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Siebentes Kapitel.
Auf der Cluus.

Der nächste Morgen ließ sich inbetreff der Witterung nicht so heiter und angenehm an, wie die Tage vorher, ein stoßweise von Süden her wehender Wind trieb Wolken auf Wolken über das weite Wesertal, und ein feuchter Nebel verdunkelte die blauen Berge in der Ferne so sehr, daß sie zeitweise ganz und gar den danach ausschauenden Blicken entschwanden.

Der Legationsrat war schon früh aufgestanden, aber nicht etwa, um in den Garten zu gehen oder auch nur in stillem Naturgenusse aus dem offenen Fenster zu schauen, sondern er saß teils vor dem Schreibtisch und blätterte in verschiedenen Hinterlassenschaften seines Vaters, teils ging er nachdenklich im Zimmer hin und her, da er an diesem Tage mehr als an jedem andern Stoff zur Überlegung gefunden.

Schon während der Nacht hatte er in schlaflosen Pausen wiederholt über alles nachgedacht, was er aus den Briefen seines Vaters und aus mehrfachen mündlichen Mitteilungen über die seltsame Persönlichkeit der Witwe Birkenfeld erfahren, aber er konnte auf keine Weise den Schlüssel zu dem Rätsel finden, welches in dem Verhältnis zwischen ihr und seinem Vater vor ihm zu liegen schien.

Endlich ließ er vom Grübeln ab und wandte sich behende einem andern Entschlusse zu. Nachdem er eine Weile mit sich darüber zu Rate gegangen war, klingelte er, und als Rieke kam und nach seinem Begehren fragte, ließ er Fräulein Treuhold bitten, wenn sie einige Minuten frei hätte, zu ihm heraufzukommen, da er mit ihr zu sprechen wünsche.

Die Haushälterin ließ nicht lange auf sich warten. Sie kam hastig die Treppe herauf, wie immer, wenn es etwas Neues, noch dazu von ihrem Herrn, zu hören gab, und traf diesen mit ernsterer Miene als gewöhnlich an, obwohl er ihr auf sehr freundliche Weise einen guten Morgen bot.

»Liebe Treuhold,« begann er darauf zu reden, »zuerst wollte ich Sie bitten, uns heute etwas früher als gewöhnlich essen zu lassen. Ich will gleich nach Tische fort und habe einen weiten Weg nach der Cluus.«

»Wollen Sie denn die zwei langen Meilen auf der Chaussee reiten?« fragte sie. »Ich dächte, Sie ließen sich zu Wasser herüber rudern, das ist bei der großen Hitze angenehmer und führt schneller zum Ziel.«

»Das mag sein, aber bei dem herrschenden Winde würde es den Ruderern viel Mühe machen, mich stromaufwärts zu bringen. Nein, nein, ich mache den Leuten nicht gern mehr Arbeit, als nötig ist, wenn ich sie ihnen noch dazu mit leichter Mühe ersparen kann, und so werde ich reiten, wie auch sonst. – Aber das war nicht die Hauptsache, warum ich Sie ungestört sprechen wollte. Ich habe Ihnen vielmehr noch eine Frage vorzulegen, deren Beantwortung für mich von großer Wichtigkeit ist. Sagen Sie mir aufrichtig – ist Ihnen das Verhältnis nicht genauer bekannt, in welchem mein Vater zuletzt mit der Frau Birkenfeld gestanden hat?«

»Nein, Herr Legationsrat, nicht genauer, als ich Ihnen bereits früher gesagt, und das ist der einzige Punkt, den Ihr Herr Vater vor mir stets geheim gehalten hat, obwohl er mir sonst in fast allem sein ganzes Vertrauen schenkte. Nein, nicht einen einzigen Blick hat er mir in dies Verhältnis zu werfen vergönnt. Was ich aber darüber weiß, ist, kurz zusammengefaßt, folgendes. Vor vielen, vielen Jahren waren sie die besten Freunde von der Welt, und Ihr Herr Vater war so oft in der Cluus, wie Herr und Frau Birkenfeld hier. Das ist aber schon vor meiner Zeit gewesen, und ich habe es mir nur im Anfang, als ich hierher kam, von dem damaligen Verwalter und einigen andern Personen erzählen lassen. So lange ich aber in diesem Hause lebe – es sind jetzt beinahe einundzwanzig Jahre – ist die Frau Birkenfeld niemals hier gewesen, und auch ihr Mann nur selten und, wie man sagt, stets heimlich, ohne Vorwissen seiner Frau, weil diese einen unbesieglichen Groll gegen Ihren Vater gehegt.«

»Was für eine Ursache mag denselben hervorgerufen haben?«

»Das weiß ich nicht, lieber Herr, und kann es mir auch auf keine Weise erklären. Einer unserer Freunde aber weiß es gewiß – und das ist der Meier zu Allerdissen.«

Bodo ging nachsinnend hin und her, endlich aber blieb er stehen und schüttelte den Kopf. »Ja, das weiß ich wohl,« sagte er, »aber den kann ich nicht weiter darüber fragen. Er ist durch sein Wort zum Schweigen verpflichtet, und was er mir hat sagen können, hat er bereits gesagt. Allein ein Wort von ihm – ob er absichtlich gesprochen oder ob es ihm unwillkürlich entschlüpft ist, weiß ich nicht – hat mich etwas stutzig gemacht und läßt mich glauben, daß mein Vater nicht frei von Schuld an diesem seltsamen Grolle war, der ihm die Familie auf der Cluus so entfremdet hat.«

»Was war das für ein Wort, Herr Legationsrat? Dürfen Sie mir es nicht sagen?«

»O gewiß. Der Meier sagte, als ich das erste Mal bei ihm war und er mich drängte, Frau Birkenfeld gleich nach ihrer Rückkehr zu besuchen: »Die alte Dame hat es wohl um Ihren Vater verdient, daß Sie höflich oder aufmerksam – ich weiß das Wort nicht mehr – gegen sie sind!« Dieser Ausspruch nun klingt mir noch immer in den Ohren, und ich kann ihn nicht los werden. Jedenfalls liegt ein tieferer, mir verborgener Sinn darin. – Sie wissen also darüber nichts?«

»Kein Wort, Herr, und Sie machen mich mit Ihren Reden nur noch ängstlicher, als ich ohnehin schon über diesen Besuch bin.«

»Ängstlich? Warum denn das?«

»Ach, Herr Legationsrat, die alte Birkenfeld soll eine so böse Frau sein, sagt man allgemein, und auf wen sie einmal ihren Haß geworfen, der soll stets darunter zu leiden haben.«

»Darin spricht der Meier anders. Er rühmt ihr gutes Herz und hofft sogar von meinem Besuche nur Gutes.«

»Na, dann mag es der liebe Gott wissen, wie es zusammenhängt! Dem Meier glaube ich schon, aber das Gerede der Leute pflegt doch sonst auch einen Grund zu haben.«

»Ach, daran kehre ich mich nie, das wissen Sie wohl. So. Nun bin ich mit meinen Fragen und Sie mit Ihrem Wissen zu Ende. Hoffentlich auch mit Ihrer Angst. Wann kann ich das Essen heute haben?«

»Wann Sie befehlen, Herr Legationsrat! Etwa um zwölf Uhr?«

»Ja, ich wünsche es so früh. Guten Morgen, Fräulein Treuhold!«

*

Wie der Legationsrat es »gewünscht«, so stand das Essen an diesem Tage um zwölf Uhr bereit. Er erschien im Speisezimmer im schwarzen Frack, war aber im Anfang sehr still, und wechselte mit Gertrud nur wenige Worte, die durch ihre Tante schon lange von seiner eigentümlichen Lage in Kenntnis gesetzt war. Hätte der Legationsrat zu dieser Stunde dem Ausdruck ihres lieblichen Gesichts eine größere Aufmerksamkeit geschenkt, so würde er bemerkt haben, daß sie sich in nicht geringer Spannung befand und daß mehrmals Worte auf ihren Lippen schwebten, die irgend eine unsichtbare Gewalt, vielleicht auch die Anwesenheit des Verwalters, stets wieder davon verscheuchte. Je weiter jedoch das Mahl vorschritt, um so stärker machte sich bei ihr der Wunsch geltend, jene Worte zu sprechen und als sie sie endlich vielleicht äußern wollte, wurde sie durch das Wiehern des Pferdes unterbrochen, das schon vor die Tür gebracht war, um seinen Herrn nach der Cluus zu tragen.

Bodo stand ruhig vom Stuhle auf und wünschte den Damen und Herrn Hinz eine gesegnete Mahlzeit. Dann verließ er das Zimmer, um seinen Regenrock und den Hut zu holen, die er in seiner Stube gelassen. Als er gleich darauf vollkommen zur Reise gerüstet vor die Tür trat, fand er Fräulein Treuhold und Gertrud auf der Rampe neben dem Pferde stehen, und letztere streichelte den guten Braunen, der bei der Pflege, die ihm jetzt zuteil wurde, ganz stattlich aussah.

»Ah,« sagte der Legationsrat erfreut, »Sie geben mir also heute bis hierher das Geleite? Das ist hübsch. Nun leben Sie wohl, liebe Treuhold, und behüten Sie gut das Haus. Sollte ich etwas lange bleiben, so gehen Sie nicht zu Bett, ich könnte noch mit Ihnen zu reden haben. Adieu!«

Er gab der Treuhold die Hand, die ihn mit lebhaft besorgter Miene seinen Weg antreten sah. Als die alte Dame seine Hand losließ, wandte er sich zu dem jungen Mädchen um, dessen blaues Auge unbewußt einen leuchtenden Strahl in die seinigen fallen ließ, während ihre Wangen in ungewöhnlicher Glut flammten.

»Sie können mir auch zum Abschiede die Hand reichen,« sagte er, vor der bescheiden beiseite getretenen Gertrud sich verbeugend und mit der Linken den Hut lüftend, indem er die noch vom Handschuh freie Rechte ihrer Hand entgegenstreckte. »Aber Sie sehen mich ja so bedeutsam an? Was gibt es?«

Gertrud legte ihre weiße schöne Hand sanft in die freimütig dargebotene des Legationsrats, ließ sie eine Weile darin, da er sie im Verfolg seiner Frage festhielt und sagte nur: »Ich habe eine Bitte, Herr von Sellhausen, die Sie nicht übel deuten dürfen.«

»Gott bewahre! Geschwind, sprechen Sie. Sie ist im voraus gewährt.«

»Werden Sie nicht heftig, wenn Tante Grete Ihnen mit Heftigkeit begegnet, das bringt sie nur auf.«

»Ist das alles, mein Fräulein?«

»Alles, was ich Ihnen sagen kann, ja!«

»Nun, dann mögen Sie nicht um mich besorgt sein. Frau Birkenfeld soll einen stillen und duldsamen Mann in mir finden – auch wüßte ich nicht, ob ich jemals einer solchen Frau gegenüber heftig werden könnte. Dennoch danke ich Ihnen und ich werde Ihrer Ermahnung jeden Augenblick eingedenk sein. Gewiß, leben Sie wohl, und Gott behüte Sie alle!«

Er nahm noch einmal den Hut ab, schwang sich leicht auf das Pferd und ritt ruhig ab.

Die Frauen blieben beide, ohne ein Wort zu sprechen, vor der Tür stehen, bis der Reiter das Hoftor verlassen hatte, und blickten ihm mit sorgender Teilnahme nach. Und wenn die Wünsche, die ihm aus zwei reinen Herzen in diesem Augenblick stillschweigend nachgesendet wurden, etwas zu dem Empfange beitragen konnten, der ihm auf der Cluus zuteil werden sollte – so mußte derselbe ein guter sein – so aufrichtig waren sie gemeint und so warm wurden sie ihm mit auf den Weg gegeben.

*

Eine gewisse Ahnung von der Wärme dieser Wünsche mußte den Legationsrat doch umschwebt haben, denn er ritt wohl eine Viertelstunde lang, an diesen Abschied denkend und ihn sich in Gedanken wiederholend, fort; dann aber riß er sich, nicht ganz ohne innern Zwang, von dem Hause, das hinter ihm lag, und den Bewohnern desselben los und richtete seine Aufmerksamkeit ganz allein auf das vor ihm Liegende, wozu er freilich in seiner gegenwärtigen Lage Grund genug haben mochte.

»Ich habe also vielleicht eine Schuld zu sühnen, die ein anderer vor langer Zeit begangen hat,« sagte er sich nun. »Gut, man muß sich nur klar machen, was von einem gefordert wird, dann kommt das, was man und wie man es leisten will, von selbst herbei. Ich tappe allerdings vollständig im Dunkeln und kann mich allerdings jeden Augenblick verirren, allein dieser Umstand läßt mir um so mehr Freiheit, mich zu geben, wie ich bin, zumal ich nichts zu verhehlen und mich in keinerlei Weise zu verstellen habe. Hoho! Das ist fast ein diplomatischer Ritt, den ich heute unternehme, und wir können zeigen, ob wir sattelfest sind! – Wie, was? Bin ich schon beim Meier zu Allerdissen? Wo ist denn der Weg hinter mir geblieben? Der Tausend, ich muß arg in Gedanken versunken gewesen sein!«

Er hielt einen Augenblick vor dem großen Eingangstor des Hofes an und fragte eine zufällig daher kommende Magd, ob der Herr zu Hause sei.

»Nein,« erwiderte diese, »er ist auf dem Felde weit da nach den Bergen hinüber.«

»So grüßt ihn vor mir – mein Name ist Sellhausen.«

»Ich weiß es, gnädiger Herr, und will es bestellen.« –

Jetzt gab Bodo seinem Braunen die Sporen und trabte munter eine halbe Meile fort, bald zu der fast überströmenden Fülle seiner geheimsten Gedanken zurückkehrend, bald wieder das Auge nach oben wendend, wozu ihm so mancher Anlaß auf seinem Wege geboten ward.

Das Wetter hatte sich seit dem Morgen nicht auffallend verändert. Der Wind wehte noch immer frisch, die Wolken jagten sich ungestüm am Himmel und die Sonne gelangte nur selten zu einem freundlichen Durchblick auf die grüne Erde, die dann aber um so freundlicher lächelte. Dennoch war es trotz des Windes ungewöhnlich schwül und jedenfalls drohte Regen, wenn die Gewalt der oberen Luftströmung etwas nachließ.

Daher ritt Bodo auch bald wieder langsamer voran und wandte sein Auge mit Anteil den grünen Wiesen, den lebhaft wogenden Kornfeldern und der zur Linken allmählich wieder näher herantretenden Felsenkette jenseit der Weser zu, von der er hinter des Meiers Hofe bedeutend nach rechts abgewichen war.

Als er etwa zwei Drittel des ganzen Weges zurückgelegt, gewann er bei einer Krümmung der Straße zum erstenmal die Ansicht der Cluus, und so ruhig er sich im ganzen fühlte, so pochte doch sein Herz ein wenig lauter, als er das stille Häuschen auf dem grünen Abhange zwischen den roten Felsen hervortauchen sah.

Bald aber entzog es sich wieder seinen Blicken und nun setzte er gelassen seinen Weg fort, bis er an die letzte Biegung der Straße gekommen war, die hier einen wenig befahrenen und zwischen blühenden Apfelbäumen fortlaufenden Landweg nach der Weser absendete. Am Ende desselben, hart am Ufer des Flusses, lag ein Fährhaus, denn von hier aus führte eine fliegende Fähre nach der vorspringenden Spitze des jenseitigen Ufers, auf dessen Höhe die Cluus unterhalb des schon früher angedeuteten alten Wartturms ihren Platz gefunden hatte.

Am Fährhause angelangt, ließ Bodo sein Pferd in den Kuhstall des Fährmanns führen und begab sich in die Wohnstube desselben, um sich von dem reichlichen Staube reinigen zu lassen, womit ihn der die Straße fegende Wind beschenkt hatte.

»Wissen Sie vielleicht, ob Frau Birkenfeld heute zu Hause ist?« fragte er nach Vollendung dieses Geschäfts den Fährmann, der ja die Cluus und ihre Bewohner den ganzen Tag vor Augen hatte, da der Fluß hier nur etwa dreihundert Fuß breit sein mochte.

»Ja, gewiß ist sie zu Hause,« erwiderte der Fährmann, während er rasch noch von einem ungeheuren Stück Schwarzbrot sich eine gute Portion, dick mit fetter Butter bestrichen, in den Mund schob. »Wo sollte die alte Frau sein, wenn nicht daheim? Wenn Sie ein gutes Auge haben, können Sie sie bald am Fenster sitzen und stricken sehen. Von da lugt sie wie eine alte Füchsin stets herüber und selten entgeht ihr eine Menschenseele, die ich über das Wasser setze, falls sie nicht im Garten sitzt, der ihr irdisches Paradies ist.«

»Ihr Paradies? Warum wählen Sie diesen Ausdruck?« fragte Bodo.

»Ah, Sie kennen ihn also nicht, ich merke es, und in der Tat, ich erinnere mich auch nicht, Sie schon einmal übergesetzt zu haben. Ja, ihr Garten ist ein Paradies, sage ich, denn einen schöneren gibt es im ganzen Teutoburger Walde nicht. Sie bekommen ihn vielleicht noch heute zu sehen, wenn Sie ein guter und willkommener Freund der Dame sind.«

»Sonst nicht?«

Der Fährmann lachte, wischte sich den unterdes immer noch kauenden Mund mit dem Rücken der behaarten Hand ab und sagte dann: »Ei Gott bewahre! Sie läßt bei weitem nicht jeden hinein und man muß gut bei ihr angeschrieben stehen, wenn sie: »Boas, schließ den Garten auf!« rufen soll.«

»Boas? Wer ist das?«

»Das ist der alte Gärtner, ein so seltsamer Kauz, wie alle die andern Käuze, die das alte Haus da drüben bewohnen.«

Bodo wollte nichts weiter über die Cluus hören, von der er schon mehr als genug zu wissen glaubte, und so schwieg er. Er fand aber bald darauf, als er vor die Tür des Hauses trat und in den ihn hinüber tragenden Nachen stieg, die Worte des Fährmanns insoweit bestätigt, als er in der Tat die alte Frau an einem der Fenster sitzen sah; indessen war die Entfernung doch noch zu groß, um sie genauer ins Auge zu fassen, was er auch gar nicht für ersprießlich hielt. Umsomehr aber wandte er seine Aufmerksamkeit der Lage des Hauses selbst und seinen Umgebungen zu, und diese musste er in der Tat für reizend und anlockend genug erkennen.

Es war gerade, als ob die kahlen, nackten Felsenwände die das rechte Weserufer in diesem Landesteile schmückten, aus liebevoller Rücksichtnahme sich auf etwa sechshundert Fuß Breite mit einer dichten Humusschicht bedeckt hätten, um einem saftig quellenden Rasen und der sonstigen vorhandenen Vegetation einen festen und fruchtbaren Sitz zu bieten. Denn unmittelbar unter dem Wartturm, der schon halb in Trümmern lag und sich nur noch mit einem sichtbaren Auge die weite Gegend beschaute, begann sofort ein nach beiden Seiten hin ausgedehnter Baumwuchs, der fast in der ganzen Breite der Humusschicht von einer hohen steinernen Mauer eingefaßt war und den zur Cluus gehörigen Park und Garten andeutete. Von beiden Seiten nun und von oben nach unten zusammenlaufend, schloß sich diese Mauer unmittelbar an die Cluus selbst an, und von dieser bis zur Weser herab zog sich ein dicht begraster, allmählich senkender Abhang, durch dessen Mitte zwischen anmutig gruppiertem Gesträuch der Weg nach dem Hause führte, das mit einem kleinen, durchsichtig vergitterten Vorgarten versehen war, der, etwa nur acht Fuß breit, dennoch eine ansehnliche Fülle schöner Blumenbeete zeigte. Vor dem Hause erhoben sich vier Kugelakazien, jedoch nach oben so weit abgestutzt, daß sie weder die Fenster beschatteten, noch die Aussicht verdeckten, und gerade in der Mitte derselben lag die Tür, zu der man auf einer acht Stufen zählenden Treppe gelangte, deren Wangen mit Kübeln von Gußeisen besetzt waren, in denen der Jahreszeit entsprechende Gewächse prangten.

Das Haus selbst war, seinem Baustile nach zu schließen, zwar schon alt, aber in außerordentlich wohnlichem Zustande erhalten und erst neuerdings mit gelbgrauer Ölfarbe gestrichen, um ihm nicht nur ein gefälligeres Ansehen, sondern auch ein dauerhafteres Gewand in der frischen Bergluft zu gewähren, die es mit ihren Winden und Regenschauern von allen Seiten, zu allen Jahreszeiten, bei Tag und bei Nacht aus erster Hand beschenkte.

In der Mitte trug dieses niedliche, nicht allzugroße, doch auch nicht kleine Landhaus einen dreieckigen, etwas vorspringenden Giebel, aus dem ein zierlicher halbrunder Erker hervortrat. Unter demselben lag, über einem ziemlich hohen Erdgeschoß, die Tür und neben ihr ein Fenster auf jeder Seite. An diesen Mittelbau aber lehnte sich zu beiden Seiten ein etwas niedrigerer Flügel an, deren jeder drei Fenster aufwies von denen heute nur eins – das, woran die Besitzerin des Hauses saß, – seinen grünen Papiervorhang aufgerollt zeigte.

Von allen diesen Fenstern aus bot sich eine wunderbar schöne Fernsicht dar, die nicht mit Unrecht weit und breit berühmt war. Gegen Westen reichte sie bis zu den blauen Bergketten, die den Teutoburger Wald von dieser Seite begrenzen; im Süden ließ sich deutlich die kleine Stadt B... mit ihren freundlichen Häusern und spitzen Türmen erkennen, und im Norden dehnte sich die ganze fruchtbare Talebene aus, deren wir schon früher Erwähnung taten, als wir die Lage des Gutes Sellhausen beschrieben.

Im Innern des Hauses, auf welches wir ebenfalls einen Blick werfen müssen, war alles, wie im Äußern, alt, aber wohl erhalten, zeitgemäß restauriert und legte das sprechendste Zeugnis von seltener Ordnungsliebe und fast peinlicher Sauberkeit ab. Dagegen war nirgends ein Gegenstand des Luxus, nichts Überflüssiges, vor allem kein moderner Zierat zu sehen, der Geschmack an leichtfertigem Tand und Wohlgefallen an nutzlosen Dingen verraten hätte, die nur zu existieren scheinen, um den vorhandenen Raum zu beengen und Gelegenheit zur Staubsammlung zu bieten. Hier sollte nichts das Auge bestechen, nichts einen verborgenen Reichtum offenbaren, hier stellte sich alles dar, wie es war, wie es sein mußte, um seinem hauptsächlichsten Zweck, dem der Nutzbarkeit zu entsprechen, und eben darum war alles gefällig, behaglich, nett und vor allen Dingen bequem.

Die alten Möbel in den geräumigen Stuben, blitzblank poliert, waren fast gänzlich aus unvergänglichem Nußbaumholz gearbeitet; die wenigen Sofas nicht mit glänzenden, hellfarbigen Stoffen überzogen, aber überaus weich, vortrefflich gepolstert und durchaus zur Ruhe einladend, wenn dieselbe nach angestrengter Arbeit ein Bedürfnis ward. Da sah man auch keine Uhren von Bronze, Email, Marmor oder Alabaster, sie standen sämtlich nur in bescheidenen hölzernen Gehäusen, aber sie gingen richtig und gaben den so bedeutungsvollen Ablauf der Zeit mit deutlich vernehmbarem Schlage an.

An den mit einfachen Tapeten bedeckten Wänden hingen keine modernen Genrebilder in dicken vergoldeten Rahmen, die dreimal so viel wert sind als ihr Inhalt, wohl aber waren einige vortreffliche Landschaften in Öl gemalt zu sehen, und noch vortrefflichere Kupferstiche in einfachen Eichen- oder Ebenholzrahmen, die für den wirklichen Kenner einen ungleich höheren Wert hatten, als all das bunte Pinselwerk, welches viele Maler der Gegenwart erzeugen, nicht um ihrem inneren künstlerischen Triebe genug zu tun, sondern um einen berauschenden Effekt zu erzwingen und reiche Käufer zu bedrücken, schlechte Ware für gutes Geld einzutauschen.

Nur einen einzigen Luxus, wenn man dies Wort, jedoch nur in seiner edelsten Bedeutung, gebrauchen will, gab es in diesem, oder vielmehr an diesem Hause, und das war der Garten. Der Fährmann drüben an der Weser hatte recht gehabt, wenn er gesagt: es gebe keinen schöneren im ganzen Teutoburger Walde, ja man hätte noch viel weiter reisen können, um einen ähnlichen, geschweige denn einen gleich schönen aufzufinden.

Der alte Gärtner, den Frau Birkenfeld besaß, gehörte zu jenen seltsam begabten Menschen, die mit Leib und Seele, mit allen Kräften und Trieben ihres ganzen Wesens der Pflege der Blumen und der Baumzucht leben und mit ihren scharfen Sinnen der Natur abzulauschen verstehen, wie weit sie sich zur Kunst herablassen oder wie hoch sie diese zu sich emporziehen will. Der ihm untergebene Garten war daher ein wunderbar reicher Sammelort alles dessen, was die Gärtnerkunst in ihrer vollsten Blüte fern und nah aufzuweisen hatte.

Schon der verstorbene Birkenfeld, der eigentliche Schöpfer desselben, hatte namhafte Summen dafür aufgewendet. Pflanzen, Bäume, Strauchwerk, Samen aller Art und was sonst dazu gehört, waren jedes Jahr aus allen Orten der Welt verschrieben und mit Sorgfalt aufgezogen worden, und so war ein abgerundetes Ganzes entstanden, das bis in die entferntesten Endpunkte hinein wunderbar schön, ganz verschieden im einzelnen und doch harmonisch im Zusammenhange sich darstellte.

Da das Terrain dieses Gartens auf einem allmählich ansteigenden Bergrücken lag, so hatte man die Wege desselben ursprünglich in liegenden Schlangenlinien angelegt, wodurch das Besteigen der ansehnlichen Höhe um ein Bedeutendes erleichtert ward. Er war in zahllose kleinere Abteilungen getrennt, von denen fast jede einen anderen Charakter trug und eben dadurch zur Unterhaltung des ihn Beschauenden so reichen Stoff bot.

Überall waren Lauben von feinem Gußeisenwerk, Grotten von Felsgestein und Sitzplätze von mannigfaltigster Art angebracht, teils von grünen Schlingpflanzen und Efeu, teils von farbigen Blüten umrankt; vor allen diesen Ruhepunkten breiteten sich herrliche, vielgestaltige Blumenbeete aus, einen Reichtum der Gewächse und der Vegetation überhaupt darbietend, welcher die Pflege, die man ihr zuwandte, als eine außerordentliche erkennen ließ.

Hier fand kein Unkraut, kein überflüssiger Grashalm, kein welkes Blatt Raum und Boden; jeder lose Stengel war vorsorglich beseitigt, jeder schwanke Zweig gestützt und jedes neue Reis mit Umsicht und feinem Takt gegen Wind und Wetter verwahrt.

Vor allem stand der Rosenflor, zumal in der Jahreszeit, in welcher unsre Erzählung sich bewegt, in reichster und üppigster Blüte. Hunderte von Arten dieser schönsten aller Blumen prangten überall in Büschen und Bäumen, hoch in die Luft gezogen oder wie ein duftiger Teppich den Boden bekleidend, die königliche Zentifolie aber behauptete auch hier siegreich den ihr gebührenden Vorrang und streute ihre wonniglichen Düfte weit über den großen Gartenraum fort in die sommerliche Luft aus.

Wenn man aus der Cluus selbst in den Garten gehen wollte, so trat man zuerst aus einem breiten hochgewölbten Hausgange in ein reizendes Treibhaus, welches mit dem ehemaligen Wohnzimmer des verstorbenen Herrn Birkenfeld in Verbindung stand. An dieses Treibhaus schloß sich ein geräumiger Gartensaal, fast ganz aus Eisen und Glas gebaut, wo man sich auch während schlechten Wetters aufhalten und die Pracht und Zier des Ganzen wohlgeschützt überschauen konnte. Aus diesem mit bequemen, aber wenigen Möbeln versehenen Saal trat man unmittelbar in die duftende Blumenwelt ein, und wenn man von hier aus die Höhe des Berges allmählich hinanschritt, gelangte man in den eigentlichen Obstgarten, wo die Blumenbeete aufhörten und der herrlichste, kurz geschorene und fest gewalzte Rasenteppich begann, in dessen Mitte ein von hohen Lindenbäumen umschlossener freier Raum lag, der, gegen alle Winde geschützt, ein überaus stilles und lauschiges Plätzchen bot. Nur für den ersten Augenblick schien dasselbe überraschend einsam zu sein, bei näherer Betrachtung und Aufmerksamkeit aber fand man es mehr als jeden andern Gartenteil belebt.

Denn um die hohen Wipfel dieser blüten- und duftreichen Linden summte und sauste es eigentümlich und geheimnisvoll in den Lüften, Tausende von Bienen umschwärmten sie und sogen ihre süße Nahrung aus den zahllosen Blüten ein. Im Schatten der Bäume aber, rings in gleicher Entfernung von einander, standen sechs große Dzierzonsche Bienenhäuser, allerliebst geformt, vortrefflich eingerichtet und mit allen kleinen Bequemlichkeiten ausgestattet, welche das fleißigste Tierchen der Welt liebt und zur Einsammlung und Aufspeicherung seiner süßen Beute gebraucht.

Die Bienenzucht im großen war eine der Lieblingsbeschäftigungen der Frau Birkenfeld. Für sie gab sie alles her, was Boas verlangte, der so recht eigentlich der Bienenvater war, wie man seine Herrin die Bienenmutter nennen konnte. Alle Sorten Bienen waren hier vertreten, jede in einem besonderen Stock, jede mit ihren gewohnten Bedürfnissen versorgt; dafür arbeiteten sie aber auch mit endlosem Fleiße und trugen Honig und Wachs in Hülle zusammen, die größtenteils armen Leuten zugute kamen, da Frau Birkenfeld nie etwas davon verkaufte, sondern reichlich verschenkte, wo sie einen freundlichen Blick dafür erhielt und das Bewußtsein in sich tragen konnte, daß es gut angewendet sei.

Aus diesem Grunde nannten die Bewohner der Umgegend die Cluus auch oft das »Bienenhaus«, und zu gewissen Tagen in frühester Morgenstunde sah man Knaben und Mädchen den grünen Abhang besteigen, um sich für einen kranken Bruder oder eine leidende Mutter eine Schale voll des süßen Gewinnstes zu holen, den die Besitzerin der Cluus stets in großen Vorräten bewahrte und zu einer außerordentlichen Schönheit und Klarheit zu läutern verstand.

In diesen Garten nun begab sich Frau Birkenfeld, wenn sie glücklich, zufrieden oder auch nur gut gelaunt war, während sie ihre stillen Leiden, ihre geistigen und leiblichen Schmerzen, vor jedermann verborgen, in der Einsamkeit ihres öden Hauses austoben ließ. Auch wenn sie niemand aus der äußeren Welt sehen und sich ganz von dem, bis zu ihrem Hause heraufschallenden Treiben der Menschen in unnahbare Stille zurückziehen wollte, trat sie, oft laut keuchend vor Engbrüstigkeit, in den duftenden Garten, wo sie sich stets in der reinen Bergluft, im Schatten der prangenden Bäume und in dem Duft der tausendfältig sie umgebenden Blumen und Blüten bald wohler werden fühlte.

Da erging sie sich denn mutterseelenallein und Gott weiß welche Gedanken verarbeitend, in ungestörtestem Frieden. Von Blume wandelte sie zu Blume, die alle eine besondere und überaus verständliche Sprache für sie redeten. Jeden Baum kannte sie von seiner Jugend an, an jedes Gebüsch knüpfte sich eine halb vergessene Geschichte, denn Liebe und Lust hatten auch für sie, als ihr braver unvergeßlicher Mann noch lebte, in diesen tiefen Schatten gehaust, wo jetzt nur Einsamkeit, Alter und die mit der Zeit von selbst kommenden Gebrechen des menschlichen Geschlechts walteten.

Wie sie aber zu den Blumen ging, mit ihnen sprach, sie um Rat fragte und um Trost bat, wenn ihr die Menschen nicht mehr behagten, so ging sie zu den Bienen, wenn ihr die Stille bei den Blumen zu schwer auf das Herz fiel. Mit den Bienen sprach sie erst recht, denn die kannte sie nicht allein, sondern die kleinen klugen Tierchen kannten auch sie; sie schwirrten lustig und fröhlich summend um sie her, wenn sie ihnen nahe trat, setzten sie sich auf ihren Kopf, ihre Schultern und krochen in ihren warmen, weichen Pelz, ohne sie jedoch zu stechen, wovor die alte Frau auch nicht die geringste Furcht hegte.

Weil sie nun in diesem vor jeder Beobachtung gesicherten Raume stets allein und nur dann war, wenn sie sich glücklich und zufrieden fühlte, so führte sie auch nur denjenigen in ihren Garten, der ihrem Herzen nahe stand, der sie nie belogen, sie nie mit unverschämten Forderungen gequält; und ach, das waren nur sehr wenige Menschen, und darum bekamen auch nur wenige den Garten und dessen Inhalt zu sehen. Wenn sie aber in Gegenwart eines Fremden »Boas schließ den Garten auf!« rief, so wußte dieser auf der Stelle, daß er einen Freund der Gebieterin vor sich habe, und augenblicklich kam er und trug auch unaufgefordert Erfrischungen herbei, wie sie der Jahres- und Tageszeit oder auch der anwesenden Person angemessen waren.

Doch wir müssen hier außer der Herrin des Hauses, die wir in einem früheren Kapitel schon kennen gelernt, mit wenigen Worten der anderen Bewohner der Cluus gedenken, da sie einen notwendigen Bestandteil des kleinen stillen Reiches innerhalb der großen Umfassungsmauer bildeten.

Da war zuerst Dina, die vierzigjährige Magd, die wir auch schon auf dem Reisewagen der Frau Birkenfeld vor der Tür des Meier zu Allerdissen erblickt haben. Sie war eine dralle, fast kugelrunde alte Jungfer mit dunkelroten Backen und vollem wohlgenährten Gesicht. Dabei war sie eine ehrliche, treue Seele, ihrer Herrin trotz ihrer vielen Wunderlichkeiten ergeben bis in den Tod und schon zwanzig Jahre fast in ihrem Dienst. Sie verließ dieselbe selbst auf den weiteren Reisen im Sommer nicht, schlief nachts in ihrem Zimmer und war ihr jederzeit eine eifrige Helferin in Küche und Haus. Gröbere Arbeiten hatte sie niemals zu verrichten, daher spielte sie halb die Rolle einer Köchin und halb die einer Jungfer, weshalb sie sich auch in ihrem Äußern stets sauber und nett darstellte, wie denn überhaupt jedermann, der in Frau Birkenfelds Nähe lebte, auf Reinlichkeit und Sauberkeit in der Kleidung halten mußte, während ihr jeder überflüssige Putz bis in den Tod zuwider war.

Die schwere Hausarbeit versah dagegen ein altes Ehepaar, hoch in den Fünfzigen und ebenfalls schon lange im Dienst der Herrschaft auf der Cluus. Der Mann versorgte die Kuh, die der alten Dame die reichlich getrunkene Milch gab, sägte und zerstückelte das Holz und half auch bisweilen dem Gärtner in seinem Bereiche, da kein fremder Arbeiter jemals in den Garten kommen durfte; die Frau dagegen half der Dina und rumorte in Küche, Hof und Keller herum, obgleich immer sehr still sich verhaltend, wie alle Diener im Hause, da Frau Birkenfeld keinen Lärm, nicht einmal laut gesprochene Worte leiden mochte.

Die wichtigste und angesehenste Person unter den vier Dienstboten aber war jedenfalls der schon oft genannte Boas, das eigentliche Faktotum der Herrin. Er war über sechzig Jahre alt und schon wenigstens vierzig Jahre im Dienst bei ihr und ihrem verstorbenen Mann, der seinen Sinn für die Gartenkunst geweckt und ihn darin theoretisch und praktisch ausgebildet hatte.

Ein seltsameres Subjekt in seiner Art, als dieser Boas war, hat es wohl kaum gegeben. Seine Herrin galt ihm mehr als die Fürstin des Landes, ihr Haus und Garten war seine Welt, sein irdischer Himmel, seine Seligkeit – mit einem Wort, Frau Birkenfeld und ihr Besitztum war ihm alles in allem. Er war nie verheiratet gewesen, pflegte mit keiner Seele Umgang und der Garten vertrat bei ihm die Liebe von Frau und Kind. Im Garten war er den ganzen Tag, von Sonnenaufgang bis in die sinkende Nacht, zu finden; hier gab es immer etwas für ihn zu arbeiten, zu denken, zu bessern, zu verschönern; vom Garten träumte er nicht allein, dahin sehnte er sich jeden Augenblick, wenn er einmal außerhalb war, und in dem Garten wollte und sollte er auch einst begraben sein, wie seine Herrin in der Mitte zwischen den Bienenhäusern, denn außer diesem Garten gab es für ihn keine Existenz, nicht einmal die jenseits des Grabes.

Von Gestalt war er ein kleiner, etwas verwachsener Mann mit starken, bis auf die Schulter herabhängenden schlichten Haaren, die in den letzten Jahren fast schneeweiß geworden waren. Sein von der Luft und der Sonne gebräuntes, gutmütiges Gesicht mit den ehrlichen blauen Augen und den buschigen Augenbrauen, die er seltsam zu runzeln pflegte, wenn ihn eine lebhafte innere Bewegung ergriff, war überreich an charakteristischen Falten, und seitdem er von Frau Birkenfeld, um sich vor Erkältung zu schützen, die Erlaubnis erhalten, den ganzen Bart wachsen zu lassen, sah er so ehrwürdig, gut und fromm wie ein Patriarch des Altertums aus. Er trug Winter und Sommer über warmen Unterkleidern eine blaue Bluse und Hosen von grauem glatten Drell, im Winter eine Pelzmütze und im Sommer einen breitkrämpigen braunen Strohhut mit einem saftgrünen seidenen Bande, welches ihm seine Herrin jedes Jahr zur Rosenzeit neu verehrte.

Daß er jeden Wink seiner Gebieterin mit der größten Achtsamkeit auffing und mit Sorgfalt ausführte, versteht sich von selbst, denn es gab ja nur einen Willen für ihn, – eben den ihrigen. Er war auch als so langjähriger Diener in vielerlei Dingen ihr Vertrauter und in verschiedene Familiengeheimnisse eingeweiht, aber er kannte sie bloß, zum Sprechen darüber bot sich keine Gelegenheit, da Frau Birkenfeld niemals mit ihm über dergleichen eine Unterhaltung pflog und nur durch Blicke und bedeutsames Schweigen mit ihm in Verbindung stand.

Gehalt oder Lohn bekam er nicht und wollte er nicht. Was er gebrauchte oder was er sich anschaffen mochte, erhielt er, sobald er ein Wort darüber fallen ließ, und da er keinen Umgang, keine Verwandten hatte und ungemein bescheiden und einfach war, so brauchte er sehr wenig. Kleidung und nahrhaftes Essen, so wie Sonntags eine Flasche Wein, ward ihm von jeher zu teil, und wollte er einmal nach der Stadt gehen, um irgend etwas für den Garten, oder Tabak oder eine neue Pfeife für sich zu kaufen, so sagte er zu der Herrin: »Frau Birkenfeld, geben Sie mir Geld!« und wenn er wiederkam, legte er Rechnung ab und gab das nicht Gebrauchte zurück, ohne auch nur einen Heller für sich zu behalten, da er genau wußte, daß im Fall des Todes seiner Herrin hinreichend für ihn gesorgt sei.

Daß das Leben in der Cluus unter den bisher geschilderten Personen und Verhältnissen regelmäßig wie ein gutes Uhrwerk vonstatten ging, braucht kaum noch erwähnt zu werden. Jede Tageszeit hatte ihre Arbeit, ihre Ruhe und also jede Stunde ihren besonderen Zweck. So bei der Herrin, so bei den Dienern. Punkt sechs Uhr morgens stand erstere auf, Punkt zwölf Uhr aß sie zu Mittag, Punkt sechs Uhr zu Abend und um zehn Uhr ging sie zu Bett. Die Zwischenstunden wurden nie mit Essen und Trinken, mit Ruhe und Schlaf, nur mit Arbeit und Nachdenken von ihr ausgefüllt. Daß es gewöhnlich Wichtiges zu bedenken gab, lag schon in den großen Vermögensverhältnissen der Witwe, die zwar im großen und ganzen ihr Sachwalter in der Stadt leitete, in deren einzelne Punkte sie aber doch stets den klarsten Einblick behielt. Demnächst beschäftigte sie auch die Sorge für die ihrem stillen Wohltun anheimgegebenen Menschen unablässig, und sie dachte über das Wohl aller ihr durch irgend ein Verhältnis nahe Getretenen eben so ernstlich nach, wie über das eigene, obwohl ihr das letztere nie sichtbar auf dem Herzen zu liegen schien.

Daß der Charakter dieser Frau bei dem so abgeschlossenen Leben eine eigene Färbung und außergewöhnliche intensive Stärke angenommen, ist sehr leicht erklärlich, selbst wenn wir nicht in Anschlag bringen wollen, daß die Natur schon von Hause aus sie mit großem und gesundem Menschenverstande und einem scharfen Blick für alles Schickliche begabt, ihr auch bei ihrem reinen Streben nach Recht und Billigkeit eine Willenskraft verliehen hatte, die manchen Mann geziert haben würde, der unter seinen Genossen für einen bedeutenden und energischen Charakter galt. Trotz ihres Reichtums, den sie zum Teil schon in jungen Jahren besessen, war sie dennoch durch manche schwere Leidensschule gegangen; sie war oft geprüft worden, durch sich selbst und andere, und hatte ihre seltene Menschenkenntnis mit mancher bitteren Erfahrung erkauft. Wenn wir aber noch eins besonders an ihr rühmen wollen, so müssen wir eingestehen, daß der Erwerb und die Vermehrung ihrer Mittel nie ihr Hauptaugenmerk gewesen war. Vielmehr war sie auf eine prunklose innere Zufriedenheit und auf die Beglückung anderer weit eifriger bedacht gewesen, als auf die Befriedigung menschlicher Eitelkeit und irdischer Gelüste, die für sie persönlich so gut wie nicht vorhanden waren, die sie sogar an anderen tiefer verachtete, als manches ernstere Vergehen.

Ob diese wunderbar organisierte Frau aber bös war, wie so viele behaupteten, das wird die Fortsetzung unserer Erzählung lehren, zu der wir jetzt zurückkehren, die wir jedoch mit dem Morgen des Tages wieder aufnehmen, an welchem Bodo von Sellhausen seinen ersten Besuch auf der Cluus in Ausführung brachte.


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