der Viztum hat ihnen recht gegeben, denn der Lehensbrief ist geschrieben gewesen, gesiegelt und von meines Vaters Hand gekreuzet. So hab ich wählen müssen, entweder der Lehensmann im Gotteslehen zu bleiben, oder –« Mit bitterem Lachen blickte der Bauer zum Himmel auf. »Oder es hätt mir geschehen können, daß mein Lehensherr sell droben das Lehen einem anderen gibt, der dem Himmel, will sagen dem Kloster besser ansteht. Wär's um mich allein gegangen, ich hätt's drauf ankommen lassen, ob ich mein Recht als freier Bauer nimmer finden könnt und wär zum Kaiser gegangen und hätt mich gewehrt bis aufs Blut. Aber selm ist eine Magd auf unserem Hof gewesen, die Alheid. Der bin ich von Herzen gut geworden. Dem braven Mädel zulieb hab ich fünfe grad sein lassen, bloß daß ich heuern hab können. Den ›Herren von Mitteralben und Vordereck‹ hab ich zu meines Vaters schönem Gewand in die Truhen gesperrt und bin ein Bauer geblieben mit meiner Bäuerin. Dem Frieden zulieb hab ich an jedem Ostertag meinem himmlischen Lehensherrn, will sagen dem Kloster, eine Gab in die Kirch getragen. Allweil hab ich's gern getan. Ich hab gemeint, ich müßt meinem Herrn da droben dankbar sein. Hat er mir doch ein liebes Weib geschenkt und ein herzliebes Kind.«

Der Wald wurde lichter.

»Jetzt haben wir nimmer weit«, sagte der Bauer, »schau, sell drüben kannst du dem Hilpot seinen Hag sehen.«

Irimbert legte dem Gotteslechner die Hand auf die Schulter. »Laß uns noch bleiben, Greimold! Du sollst mir alles sagen! Auch wie deine Jutta das Licht verlor.«

Sie ließen sich am Wegsaum nieder.

»Ein paar Jahr ist Ruh gewesen, und ich hab mich freuen können an meinem Hausglück. Und hab schon gemeint, es tät so bleiben. Da haben die da drunten wieder angefangen. Warum ich meine Gottessteuer an Ostern bring? Das wär gegen allen Brauch. Ich sollt halbjährig steuern, am Michelstag und an Lichtmeß, wie die Grundholden. Der liebe Gott möcht Ordnung sehen in der Welt. Ja, freilich, weil man auf der Welt so viel merkt davon! Hätt ich ihnen den Willen getan, ein paar Jahr später hätten sie gesagt: Der hat allweil gezinset wie die Holden, drum ist er ein Eigenmann des Klosters. Deswegen hab ich's geweigert, und vor Gericht hab ich recht behalten.«

Greimold atmete schwer und drückte die Fäuste an seine Stirn.

»Selbigsmal ist mein liebes Kind ins sechste Jahr gegangen. Und da ist's im Mai gewesen, an einem lindschönen Tag. Mein Weib ist mit dem Kind im Buchwald gewesen und hat Heilkräuter gesucht. Und auf einmal sagt das Kindl: ›Mutter, gelt, jetzt müssen wir heim?‹ – ›Warum denn?‹ fragt mein Weib. ›Weil's Nacht ist, Mutter, ich tu mich fürchten!‹ Da hat mein Weib noch gelacht: ›Aber Herzlieb, schau, es scheint ja die Sonn!‹ Das Kindl fangt mit den Händlen so zum suchen an und weint: ›Mutter? Wo bist du? Ich seh dich nimmer!‹ Meine Adelheid ist heimgekommen, das Kindl am Herzen, und hat ausgeschaut, daß ich gemeint hab, die Wölf sind hinter ihr. Mir ist gewesen, als tät mir das Herz keinen Schlag mehr. Ich weiß nimmer, was wir alles getan haben im ersten Schreck. Das Kind hat keine andere Red mehr gehabt als ›Mutter, ich seh dich nimmer! Vater, wo bist du?‹ In meiner Seelenangst hab ich das Kind hinuntergetragen ins Kloster. Der Pater Medikus hat lateinisch geredet, hat keinen Rat gewußt und hat mir auf deutsch gesagt: ›Schau her, so hat Gott dich gestraft für deinen Starrsinn!‹«

»Ja, Greimold«, sagte der Jäger mit bebender Stimme, »das ist ihr Gott! Den predigen sie. Und dann schreien sie Zeter, wenn einer nicht glauben will.«

Noch in der selbigen Nacht bin ich mit dem Kind auf Salzburg hinein, und mein ganzes Gut hätt ich drum gegeben, wenn ihm einer hätt helfen können. Da ist kein Mittel nimmer gewesen. Mein Kind hat blind sein müssen und hat auch die Mutter noch verloren.« Verstummend blickte der Bauer vor sich nieder.

»Greimold?«

»Ich hab mein Weh mit Schweigen verwunden. Aber mein Weib ist den Jammer nimmer losgeworden. Trübsinn hat ihr Gemüt umsponnen. Sie hat gemeint, sie könnt die Hilf herunterschreien vom Himmel. Ihr ewiger Gang ist hinunter zur Klosterkirch gewesen, derweil ich daheimgesessen bin und meinem blinden Kind erzählt hab, wie die Blumen ausschauen und wie blau der Himmel ist und wie allweil die Sonn scheinet für die guten Menschen in der lieben Welt. So lang hab ich allweil erzählt, bis mein Kindl in Freud hat lachen können: ›Ich seh's, Vater, ich seh's!‹ So ist das erste Jahr vergangen, und wieder ist's Mai gewesen. Das Kind hat langsam wieder zum Leben angefangen und hat sein finsteres Unglück nimmer verspürt. Aber die Mutter ist allweil trauriger worden, und so was Scheues hat sie allweil in den Augen gehabt, daß ich mir oft hab denken müssen, in dem Weibl ist nimmer alles richtig. Einmal in der Nacht, da wach ich auf und hör, wie sie mit sich selber redet. Da hab ich sie in den Arm genommen und hab gefragt: ›Geh, Alheid, sag mir's, was hast du allweil?‹ Ich hab kein Wörtl aus ihr herausgebracht. Und wie der Morgen gegrauet hat, seh ich, sie wachet noch allweil und betet. Wie sie aufgestanden ist, hab ich sie zum erstenmal wieder lachen sehen. Mich hat sie gehalset als wie in der ersten Liebeszeit. Den ganzen Tag ist sie mit dem Kind beisammengesessen und hat gescherzt mit ihm wie eine Mutter im Glück. Ich hab aufgeschnauft und hab gemeint, jetzt ist wieder Sonn in meinem Haus! Ja, schöne Sonn!«

Mit versinkender Stimme nickte Greimold vor sich hin; seine Augen waren trocken; dennoch wischte er mit der Faust darüber, als wären sie naß von Tränen.

»Am selbigen Tag, da haben meine Leut den Lein gesät, und ich bin nach der Mahlzeit einen Sprung aufs Feld gelaufen, daß ich ein lützel nachschau. Aber es hat mich heimgetrieben, daß ich mein Glück wiederseh, meine Alheid und mein Kind. Wie ich heimkomm, sitzt das Kindl beim Ulmenbaum, hat den Schoß voll Blumen und hat von Blumen ein Kränzl im Haar. ›Schau, Vater‹, sagt's, ›die Blumen hab ich von der lieben Mutter.‹ Da frag ich: ›Wo ist die Mutter?‹ Das Kindl sagt: ›Die ist zum lieben Gott gegangen, und zwei blaue Blumen tut sie ihm bringen, von allen Blumen die schönsten, hat sie gesagt, und da muß mir der liebe Gott das Licht wieder schenken.‹ Ich denk mir, sie wird halt wieder hinunter sein in die Klosterkirch. So bin ich sitzen geblieben bei meinem Kind. Mit Lachen und Plauschen haben wir auf die Mutter gewartet. Der Tag geht um, und noch allweil ist die Alheid nit daheim. Es ist Nacht worden, und mir ist eine Sorg ins Herz gesprungen, kalt wie der Tod. Ich hab mir's wieder ausgeredet. Vielleicht hat der Bruder Mesner die Kirch versperrt und hat nit gesehen, daß die Alheid noch beim Kreuzbild kniet und betet. Ich muß hinunter, denk ich, hab mein Kind zur Ruh gebracht, hab eine Fackel angezunden und bin gelaufen. Wie ich schier drunten bin im Tal, wo der Seebach geht, da hör ich im schwarzen Holz ein lustiges Jodeln. Und wie ich merk, es ist der traurige Jacho, da ist mir der eisige Schrecken in alle Glieder gefahren. Der traurige Jacho, den die Leut so heißen, ist ein Unsinniger. Der hockt mit Schluchzen die ganze Nacht vor jedem Haus, in dem ein Kindl neugeboren ist. Und in heller Narrenfreud hebt er allweil ein lustiges Jodeln an, wo ein Leut versterben muß.«

»Ein Narr? Nein, Greimold!« sagte der Jäger mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte. »Das ist ein Weiser!«

Der Bauer schien nicht zu hören. »Wie ich selm in der Nacht den Jacho im finsteren Holz so lachen und juchzen hab hören, ist mir's mit Angst durch die Seel gegangen: Das gilt meiner Alheid! Ich lauf und lauf. Und wie ich zur Wolfsreut komm – das ist ein Platz im Buchwald, da haben vor dreißig Jahr zur Winterszeit die Wölf einen Pfarrherren zerrissen, der einem Kranken den letzten Trost hat bringen wollen, und zum Gedenken hat das Kloster am selbigen Platz ein Kreuzbild aufgerichtet – und wie ich zur Wolfsreut komm und hinleucht mit der Fackel, sitzt der lachende Narr beim Kreuz. Auf dem Boden vor ihm ist die Alheid gelegen. Ihren Kopf hat der Jacho auf seinem Arm gehalten und hat sie gewiegt als wie ein Kindl, das schlafen soll. Ihr Gesicht ist überronnen gewesen von Blut. Und statt der lieben blauen Augen hab ich zwei rote Höhlen gesehen.« Von einem Schauer gerüttelt, deckte der Bauer die Arme über das Gesicht.

»Greimold!« stammelte Irimbert. »Welches Untier in Menschengestalt vermochte an deinem schuldlosen Weib solchen Greuel zu verüben?«

Der Bauer ließ die Arme sinken. »Sie selber hat's getan. Derweil sie in meinen Armen verblutet ist, sind ihr noch ein paar Wörtlen aus der verlöschenden Seel getröpfelt, die mich alles haben verstehen lassen. Im Kloster hat ihr der Leutpfarr allweil zugeredet, sie müßt den Himmel versöhnen, der uns zürnet, müßt meinem Kindl zulieb ein Opfer bringen und mein freies Heimwesen ans Kloster geben. Sie hat mich liebgehabt, die Alheid. Eh sie verlangt hätt von mir, ich sollt mein freies Mannstum ablegen und ein Knecht sein, lieber hat sie ihr Bestes zum Opfer gegeben, von allen blauen Blumen die schönsten! Und hat gemeint, das Licht, das ihr genommen ist, müßt der Himmel ihrem Kindl wiedergeben. Fest und heilig hat sie's geglaubt. Und hat mich gebeten, ich sollt sie nimmer heimtragen, damit ihr Kindl nit sehen müßt, wie die Mutter ausschaut! Mir ist das Herz gewesen wie in tausend Fetzen gerissen. Aber ich hab's erzwungen von mir, daß ich dem armen Weib seinen Glauben nit zerschlag. ›Ja, Liebe, dein Kindl ist sehend worden, heut auf den Abend, und du hast ihm das Licht gegeben.‹ Da hat sie im Sterben noch einmal lachen können. Ich hab sie im Arm gehalten, bis ihr Gesicht so kalt gewesen ist wie Schnee. Dann hab ich die Alheid zum Kloster getragen, hab ihnen das tote Weib mit den roten Augen vor die Kirchtür gelegt, bin heim und hab meinem blinden Kind einen Gruß von der Mutter gebracht, dazu einen Arm voll Maiblumen.«

»Dein Kind hat nie erfahren, wie seine Mutter starb?«

Greimold schüttelte den Kopf und erhob sich. »Komm, ich verleid das Sitzen nimmer!« Sie schritten unter dem stillen Fall der welken Blätter. Um ihre Füße raschelte das tote Laub, das die Erde bedeckte. Da lachte der Bauer rauh. »Jetzt hab ich Ruh gehabt! Zehn Jahre lang. Als hätten die roten Augen meiner Alheid denen da drunten einen Zornblick in die Seel getan. Selbigsmal ist Herr Friedrich Propst geworden, ein fürnehmer Herr, der die Falken liebhat. Drum weiß er, daß der linde Griff viel weiter hilft als die grobe Faust, bei den Leuten grad so wie bei den Beizvögeln. Aber der ewige Streit mit seinen Stiftsherren hat ihn müd gemacht. Jetzt läßt er den Karren laufen, wie die anderen ihn ziehen. So sind die Scharfen unter den Stiftsherren obenauf gekommen, und Wernherus ist Dekan.« Mit Sorge sah Greimold zu dem Jäger auf. »Tu dich wahren, Bub, daß du dem nit unter die Hand kommst! Der hat einen Griff wie der Geier.«

Der Jäger schwieg.

»Der hat den Streit um mein freies Gut wieder angehoben. Und weil er merkt, daß er auf gradem Weg nichts ausrichtet, geht er den krummen. Im vorigen Herbst ist der Leutpfarr zu mir gekommen: Die Seel meiner Alheid war ihm erschienen und hätt geklagt, sie könnt nit eingehen zur Seligkeit und müßt zwischen Höll und Himmel brennen. Ich hab zwei Rinder an die Kirch gegeben. Ein paar Tag später sind sie gekommen, mein Vieh hätt Schaden getan an den jungen Pflanzen im Klosterwald. Um meine Sennbuben aus der Straf zu lösen, hab ich mich pfänden lassen um ein Kalb. Im Frühjahr hat der Steinhauser, der mein Inrainer ist, sein Weib genommen, und weil mir leid war um den armen Schlucker, daß er von seinem ringen Sach noch hergeben sollt, drum hab ich für ihn eine Milchkuh als Brautsteuer ans Kloster gegeben und ein paar süße Käs an den Leutpfarr. Jetzt sagen sie, ich hätt zu Lichtmeß und am Michelstag gezinset wie ein höriger Mann. Und schreiben die Lug ins Holdenbuch.«

»Nein, Greimold! Dazu ist Wernherus zu klug.« Der Jäger lächelte.

»Warum aber sagen sie's?«

»Um das zu ergründen, sind wir beide nicht fromm genug.«

»Ja, Bub! Einer mit gradem Sinn steht allweil wie ein Kind vor jedem, der krumme Gedanken hat. Der Zinsmeister wird zeugen gegen mich, daß ich heut getan und gesagt hab, ich weiß nit was. Und sie werden mich fassen wollen.«

»Wenn das geschieht? Was dann?«

»Wollen und Können ist zweierlei!« sagte der Bauer mit ruhigem Ernst. »Wenn sie meinen, sie zwingen's mit Gewalt, so nehm ich mein Recht in die Faust und wehr mich bis aufs Leben. Ich steh nit allein. Mein Gesind ist in Treu mit mir zusammengewachsen wie der Baum und seine Borken.«

In Sorge und zugleich mit Wohlgefallen glitten die Augen des Jägers über die Gestalt des Bauern. »Du bist der Mann, der Treue verdient. Aber die dort unten, Greimold, sind die Stärkeren.«

»Stärker als gutes Recht ist keiner.«

»Stärker als jedes Recht ist immer das Unrecht.«

»Das ist nit wahr, Bub! Sie können mein Hagtor einrennen, Feuer in mein Haus werfen und mich niederschlagen. Mein Recht bleibt.«

»Und dein Kind, Greimold?«

Der Bauer drückte die Fäuste auf seine Brust, als wären ihm die Rippen zu eng für die Sorge, die bei der Frage des Jägers in seinem Herzen lebendig wurde. »Was geschieht mit meinem Kind, wenn ich heut oder morgen sterb in Ruh und Fried? Sie wird's nit härter haben, wenn die Knecht des Wernherus über mich kommen.« Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund. »Ich bin doch der Lehensmann des lieben Gottes. Jeder Fürst hat diemal eine gnädige Stund. Muß ich halt denken im letzten Schnaufer: Mein Lehensfürst sell droben wird's gütig meinen mit dem Kind seines Dienstgesellen. Mach ich's halt meiner Alheid nach und geh hinüber mit einer Lug, die mich tröstet! Komm, Bub, da drüben ist dem Hilpot sein Haus!«

Stumm schritten sie der blauen Lichtung zu, die zwischen den welkenden Buchen schimmerte.

Der Bauer blieb stehen. »Mir ist nit um das bißl Zinsgut, das die da drunten heischen von mir. Zwiefach mehr, als sie verlangen, geb ich alljahr an Leut, die's brauchen können. Aber ein blindes Kind, wenn's nit verzagen soll in der Finsternis, muß seinen Glauben haben an Blumen, die nit sterben. Gradso geht's jedem anderen. Wer lebt, muß die Augen ein lützel blind haben und im Dunkel sein Blüml sehen. Jedem, der lebt, muß in tiefster Seel was leuchten, das er in aller Lebenskält verspürt wie Maiensonn. Oder sein Leben war den Schnaufer nit wert. Was meinem Kind seine ewigen Blumen sind, das ist mir der Halt an meinem freien Mannstum.«

Irimbert faßte die Hand des Bauern. »Keiner versteht dich besser als ich. Mein Leben ist unnütz, ihm fehlt die Blume. Von dieser Stund an soll's meine Freude sein, an dein Kind zu denken und für dich zu hoffen. Vielleicht auch, daß ich dir nützen kann. Und wenn sie Gewalt gegen dich brauchen, bin ich bei dir und will mit dem Eisen bei deinem Hagtor stehen.«

»Bub? Das tätest du für mich?«

»Ja, Greimold. Wernherus wird so schnell nicht begreifen, als ich willens bin, mich seiner zu erwehren.«

»Irmi?« stammelte der Gotteslechner. »Gelt, daß du fürchten mußt für dich? Um meinetwillen und wegen heut? Bub! Ich lauf hinunter ins Kloster und biet ihnen Buß nach ihrem Willen, ich kauf dich aus ihrem Dienst. Was sie verlangen, geb ich.« Er umklammerte die Hand des Jägers. »Du bist mir liebgeworden. Ich mag's nit denken, daß sie dich büßen. Ich schaff dir die Freiheit, Bub! Dann komm zu mir! Sollst es haben an meinem Herd, als wärst du mein eigen Blut. Und mein Kindl soll dir gut sein wie einem Bruder!«

Irimbert schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, Greimold! Zwischen deinem Wunsch und der Pflicht, die mich bindet, liegen Wasser und Berge.«

»Ein Wasser kann verlaufen, ein Berg kann fallen.«

»Das wird an dem Tag geschehen, der mich erlöst vom Leben. Wir müssen scheiden, Greimold!«

Der Bauer wollte die Hand des Jägers nicht lassen. »Mir ist bang um dich. Not über Not seh ich kommen. Und meine Angst hat doppelten Weg: Der eine geht heim und der ander zu dir. Herr du mein, wie hart ist das Leben!«

»Es muß so sein, wie es ist. Mir scheint, der Klügste von uns allen ist der traurige Jacho.«

Der Bauer atmete tief. »Du hörst wohl diemal im Kloster was von der Welt sell draußen? Das mit dem König Wute, der tief im Untersberg hauset und einmal kommen soll, seinen Goldschild an den Birnbaum hängen und Frieden machen auf der Welt? Das ist heidnisches Märenzeug, an das ich nit glauben mag. Aber sag mir, ob das wahr ist, daß der Kaiser Rotbart nimmer lebt und daß er im Judenland versunken ist in einem reißenden Wasser.«

»Das ist Wahrheit.«

»So kann's auch der nimmer sein, der kommen und helfen soll?«

»Auch der nicht!«

»Bub!« Die Stimme des Bauern war wie ein Schrei der Sehnsucht. »Es muß doch einer kommen, der alle Not verjagt und im Leben steht wie ein Turm mit mächtigen Glocken, die hinaustönen ins weite Land: Bei mir ist Recht, bei mir ist Frieden! So einer muß doch wieder kommen!«

»Das ist die Sehnsucht aller Zeiten und Menschen. Nie erfüllt sie sich.«

»Die gute Zeit ist doch gewesen einmal!«

»Hättest du gelebt in ihr, sie wäre dir schlecht erschienen.«

»Warum lebt man dann?«

»Das weiß ich nicht.« Der Jäger gewahrte am Wegsaum eine halb verdorrte Blume. Er brach sie und reichte sie dem Bauer hin. »Bring deinem Kind meinen Gruß und diese Blume. Sie ist welk und hat keinen Duft mehr. Das Herz deines Kindes wird sie blühen sehen.«

Greimold hielt den dürren Stengel in seiner zitternden Hand.

»Irmi?«

Wortlos wandte sich Irimbert und schritt dem Hag des Jägerhauses entgegen.

Die Sonne, die über dem Wald gelegen, war erloschen, und der Himmel begann sich zu trüben. Langgezogene Dunstwolken stiegen über die Berge herauf.

In der Hofreut des Jägerhauses saßen Mutter Hanna und Reinold auf der Steinbank. Die Alte spann, und der junge Falkner aß von einem kalten Stück Wildbret, das er in der Hand hielt und mit dem Messer in Scheiben schnitt. Kauend murrte er vor sich hin: »Allweil ist die Angst in dir, mit der du mich plagst. Ging's nach dir, so dürft ich nit reden und dürft nit schweigen, sollt das eine nit tun und nit das ander. Was hab ich denn da vom Leben?«

»Laß dir raten von deiner Mutter! Die hat sechs verloren und banget um ihren letzten. Sei gescheit und verhehl's im Kloster, daß du droben gewesen bist. Und schwatz nit solches Zeug! Er kennt doch die Leut sell droben nit. Wird halt im Zufall zum Gotteslehen gekommen sein und gerastet haben.«

»Zufall? So? Hättest du nur gehört, wie er geredet hat mit ihr! Als ob er selber blind wär, oder –« Der Falkner sprang erschrocken auf.

Irimbert hatte den Hof betreten.

Auch Mutter Hanna erhob sich. »Guten Tag, Herr! Mein Mann hat dich gesucht. Hat er dich nit gefunden?«

»Er fand mich.«

»So wird wohl alles gut sein. Dein Zeug, Herr, hab ich in der Stub zurechtgelegt.«

»Ich danke dir, Hanna!« Irimbert trat ins Haus. Stimmen ließen sich im Wald vernehmen. Der alte Hilpot, mit vier Männern, brachte auf einer Schleifbahre, die aus Fichtenästen geschränkt war, die beiden Hirsche zum Jägerhaus.

Mutter Hanna ging ihm entgegen. »Grad ist er gekommen. Schick die Mannsleut fort! Sie müssen nit wissen, wer im Haus ist.«

Hilpot wies den Hund zur Ruhe, der mit Gebell die Hirsche umkreiste. Dann sagte er zu den Männern: »Vergelts Gott, Leut! Wenn Feierabend ist, dann kommet zu einem festen Trunk und zur Hirschleber.«

Als die Männer gegangen waren, blickte Hilpot in Sorge nach der Haustür. »Ich hab ihn doch schon gefunden am frühen Morgen. Wo ist er denn gewesen die ganze Zeit?« Er zog einen Hirsch von der Bahre und begann ihn zu zerwirken. »Komm, Bub, hilf mir!«

»Daß ein Falkner mit Haarwild zu tun hat, ist gegen die Regel.«

»So?« brummte der Alte. »Zu meiner Zeit hat ein Jäger allweil getan, was sein hat müssen.«

»Ich hab mein gutes Zeug an. Das tät ich schweißig machen.«

»Drum! Die Regel ist Nebensach.«

»Geh, Reini«, fiel Mutter Hanna ein, um eine gereizte Antwort des Sohnes zu verhüten, »hinter dem Haus hab ich den Lein in die Sonn gelegt. Tu ihn zu einem Bund zusammen.«

Reinold ging. Und Hanna sagte zu ihrem Mann: »Allweil mußt du hacheln mit ihm.«

»Und du mußt ihn päppeln! Verderben schon die da drunten genug an ihm!« Hilpot verstummte.

Auf der Schwelle des Jägerhauses stand Irimbert im weißen Ordenskleid der Chorherren von Berchtesgaden. Die Pelzverbrämung an der aufgezogenen Krempe des Baretts und am Saum des kurzen Mantelkragens, der die Schultern deckte, verriet, daß der Träger dieses geistlichen Gewandes aus adeligem Hause stammte. Einer Ecke des Kragens war das Wappen seines Geschlechtes eingestickt, ein blauer Helm mit goldenem Bienenkorb als Ziemier, das Wappen der fränkischen Grafen von Immhof.«

»Gottes Gruß, lieber Herr!« sagte Hilpot. »Ich kann dir die Hand nit bieten.« Seine Arme waren bis an die Ellbogen rot vom Schweiß des Hirsches. Er trat auf Irimbert zu und fragte leis: »Warum, Herr, bist du nit lang schon daheim? Hast du dich bergen müssen? Vor denen, die dich gesucht haben?«

»Nein.«

»Wo bist du gewesen?«

»Bei Menschen, die mir liebgeworden. Ich lernte dort unten im Wald den Greimold kennen und hoffe, daß ich ihm nützen kann. Wenn er fragen sollte nach mir, so will ich für ihn nur sein, was ich heute war: Irmi der Jäger. Sage das auch der Mutter Hanna und deinem Reinold!« Irimbert wandte sich zum Heimweg.

»Gottes Gruß, Herr!« nickte Mutter Hanna.

Da blieb er lächelnd stehen. »Sieh nur, Hanna, wie ein Tag den Menschen wandelt! Gestern war der Wunsch in mir, daß ich liegen möchte, wo ein Baum gefallen.«

»Und heut?«

Es sprühte in seinen Augen. »Heut ist der Wunsch in mir, daß ich selber wäre wie ein starker Baum, der mit Brausen stürzen kann, um alles Unkraut zu zerschlagen, das auf der Erde wuchert.«

Die Spinnerin sagte ruhig: »Was tät's dir helfen? Schlag hundert giftige Kräuter nieder, und tausend wachsen.«

»Aber hundert wären ausgerottet. Das gäbe Raum für Blumen.« Raschen Ganges verließ er die Hofreut.

Mit kurzen Windungen führte ein von Regenbächen ausgespülter Saumpfad über das steile Waldgehänge hinunter. Das farbige Laub, das in der Morgensonne wie Feuer geleuchtet hatte, schien im trüben Licht des verschleierten Himmels wie mit Staub überhaucht; keine Vogelstimme im Wald; sogar die Bäche schienen verstummt, als wäre bleischwere Luft, die jedes Geräusch verschlang, auf die Erde gesunken. Nun fiel ein kalter Windstoß über die Wipfel und wirbelte das welke Laub davon. Wieder Stille.

Irimbert, in Gedanken versunken, schien nichts anderes zu sehen als den Weg, dem er folgte. Plötzlich verhielt er den Schritt, gefesselt vom Anblick eines erbarmungswürdigen und dennoch lächerlichen Menschenbildes. Neben dem Saumpfad, an den Stamm einer Buche gelehnt und bis an die Hüften eingewühlt in das welke Laub, ruhte ein Greis, nur halb noch ein lebender Körper, halb schon Gerippe. Das weiße Haar fiel in dünnen Strähnen lang herab, mit Reisigstücken und Moos behangen. Der Bart war zu ungleichen Stoppeln geschnitten, die wie ein weißer Filz das Gesicht überwucherten und nur die Augen noch übrigließen, eine graue, runzelige Nase und eine niedere Furchenstirn. Sein Gewand war nur ein hängender Fetzen, durch dessen Risse der magere, welke Leib hervorsah. Statt des Gürtels trug er eine schwere Eisenkette um die Hüfte, und in den Armen hielt er ein Kreuzbild aus rostigem Blech, wie es auf den Gräbern armer Leute zu stehen pflegt.

»Mensch! Wer bist du?«

Ohne zu antworten, sah der Greis an dem Mönch hinauf, mit dem Blick des Irrsinns in den trübflackernden, rotgeränderten Augen.

»Bist du es, den sie den traurigen Jacho nennen?«

Der Irre verstand seinen Namen und nickte.

»Warum trägst du die Kette? Willst du büßen?«

Jacho schwieg.

»Liebst du den Guten, dessen Leidensbild du in den Armen hältst?«

Jacho schwieg.

»Bist du stumm?«

Da nickte der Greis.

 

Bewegt vom Anblick dieser Armut, reichte Irimbert dem Irren eine Münze. Jacho nahm sie mit einer von Schmutz überkrusteten Hand, betrachtete das Silber, warf es ins welke Laub und wischte an seinen Lumpen die Hand ab. »Ich merke, du bist reich! Und ich, der ich dir geben wollte, bin der Arme.«

Je länger Jacho die schönen, strengen Züge des jungen Mönches betrachtete, desto schärfer wurde sein Blick. Nun drückte er das Kreuzbild fester an seine Brust, seine Augen füllten sich mit Tränen, und zwei große Tropfen kollerten ihm über die Stoppeln des weißen Bartes.

»Weinst du, weil ich leben muß?«

Der Irre bewegte den Mund. Ein sinnloses Lallen kam von seiner Zunge.

»Ja, guter Freund, so lautet die Antwort immer, wenn einer eine Frage an den Tod oder an das Leben stellt. Du bist ein weiser Mann.« Mit ernstem Lächeln wandte Irimbert sich von dem Irren ab und folgte dem Weg.

Jetzt wurde der Berghang flacher, der Wald begann sich zu lichten, zwischen den Bäumen schimmerte das müde Gelbgrün einer herbstlichen Wiese, und Irimbert trat aus dem Wald auf einen freien Hügel hinaus. Hier stand ein Kreuz. War das die Wolfsreut? War es das Kreuz, vor dem die Alheid das Opfer der blauen Blumen brachte? In zwei dunklen Linien durchschnitten die gekreuzten Balken das herrliche Bild des offenen Tales, das dem Hügel zu Füßen lag: mit dem blitzenden Lauf der Ache, mit dem welligen Geländ der Wälder und Wiesen, mit den zerstreuten Wohnstätten inmitten kleiner Felder und Gärten; mit dem Kranz der schönen Berge, die das Tal umhegten gleich einer ewigen Mauer – einer Mauer, über deren Zinnen wie ein Turm und Wahrzeichen der Natur der gebrochene Felskegel des Watzmanns und die Steinzacken der Watzmannkinder sich erhoben. Das schöne Bild war ohne Sonne. Unter dem trüb gewordenen Himmel waren alle Farben gedämpft, alle Heiterkeit der Landschaft war in Ernst verwandelt. Wie der Steinriese Watzmann über den kleineren Bergen, so ragte über den ärmlichen Wohnstätten der hörigen Bauern das reiche, mächtige Kloster empor mit Basteien und Mauern, mit schimmernden Fenstern und starken Toren, mit spitz gegiebelten Dächern und mit dem wuchtigen Turm des Münsters, der gleich einem steinernen Riesenarm zum Himmel wies.

Irimbert betrachtete das hölzerne Kreuz und blickte hinüber zum Kloster. In seinen Augen war heller Glanz. So hatten sie gefunkelt, als er im Jägerkleid dort oben in die sternhelle Nacht hinausgerufen hatte: »Kampf! Wie bist du schön! Wie lieb ich dich!« –

 

Um die gleiche Stunde, als der Sturm begann, erreichte der Gotteslechner sein Heimwesen. Vor dem Hagtor traf er mit dem Steinhauser zusammen, der aus der Hofreut kam, eine langstielige Axt auf der Schulter. »Wo aus, Nachbar?« Zum grauen Himmel aufblickend, sagte der Steinhauser lachend: »Ich mein, es geht auf den Winter zu. Da will ich mir heut noch eine schöne Feicht niederschlagen, daß sie dürren kann unterm Schnee und bis zum Frühjahr feinspaltige Bretter gibt zu einer Wiegen.«

»Gottes Segen über dein Hausglück, Nachbar! Aber gelt, eh's Abend wird, bist wieder daheim? Ich muß reden mit dir. Auch könnt ich Ursach haben, daß ich zur Nacht mein Hagtor fest verwahr.«

Erschrocken sah der Steinhauser dem Gotteslechner in die Augen. »Bauer?«

Greimold spähte durch das offene Tor und dämpfte die Stimme. »Ist das Kind im Hof?«

»Wohl, sie sitzt bei der Ulm, und ihr Gesichtl ist freudig, wie ich's lang nit gesehen hab.« Auch der Steinhauser sprach mit leiser Stimme. »Aber sag, Bauer –«

»Wir reden's zum Abend aus. Sie könnt uns hören. Geh, Nachbar!«

Der Steinhauser nahm die Axt von der Schulter und prüfte mit dem Daumen die Schneide. »Ich bleib daheim.« Laut und lustig begann er mit dem Gotteslechner zu schwatzen, und vom Hagtor rief er zur Ulme hinüber: »Juttla, tu dich freuen, der Vater ist da!« Dann ließ er sich neben dem Tor auf einen Holzblock nieder und legte die Axt übers Knie. Von der weißen Hündin geführt, kam Jutta dem Vater auf halbem Weg entgegen. Im Winde flatterte das lockige Haar um ihre Wangen. Beim Anblick seines Kindes stieg dem Gotteslechner das Wasser in die Augen. Dann grüßte er mit heiteren Worten. Und Jutta sagte: »Vater, ich muß dir was erzählen –«

»Ich mein, ich weiß schon alles.« Greimold legte den Arm um das Mädchen. »Willst du mir sagen von einem Jäger, der Irmi heißt? Der ist in der Waldhut drunten zu mir gekommen.«

»Bist du ihm gut geworden?«

»Gut fürs Leben.« Greimold sah mit heißem Sorgenblick in das Tal hinunter. »Ich soll dich grüßen, bis er wiederkommt.« Seine Stimme schwankte. »Schau, er hat mir zum Gruß ein Blüml geboten. Für dich.«

»Gib mir's!« Das Gesicht von rosigem Schein überglänzt, stand die Blinde mit suchenden Händen, während Greimold die welke Blume achtsam von seiner Kappe löste. Halb war die sterbende Blume schon zerfallen. Jetzt wehte der Wind die letzte farbige Flocke ihres Kelches davon. Als Jutta den kahlen Stengel empfing, zitterten ihre Hände, wie die Finger eines Kindes zittern, wenn es scheu eine zerbrechliche Kostbarkeit berührt. Der Sturmwind zauste ihr Haar, faßte rauschend ihr Kleid und machte den zarten Mädchenkörper wanken. Das schien die Blinde nicht zu fühlen. Sie lächelte. »Vater, ich seh das Blüml! Du hast mir noch keines gebracht, so lieb und schön.« Sacht berührte sie den Knoten des entblätterten Kelches. »Gelt, es ist noch ein Knöspl, ein junges? Weil ich um sein Gesichtl herum kein Blättl spür?«

»Ja, Kind, ein Knöspl! Wie gut du das gesehen hast!«

»Wenn ich's hegen tu, wird's blühen?«

»Ja, Kind!« Der Bauer warf in Unruh einen Blick gegen das Hagtor. Man vernahm den Schellenklang und das Gebrüll der heimkehrenden Herde. »Komm, ich führ dich ins Haus.« Als sie zur Tür kamen, hörte Jutta den Lärm. »Vater, warum treiben die Sennen heim? Es ist doch so schöne Zeit!«

»Freilich, ja! Aber rauhes Wetter ist nimmer weit. Ich mein, es blühen die Eisblumen bald.«

»Warum singen die Buben nit wie sonst, wenn sie heimtreiben?«

»Sie singen wie allweil. Aber der Wind ist laut. Da hört man's nit. Geh, komm ins Haus!«

Während die beiden über die Schwelle traten, sprang die weiße Hündin mit Gebell der Herde entgegen. Ruglind brachte den Karren mit dem Almgerät gezogen, keuchend unter der Last, das vergrämte Gesicht von Schweiß überronnen. Ihr folgten die Junghirten mit den Ziegen und Schafen. Eine Weile später kamen die Sennen mit der großen Herde. Das war trübselige Heimkehr. Kein Lied, kein Jauchzer. Nur die Rinder brüllten. Als sie in den Hag getrieben waren, schloß der Steinhauser das Tor und schob die schweren Riegelbalken in die eisernen Klammern.

Sausend jagte der wachsende Sturm über das Gotteslehen und seine Dächer hin.

 


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