Ludwig Ganghofer
Das Gotteslehen
Ludwig Ganghofer

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3

Zu Füßen der Ulme, wo die hölzerne Treppe über den ungefügen Stamm hinaufkletterte, war mit Balken eine Diele gelegt, und hinter einem Tisch mit roh behauener Steinplatte schmiegte sich eine halbrunde, aus Buchenästen geflochtene Bank mit der Lehne an den Baum. Hier saß die Sängerin des Maienliedes, ein junges Mädchen, schlank und zierlich gewachsen wie ein Herrenkind; ein knappes Leibchen, das aus dem weißen Winterfell des Berghasen geschnitten war, umhüllte die junge Brust; die Leinenärmel waren ein wenig geschürzt, so daß sie die von der Sonne leicht gebräunten Arme zeigten; ein Rock aus blauem Hanftuch, hoch an das Leibchen angeschnürt, floß in eng gereihten Falten über die schlanke Gestalt hinunter, auch die Füße noch verhüllend. Den Scheitel bedeckte ein kleines Käppl aus rotem Tuch, unter dem das blonde Haargeringel hervorquoll, das die Stirn umzitterte und auf die Schultern fiel. Aus dem Schimmer der lockigen Haare blickte ein schmales Gesicht, halb noch das Antlitz eines Kindes, überhaucht von einem ernsten Schatten – ein Gesicht, das einer Blume glich, die der Reif einer kalten Frühlingsnacht berührte. Die roten Lippen lächelten unbeweglich wie bei erwartungsvollem Lauschen. Und die seltsamen Augen! Sie waren groß und schön, von lichtem Blau. Wie ein Schleier trüber Schwermut lag es über ihnen. Augen wie Sterne, deren Glanz verschwimmt unter ziehendem Nebel. Und so seltsam ruhig blickten sie, so ziellos und verloren! Es war ein Blick in diesen Augen wie der Blick einer Seherin. Und doch diese kindliche Heiterkeit, die emporglänzte aus der Tiefe einer reinen, glücklichen Menschenseele!

Leuchtende Sonne war um das Mädchen her. Die Ulme, schon halb entlaubt, gab wenig Schatten; die gelben Blätter lagen ausgestreut in weitem Kreis, und lautlos, ohne Unterlaß, fiel das sterbende Laub von den Ästen des Baumes nieder, gaukelnd in der Sonne, gleich einem goldenen Flockenfall. Bald an Brust und Schultern des Mädchens, bald an dem Blondhaar haftete solch eine schimmernde Flocke.

Der Jäger vergaß des Grußes und näherte sich schweigend, befangen von dem Liebreiz und der Seltsamkeit dieses Bildes.

Die weiße Hündin, die sich zu Füßen ihrer Herrin niedergekauert hatte, richtete sich auf und knurrte wieder. Da streichelte das Mädchen dem Tier das zottige Fell und sagte lächelnd: »Zenta, sei gut! Wie magst du schelten auf einen Gast? Bloß weil er ein Fremder ist? Tu dich legen! Das ist ein guter Mann.« Gehorsam streckte sich das Tier auf die Balken nieder und folgte mit den Augen jeder Bewegung des Fremden, während das Mädchen sagte: »Gottes Gruß! Komm nur und tu rasten auf meiner Bank! Meine Zenta mußt du nit fürchten. Die murrt nur, weil du ihr neu bist.« Das Mädchen schwieg ein Weilchen. »Mir bist du auch ein Fremder. Dich hab ich noch nie gesehen, hab deinen Schritt noch nie gehört.« Das schmale Gesicht war ein wenig gehoben, ganz regungslos; nur zwischen den Brauen rührte sich der leise Schatten einer Furche wie bei angestrengtem Horchen in weite Ferne. »Ein Bauer bist du nit. Dein Gang ist leicht und frei. Du mußt nit harte Arbeit tun. Ein Handelsmann bist du auch nit. Sonst tätest du reden.« Noch immer schwieg der Gast und blickte in diese stillen Augen, sah auf diesen roten Kindermund, der ruhig plauderte und dabei eine Sprache führte, die wie ein Rätsel klang. Da ging's wie freudiges Aufleuchten über das ernste Mädchengesicht. »Jetzt weiß ich, was du bist. Ein Jäger. Gelt, ich hab recht?«

»Hast du das an meiner Waffe nicht gleich gesehen?«

»Nit gleich. Aber jetzt. Wahrhaftig, ich seh's. Um die Schulter hast du ein Schießzeug hängen. Das klirrt ein lützel. Und im Täschl am Gurt, da trägst du die Bolzen. Die schlagen ans Leder an, wenn du dich rührst. Grad so seh ich's allweil, wenn der alte Hilpot haingarten zum Vater kommt. Aber du? Du bist ein junger, gelt? Und hoch gewachsen bist du, deine Stimm ist über mir.«

Mit gesteigertem Befremden sah der Jäger das junge Mädchen an. War es eine Irre, die zu ihm redete? Oder war es möglich, daß in der Abgeschiedenheit des Bergwaldes ein Kind zur Jungfrau reifen konnte, um mit zwanzig blühenden Jahren noch immer zu denken und zu sprechen wie in der Kinderzeit?

»Haben dich die Klosterherren eingedinget zur Aushilf für den alten Hilpot?« plauderte das Mädchen weiter. »Er hat schon oft geredet davon, daß seine müden Jahr einen Gesellen brauchen. Wohnst du drüben am Vorder Eck bei ihm? Aber noch nit lang, gelt nein? Sonst hätt ich hören müssen von dir. Und machst du einen Bergweg heut? Weil der Tag so schön ist, gelt? Aber nein –« Mit hellem Kinderlachen unterbrach sie ihr Geplauder. »Heut weiß ich schier nimmer, was ich seh und sag. Du gehst nit hinauf, du kommst herunter vom Berg. Gelt, ja? Bergblumen sind in der Luft, die um dich her ist. Und mit dem Wild hast du zu tun gehabt. So seh ich's allweil, wenn der Hilpot zum Vater sagt: ›Heut hab ich einen guten Hirsch geholt.‹ Da mußt du genächtigt haben auf den Alben. Die sind jetzt nimmer befahren. Seit einer Woch ist alles Vieh schon drunten in der Waldhut. Da hast du auf der Alben bleiben müssen in der leeren Hütt. Hast du Zehrung bei dir gehabt?«

»Zehrung?« wiederholte der Jäger, aus seinem stummen Schauen erwachend. »Nein!«

»O Jesu mein!« sagte sie erschrocken. »Da hast du hungern und dürsten müssen über Nacht?«

Der Jäger lächelte zu dieser Sorge. »Meine Nacht ist kurz gewesen. Und der schöne Morgen hat mich an Hunger nicht denken lassen. Aber jetzt –« Er sah die Hände des Mädchens an, als wäre der Wunsch in ihm erwacht, einen Trunk von diesen schlanken, feinen Händen gereicht zu erhalten. »Ja, Mädchen, mich dürstet. Willst du mir zu trinken geben?«

»Freilich! Wart nur ein lützel, ich hol dir gleich einen guten Trunk.« Dem Eifer, der aus diesen Worten klang, widersprach die bedachtsame Art, mit der sich das Mädchen erhob und eine bunte Strohmatte, an der sie vor der Ankunft des Jägers geflochten hatte, von ihrem Schoße nahm und auf den Steintisch legte. Auch die weiße Hündin war aufgestanden und drängte sich dicht an das Mädchen, als wäre das so die Gewohnheit des Tieres, seine Herrin auf Schritt und Tritt zu geleiten.

»Komm, Zenta!«

Das Mädchen vergrub die eine Hand in das Fell der Hündin. So gingen die beiden langsam dem Hause zu. Es schien, als ließe sich das Mädchen gleich einem spielenden Kind von dem Tiere ziehen.

Die beiden waren bereits im Haus verschwunden, und noch immer hingen die Augen des Jägers an der Tür. Dann sah er umher, als wäre alles, was er gewahre, für ihn ein Unverständliches. Lächelnd wie einer, den ein freundliches Mummenspiel umgaukelt, ließ er sich auf die Bank nieder und betrachtete die Strohmatte, in deren gelben Grund mit rot und blau gefärbten Halmen absonderliche, sinnlose Figuren eingeflochten waren; aber diese Zeichen mußten doch ihre Bedeutung haben, denn in jeder Farbe wiederholte sich ihre Form.

Während der Jäger das wunderliche Geflecht betrachtete, begann sich die Luft zu trüben. Die Sonne erlosch, und das Blau des Himmels verschwand im Nebel, der in dichten Massen aus dem Tal heraufdrängte über den Berghang.

Durch den grauen Schleier, der schon das Haus umhüllte, kam's wie farbiger Schimmer gewandelt. Das Mädchen mit seiner weißzottigen Gesellin kam zurück. »Da, Jäger, nimm und trink! Der liebe Gott soll dir's gesegnen.« Lächelnd reichte sie dem Gast eine hölzerne Schale, mit Milch bis an den Rand gefüllt.

Er nahm und trank. »Ich danke dir, Mädchen! Dein Trunk hat mich erquickt.«

»Gelt, Mann, das ist gute Milch! Erst heut am Morgen hat sie der Senn von der Waldhut heraufgebracht.« Sie ließ sich nieder, und Zenta lagerte sich wieder zu ihren Füßen. »Freilich, in der Albenzeit ist die Milch noch besser. Die Herbstblumen im Wald, die haben den starken Duft nit wie die Sommerblumen auf den Alben. Drum ist die Milch von der Waldhut nit so stark wie die Albenmilch. Wenn ich von der Albenmilch ein Tröpfl auf meiner Zunge hab, seh ich im Duft, den ich spür, alle Blumen, die sell droben blühen.« Sie hob das schmale, stille Gesicht und blickte durch den Nebel der Höhe zu. Dann sagte sie leise: »Sell hinauf, wo soviel Blumen sind, da möcht ich hinauf! Nur ein einzigsmal.«

»Du? Ein Kind der Berge?« fragte der Jäger. »Du hast die Alben noch nie gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Als Kind, in meiner Lichtzeit, hätt ich so hoch nit steigen können. Jetzt tät ich mich trauen. Aber der Vater will's nimmer erlauben, daß ich mich bis zu den Alben führen laß. Der Vater hat recht. Was tät's mir helfen?« Mit einem Seufzer, der wie ein mildes Lächeln war, nahm sie die Matte auf den Schoß, griff nach den bunten Halmen, die, in der Farbe gesondert, auf dem Tische lagen, und begann zu flechten. Die geschickten Hände schienen dieses Werkes so kundig zu sein, daß das Mädchen die Augen zur Arbeit gar nicht brauchte. Die blickten ruhig in den Nebel hinaus.

Der Jäger wußte nicht mehr, was er denken sollte von diesem seltsamen Kind und dem dunklen Sinn der Worte, die der rote Mund mit diesem unversiegbaren Lächeln plauderte.

Da fragte sie plötzlich: »Warum bist du so still?«

Nur um zu sprechen, sagte er: »Da hast du wunderliche Zeichen in deine Matte geflochten. Was bedeuten sie?«

Nun lachte sie heiter, als hätte sie einen Scherz gehört.

»Aber, Jäger! Das sind doch Blumen!«

»Blumen? Das?«

»Freilich! Die mußt du doch kennen als Bergjäger! Die roten, das sind Albrosen, und die blauen, das sind Enzianglocken. Der Vater und alle Hausleut sagen mir allweil, daß meine Blumen ausschauen, als ob sie blühen täten, grad so wie die richtigen Blumen. Aber weißt du, Jäger – geh, sag, wie heißt du denn? Ich kann doch nit allweil Jäger sagen. Tu mir deinen Namen nennen, ich sag dir den meinigen auch.«

»Ich heiße Irimbert.«

Nachdenklich wiederholte das Mädchen den Namen »Irimbert?«

»Deinen Namen weiß ich schon. Du bist Jutta, die Tochter im Gotteslehen.«

»Hat dir Mutter Hanna oder der gute Hilpot von mir gesagt?«

»Nein. Als ich kam, da hörte ich, wie ein Bauer mit dir schwatzte. Der nannte dich Juttla.«

»Der Steinhauser, ja. Der ist unser Inrainer. Ein guter und treuer Mann. Sell drüben, schau, das Häusel ist sein. Der Steinhauser, ja, der ruft mich Juttla. Aber der Vater sagt Juttula. So hat mich auch die selig Mutter gerufen. Und die Helgard heißt mich Luttei. Und der traurige Jacho – mein Nam ist das einzige Wörtl, das er weiß und sagen kann –, der ruft mich Uttu.« Das Mädchen lachte. »Ein jeds, das mich lieb hat, macht ein anders Wörtl aus meinem Namen. Und die Albleut sagen Hauskind zu mir. Aber Jutta hat mich noch keiner geheißen. Du bist der erst. Freilich, du hast mich noch nie gesehen, und ich hab dir noch nie was helfen können. Die einem gut sind, machen die langen Namen kurz und die kurzen lang.« Wieder lachte sie, und dieses heitere Lachen wandelte den verträumten Ernst des schmalen Gesichtes in holden Liebreiz. »Wärst du mein Bruder und tätest Irimbert heißen, ich müßt dich Irmi rufen.«

»So hat meine Mutter mich genannt.«

Lauschend hob Jutta das Gesicht und wandte ihre stillen Augen dem Jäger zu. »Jetzt auf einmal hast du eine andere Stimm. Jetzt hat deine Seel geredet.« Langsam fragte sie. »Hast du auch die Mutter schon verlieren müssen?«

»Ja.«

»Gelt, das tut weh! Nimmer haben und halsen dürfen, was einem lieb ist? Das ist das einzig Harte am Leben. Alles andere ist gut.«

Der Jäger schwieg.

Da streifte das Mädchen mit beiden Händen über den Tisch hin und fand eine Hand des stillen Gastes. »Wie lieb mußt du deine Mutter gehabt haben! Ich hab's aus deiner Stimme gehört. Und spür's, weil du jetzt kein Wörtl hast. Ich mein, ich seh, wie deine Augen trauern. Aber gelt, du hast doch Heimleut, Vater und Geschwister, die dir das Harte tragen helfen?«

»Nein. Den Vater hab ich nie gekannt. Mein Bruder hat mich gehaßt und hat mir die Mutter getötet. Nein, Kind, erschrick nicht! Es war kein Töten mit der Waffe in der Hand, es war ein Ermorden mit Worten, die aus steinernem Herzen kamen.«

»Kann's das geben?« stammelte Jutta, als hätte sich jäh vor ihrem Blick eine grauenvolle Tiefe des Lebens aufgetan. »Einen Sohn, der seiner Mutter weh tut, kann's das geben?«

Irimbert schien nicht zu hören, was sie sagte. Unter den Händen des Mädchens ballte sich seine Faust. So saß er und schwieg, ohne zu fühlen, wie sanft seine Hand gestreichelt wurde. Dann blickte er auf, versunkenes Feuer in den Augen. »Die Mutter verlieren? Das war das einzig Harte am Leben? Und alles andere wäre gut? Das ist das Wort eines Kindes, dem das Leben fremd ist. Ich sage dir: Einer Mutter Liebe ist am Leben das einzig Gute. Alles andere ist Häßlichkeit und Ekel, unwert des Erlebens. Das hab ich erkannt, seit ich im Leben einsam stehe. Meine Mutter hat mich geliebt, an ihrem Herzen hat das meine gehangen. Seit sie die schönen Augen schloß, hat mich niemand mehr geliebt, und keinem Menschen mehr bin ich gut gewesen.«

Eine Weile war Stille. Nur die welken Blätter raschelten, die aus dem Gezweig der Ulme niederfielen.

»Keinen Menschen wissen, der dich lieb hat? Und keinen haben, dem du gut bist?« sagte Jutta mit halb erloschener Stimme. »Dann tust du mich erbarmen, Irmi.« Ihre stillen, großen Augen schwammen in feuchtem Schimmer.

Da nahm der Jäger die Hände des Mädchens, und der Ernst seiner Züge löste sich zu mildem Blick. »Ich bin dein Bruder nicht. Warum nennst du mich Irmi?«

»Ich hab so sagen müssen.«

Er lächelte. »Ich glaube, daß ich dir von Herzen gut sein könnte. Denn du bist gut.«

Es ging über ihre Züge wie ein rosiger Hauch.

»Und vieles an dir erinnert mich an meine Mutter. So wie du konnte sie manchmal lächeln, versöhnlich und geduldig. Ihre Hände waren so ruhig wie die deinen, so lind und warm. Wenn sie dachte, ich weiß nicht an was, dann hatte sie den gleichen stillen Blick wie du, mit so großen Augen, in denen der Schleier einer Sorge oder eines überwundenen Leides war.«

»Ist deine Mutter auch blind gewesen?«

»Blind?« Erschrocken hatte sich Irimbert erhoben, so jäh, daß Zenta zu murren begann. »Juttula? Du? Und blind!« In ratloser Erschütterung sah er das Mädchen an. Eine Frühlingsblume! An der man seine reine Freude hatte! Und da kam ein Tier und trat auf die Blume. Sie hat ihre Farben noch, ihren lieblichen Kelch, ihren Duft. Dennoch muß sie welken in langer Nacht, die keinem Morgen weicht. Soll nimmer blühen, nicht atmen und lieben wie andere Blumen. »Blind!« Es schien, als könnte er dem finsteren Worte nicht glauben. »Du? Und blind?«

»Hast du das nit gleich gemerkt?«

»Nein, nein!«

Jutta lächelte. »Du tust, als ob das ein Jammer wär! An deiner Stimm kann ich hören, wie du erschrocken bist.« Sie tastete in die Luft, als möchte sie die Hand des Jägers suchen. »Schau mich an! Ich tu doch lachen und hab keine Klag.«

»Blind? Und keine Klage? Die Menschen nicht sehen können, die dich lieben? Nicht den Himmel, die Berge, den Wald?«

»Aber ich seh doch alles! Ich hab als Kind meine guten Augen gehabt. Erst wie ich ins sechste Jahr gegangen bin, hab ich das Licht verloren. Und wie ich in meiner Lichtzeit alles gesehen hab, die Leut und den Himmel, die Berg und den Wald, so seh ich heut noch alles. Was ich seh, ist alles schön. Das hat keinen Wechsel und bleibt sich allweil gleich.«

Mit ihrem stillen Lächeln nickte die Blinde vor sich hin. »Ich mein, daß ich besser dran bin als die anderen Leut. Die hör ich oft reden von bösen Sachen. Als Kind in meiner Lichtzeit hab ich so was nie gesehen. Wie soll ich wissen, wie das ausschaut? Und die mir's sagen möchten, versteh ich nie. Was die Leut den Tod heißen, das kenn ich nit. Ich weiß bloß, wenn eins gestorben ist, kann's nimmer reden zu mir und kann mir die Hand nimmer geben. Aber sehen tu ich die Mutter allweil noch. Gelt, Mutter?« Lächelnd sprach die Blinde diese zärtliche Frage in den grauen Nebel. »Den Vater seh ich auch. Wie er geht und lacht, wie er schaut und die Arm auseinander tut, das seh ich alles. Der ist von allen Menschen der best. Grad so wie du, so stark und hoch ist der Vater. Braune Augen hat er. Die lachen allweil. Und ein brauner Bart ist um sein liebes Gesicht herum. Sein Haar, das hangt ihm glanzig herunter bis auf die Schulter. Jetzt lebt er schon an die fünfzig Jahr, und allweil schaut er noch aus wie ein Junger.«

Bewegt und gefesselt von jedem Wort dieses stillen Geplauders, saß Irimbert vor der Blinden. »Du siehst deinen Vater mit dem Herzen, Kind! Das sieht besser als die besten Augen.«

»Gelt ja!«

»Siehst du auch die anderen Menschen so gut?«

»Freilich! Aber nit so fest wie den Vater und die Mutter. Als Kind hab ich ein Wasser gesehen. Da hab ich lang hineingeschaut, wie's gelaufen ist, und das ist allweil anders worden und ist doch das gleiche Wasser gewesen. So geht's mir oft, wenn ich andere Leute seh.«

»Siehst du auch Menschen, die alt sind?«

»Freilich! Der Hilpot ist alt und die Mutter Hanna. Der traurige Jacho ist noch älter. Die sind schon alt gewesen in meiner Lichtzeit. Der traurige Jacho ist ein Manndl, das nur halb noch lebt und schon halb gestorben ist. Der kann nimmer reden. Bloß weinen und juchzen kann er noch. Und unser Fürsenn ist auch ein Alter. Aber die vier Sennbuben, die der Vater hat, sind junge Leut. Und unsere Magd, die Helgard. Die ist mit dem Leinen drunten auf der Bleich. Und die Ruglind. Das ist unsere Alberin. Und der Steinhauser und sein Weib, die sind auch noch jung. Und der Reinold. Das ist dem alten Hilpot sein letzter Bub. Den mußt du doch kennen als Jäger?«

»Den Reinold kenn ich. Den siehst du auch?«

»Der und ich, wir sind in meiner Lichtzeit Spielgesellen gewesen. Vier Jahr ist er älter als ich.«

»Sag mir, wie du ihn siehst!«

»Ich seh einen lustigen Buben mit einem runden, roten Gesicht. Sein Haar ist ein dicker Buschen um das ganze Köpfl herum. Jetzt ist er schon lang nimmer dagewesen. Früher ist er oft bei mir gesessen und hat geplauscht mit mir und mit der Helgard. Aber ein lützel unverständig ist er. Wenn ich ihm oft gesagt hab, was ich seh und wie schön das ist, dann hat er allweil gelacht. Allweil hat er was anderes gesehen. Und wenn mir nit der Vater nachher gesagt hätt: ›Kindl, du hast recht!‹ – ich weiß nit, was ich hätt denken müssen! Da ist mir oft alles durcheinandergelaufen, wie selbigsmal in meiner Lichtzeit das Wasser. Und ich hab mir müssen vom Vater alles wieder sagen lassen, daß ich alles wieder fest gesehen hab. Das kannst du mir glauben, Irmi: Alles, was um mich herum ist, seh ich so gut wie du!« Sie schien sein Schweigen für einen Zweifel zu nehmen. »Willst du eine Prob haben?« fragte sie, während leichte Röte ihre Wangen überhauchte.

»Sage mir, was du siehst!«

Er nahm die Hand, die nach ihm tastete, und hielt sie mit beiden Händen umschlossen.

Die Blinde atmete lächelnd, schob die Matte auf den Tisch und lehnte sich zurück.

Der Nebel, der sich im matten Winde kaum merklich bewegte, umhüllte die beiden jungen Menschen gleich dem Gewölb einer grauen Mauer. Die trüben Schleier waren so dicht gewoben, daß man von Wald und Sonne keinen Schimmer mehr erkannte und auch das Haus nur stehen sah wie einen Schatten.

»Ich seh den Himmel. Der ist blau. Wie ein großmächtiges blaues Dach ist er hingebaut über alles, was zur Welt gehört. Ich seh die Berg herunterwachsen gegen uns. Aus den Felsbergen kommen die Alben heraus. Die seh ich rot von lauter Blumen. Wie um ein Gesicht das dunkle Haar, so hangt um die Alben der Wald herum. Ich seh viel tausend Bäum, und über die kleinen wachsen die großen hinaus wie ein Vater über sein Kindl. Oft seh ich ihn völlig schwarz, den Wald. Das ist, wenn's nachten will. Wo aber der Sonnschein drüber liegt, ist jedes Bäuml wie ein Feuer, das hinaufbrennen möcht zum lieben Himmel. Schau nur, wie schön das ist!« Juttas Wangen hatten sich warm gerötet. »Wie eine Mutter ihr Kindl herzet, so streichelt der Wind den Wald. Jedes Bäuml rührt sein Köpfl und redet. Wenn die Bäum so reden zum Wind, das tut, wie wenn der Wald ein großes Wasser wär, das man rauschen hört. Wenn der Wald aber schweigt, so hörst du die Vögel singen, die im Wald ihre Nester haben. Das ist süß und schön. Wenn ich's hör, so werd ich allweil ein lützel traurig und spür in meiner Seel, was ich keinem Menschen sagen kann. Und allweil möcht ich was haben, was ich nit seh und was keinen Namen hat. Spürst du das auch so, wenn im Wald die Vögel singen?«

»Ja, Mädchen! Und nicht nur du und ich. Das fühlen die Menschen alle. Die Vögel singen vom Glück, und wenn die Menschen das hören, ist Sehnsucht in ihren Herzen.«

»Glück? Das ist ein Wörtl. Das hab ich die Leut oft sagen hören. Aber keiner hat's noch von ihm selber gesagt. Ein jeder sagt's bloß allweil vom andern. Was Glück ist, seh ich nit recht.«

»Das Glück ist ein schönes junges Weib. Das leuchtet, als wäre sein Leib aus Sonne geschaffen. Und Augen hat es, schön wie die Sterne und tief wie ein Brunnen. Wo es wandelt, blühen die Blumen auf seinem Weg. Und lächelt das Glück einen Menschen an, dann fühlt er nimmer Kummer und Weh, und sein Herz ist voll von Freude.«

Lauschend hatte Jutta sich an die Schulter des Jägers geschmiegt. »Hast du das Glück schon gesehen?«

»Nein! Ich glaube, daß es keinen Menschen gibt, der es sah.«

»Wie können dann die Menschen wissen von ihm? Der erste, der vom Glück erzählt hat, muß es doch gesehen haben.«

»Wer dieser erste war, das weiß ich. Der hat es gesehen.«

Irimbert lächelte. Und während er das in Erregung glühende Gesicht der Blinden betrachtete, schien er kaum zu wissen, was er sprach: »Wie der Mächtige, den die Menschen den Schöpfer heißen, alles Bestehende erschaffen hat, da ist die Welt entstanden, und noch ein anderes, die Unwelt, von der wir wissen, daß sie sein muß, irgendwo, hinter den letzten Bergen und über dem blauen Himmel. Und mit der Welt und der Unwelt sind zwei Geschwister entstanden, ein Bruder und eine Schwester. Diese Schwester wohnt in der Unwelt, die wir nicht kennen. Hier auf der Welt, mit uns Menschen zusammen, wohnt der Bruder. Das ist der Schmerz. Wenn er mit seinen Fäusten unsere Herzen drückt, erzählt er den Leidenden von seiner Schwester, von dem schönen Glück in der Unwelt.«

Jutta bewegte die Schultern, als wäre ihr ein wehes Frösteln durch die Seele gegangen. Dann richtete sie sich auf, und wie in Angst die Hände des Jägers drückend, sagte sie: »Nein, du! Das alles muß anders sein. Ich seh viel Schönes und Liebes in der Welt. Das kann nur gewachsen sein, wo das Glück gegangen ist. Schau nur den Wald an! Sieht er nit aus, wie wenn er hangengeblieben wär an der Welt, ein Stückl vom grünen Mantel, den das Glück getragen hat, wie's vorbeigegangen ist an meines Vaters Haus. Und wo der Wald ein End hat, seh ich die Wiesen kommen mit tausend Blumen. Wo ich die meisten Blumen seh, da hausen die guten Menschen, rund um uns herum. Da hat ein jeder sein Haus, der Nachbar das größte, und der am weitesten hauset, der hat das kleinste. Bei jedem Haus, da seh ich ein Feld, auf dem das gelbe Traid wachst, und seh den Wiesgarten, in dem die Birnbäum stehen. Das ganze Menschental, um das die Berg herum sind, ist wie ein großer Kreis, und da laufen die Wasser um und um. Wo ich hinhorch, hör ich ein Bächl rauschen und seh, wie das Wasser lacht in der Sonn. Und zu mittelst drin in der schönen Welt, da liegt unser Gotteslehen und unser Haus. Schau, wie's dasteht, groß und fest! Um unser Haus rum seh ich den ganzen Hof. Und zu mittelst im Hof, da steht unser Ulmenbaum. Da sitzen wir zwei. Wie das blaue Himmelsdach über der schönen Welt, so seh ich den großen Baum wie ein grünes Dach, über dir und mir!« Die Blinde atmete tief und wandte das Gesicht dem Jäger zu. »Siehst du was anderes, Irmi?«

»Nein, Jutta!« Zärtlich, wie ein Bruder zu seiner Schwester, legte Irimbert seine Hand auf den Scheitel des Mädchens. »Ich sage, wie dein Vater sagt: Du hast recht gesehen. Die Welt ist so, wie deine hellen Augen sie schauen.« Er streichelte der Blinden das Haar.

Da sagte sie leis: »Mein Vater hat eine linde Hand. Aber linder noch ist die deinig. Ich spür, Irmi, daß du mir gut bist.«

»Das bin ich, Juttula!«

Sie lächelte. »Schau, so ist's nimmer wahr, daß du keinen Menschen hast, den du leiden magst, und keinen, der dir gut ist. Auch mein Vater wird's gern haben, wenn du diemal zusprechen magst im Gotteslehen.« Während sie den Jäger mit regungslosen Augen zu betrachten schien, grub sich eine Furche zwischen ihre Brauen.

»Was denkst du, Mädchen?«

»Wieviel ich gäb drum, wenn ich dich sehen könnt! Darf ich dich ein lützel anschauen?«

Er begriff diese Frage nicht. Doch als sie mit scheuem Zögern die Hände gegen sein Gesicht erhob, verstand er und neigte sich zu ihr. »Schau mich an!«

Mit sanftem Fühlen glitten ihre zarten, rührsamen Fingerchen über sein Gesicht und über die Schultern auf seine Arme. Dann schwellte ein leiser Seufzer ihre Brust. »Ich seh dich nit! Nur dein Schießzeug und das Bolzentäschl an deinem Gurt. Arg jung noch mußt du sein. Ich hab kein Fläuml auf deiner Wang gespürt. Aber dein Gesicht, das seh ich nit. Bloß deine Augen. Ich seh zwei Augen, die gut und traurig schauen. Die seh ich, weil du so traurig reden tust.«

Da fuhr die weiße Hündin auf und rannte bellend gegen das Hoftor. Irimbert erhob sich. Er schien wie aus einem Traum zu erwachen, berührt von einem unwillkommenen Gedanken an die Wirklichkeit.

Die Hündin hielt ihre Nase an eine Fuge des Tores gepreßt und winselte. Jutta sagte: »Draußen muß einer vorbeigegangen sein, den sie kennt.«

Der Nebel begann zu steigen; hinter den wehenden Schleiern sah man Formen und Farben, es wurde licht in der Höhe, und weißlich schimmerte die Sonne durch das Grau. Stärker zog der Wind aus dem Tal herauf und trug den Klang zweier Glocken, die dort unten geläutet wurden.

Irimbert hatte bei diesem Klang seine Hand aus Juttas Händen gelöst.

»Was hast du, Irmi?« fragte die Blinde beklommen. »Mußt du gehen?«

»Ja.«

»Weil sie drunten im Kloster zu Mittag läuten?«

»Weil mich die Glocken rufen.«

Jutta erhob sich. »Gelt, du kommst bald wieder?« Unsicher tastete sie nach ihm.

Er faßte die suchende Hand des Mädchens. »Ich komme wieder, denn ich möchte lernen von dir, die Welt so schön zu finden, wie deine Augen sie sehen. Aber ich fürchte –« Seine Stimme klang herb, und es sprühte wie Haß in seinen Augen, während er hinunterblickte in das Tal, das der steigende Nebel zu entschleiern begann. »Ich fürchte, daß es lange dauern wird, bis wir beide wieder Haingart halten unter deiner grünen Ulme.«

Die Blinde lächelte. »Ich will Geduld haben. Mir wird die Zeit nit lang. Was die Leut so Tag und Nacht heißen, ist für mich nur ein einzigs. Ob's lang ist oder kurz, das weiß ich nit. Ich denk mir allweil, du kommst. Und bist du da, so wird's mir sein, als wärest du vor einem Stündl erst gegangen.«

In den Augen des Jägers erwachte wieder der milde Glanz. Er hielt die Hände des Mädchens in den seinen, und so standen sie in lächelndem Schweigen. Eines der welken Blätter, die von der Ulme niedergaukelten, streifte die Wange der Blinden und haftete an ihrer Schulter. »Leb wohl, Juttula! Ich komme wieder.«

»Gottes Gruß, lieber Jäger! Und guten Weg!«

Durch den schwindenden Nebel schimmerte blau der Himmel nieder, während Irimbert zum Hoftor ging. Dort stand noch immer die weiße Hündin. Als der Jäger das Tor öffnete und das Gehöft verließ, fuhr die Hündin winselnd auf die Wiese hinaus, suchte mit gesenkter Nase auf der Erde hin und her, blickte gegen den Wald hinauf und begann zu bellen. Da klang die Stimme der Blinden: »Zenta! Komm!« Mit jagenden Sprüngen eilte das Tier zu seiner Herrin und schob ihr schmeichelnd den Kopf unter die Hände. »Du Böse, du!« sagte das Mädchen leise. »Den darfst du nit schelten. Den mag ich leiden.« Sie grub ihre Hand in das zottige Fell. »Komm, Weiße, und tu mich führen!« Die Hündin wollte den Weg zum Hause nehmen. »Zum Tor, Zenta, ich will zum Tor!«

Der bergwärts steigende Nebel flatterte zu dünnen Schleiern auseinander, und helle Sonne flutete über das Gehöft und seine Dächer.

Hinter den Scheunen ließ sich eine trällernde Mädchenstimme vernehmen, die sich näherte. Eine junge Magd erschien und ging auf das Haus zu, einen Korb mit gebleichtem Leinen auf dem Kopfe.

Jutta, an der Seite ihrer weißen Gesellin, stand beim offenen Tor und lauschte gegen die Wiesen hinaus. Ohne das Gesicht zu wenden, rief sie den Namen der Magd.

»Helgard!«

»Ja, Luttei, ich komm!« Die Magd stellte den Korb zu Boden und eilte zum Tor. Es war ein kräftig gewachsenes Mädel, rund und gesund, mit einem schmiegsamen Körper, den das dürftige Gewand, ein Leinenhemd und ein kurzes braunes Röckl, kaum verhüllte. Das rötliche Haar, nur lose über dem Scheitel zu einem derben Schopf gedreht, umrahmte mit dickem Gezaus ein sonnverbranntes Gesicht mit üppigen, kirschroten Lippen und blitzenden Schwarzaugen, aus denen Gutmütigkeit und Trotz, nachdenkliche Schwermut und froher Leichtsinn redeten. Hätten nicht die vielen Sommersprossen, die wie ein gelbliches Schleierband um die Augen und über die Stirn gingen, das Gesicht ein wenig entstellt, so hätte die Helgard als ein schmuckes Mädel gelten dürfen. »Was willst du, Luttei?« fragte sie. Ton und Blick verrieten, wie herzlich die Magd ihrer jungen Herrin ergeben war. In freundlicher Sorge legte sie den Arm um die Blinde. »Ist wer dagewesen? Weil das Tor offen ist?«

»Schau hinaus über die Wiesen, Helgard!« flüsterte Jutta. »Sag mir, ob du den Jäger noch siehst?«

»Den Jäger?« Wie scheue Unruh sprach es aus der Stimme der Magd. Sie löste den Arm und trat mit hastigem Schritt vor das Tor hinaus. Auf der Wiese war niemand zu gewahren. Aber droben am Waldsaum zog sich einer flink in den Schatten der Bäume zurück, als möchte er nicht gesehen werden. Reinold war es, der Falkner.

»Helgard? Siehst du ihn noch?«

»Ja.« Langsam wandte die Magd das Gesicht. Ihre Brauen waren gerunzelt, und mürrisch fragte sie: »Ist er bei dir gewesen?«

»Drüben beim Ulmenbaum, da bin ich gesessen und hab Blumen geflochten. Da ist er gekommen.« Jutta lächelte und hob das schmale Gesicht, daß es von warmer Sonne ganz umschimmert war. »Siehst du ihn noch allweil?«

»Nimmer! Jetzt ist er im Wald.«

»Hast du ihn gut gesehen?«

Helgard verzog den Mund. »Ich mein schon, ja!«

»Magst du mir sagen, wie er ausschaut?«

»Geh, laß mich!«

»Tu mir die Lieb, Gardi, und sag mir's!«

Die Magd hatte gehen wollen. Der bittende Ton dieser Worte hielt sie fest. An den Pfosten des Tores gelehnt, mit hängenden Armen, starrte sie zum Wald hinauf, Groll und Sehnsucht in den Augen. »Er ist ein Bub, daß ich keinen andern weiß, der ihm gleichet«, sagte sie und schien nicht mehr zu wissen, daß sie zu Jutta redete, »hoch und stark wie ein Bäuml in seiner jungen Zeit! Und wie einem Bäuml sein Laub, so steht ihm sein farbiges Jägerkleid. Kein Herrensohn kann's schöner tragen! Ein Gesicht hat er, lieb und schmuck. Sein Flachshaar ist gekräuselt. Und goldig ist's.«

Lächelnd nickte die Blinde, und ihre Hände glitten wie tastend durch die Luft, als stünde einer vor ihr, dessen Gesicht und Locken ihre Finger sacht befühlten.

»Und Augen hat er –« Die Stimme der Magd versank in einem dürstenden Seufzer. »Die sind blau als wie die Blumen am Bach und schauen dich an, so glanzig und lebfrisch, daß du meinst, es fallt dir ein Sterndl ins Herz!« Die Arme hinter dem Rücken windend wie eine Gefesselte, die mit Schmerzen die Stricke fühlt, spähte die Magd gegen den Wald hinauf, alle Wünsche eines verliebten Weibes im suchenden Blick.

»Seine Augen?« fragte Juttula in Freude. »Die sind licht und froh?«

Die Magd fuhr auf, als hätte ein Schlag sie aus ihrem Brüten geweckt.

»Und allweil hab ich sie gesehen, als täten sie dunkel und traurig schauen.«

»Wenn er dich anschaut, kann's schon sein, daß er traurige Augen macht! Er wird auch wissen, warum!« Zornig auflachend, schlug Helgard das Tor zu und schleppte den schweren Korb zur Haustür.

Jutta stand erschrocken. »Gardi? Warum zürnst du mir?« Die tastende Hand der Blinden zitterte. »Weiße, wo bist du? Komm!« Sie ließ sich von Zenta zur Ulme führen und begann an ihren Blumen zu flechten.

Immer wieder rasteten ihre Hände. Während sie so saß, das schmale Gesicht mit den regungslosen Augen ein wenig erhoben, glättete sich allmählich die Furche zwischen ihren Brauen, und sie fand ihr stilles, träumendes Lächeln wieder. Zenta legte den Kopf in Juttas Schoß und blickte an ihr hinauf. Da streichelte die Blinde dem Tier die Stirn und flüsterte: »Ich seh ihn, Weiße!«

Die letzte Spur des Nebels war im Blau zerflossen, mit reinem Gold umflimmerte die Sonne das halb entlaubte Gezweig der Ulme, und lautlos gaukelten die gelben Blätter um das blinde Mädchen her wie spielende Falter um eine Blüte.

 


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