Ludwig Ganghofer
Das Gotteslehen
Ludwig Ganghofer

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9

Der Abend dämmerte im verschneiten Tal. Hier und dort an einer Hütte schimmerte Herdschein aus der offenen Tür. Droben auf dem Hügel, der das Kloster trug, leuchteten große Fenster mit strahlender Helle ins Grau hinaus. Hoch in den Lüften hingen trübe Nebelschleier, noch rötlich angeflogen von einem Nachglanz der Sonne, die im Westen freien Himmel gefunden; im Zwielicht der Tiefe war schon über den Schnee ein mattblauer Schein gegossen. Der Herdrauch, der aus den Dächern quoll, lag fein verteilt in der kalten Luft und mischte sich mit dem dünnen Nebel, der aufdampfte aus dem Bett der Ache. Im Rauschen des zwischen vereisten Ufern dahinschießenden Wassers gingen die letzten Geräusche des entschlummernden Tages unter, menschliche Stimmen und das Gebell eines Hundes.

Im Tal war der Schnee nicht so schwer gefallen wie droben auf den Gehängen der Berge. Hier unten ging auch der Schneepflug, mit zwanzig und dreißig Rossen bespannt, und nach jedem neuen Schneefall mußten die Bauern Frondienste leisten, um die vom Kloster ausziehenden Wege und die Talstraße am Ufer der Ache freizuhalten für den Verkehr der Salzkarren, für den Steuerschlitten des Zinsmeisters, für die Pferde und Maultiere der zum Weidwerk reitenden Chorherren.

Schon wurden die Schleier des Himmels grau, und es dunkelte im Tal. Da gaukelte auf der Achenstraße der Schein zweier Fackeln einher. Troßknechte des Klosters ritten dem Propste voran, der ihnen auf klingend geschirrtem Maultier folgte, in warme Pelze gemummt. Lässig hielt er den Zügel und war hinter den Fackelträgern zurückgeblieben. Plötzlich scheute sein Tier. Als Herr Friedrich aufblickte, sprang ein Mann, der weiß mit Schnee behangen war, aus dem Waldsaum hervor und faßte den Zaum des Maultiers. Der Propst erschrak und rief nach den Knechten. Beim Rauschen der Ache hörten sie den Ruf ihres Herren nicht und ritten weiter.

»Aus dem Weg!« Herr Friedrich wühlte unter seinem Pelz.

»Ohne Sorg, Herr!« sagte der Mann im Schnee. »Den Griff nach dem Eisen mögt Ihr lassen! Ich tu Euch nichts.«

»Wer bist du?« – »Der Bauer im Gotteslehen.«

Der Propst schien beruhigt. »Was willst du?«

»Ich hab gesehen, daß Ihr ausreitet, und hab gewartet auf Euch, um eine Bitt zu tun.«

»Deshalb überfällst du mich auf der Straße? Komme zu mir ins Kloster! Morgen am Tag. Dann will ich deine Bitte hören.« Herr Friedrich spornte das Maultier.

Greimold hielt den Zügel fest. »Ins Kloster? Habt Ihr nit gehört, Herr Propst? Ich bin der Gotteslechner. Fangwild muß getrieben werden. Von selber lauft keines ins Garn.«

»Gib den Weg frei!« befahl der Propst. »Du bist im Kloster so sicher wie jeder andere meines Landes.«

»Ja, Herr«, sagte Greimold bitter, »genauso sicher bin ich auch.«

Die Knechte mußten gemerkt haben, daß der Propst nicht hinter ihnen ritt. Mit erhobenen Fackeln kamen sie auf der Straße dahergesprengt. Herr Friedrich rief: »Ich komme gleich.« Er blickte auf den Bauer nieder und sah beim Schein der nahen Fackeln ein erschöpftes Gesicht mit gramvollen Augen. »Rede! Was willst du?«

Greimold trat dicht an den Sattel heran. Die Erregung würgte ihm die Kehle. »Herr Propst! Ich bin ein freier Bauer und muß nit zinsen, wie man zu Unrecht verlangt von mir. Aber ich will dem Kloster geben, was es begehrt. An Lichtmeß und Michelstag will ich zahlen, was von den hörigen Bauren der beste ans Kloster zu steuern hat. Ich will's dem Kloster aus freiem Willen hinlegen, jedes Jahr, solang ich leb. Das will ich beim heiligen Brot beschwören. Ich tu's, Herr Propst, sobald Ihr den Jäger in Freiheit gebt, den Ihr um meintwillen in Buß genommen.«

»Ich verstehe dich nicht. Wen meinst du?«

»Den Jäger Irmi.«

»Ich hab keinen Jäger dieses Namens.«

Der Gotteslechner klammerte seine Hand in das Pelzgewand des Propstes. »Den Jäger, Herr, der mir geholfen hat, wie Eure Fronknecht über mich hergefallen sind.«

»Den meinst du?«

»Den gebt mir wieder! Ich hab nimmer Ruh, solang ich den Buben in Buß und Elend weiß. Ich kauf ihn los, Herr Propst, ich zahl an Bußgeld, was das Kloster verlangt. Und wär's mein halbes Gut. Gebt mir den Buben heraus! Der soll nit leiden müssen.«

Seufzend nickte Herr Friedrich vor sich hin: Er fand einen Menschen! Sich niederbeugend, legte er seine Hand auf die Schulter des Bauern. »Du bist ein redlicher Mann. Das will ich dir gedenken.«

»Herr?« stammelte der Gotteslechner, als wäre ein Schimmer von Hoffnung in ihm erwacht.

»Dem Jäger, den du meinst, kann ich die Freiheit nicht geben. Der ist hartem Gesetz verfallen.«

»Herr! Schauet mich an: Ich leb und sterb für mein freies Mannstum. Geht's nimmer anders, in Gottes Namen, so nehmt mir die Freiheit! Morgen komm ich und laß mich scheren. Ich will dem Kloster ein Höriger sein in Treu. Aber gebt mir den Jäger heraus! Den muß ich haben.«

»Laß mich in Ruhe, Bauer!« Die Stimme des Propstes klang müd und ärgerlich. »Ich habe dir schon gesagt, den kann ich dir nimmer geben. Den hab ich selber verloren. Könnt ich ihn dem Leben zurückgewinnen –«

»Herr?« Dem Gotteslechner fielen die Arme, als wären sie gelähmt.

»Könnt ich das, ich gäbe mehr dafür, als der Haarschopf deiner Freiheit wert ist.«

Ein erstickter Laut in der sinkenden Nacht. »Der Bub ist tot?«

»Geh! Ich kann mir nicht helfen. Auch dir nicht. Gott verzeih mir meine Schwäche!«

Herr Friedrich spornte das Maultier, daß es schnaubend zu traben begann. Die beiden Knechte hielten die Fackeln hoch und schlossen hinter dem Propst die Straße.

Regungslos stand Greimold im Schnee und starrte der gaukelnden Helle nach. Als sie verschwunden war, reckte er sich auf. »Kloster! Den Buben sollst du mir zahlen! Der kostet Blut.« Keuchend ging sein Atem, als er sich auf der Straße niederkniete, um die Schneereifen unter seine Schuhe zu binden.

Da leuchtete über der Ache drüben, auf der steil zum Kloster führenden Straße der Schein der Fackeln wieder auf. Die Knechte waren aus dem Sattel gestiegen. Der eine führte die beiden Pferde, der andere das Maultier, das Herrn Friedrich trug.

Die Bürgergasse war schon menschenleer und still. Wie zwei hohe schwarze Zäune zogen sich die winkeligen Giebelwände der Häuser unter den schwer beschneiten Dächern hin. Aus dem Kloster, vor dem die Schlagbrücke über den Graben gelegt war, um den Fürsten eintreten zu lassen, fiel die flackernde Helle eines Pfannenfeuers. Stimmen und Gelächter im Laienhof, dazu das jämmerliche Wehgeschrei eines Menschen. Vor der Tür der Fronstube war ein Bauer mit entblößtem Rücken an den Bußpfahl gebunden. Knechte und Fronboten standen um den schreienden Sünder her, und der Scherg, der den Bauer die gesalzene Rute zu kosten gab, hatte just mit lauter Stimme gezählt. »Neunundzwanzig So! Und nun den letzten zu unseres Herrn Ehr! Dreißig!« Der Gezüchtigte stieß einen gellenden Schrei aus. Dann hing er ohnmächtig am Bußpfahl.

Mit abgewandtem Gesicht ritt Herr Friedrich durch den Laienhof. Den Bruder Pförtner, der das Innentor öffnete, fragte er: »Was hat der Bauer verschuldet, der da gebüßt wurde?«

»Ich weiß nit, Herr! Sie haben ihn gebracht vor einer Weil, und Herr Wernher hat ihm dreißig Gnädige zugesprochen.«

»Recht gnädig sind sie ausgefallen!« meinte der Propst mit galligem Spott. »Da darf der Bauer von Glück sagen, daß er die Scharfen nicht zu schmecken bekam. Ja, guter Bruder, wir haben einen barmherzigen Dekan.«

Die »Gnädigen«, das waren Hiebe mit der blanken Rute, während die »Scharfen« mit der Geißel verabreicht wurden, in deren Stricke kleine Bleikugeln eingeknotet waren.

Im Korridor des Stiftes harrte der Bruder Kämmerer, um seinem Herrn die Leuchte voranzutragen.

»Rufe mir den Dekan!«

»Herr Wernher erwartet Euch.«

»Mich?« Der Propst sah verwundert auf.

»Er hat schon in Ungeduld nach Euch gefragt.«

Herr Friedrich stieg die Treppe hinauf. Plötzlich blieb er stehen, wie von Unruh erfüllt. »Bruder?« Forschend sah er in das regungslose Gesicht des jungen Mönches. »Du siehst das Gras wachsen und hörst in der Nacht die Mäuse laufen. Sag mir, was geschehen ist?«

»Ich weiß nicht, Herr!«

»Ich meine, ob dort unten etwas geschah? In der stillen Mauer?«

»Herr, ich verstehe nicht.«

In Ärger murmelte der Propst ein Wort. Vor der Tür seines Zimmers sah er Reinold, den Falkner, stehen. Er fuhr ihn zornig an: »Warum hütest du nicht meinen Falken, wie ich dir befahl?«

Reinold stotterte: »Herr Wernher hat mich aus der Stub geschickt.«

Hastig betrat Herr Friedrich das Zimmer, in dem das Kaminfeuer und die Kerzen brannten. Ohne den Gruß des Dekans zu erwidern, der sich, mit einem gefalteten Pergament in der Hand, von einem Sessel am Tisch erhob, eilte er auf seinen Falken zu. Mit Fessel und Haube saß der weiße Beizvogel wie schlummernd in seinem Ring. Herr Friedrich war beruhigt. Er blickte zu Wernher hinüber. »Daß du auf mich wartest, das ist seltene Ehre, die du deinem Herren gönnst.«

»Daß ich hier warte, das ist Geschäft.«

»So?« Der Propst überließ sich den Händen des dienenden Bruders. Der zog ihm die hohen, mit Lammfell gefütterten Stiefel von den Beinen, schälte ihn aus den kostbaren Pelzen, brachte ihm die linden Schuhe und den warmen Hausrock. Während das geschah, fragte Herr Friedrich: »Was hat der Bauer getan, dem du die Gnädigen zugesprochen?«

»Er schuldet noch den Zins vom Michelstag und hat auch die Lichtmeßsteuer nicht bezahlt. Der Zinsmeister gewährte ihm eine Frist von drei Tagen. Heute hat man den Bauer ertappt, wie er auf dem Untersberg heidnischen Unfug trieb. Er wollte den König Wute beschwören und Gold suchen.«

»Wieder solch ein armer Narr! Ist das nicht der neunte seit einem Jahr? Jeden habt ihr geprügelt bis aufs Blut. Da siehst du, was eine gnädige Rute nützt. Nein, Wernherus, mit Schlägen treibst du dem geplagten Volk die alten Mären nicht aus dem Herzen. Schaff ihm gute Zeit! Wenn du das nicht kannst, so gib ihm eine Hoffnung, an der es mit träumender Seele hängen kann. Dann wird das Volk die harte Zeit ertragen, weil es an die bessere glaubt, die kommen soll.«

»Das Volk soll an Gott und die Heiligen glauben. Seine Hoffnung soll der Himmel sein.«

»Der Himmel liegt hinter dem Tod. Geplagtes Volk will eine Hoffnung fürs Leben.«

»Wie klug Ihr seid, Herr Friedrich! Erfindet solche Hoffnung! Dann geb ich sie dem Volk.«

»Die zu finden wäre nicht schwer. Man muß nur das Alte wenden für neuen Gebrauch, aus dem Rock des Urahnen einen Kittel für den kleinen Enkel schneiden. Hat mir nicht Hans Pütrich neulich von einer alten Bäuerin erzählt, die noch immer nicht glauben kann, daß Kaiser Rotbart tot ist? Laß ihn leben für unsere Bauern! Er hat es um unser Stift verdient, daß wir ihm Ehre übers Grab hinaus erweisen. Und besser, unsere Bauern hoffen auf einen Kaiser, der ein Christ war, wenn auch ein bedenklicher, als daß sie ihr armes Hoffen an den verblaßten Spuk des alten Wotan hängen. Mein treuer Wernherus, ich halte dich für einen geschickten Mann.«

»Daß ich es bin«, erwiderte Wernherus lächelnd, »das will ich Euch noch in dieser Stunde beweisen.«

»Du machst mich neugierig. Aber im Ernst, du bist ein geschickter Mann! Zeig es an diesem Fall. Mache, was sich ansieht wie ein Wunder! Laß ein Abenteuer geschehen, dessen Kunde wie Feuer durch alle Köpfe fliegt und alle Herzen gruseln macht. Suche dir einen klugen Menschen, der gelegentlich die unterirdischen Hallen des Berges offen sieht. Das müßte an einem hohen Kirchenfest geschehen, wenn viele Menschen beisammen sind, am Ostertag oder an Pfingsten, wenn der Heilige Geist die frommen Seelen erleuchtet.«

So plauderte Herr Friedrich in Spott. Wernherus war ernst geworden. Er lauschte, und den Propst unterbrechend, sagte er zu dem dienenden Bruder: »Was du hörst, soll nicht über deine Zunge kommen. Ich befehle dir Schweigen bei deinem klösterlichen Eid.«

Erheitert lachte der Propst. »Schlägt mein Gedanke schon Wurzel in deiner weitblickenden Seele? Aber du mußt dir helfen lassen vom buckligen Isengrimm. Der hat Phantasie wie alle Krüppel. Und der Mann, der das Wunder erleben soll, muß einen schweren Kummer haben. Vielleicht konnte er die Steuer nicht bezahlen und flüchtet, gehetzt von deinem wohlwollenden Medardus, auf den Untersberg. Da begegnet ihm ein freundlicher Mönch, dem Frömmigkeit und ein gutes Herz aus den blauen Augen schauen. Solche Mönche hat es einmal gegeben. Ich hoffe, es kommt eine Zeit, in der sie wieder gedeihen. Und der gute Mönch fragt deinen Mann um seinen Kummer. Dann kann er mit dem Kreuz an den Felsen schlagen, es öffnet sich der Berg, und sie steigen hinunter in goldene Kammern, in denen Edelsteine als Mond und Sterne leuchten. An steinernem Tische sitzt der Kaiser, umgeben von tausend Fürsten und Rittern. Sein roter Bart ist um den Tisch gewachsen. Dem Kaiser gib zwei traurige Augen ins Gesicht. Der alte Wute hat nur eins, mit zweien hätte er auf Erden der bösen Dinge zu viel gesehen. Und statt des Schlapphutes gib ihm die deutsche Krone!«

»Und Tauben anstatt der Raben.«

»Nein! Seine Raben laß ihm! Die mag das Volk sich deuten nach seinem Geschmack. ›Noch immer fliegen die Raben!‹ Das bleibt im Ohr. Und weil sie noch fliegen, drum müssen die Augen des Kaisers traurig schauen. Er sieht, wie wir hausen im Land.«

Wernherus furchte die Stirn. »Das ist übler Spott.«

»Nein, du Treuer! So mußt du den Kaiser reden lassen! Wenn er redet wie deine Kapläne, glauben unsere Bauern die schöne Geschichte nicht. Laß ihn schelten auf das Kloster! Je mehr, so besser! Laß ihn reden von guter Zeit, die kommen wird, wenn er mit seinen tausend Rittern einmal hervorsteigt aus dem Berg. Dann wird er allen deutschen Christen das Glück bringen, wird alle Fronboten, Vögte, Zinsmeister und Dekane kürzer machen um einen Kopf, wird steuerfreie Lehen verteilen, wird auf dem Walserfeld seinen goldenen Friedensschild an den Birnbaum hängen und aus den Steinen der gebrochenen Klöster fromme Kirchen bauen, in denen ein Gott der Liebe wohnt!«

»Ihr redet, als wäret Ihr Eurem eigenen Märlein der erste Gläubige!«

»Ich wollte, es wäre so! Dann wäre ich auch der erste, der sich getröstet fühlt.« Herr Friedrich schlüpfte in den Hausrock, den ihm der Bruder Kämmerer hinhielt, schmiegte sich in den Sessel und streckte die Beine. »Machst du die Sache klug, so hast du den doppelten Gewinn: einen für dein frommes Gemüt, denn du hängst ein christliches Mäntelchen um ein altes Stück Heidentum – und einen als Dekan des Stiftes, denn die Bauern, wenn sie gute Zeit erhoffen, werden deine gnädige Rute und das Wohlwollen deines Zinsmeisters geduldiger ertragen.«

»Euer Einfall könnte nützlich werden.« Die Augen des Wernherus funkelten. »Nur eine Frage noch. Wenn der gebannte Kaiser von den überflüssigen Köpfen der Dekane spricht, soll er da nicht auch von den Pröpsten reden?«

»Das halte, wie du magst!« Lächelnd hüllte sich der Propst in den linden Pelz seines Hausrockes. »Weshalb die Ungeduld, mit der du mich erwartet hast? Was hältst du da in der Hand?«

Wernherus wandte sich an den dienenden Bruder. »Entferne dich! Doch lege zuvor noch ein paar schwere Klötze ins Feuer! Herr Friedrich friert soviel in der letzten Zeit.«

»Da hast du recht! Mir ist kalt geworden an Leib und Seele.«

»In Eurem Alter ein bedenkliches Zeichen. Ihr solltet den Medikus zu Rate ziehen.«

In der Kaminhöhle krachte das Holz, das der Bruder Kämmerer über die glühenden Kohlen häufte. Schweigen war in der Stube, bis der junge Mönch die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Nun? Dein Geschäft?«

Wernherus, das Pergament entfaltend, trat näher zum Sessel des Propstes. »Eine Botschaft kam.«

»Wer schickte sie?«

»Der kaiserliche Viztum in Franken. Was er meldet, könnte für unser Stift eine kostbare Nachricht sein. Reicher Besitz, eine starke Burg mit Dörfern und Höfen, mit Forsten und Feldern, könnte an das Kloster fallen.«

»Könnte? Mach daraus ein ›wird‹!«

»Da ist ein Hindernis.«

»Ein unüberwindliches?«

»Nein.«

»So räum es beiseite!«

»Das will ich. Gebt Ihr zu allem Notwendigen Eure Zustimmung?«

»Wenn nichts geschieht, was gegen ein Recht des Kaisers und meines Vetters in Bayern ist.«

Wernherus lächelte. »Nein, Herr! Aber wollt Ihr die Botschaft nicht lesen?«

Gelangweilt machte der Propst eine Bewegung mit der Hand. »Auf solche Dinge verstehst du dich besser.«

»Es könnte sein, daß diese Botschaft Eurem Herzen eine Freude bringt.«

Herr Friedrich sah in Zorn zu Wernherus auf. »Wenn es so wär, hättest du mir die Botschaft verschwiegen. Wir beide wollen nicht gaukeln. Ich und du, wir kennen uns. Gib her!« Kaum hatte der Propst zu lesen begonnen, da glitt ihm ein erstickter Laut des Schreckens über die Lippen. Der Inhalt des Blattes erregte ihn so sehr, daß ihm die Hände zitterten. Es war die Nachricht, daß Graf Walter von Immhof, der Herr der Immenburg, auf der Jagd von einem Bauern erschlagen wurde. Erschüttert ließ der Propst die Hände mit dem Pergament in den Schoß sinken. »Der Tod des Bruders wäre das Leben des anderen gewesen! Macht, Besitz, Tat und Freude, ein schönes, lachendes Erdenglück! Und alles begraben in schwarzer Mauer!«

»Eine Mauer kann fallen.«

Herr Friedrich blickte auf, als hätte er nicht verstanden.

»Graf Walter war unvermählt, sein Erbe ist der jüngere Bruder.« Wernherus sprach mit trockener Ruhe. »Nach dem Erbrecht kann der Chorherr Irimbert von Immhof als Diener Gottes von seinem Erbe für sich selbst nicht Besitz ergreifen. Doch steht ihm das Recht zu, frei über sein Erbe zu verfügen. Er kann es an einen Blutsverwandten seines Hauses geben, an seinen Vetter Wolfgang von Immhof. Oder an das Kloster. Und er hätte wohl Ursach, dankbar gegen unser Stift zu sein, wenn wir ihm die Freiheit wiedergeben, die er verlor, und das Leben, das er durch schwere Sünde verwirkte. Meint Ihr nicht auch, Herr Friedrich?«

Der Propst war erschrocken aufgesprungen. »Nein! Das ist übler Handel. Ich will nichts wissen davon. Er war mir lieb, ich hätte meine linke Hand dafür gegeben, um ihn zu retten. Aber jetzt? Er hat Gott gelästert, ich habe nicht den Mut, das Gesetz zu biegen. Das wag ich nicht um einen Wald und einen Acker.«

»Sagt: um eine feste Burg, um Mannen und Bauern, um Höfe und Dörfer! Habt Ihr den Mut nicht, unserem Stifte solchen Besitz zu gewinnen, so will ich es wagen.« Wernherus lächelte. »Ich weiß, daß ich im Sinne Gottes handle. Was wir gewinnen, soll dem Wohl der Kirche dienen und wird ihr nützlicher sein als das Leben eines Narren.«

Herr Friedrich trat mit blitzenden Augen vor Wernherus hin. »Jetzt? Da er nach vier entsetzlichen Monden in der Nacht seiner Mauer gebrochen sein muß an Geist und Körper? Jetzt, da ihn dein Ehrgeiz nimmer zu fürchten braucht? Jetzt willst du aus seinem zerstörten Leben noch einen Vorteil pressen?«

»Das will ich.«

Der Propst wich zurück, als ginge von dem eisigen Lächeln des Wernherus eine Kälte aus, die ihn schauern machte. »Tue, was dir gut dünkt, zur Ehre Gottes! Gelingt es dir, so will ich mich freuen, um dieses Ärmsten willen, dem das Leben wiedergegeben ist. Ich fürchte nur, deine Rechnung hat einen Fehler. Das Gesetz zu brechen und offen wider Gott zu stehen? Da wird sich mancher besinnen, dessen Stimme gehorsam in deiner Hand war, als du es versuchen wolltest, mir den Fürstenmantel von der Schulter zu reißen.«

»Ja! Da war ein Fehler in meiner Rechnung. An jenem Abend wart Ihr mit Euerem Vetter in Bayern der Stärkere. Ihr seid es noch immer. Wer den Sieg hat, dem wird die Gnade leicht. Ich bin ein Reuiger. Den Frevel meiner falschen Rechnung will ich durch den Eifer sühnen, mit dem ich für das Wohl unseres heiligen Hauses handle. Der Himmel behüte, daß ich unseren Kapitularen zumuten sollte, das Gesetz zu brechen und offen wider Gott zu stehen. Doch keiner wird sich besinnen, ein Urteil umzustoßen, das mit Übereilung gefällt wurde und ungesetzlich war.«

»Du findest den Mut, mir das ins Gesicht zu bekennen?«

»Weil ich erkannte, daß Irimbert von Immhof an jenem Abend nicht Herr seiner Sinne war. Er sprach aus gestörtem Geist. So glaubt der Medikus und will es dem Kapitel beweisen. Auch Herr Heinrich von Eschelberg, Linhart Scharsach und die beiden Kapläne, mit denen ich sprach, sind der gleichen Meinung.«

Der Propst warf sich in den Sessel und lachte. Es war kein heiteres Lachen. »Bedenke doch, du Gerechter! Wenn das Opfer deiner Übereilung gestörten Geistes war? Wie kann ein Irrsinniger über eine feste Burg verfügen, über Mannen und Bauern, über Dörfer und Höfe? Das ist doch gegen dein Erbrecht!«

»Ein Kranker kann genesen.«

»Ach so? Wenn das Testament gesiegelt ist, wird dein Medikus beweisen, daß sich Immhof des gesündesten Verstandes erfreut?« Wieder lachte der Propst.

»Euer Lachen kostet wertvolle Zeit! Ihr müßt das Kapitel berufen und dürft keine Stunde mehr versäumen. Seit vier Tagen hat Immhof die Speisen nicht berührt, die man in die Mauer schob.«

Der Propst erhob sich erschrocken. »Schnell! Berufe das Kapitel. Du hast Vollmacht. Ich lege alles in deine Hände.« Wernherus nahm das Pergament vom Tische. »Sind die Kapitularen versammelt, so schick ich den Ulrich Thurn, um Euch zu holen.«

Herr Friedrich wandte sich ab. »Führe den Vorsitz! Ich will mich zu Bett legen. Mir ist übel.«

»Soll ich Euch den Medikus schicken?«

»Nein.«

»Noch eines, Herr! Ist Immhof gelöst, so soll er vorerst nicht erfahren, was ihm die Freiheit gab. Das würde schaden. Es soll mir überlassen bleiben, ihm zu sagen, was ich für nötig halte, und dazu die rechte Stunde zu wählen. Hab ich Euer fürstliches Wort?«

»Ja, ja! Was stehst du noch? Geh! Verliere nicht die kostbare Zeit!«

Wernherus lächelte. »Wie besorgt Ihr um den Vorteil unseres Stiftes seid! Wenn Euch nicht allzu übel ist, so betet, Herr, daß wir den reichen Erben noch am Leben finden. Seht Ihr jetzt, wie nützlich es war, daß ich in kalten Nächten die Mauer wärmen ließ? Was Euch als Grausamkeit erschien, um die Qual des Gerichteten zu verlängern, war heilige Vorsehung. Ihr habt mich arg verkannt. Labt Ihr Euch morgen wieder am Anblick Eures Lieblings, so hoff ich, Ihr werdet meiner in Dankbarkeit gedenken.«

Zorn und Sorge wühlten im Gesicht des Propstes. Mit geballten Fäusten stand er, bis sich die Tür hinter Wernherus geschlossen hatte. Dann wankte er durch die Stube, warf sich über den Betschemel, höhlte die zitternden Hände um die Füße des Gekreuzigten und küßte ihm die von roten Tropfen überronnenen Zehen. »Laß ihn leben, du Guter! Heb ihn barmherzig herauf aus der Nacht, in die ihn meine Schwäche hat fallen lassen! Maxima mea culpa! Schuldlos ist er. Ich bin der Schuldige. Auf mich wirf deinen Zorn und ihm sei gnädig! In ihm war Licht und Leben, in mir ist Tod und Nacht! Ein Sünder bin ich, ein arger Sünder! Mea culpa, mea culpa!« Mit solcher Inbrunst hatte Herr Friedrich noch nie gebetet, und noch in keiner Not seines Lebens war er so gläubig gewesen. Er lag auf den Knien, bis ihn das Geläut der Kapitelglocke aufschreckte.

Ruhelos schritt er in seiner Stube auf und nieder. Immer fror ihn, obwohl das Feuer im Kamin mit großer Flamme brannte. Bald stand er bei der Tür, um zu lauschen, bald am Fenster. Und seines Falken vergaß er völlig.

Es war späte Nacht geworden, als er eilige Schritte im Korridor vernahm. In Ungeduld riß er die Tür auf. Hans Pütrich kam, erregt und dennoch lachend. »Herr! Wißt Ihr, was geschehen ist im Kapitel? Den Immhof haben sie ledig gesprochen. Mit allen Stimmen gegen eine.«

»Wer war es, der dagegen sprach?«

»Dekan Wernherus. Schade, Herr, daß Ihr das versäumt habt! Noch nie im Leben hab ich einen lustigeren Schabernack gesehen als den heiligen Ernst, mit dem sie geredet haben.«

»Und jetzt?«

»Sie legen schon die Mauer nieder.«

»Komm, Pütrich«, stammelte der Propst, »ich muß sehen, daß er lebt!«

»Bleibet davon! Das wird ein übles Schauspiel.«

»Komm!« Herr Friedrich riß den Chorherren mit sich fort. Sie vernahmen aus der Tiefe die dumpfen Klänge eines Chorals. Dann verstummte der Gesang. Als sie zur letzten Treppe kamen, hörten sie die Schläge der Spitzhacke, mit der man die Mauer brach. Trüber Schein erfüllte den Kellergang und überzitterte die Gestalten der Chorherren, die schweigend vor der sinkenden Mauer standen. Einige von ihnen trugen brennende Kerzen und hielten sie über die Köpfe. In das Wachs der Kerzen war Weihrauch eingeschmolzen, so daß es im Kellergewölbe duftete wie in einer Kirche.

Bruder Eligius, der Schlächter, schlug mit aller Kraft seiner Arme auf die Steine und auf den Mörtel los, der schon so hart geworden, daß bei jedem Schlag die Funken aufsprühten. Hinter der Mauer, die schon zur Hälfte gefallen war, ließ sich kein Laut vernehmen. Und der Schein der Kerzen vermochte nicht die Finsternis zu erhellen, welche die Höhlung füllte. Aus der Luke quoll eine so grauenvolle Luft hervor, daß jene, die zunächst der Mauer standen, Mund und Nase mit dem Ärmel bedeckten. Linhart Scharsach, als er den Propst gewahrte, rief ihm entgegen: »Kehret um, Herr Friedrich! Ihr seid ein Kranker. Aus dem stillen Kämmerlein geht ein Wohlschmack aus, der Euren leidenden Magen in Aufruhr bringen könnte.«

Der Scherz weckte kein Lachen. Alle standen wortlos, in erregter Spannung, in Scheu und Grauen.

Da fielen die letzten Steine der Mauer.

Herr Friedrich drängte sich durch den Kreis der Chorherren. Vorgebeugten Hauptes stierte er in die finstere Höhlung. »Immhof! Du bist erlöst. Wenn du noch lebst, so tritt heraus in die Freiheit!«

Nichts rührte sich in der dunklen Zelle.

»Barmherziger Gott!« Herr Friedrich riß einem Chorherren die Kerze aus der Hand und leuchtete in die Finsternis. Da gewahrte er in einer Ecke der Höhlung einen Klumpen, grau und weiß, eine regungslos in sich zusammengekauerte Gestalt, deren Gesicht man nicht sehen konnte, denn weißes Haar hing in dicken Zotten darüber.

Auf einen flehenden Blick des Propstes sprang der Bruder Schlächter in die Mauerhöhle.

»Er muß noch leben, Herr! Er ist nit starr, wie die Toten sind.«

»Trag ihn heraus!«

Da brachte ihn Bruder Eligius auf den Armen getragen: ein Gerippe fast, umhangen von den halbverfaulten und zerfressenen Fetzen des Chorherrenkleides, die gelbe Haut der ausgemergelten Arme von der Kälte zerrissen, die Hände mit Wunden bedeckt, das abgezehrte Gesicht von weiß gebleichten Haaren umfilzt, mit Augen, die nicht zu sehen schienen, obwohl sie groß geöffnet waren; wie in geistiger Entrückung brannten sie unter den weißen Wimpern.

Dem Propste fiel die Kerze aus der Hand. Von Grauen geschüttelt, daß ihm die Zähne knirschten, bedeckte er das Gesicht. Hans Pütrich, der ihn taumeln sah, nahm ihn unter den Arm, führte ihn die Treppe hinauf, brachte ihn zu seiner Stube und wollte bei ihm bleiben. Herr Friedrich schickte ihn wieder fort.

»Geh hinunter! Und komm wieder! Und sag mir, wie es ihm geht!«

Zitternd saß der Propst in seinem Sessel, mit kalkweißem Gesicht und verstörten Augen. Der Bruder Kämmerer mußte ihm dampfenden Würzwein holen. Gierig schlürfte er den heißen Trank und erbrach ihn wieder. Er ließ sich zu Bett bringen. Weil ihn unter den warmen Decken noch immer fror, mußte der Bruder einen Berg von Fellen auf ihn häufen, bis ihm der Schweiß aus allen Poren brach.

Als nach Mitternacht Hans Pütrich wiederkam, streckte ihm der Propst die Arme entgegen.

»Lebt er?«

»Ja, Herr! Aber ob sie ihm das Leben erhalten können, weiß ich nicht. Alles läßt er mit sich machen und redet kein Wort. In seinem Blut muß schwere Krankheit liegen.«

»Was sagt der Medikus?«

»Der weiß sich nimmer zu helfen und redet lateinisch. Er sagte: ›Ex prima fronte febrim esse videtur, quem typhon medici vocant!‹ Erst haben sie ihn gebadet, jetzt liegt er in der Krankenstube.«

Der Propst fuhr erschrocken auf. »In dem Bett, in dem der alte Scharsach starb?«

»Die Krankenzelle hat kein anderes. Es ist das Bett, das auf uns alle wartet.«

Das Gesicht von Schweißperlen bedeckt, bis zu den Ohren unter die Felle gemummelt, lag Herr Friedrich, ohne Schlummer finden zu können. Hans Pütrich mußte bei ihm wachen, bis der Morgen graute.

 

Ein trüber Tag stieg auf. Der ganze Himmel war verhangen mit grauem Gewölk, und neuer Schnee schien fallen zu wollen. Um die Zinnen des Watzmanns und der Watzmannkinder begann es im ersten Frühlicht schon zu stöbern. Langsam zogen die weiß fallenden Schleier über den Königssee heraus.

Als es völlig Tag geworden, fielen auch über dem Gotteslehen schon die Flocken.

Beim Hagtor stand der Steinhauser mit Ruglind und dem Altsenn. In Sorge blickten sie über die weißen Wiesen gegen den Wald hinunter, auf den Hauswirt harrend, der zur Nacht nicht heimgekommen war. Und als es nun zu schneien anfing, sagte der Steinhauser: »Jetzt krieg ich Angst! Wir müssen ihn suchen.«

Da kreischte Ruglind: »Er kommt! Sell drunten beim Wald!« Nun sahen auch die anderen den Heimkehrenden und schrien ihm zu mit frohen Stimmen.

Langsam stieg der Gotteslechner vom Waldsaum herauf, bis an die Schultern im Schnee, mühselig jeden Ruck erkämpfend. Von der Achenstraße durch den steilen Bergwald, das hatte ihn die ganze Nacht gekostet. Sein Körper dampfte, und die grauen Haare klebten naß um sein erschöpftes Gesicht.

Ruglind war ins Haus gelaufen, und man hörte sie rufen: »Juttla! Der Vater ist da!« Die beiden Männer wateten dem Hauswirt entgegen und wühlten eine Gasse in den Schnee, damit ihm das letzte Stück des Weges leichter würde. Greimold nickte ihnen zu. »Gelt, Leut, ich hab euch in Sorg gebracht? Aber ich hab einen Gang hinunter ins Tal gehabt. Den hab ich machen müssen.« Daß sich bei solchem Schnee der Weg ins Tal hinunter und wieder herauf erzwingen ließe, das wollte der Steinhauser kaum glauben. »Mein Weg ist hart gewesen. Was ich heimbring, ist noch härter. Frag nit! Nur heim! Ich mein, daß ich umfallen muß und liegenbleiben. Ist das Kind in Angst gewesen?«

Der Altsenn schüttelte den Kopf. »Gestern um Mittag hat sie dich gemangelt und hat gefragt: ›Ich hör den Vater nit, wo ist er?‹ Aber wie ich ihr gesagt hab, du wärst hinunter ins Jägerhaus, da muß sie eine Freud gespürt haben. Wie Sonn ist's über ihr Gesichtl gegangen. So ist sie allweil beim Herd gesessen und hat gesponnen. Daß sie um deintwegen keine Sorg spüren sollt, haben wir dem Kindl verhehlt, wie's an der Zeit ist. Sie sitzt noch allweil in der Stub und meint, es ging erst auf den Abend zu.«

Als sie zum Haus kamen, bellte in der Herdstube die weiße Hündin. Dem Gotteslechner waren die Glieder so starr, daß ihm Ruglind die Schneereifen von den Schuhen lösen mußte. Im Hausflur zog er das von Eis umfrorene Wams herunter. »Bring mir einen trockenen Kittel! So kann ich mein Kindl nit ans Herz nehmen.« Er streifte die Nässe aus seinem Haar und trocknete das Gesicht. Dann trat er in die Herdstube, in der sich das trübe Morgenlicht mit dem flackernden Schein des Feuers mischte.

Geführt von ihrer weißen Gesellin, kam Jutta ihm entgegen. Ihre Hände zitterten. »Guten Heimgruß, lieber Vater!«

»Gott grüß dich, Kind!« Er legte den Arm um die Blinde und streichelte ihr die brennende Wange.

Juttas Augen waren groß, ihre Lippen ein wenig geöffnet wie in erwartungsvollem Lauschen. Als der Gotteslechner noch immer schwieg, fragte sie leis: »Ist's wahr, Vater? Der Fürsenn hat mir gesagt, du warst hinunter zum Jägerhaus?«

»Ich bin drunten gewesen.«

»Ist der Weg schon offen?«

»Ich bin durch die Eisblumen gegangen. Und bring dir einen Gruß vom alten Hilpot.«

Ein Lächeln zitterte um ihren Mund. »Sonst tut mich keiner grüßen?«

»Den du meinst, der hauset nimmer beim alten Hilpot.« Greimold wollte sich zur Ruhe zwingen. Das machte seine Stimme rauh.

Das feine Ohr der Blinden hörte den Klang, der ihr fremd war an der Stimme des Vaters. Erschrocken hob sie das Gesicht. »Warum redest du, als ob du ein anderer wärst?«

»Weil mir weh tut, was ich dir sagen muß.«

Da klammerte sie die Arme um seinen Hals. Und Greimold drückte ihr Haupt an seine Brust, als könnte er den suchenden Blick dieser blinden Augen nicht ertragen. »Ich hab doch allweil schon gemerkt, daß du harrest auf ihn. Drum hätt ich ihm gern einen Gruß gebracht. Von dir! Und bin hinunter ins Jägerhaus und hinunter ins Klostertal. Und hab ihn nimmer gefunden.« Greimolds Stimme klang schwer und langsam. »Es sagen die Leut, seine Herren hätten ihn fortgeschickt, bis hinter die letzten Berg hinaus, in die große Ebnet.«

Jutta richtete sich auf. »Die große Ebnet? Ist die weit von uns?«

»So weit, daß keiner mehr kommt, der einmal draußen ist. Jetzt darfst du nimmer harren. Aber mit liebem Sinn sollst du denken an ihn. Der Irmi ist uns von Herzen gut und treu gewesen, dir und mir.«

Wortlos nickte sie, während ihr die Tränen über die Wangen fielen.

»Geh, Kindl, mußt nit weinen! Das tut deinen Augen weh.«

Sie lächelte traurig und tastete mit zitternden Händen ins Leere. »Weiße, wo bist du? Komm, tu mich führen!«

Die Hündin kam vom Herd, und zu der Blinden aufschauend, schmiegte sie sich an ihre Knie.

Greimold fragte: »Magst du nit hersitzen zum Feuer?«

»Ich bin so müd, ich weiß nit wie! Das muß vom Warten sein. Komm, Weiße, ich will zur Ruh gehen! Es muß schon Nacht sein, gelt?«

»Ja, Kindl, 's ist finstre Nacht worden. Hast recht, geh schlafen! Ruh haben ist von allem das Beste.«

Greimold ließ sich neben dem flackernden Feuer auf den Herdrand nieder. Von der weißen Zenta geführt, ging Jutta langsam auf die Tür der Kammer zu. Bevor sie die Schwelle erreichte, blieb sie stehen, mit weit geöffneten Augen.

»Kindl? Was hast du?«

Ohne das Gesicht zu wenden, sagte sie leise: »Wie die Mutter von uns gegangen ist? Gelt, Vater, da hast du ihn auch gesehen?«

»Wen?«

»Den armen Erdenbruder vom schönen Glück in der Umwelt.«

»Wen meinst du, Juttula? Ich versteh dich nit.«

»So viel hab ich allweil drüber sinnen müssen. Und hab mir doch niemals denken können, wie er ausschaut. Jetzt seh ich ihn. Ist noch ein junger Mann und hat schon weißes Haar wie ein Alter. Sein Leib und sein Gesicht sind mager, als hätt er zehren müssen von seinem eigenen Fleisch. Ganz still ist er, kein Wörtl hör ich ihn reden. Tiefe, dunkle Augen hat er, die traurig sind. Wenn ich hineinschau, Vater, muß ich weinen. Und seine Hand, die mich anrührt im Herzen, ist kalt, wie die Eisblumen sind.«

In Sorge hat Greimold sich erhoben. »Kind, was redest du? Wer soll das sein, den du siehst?«

»Der Schmerz!« Tief atmend wandte Jutta das Gesicht. Der Schein des Herdfeuers machte auf ihren Wangen die Tränen funkeln, als wären es leuchtende Blutstropfen. »Das ist dem schönen Glück sein Bruder. Ich kann dir's nimmer sagen, wie mir's der Irmi gesagt hat. Das ist schön gewesen. Wenn der Irmi wiederkommt, so mußt du ihn fragen drum!« Sie stockte. »Schau nur, jetzt hab ich völlig vergessen. Hast du mir nit gesagt, daß er nimmer kommt?« Ihr Gesicht entstellte sich. »Hätt ich's von einem anderen hören müssen, so hätt ich gesagt: Das ist nit wahr, er hat's versprochen, und wenn es maiet und sein Blüml lebendig wird, so kommt er wieder.«

In ratlosem Kummer trocknete Greimold seinem Kind die Tränen von den Wangen. Ihm war, als müßte er schreien: Glaube deiner Sehnsucht! Aber es geschah zum erstenmal, daß er den Mut nicht fand, der Blinden eine tröstende Lüge zu sagen. Er fürchtete, daß ihrem Herzen solche Lüge gefährlicher werden könnte als die Wahrheit. »Komm! Laß dich in die Kammer führen! Ich bleib bei dir und tu deine Hand in der meinen halten, bis du schlafen kannst.«

Sie löste ihre Hand. »Du hast einen harten Weg gemacht um meinetwegen. Da mußt du rasten. Ich hab schon einen Gesellen. Der muß mir die ganze Nacht erzählen von seiner schönen Schwester. So tröstet er alle, denen er weh tut. Das hat mir der Irmi gesagt. Gottes Ruh zur Nacht, lieber Vater! Komm, Weiße, tu mich führen!«

Greimold blieb bei der Tür stehen und lauschte, bis es still in der Kammer wurde.

Die Helgard kam mit verdrossenem. Gesicht und setzte die Pfanne über das Feuer, um ein Mahl für den Hauswirt zu richten, der seit Tag und Nacht keinen Bissen genossen hatte. Neben dem prasselnden Feuer, dessen Wärme ihm die erstarrten Glieder löste, streckte sich Greimold auf die Herdbank nieder. Von Müdigkeit überwältigt, fiel er in tiefen Schlaf, noch ehe sein Mahl in der Pfanne gar geworden.

Draußen hatte sich der Wind gelegt. Immer spärlicher fielen die Flocken in den wachsenden Tag, und es wurde zwischen dem treibenden Schneegewölk so licht, als hätte die Sonne Kraft gewonnen und möchte die hüllenden Schleier siegend durchbrechen.

 


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