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Zweites Kapitel.
Die Grotenburg und ihre Herrschaft.

Mit wie freudigen Empfindungen Bodo von seinem zweiten Besuche nach Hause zurückkehrte, er wurde nicht viel weniger freudig und herzlich daselbst empfangen. Fräulein Treuhold hatte aus seiner zeitigen Rückkehr am vorigen Tage sehr richtig geschlossen, daß er auch diesmal den schönen Abend still und friedlich zu Hause verleben wolle, und so erwartete sie ihn um die sechste Stunde am Fenster ihres Stübchens, wo sie ihn denn auch pünktlich eintreffen sah.

»Guten Abend, liebe Treuhold!« rief er ihr fröhlich entgegen, als er bei ihr zuerst eintrat. »Nun, da bin ich wieder, und der zweite Tag des lästigen Frohndienstes ist auch glücklich vorüber. Man muß nur Geduld haben, dann besiegt man sogar die Zeit, die oft unser bitterster Feind ist.«

»Gewiß, Herr Legationsrat, sehr oft aber auch unser liebster Freund.«

»Da haben Sie recht. O, Sie sind eine kluge Frau und wissen stets etwas Angenehmes zu sagen.«

»Das wollte ich nicht von Ihnen hören – aber freilich, Sie müssen sich ja jetzt etwas üben, und ich will Ihnen gern die Gelegenheit dazu bieten. Jetzt erzählen Sie mir aber, was Sie heute für Vergnügen genossen. Wie verlief dieser zweite Besuchstag?«

»Mit einem Wort – schrecklich, meine Liebe, fast ebenso schrecklich wie der gestrige, nur in ganz anderer Art.«

»Darf ich es denn nicht genauer erfahren?«

»Ja, ja, alles in allem, aber Sie werden keine Freude daran haben.« Hierauf erzählte er ihr, was wir selbst wissen, fügte jedoch am Ende die Worte hinzu: »Was mich aber am tiefsten verletzt hat, das ist – was mir schon gestern begegnet und was ich Ihnen bisher noch verschwieg – daß man sich wiederholt Anspielungen auf Baron Grotenburgs Familie und mich erlaubt, die nur beweisen, daß der Wunsch meines Vaters, mich mit Fräulein Klotilde verbunden zu sehen, kein Geheimnis mehr für uns allein ist. Die ganze Welt weiß es, denn nicht nur die Mitglieder der beiden Familien waren damit vertraut, auch ihre Diener, und man tritt überall mit seinen Wünschen und Sticheleien in einer so unverschämten Weise auf, daß ich fast große Lust habe, die Grotenburgs ganz und gar zu umgehen und meines Vaters Testament am ersten August schalten und walten zu lassen, wie es will, ohne mich um die Folgen zu bekümmern.«

»Das können Sie nicht!« warf die gute Haushälterin ernst und gemessen ein.

»Warum nicht?« fragte Bodo lächelnd.

»Weil der Wunsch Ihres Herrn Vaters, mit den Leuten, die Sie so verletzt, auf gutem Fuße zu bleiben, Ihnen höher stehen muß, als Ihr eigener, es nicht zu tun. Nein, nein, Herr Legationsrat, das ist auch Ihr Ernst nicht, ich kenne Sie besser.«

Bodo lächelte noch freundlicher und bewies dadurch, daß die Alte ihn wirklich richtig beurteilte und besser kannte, als er dachte: »Nun ja,« sagte er, »Sie haben recht, aber angenehm ist es nicht, diesen Tröpfen zum Stichblatt zu dienen. Doch – lassen Sie uns davon abbrechen, mir wird übel, wenn ich mir alles an diesen beiden Tagen Erlebte ins Gedächtnis zurückrufe. Ich habe Ihnen nun alles erzählt, was ich weiß, erzählen auch Sie mir, wie Sie den Tag zugebracht. Sind Sie bei dem Meier gewesen?«

»Nein, Herr, wir sind zu Hause geblieben. Wir fanden so mancherlei zu ordnen und zu putzen, daß die Zeit uns unter den Fingern verlaufen ist.«

»Was haben Sie denn schon wieder zu ordnen und zu putzen gehabt?«

»Wieder? Wie meinen Sie das?« fragte die Alte, etwas betroffen die Augen senkend; aber gleich darauf erhob sie sie wieder und fuhr heiter fort: »Wir sind einmal durch die Zimmer da oben gegangen und haben sie etwas aufgeräumt. Man muß doch beizeiten daran denken, daß Sie nun bald Gegenbesuche erhalten werden, und die können Sie doch nicht in Ihrer Studierstube empfangen?«

»Um Gottes willen, woran erinnern Sie mich!« rief er lebhaft aus. »Diese Menschen hier im Hause? Das wäre schrecklicher als alles, was ich bei ihnen erlebt, denn hier kann ich ihnen ja keinen Schritt ausweichen. Doch Sie haben recht – denken muß man daran und Sie denken an alles und sorgen für alles.«

Die Alte lächelte verstohlen vor sich hin. »Nein,« sagte sie ehrlich, »ich hätte am Ende sehr wenig daran gedacht, aber die Gertrud brachte mich auf den Gedanken, die hat die Augen und den Verstand überall. Wir haben also heute tüchtig gearbeitet, Herr, morgen jedoch wollen wir uns dafür einen frohen Tag machen und meinen Vetter zu Allerdissen besuchen.«

Bodo seufzte: »Ach,« sagte der, »wenn ich doch auch mit könnte! Aber während Sie bei einem vernünftigen Menschen sitzen, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, und gemütlich plaudern, bin ich –«

»Nun, wo sind Sie alsdann?« fragte die Treuhold fast schelmisch. »Wer weiß es! Am Ende gar schon bei Ihrer Braut!«

»Halt!« rief Bodo mit leicht gerunzelter Stirn, »so weit sind wir noch nicht! Das war kein gutes Wort von Ihnen, Fräulein Treuhold, vielmehr wieder ein Tropfen Gift – nun, was sehen Sie mich so bedeutungsvoll an?«

»Nehmen Sie ihn getrost hin, lieber Herr, ich habe jetzt ein Gegengift dafür.«

Bodo lächelte wieder und reichte ihr die Hand. »Lassen Sie es gut sein,« sagte er, »aber man darf ein Gegengift, wenn es auch noch so heilsam ist, nicht so oft anwenden, sonst hilft es am Ende nicht mehr. Doch« – er sah sich dabei gleichsam suchend im Zimmer um – »Sie sind ja so allein hier?«

»Sie wollen fragen, wo ist Gertrud – nicht wahr, lieber Herr?«

»Ja, Sie verstehen mich trefflich. Das wollte ich in der Tat fragen und frage ich jetzt wirklich.«

»Sie besorgt auf ihren ausdrücklichen Wunsch das Abendbrot allein, da wir Sie so früh wie gestern erwarteten.«

»Das ist hübsch von Ihnen. Morgen aber reite ich später, erst nach Tische fort; ich will nicht wieder einem solchen Mahle beiwohnen, wie die beiden letzten waren, und wer weiß, ob es auf der Grotenburg nicht noch ungenießbarer wäre.«

»Aber man wird Sie doch gewiß zu Tisch erwarten, da Sie voraussetzen können, daß man Ihre Absicht, dahin zu gehen, sogleich berichtet hat –«

»So mögen sie mich erwarten, immerhin; ich habe bei einem freiwilligen Besuche keine Verpflichtung, zu einer bestimmten Zeit zu erscheinen.«

Die Alte schwieg einen Augenblick, dann sagte sie freundlich: »Es ist hier unter den Familien Ihrer Bekanntschaft so Sitte, bei ähnlichen Besuchen vor Tische zu kommen, um dann an der Tafel gleich teilzunehmen.«

»Mag sein, ich kenne die hiesigen Sitten noch nicht, bestes Fräulein, und ich denke mich nie in ihre engherzigen Regeln einschnüren zu lassen. Soviel aber hoffe ich gewiß, daß gute Sitten überall Sitte sein werden, und meine Sitte, jemanden nicht gleich von Anfang an zu lange lästig zu fallen, ist gut. Meinen Sie nicht auch?«

»Wenn Sie das in so scherzhaftem Tone und mit lächelndem Munde sagen, weiß ich, wie ich es zu nehmen habe und stimme Ihnen bei.«

»So sind wir also einig. Jetzt will ich nach meinem Zimmer gehen und es mir ein wenig bequem machen, Altchen. Lassen Sie uns aber heute lieber etwas später essen als gestern, wenn es geht, ich habe gut zu Mittag gespeist.«

»Sie trinken ja wohl auch des Abends Wein?« fragte die Treuhold, den Scherz noch weiter verfolgend.

»Gewiß, und rechten guten am liebsten. Adieu!«

Bodo schritt, er verhehlte es sich selbst nicht, mit einiger Spannung nach seinem Zimmer hinauf und blickte sich, als er es erreicht, mit leuchtendem Auge darin um. Er fand alles in schönster Ordnung, wie am vorigen Tage; die noch immer lieblich duftenden Blumen erfreuten sich frischen Quellwassers, und die Bücher lagen in derselben Reihe nebeneinander, wie er sie selbst niedergelegt und sich ihre Lage gemerkt hatte. Doch nein, dem war bei genauerer Betrachtung nicht ganz so. In dem einen malerischen Album hatte ohne Zweifel eine fremde Hand geblättert, denn es lag auf der Kehrseite, während der Besitzer selbst es absichtlich auf die vordere niedergelegt, und in jene große Mappe mit Kupferstichen hatte auch ein teilnehmendes Auge geblickt, denn alle Bänder waren jetzt überaus regelmäßig von kunstfertiger Hand zugebunden und am Morgen, ehe Bodo das Zimmer verließ, war eine Schleife offen gewesen.

Nachdem er eine Weile seine Augen sinnend auf diesen beiden Punkten hatte ruhen lassen, flog ein Schimmer freudiger Regung über sein ernstes Gesicht. »Das ist hübsch,« sagte er im stillen, »das gefällt mir wohl. O, wenn der heimliche Besucher dergleichen liebt, kann ich ihm noch mit Besserem dienen.«

Und rasch trat er an den verschlossenen Schreibtisch, nahm aus der großen Schublade eine lange nicht betrachtete Kupferstichsammlung, welche die schönsten Gegenden und die berühmtesten Bauwerke Griechenlands und Roms enthielt, und sodann ein prachtvoll gebundenes Album hervor, in dem sich die wohlgelungenen Photographien seiner Freunde und der ausgezeichneten Männer befanden, mit denen er an verschiedenen Orten zusammengetroffen und denen er in irgend einer Weise auf seiner diplomatischen Laufbahn näher getreten war.

Diese beiden Gegenstände legte er mitten auf den Büchertisch, blätterte sie oberflächlich durch, um sich noch einmal zu überzeugen, ob sie auch der Beachtung eines sinnigen Wesens wert wären, und dann erst kleidete er sich um, indem er einen leichten Sommerrock, den er im Hause gewöhnlich trug, rasch überwarf.

Bald darauf verließ er das Zimmer wieder und ging nach dem Garten hinab, wo er dem einsamen Lindensaal einen Besuch abstattete und dann in verschiedenen Gängen langsam auf und ab spazierte, bald das weite Wesertal hinunterschauend, bald im Garten selbst nach diesem und jenem spähend.

Da traf er plötzlich auf den alten Gärtner, der emsig an einem neuen Blumenbeet arbeitete, welches er auf einem großen einfachen Rasenstück an einer geeigneten Stelle anzulegen bemüht war.

»Guten Abend, Borgmann,« sagte er zu dem alten Manne, der an dem warmen Tage tüchtig bei seiner Arbeit schwitzte, »was macht Ihr denn noch so spät da – was soll es werden, he?«

»Ein Blumenbeet, wie es jetzt Mode und auch wirklich recht hübsch ist. Sehen Sie, gnädiger Herr, erst kommt ein dicker Kranz von großblätterigem Efeu ringsum, dann Rosen mit schönen Fuchsien untermischt, und in die Mitte stelle ich eine schlanke Edeltanne oder Zypresse – das muß sich hübsch machen, nicht wahr?«

»Gewiß, und ich muß Euren Geschmack darin bewundern.«

»O, mein Geschmack,« sagte der bescheidene Alte lachend, indem er die kurze Pfeife in der einen und die Mütze in der anderen Hand hielt, »ist das gerade nicht – man darf sich nicht zu viel rühmen lassen.«

»Wessen denn, Borgmann? – Aber setzt Eure Mütze auf und raucht ruhig weiter.«

»Nu, wessen denn anders, als des Fräulein da oben – die hat in allen Dingen Geschmack und Geschick mitgebracht, das muß man sagen.«

»Fräulein Treuhold? Denn die meint Ihr doch?«

»Ach, die Alte! Gott bewahre! Ich meine das junge Fräulein, ihre Nichte, des reichen Meiers zu Allerdissen Tochter.«

»Aha!« schlüpfte es über Bodos Lippen, und den Alten freundlich grüßend, ging er schnell weiter, wahrscheinlich weil er sich selbst grollte, daß er das nicht erraten. Aber nach sehr kurzer Zeit kam er wieder zurück und sagte: »Borgmann, tut alles was das junge Fräulein wünscht und rät, hört Ihr? Sie hat viel Schönes gesehen und weiß es an der rechten Stelle anzubringen.«

»Wenn Sie meinen, gnädiger Herr, das kann ich schon tun und tue ich gern. Sie sagt es auch stets mit einem so freundlichen Gesicht, daß alles um einen herum zu lachen scheint und man die Sonne selbst im Schatten glänzen zu sehen glaubt.«

»Ja, ja, Ihr habt recht, Alter, so ist es. Ich wünsche Euch einen guten Abend!«

»Guten Abend, gnädiger Herr, und morgen sollen Sie das Beet fertig finden.« –

Die Sonne begann schon hinter die Berge im Westen zu sinken; im Garten breitete sich allmählich tiefer Schatten aus und die unter dem linden Abendhauche zitternde Mittelfläche der Weser schimmerte von wunderbar glühenden, violetten und purpurnen Lichtreflexen, während ihre Ränder die natürlichen Farbentöne der Felsen, Bäume und Büsche, nur in dunklerer Schattierung wiedergaben. Bodo stand träumerisch an einem Fenster des Lindensaales und erquickte sich an dem lieblichen Anblick, der immer dasselbe und doch stets Neues bot, so oft man das Auge darauf ruhen ließ. Da kam der alte Gärtner durch den Garten gegangen, Spaten, Hacke und einen kleinen Ranzen auf der Schulter tragend.

»Wo wollt Ihr hin, Borgmann?« fragte ihn leutselig der Herr, ihm langsam aus dem Lindensaal entgegentretend.

»Nach Hause, gnädiger Herr. Es ist schon eine gute halbe Stunde über Feierabend.«

»Wie – schon halb acht?«

»O, lange darüber; und nun will ich mir vor meinem Hause ein kleines Blumenbeet anlegen, ähnlich wie jenes da.«

»Das ist recht. Wenn es fertig ist, will ich mir es einmal ansehen und Euch meine Meinung sagen. Die Blumen dazu könnt Ihr aber aus diesem Garten nehmen, hört Ihr?«

Der Alte lachte froh in seinen grauen Bart, dankte höflich mit abgezogener Mütze und ging dann eilfertig weiter. Bodo aber schlug nicht minder eilig den Weg nach Hause ein und fand im Speisezimmer die Haushälterin und Gertrud, die augenscheinlich schon eine Weile auf ihn gewartet hatten.

»Ich muß um Entschuldigung bitten,« sagte er zu letzterer, nachdem er beide begrüßt, »daß ich Sie warten ließ, aber Sie haben mich draußen im Garten länger aufgehalten, als es meine Absicht gewesen.«

»Ich, Herr von Sellhausen?« fragte Gertrud mit leisem Erröten, wobei sie ihre Tante still forschend ansah.

»Ja, ja,« erwiderte Bodo, den verwunderungsvollen Blicken beider mit Ruhe begegnend, »es ist, wie ich sage. Ich war bei dem alten Gärtner und er hat mir das Beet gezeigt, welches er nach Ihren Ratschlägen angelegt.« –

Es folgte nun alsbald wie am vorigen Abend ein munteres Gespräch über mancherlei, wobei diesmal die Gartenkunst den meisten Stoff darbot und in welcher sich das junge Mädchen überaus bewandert zeigte. Von Bodos Seite ward dasselbe indes nicht so lebhaft geführt, wie am Tage vorher, das merkte die alte Treuhold sehr wohl und sie half oft mitunter entstehende Pausen ausfüllen, wenn ihr lieber Herr sinnend vor sich nieder sah und das Gespräch stocken ließ.

Nach dem Tische begaben sie sich alle drei wieder in den Garten, schritten plaudernd auf und nieder und besuchten das angefangene Beet, worauf sie sich später wie am Abend vorher trennten, als die nahende Nacht ihre schweigenden Schatten niedersenkte.

Am andern Morgen aber war der Legationsrat ungewöhnlich früh munter, wiewohl nicht im Freien beschäftigt wie sonst, und niemand von der ganzen Hausbewohnerschaft, außer Rieke, die ihm das Frühstück brachte, bekam ihn zu sehen. Er saß still in seinem Zimmer, hatte den letzten Brief des verstorbenen Vaters vor sich und las denselben aufmerksam und wiederholt von Anfang bis zu Ende, als suche er irgend etwas darin zu finden, was ihm bisher entgangen wäre. Allein, so sehr er auch suchen mochte, er fand nichts Neues und sehnlich Gewünschtes darin, und so stand er endlich seufzend von seinem Platze auf und stellte sich ans Fenster, die Sonne vergeblich suchend, die auch an diesem Morgen hinter trüben Schleiern verborgen blieb.

Endlich aber hielt er es in dem drückend schwülen Zimmer nicht mehr aus. Schnell stieg er die Treppe hinab, ging in den Garten, schweifte von da nach den Feldern hinüber, bald dahin, bald dorthin, sichtbar ruhe- und ziellos und unentschlossen und fast selbst nicht wissend, wohin er ging, was sonst gar nicht in seiner Art lag. Endlich kam er wieder nach Hause, kleidete sich um und erschien dann am Mittagstische in dem feinen Anzuge, den er bei Besuchen zu tragen pflegte und der ihm vorzüglich gut stand, obgleich er zu den Männern gehörte, die sich in jeder Kleidung stattlich und vornehm darstellen.

Bei Tische war er noch stiller als am Abend zuvor und nur wenige Worte richtete er an Gertrud, dann aber mit einem so milden, fast weichen Tone, wie ihn Fräulein Treuhold noch nie aus seinem Munde hatte kommen hören.

Endlich war man mit dem Essen fertig, worüber er froh zu sein schien, und nun bat er den Verwalter, ihm bald sein Pferd vorführen zu lassen, da es jetzt wohl Zeit sei, daß er seinen Ritt antrete.

Den Anwesenden eine gesegnete Mahlzeit wünschend, entfernte er sich, um Hut und Paletot zu holen, trat aber bald darauf in der Haushälterin Zimmer, die er wieder allein fand.

»Liebe Treuhold,« sagte er mit eigentümlich bewegter Stimme, »ich gehe. Gern tue ich es nicht, aber es muß sein! Sie glauben nicht, wie bedrückt mein Herz ist, und fast ist mir zu Mute, als ob ich wieder ein Knabe geworden wäre, der einen dummen Streich gemacht hat und nun zu seinem Präzeptor geht, um sich die Strafe dafür zu holen. Das ist ein unangenehmes Gefühl in meinen Jahren, Sie mögen es mir glauben.«

»Ich glaube es wohl, lieber Herr,« sagte die Alte und nickte ihm treuherzig und vertraulich zu. »Aber gehen Sie nur getrost zu dem Präzeptor, vielleicht diktiert er Ihnen keine so schwere Strafe als Sie fürchten.«

»O, ich fürchte mich nicht, das denken Sie ja nicht. Aber ich fühle im voraus, daß ich unbefriedigt heimkehren werde.«

»Das wollen wir erst abwarten. Es hat mancher Mensch mit schwerem Herzen solchen Besuch angetreten und ist mit leichtem zurückgekehrt.«

»Ha, mit leichtem! Ich nehme das Wort als gute Vorbedeutung an. Gott gebe, daß ich es nicht voll zubringe. Und nun leben Sie wohl – da ist mein Pferd.«

Er reichte ihr die Hand, schüttelte sie kräftig, sah ihr noch einmal freundlich in die Augen und ging dann rasch hinaus, wo er ohne Aufenthalt das Pferd bestieg.

Die alte Treuhold war ihm unablässig mit den Augen gefolgt. Er sah sich nicht mehr nach ihr um und doch, als der Braune schon im Fortschreiten begriffen, hielt er ihn noch einmal an, drehte sich um und blickte nach ihrem Fenster zurück.

Allein er gelangte nicht mit den Augen bis zu ihr hin. Ein anderer Gegenstand am Nebenfenster fesselte sie und er zog ehrerbietig den Hut und rief ein: »Adieu!« zu dem holden Mädchenantlitz hinauf, das ihm zum ersten Male nachsah, da er das Haus verließ.

»Glückliche Reise, Herr Legationsrat!« rief sie ihm zu, und war dann aus seinem Gesichtskreise verschwunden. Ob er dabei recht gesehen, ob er sich getäuscht, er wußte es nicht, aber es schien ihm, als ob das dunkelblaue Auge, das ihn soeben begrüßt, mit einem gewissen Mitleid auf ihn herabgeblickt und dann der liebliche Mund ihm mit trübem Lächeln die glückliche Reise geboten.

»Glückliche Reise!« wiederholte er für sich. »O ja, es wäre gut, wenn es so wäre, so sein könnte, aber nein, nein, nein, die innere Stimme lügt nicht und mir sagt sie, daß diese Reise in dem Sinne, wie sie es gemeint, nicht glücklich ablaufen wird.«

Mit diesem Gedanken ritt er vom Hofe fort, aber er schien diesmal keine so große Eile zu haben, als an den Tagen vorher, denn er ließ sein Pferd den etwa eine halbe Meile betragenden Weg im ruhigsten Schritt gehen, als wäre er überzeugt, er werde noch immer früh genug den Ort seiner Bestimmung erreichen. Jedoch nicht diese Überzeugung allein hielt ihn von dem schnelleren Erstreben des so nahen Zieles ab, vielmehr waren es ernste und sogar bittere Gedanken, die sich seiner Seele bemächtigt hatten und ihn auf eine Weise peinigten, wie noch nie zuvor.

Er war sich vollkommen des ernsten Schrittes bewußt, den er gegenwärtig tat, und mit seiner ganzen Schwere lastete der letzte väterliche Wunsch auf ihm, von dem er bisher noch nie etwas zu leiden gehabt. Es war das erste Mal, daß ein fremder, fast gewaltiger Wille wie mit eiserner Hand in die goldenen Saiten seines Lebens griff und die bisherige Harmonie seiner Empfindungen und Gefühle verstimmte, einen Mißton in dieselbe mischend, der in den tiefsten Fugen seines Wesens dröhnend widerhallte.

Immer wieder von neuem regte sich mit wachsendem Ungestüm die Frage und deren Beantwortung in ihm: »Wie kannst du es dulden, daß man deinen persönlichen Neigungen und Wünschen einen solchen moralischen Zwang auferlegen will? Wirf alles Fremde, gewalttätig Zwingende entschieden von dir ab und fahre fort, ein freier Mensch zu sein, wie bisher!« Aber immer wieder kehrte er auf die Bahn des tief in ihm wurzelnden Gehorsams, der kindlichen Unterwerfung unter den Willen eines Mannes zurück, der in seiner Stellung als Vater doch wohl bedacht haben mußte, wie schwer die seinem Sohn aufgebürdete Last unter Umständen zu tragen sein könne, und der sie ihm dennoch aufbürdet, wahrscheinlich selbst einer inneren Notwendigkeit, einer moralischen Verpflichtung, also einem Zwange folgend, der sich jetzt in gesteigerter Potenz bei jenem fühlbar machte.

Endlich aber schüttelte er mit Gewalt die ihn bedrängenden Empfindungen, Zweifel und Bedenken ab, er kämpfte sich mutig durch alle die dräuenden Hindernisse, und der schon früher unklar vor ihm schwebende Entschluss kam zum klaren Durchbruch: wenigstens zu versuchen, ob er dem Wunsche eines anderen, dem Willen seines Vaters, folgen und sich selbst zum Opfer eines Verhältnisses darbieten könne, das ihm bisher eben so unbequem wie unergründlich erschienen war.

Als dieser männliche Entschluß in ihm licht und klar geworden, fühlte er sich ruhiger werden, und die letzte Hälfte des Weges setzte er sogar mit einer Gelassenheit fort, die ihm seit dem vergangenen Abend leider nicht mehr zu Gebote gestanden hatte.

»Ich werde sehen, wie hoch der Berg ist, den ich übersteigen soll,« sagte er schließlich zu sich. »Tragen mich irgend meine Füße hinauf, wohlan, so soll er bestiegen werden. Flügel aber borge und mache ich mir nicht, denn ich bin eben so wenig ein Ritter des Pegasus, der sich auf seinen Phantasien zu einer unbekannten nebelhaften Höhe emporschwingt, wie ein tollköpfiger Ikarus, der mit schmelzendem Wachsfittig sich in Regionen erhebt, die seiner Natur nicht zusagen und seinen Fähigkeiten entrückt sind. Vorwärts also, heute abend werden wir klüger sein als jetzt und die Zeit wird nicht still stehen um uns durch ihr Zögern länger in Zweifel zu lassen, als für eine arme Menschenseele zuträglich ist!«

*

Während er nun der alten Grotenburg zureitet und über die Art und Weise mit sich zu Rate geht, wie er sich den ihm fremden Menschen gegenüber verhalten sollte, um ihnen nicht Hoffnungen zu erregen, die er schließlich nicht zu erfüllen imstande gewesen wäre, wollen wir noch einen Blick auf diese Menschen selbst werfen und damit die Schilderung der Personenreihe schließen, die wir in dem Rahmen unseres Charakterbildes vorzuführen haben.

Die Grotenburg zunächst war in der Tat, was ihr Name besagte, eine Burg, die nur nicht den Beinamen der »großen« verdiente, da sie, wie die meisten ehemals festen Schlösser im flachen Lande sogar winzig genannt werden konnte. Was dagegen ihr Alter anbelangt, so mochte ihr Ursprung sich bis ins graue Mittelalter verlieren, und die Spuren davon trug sie bis auf diesen Tag noch in manchen einzelnen Zügen an sich. Inmitten eines zwanzig Fuß breiten, ein großes Quadrat ebenen Landes umschließenden Grabens gelegen, den mehr Schlamm als Wasser füllte und über welchen nur eine schmale Zugbrücke führte, erhob sie sich als ein baufälliges verwittertes Gemäuer von höchst unregelmäßiger Gestalt, mit Türmchen, Zinnen und Giebeln verziert, die unsern jetzigen Zerstörungswerkzeugen keine Stunde würden widerstehen können, in ihrer Blütezeit aber ganz tüchtig und dauerhaft gegen räuberische Überfälle gewesen sein mögen. Diese Türmchen, Zinnen und Giebel waren mit Schiefer gedeckt, die Fenster klein und namentlich nach außen hin sparsam angebracht, und nur nach dem Hof und Garten hinaus, welcher letztere ebenfalls innerhalb des Grabens lag, dagegen das Hauptgebäude war mit größeren und der modernen Bauart entsprechenderen Fenstern geziert.

Schon aus weiter Ferne sichtbar, machte diese alte, von Nußbäumen und Pappeln umgebene Burg einen mehr düsteren als angenehmen Eindruck auf den fremden Besucher. Die dicken moos- und efeubedeckten Mauern, hier und da halb zertrümmert, die vielen vorspringenden Ecken mit den teilweise noch vorhandenen eisenvergitterten Gucklöchern, die kleinen vielgestalteten Türme mit ihren in den Angeln kreischenden Windfahnen, besaßen nichts Anlockendes, selbst für ein das Mittelalter und seine Schöpfungen liebendes Auge, und wer, an ein modernes wohnliches Haus gewöhnt, aus dessen äußerer Form und Gewandung schon die Sorgfalt des Besitzers hervorleuchtet, zum ersten Male dies traurige Bauwerk erblickte, fühlte sich beklemmt und eingeengt, als wäre er in eine Region gekommen, welche Menschen beherbergt, die noch etwas sein und vorstellen wollten, was anderwärts längst zu Grabe getragen war.

Baron Grotenburg zwar erzählte oft, er beabsichtige schon lange, dem zerbröckelnden Gemäuer einen neuen Abputz zu geben und die vorhandenen Mängel zu beseitigen, allein er fürchte dadurch dem alten Gepräge seines Besitztums den wahren und noblen Charakter zu nehmen, – eine gewiß aus der Luft gegriffene Furcht, da nur der Mangel an Barem ihn veranlassen konnte, noch länger in dem halb verfallenen Erbteil zu hausen, so groß auch sein Verlangen war, ein lichtvolles und modernes Schloß zu bewohnen, etwa in der Art, wie sich das Herrenhaus zu Sellhausen seinem begehrenden Auge darstellte.

Jenen ersten düsteren, immer nachhaltigen Eindruck, den ihr altes Besitztum auf den fremden Beschauer hervorbrachte, vermochten auch die Bewohner desselben nicht zu verwischen, wenn man ihnen im Innern des Hauses begegnete, und aller Schmuck, alle Verzierung, die sie so verschwenderisch daran gewandt; aus der alten Burg ein reizendes anziehendes Schloß zu zaubern, reichte nicht hin, dem Gaste ein wohltätiges Gefühl zu erwecken, falls er mit dem Wirte nicht gerade in besonders intimer und angenehmer Beziehung stand.

Baron Grotenburg glich, schon in der äußeren Erscheinung, nicht im entferntesten seinen beiden uns bereits bekannten Schwägern, denn er gehörte ganz im Gegensatz von ihnen zu den Menschen, die allein die Form und den Schein des Lebens zu ihrer Gottheit gemacht haben; demgemäß stellte er sich als ein abgeschliffener, polierter und mit allen Finessen des Umgangs vertrauter Edelmann dar, der seinen Stand und sein Herkommen schon durch Haltung, Geberde und Miene, vor allen Dingen aber durch eine ausgesuchte Kleidung zur Anschauung zu bringen verstand.

Von Gestalt leidlich groß, trug er dieselbe mit einer gewissen leichten Würde, und in seinen Bewegungen, in seiner Art: gewählt und in einem hohen Tone zu sprechen, gab sich jene prahlerische Großtuerei kund, welche nur zu oft mit einem innerlich hohlen Wesen verbunden ist.

Alles in allem genommen gab es wohl selten einen unbedeutenderen Menschen als den Baron Grotenburg, obgleich er sich die größte Mühe gab, so bedeutend und erhaben wie möglich zu erscheinen. Sein ganzes Ringen und Trachten war nur auf die schillernde Oberfläche, den äußeren Schimmer alles Bestehenden gerichtet, nichts hatte für ihn einen Kern, einen Gehalt; wie er sich und die Seinigen den Augen der Welt darstellte, darauf kam es ihm allein an, und wenn es ihm glückte, den Sinn eines ihn Beurteilenden zu blenden, so war er eben so sehr über sich selbst, wie über alle Welt entzückt.

Wie dieser Mann dachte und fühlte, so handelte er auch. Er hatte sich in seinem ganzen Leben mit nichts Ernstlichem beschäftigt; die Arbeit, mochte sie sein, welche sie wollte, kannte er nur vom Hörensagen, da er kein Auge von der Natur erhalten zu haben schien, um den im Schweiße seines Angesichts tätigen Arbeiter auch nur aus der vornehmsten Ferne zu betrachten.

Um nun auch durch nichts an die Arbeit erinnert zu werden und um sich nicht selbst wie er sagte in dem alltäglichen Einerlei gemeinen Lebens aufzureiben, hatte er seine ergiebigen Ländereien an einen wohlhabenden Nachbar für ein schönes Stück Geld verpachtet, und demzufolge bekümmerte er sich wenig darum, wie derselbe mit seinem Eigentum schaltete und waltete. Wenn er nur zur rechten Zeit sein Pachtgeld erhielt, um die drohendsten Gläubiger mit kleinen Brocken befriedigen zu können, war er schon glücklich, denn seine Schulden im ganzen zu bezahlen, dazu war, wie die Sachen einmal lagen nicht die geringste Möglichkeit vorhanden. Aber ach, dieses Pachtgeld lief immer spärlicher ein, der gute Pächter hatte es schon leihweise vorausbezahlt, und die Ausgaben, anstatt einmal in ihrem atemlosen Laufe still zu stehen, wuchsen alle Tage von neuem zu unerschwinglichen Summen an, für deren Addierung die Damen seines Hauses weder Sinn noch Lust zu haben schienen.

Dagegen verstanden es diese Damen, von denen wir die Bekanntschaft der Mutter schon auf Sellhausen gemacht haben, meisterhaft, des Barons Säckel zu leeren, selbst wenn er bis an den Rand gefüllt gewesen wäre, und Baron Grotenburg war ein so schwacher Mann, daß er ihren Bitten niemals widerstehen konnte, wenn sie ihn zu neuen und unvermuteten Ausgaben veranlaßten.

Seiner gebieterischen Gemahlin gegenüber durfte er nie einen Widerspruch erheben, und die verzärtelte Klotilde mochte er nicht mit Versagung kränken, wenn ein Wunsch über ihre Lippen drang, und ach! weder die Forderungen der einen noch die Wünsche der anderen hielten jemals das Maß rücksichtsvoller Bescheidenheit ein.

So hatten sie es unter anderem durchzusetzen gewußt, das Innere ihrer alten Burg nicht allein mit allerlei luxuriösem Gerümpel beinahe auszustopfen, sondern es auch in eine Art moderner Galanteriewaren-Niederlage zu verwandeln. Kein Bequemlichkeitsmöbel gab es auf der Welt, von welchem nicht wenigstens ein Exemplar auf der Grotenburg vorhanden gewesen wäre. Alle Zimmer waren damit überfüllt, und daran reihten sich eine Menge wunderbarer Dinge, für die man eben so wenig einen Namen besitzt, wie eine Anwendung zu finden imstande ist. Gemälde, Kupferstiche, Statuen von Porzellan, Elfenbein, Wachs, Ton, Nippes tausendfältiger Art und der ganze plunderhafte Krimskrams, den die erfinderischen Fabriken des In- und Auslandes erzeugen, füllten alle Räume vom Boden bis zur Decke, so daß man sich kaum in irgend einem Zimmer, mit Ausnahme des großen Salons, frei bewegen konnte, ohne befürchten zu müssen, eine ganze Welt voll namenloser Kunstgegenstände zu zertrümmern.

Aber nicht hierin allein suchten die beiden Damen die Befriedigung ihres Stolzes und ihrer Laune, es mußten auch noch kostbarere Dinge in ihrem Besitz sein, um sich der sie umgebenden Welt gegenüber als mustergültig zu fühlen.

Kein adliges Haus in der ganzen Umgegend hatte eine so große Anzahl Diener für allerlei Verrichtungen aufzuweisen als die Grotenburg. Der Baron, die Baronin, Fräulein Klotilde, jedes hatte seinen eigenen, reich und dabei geschmacklos gekleideten Bedienten, der Herr außerdem einen Jäger, die Damen eine Kammerjungfer und verschiedene Nähmädchen, wobei die Kutscher noch nicht in Anrechnung gebracht sind, die zu abwechselndem Dienst jederzeit und für jedermann bereit stehen mußten.

Natürlich gehörten Winter- und Sommer-Equipagen nebst kostbaren Pferden zu einem solchen Haushalt, und auch davon war eine reichliche Auswahl in den Remisen und Ställen des Schlosses aufzufinden.

Daß man die Küche und den Keller dabei nicht vernachlässigte, braucht nicht besonders erwähnt zu werden, obgleich man weit entfernt war, dafür so große Summen zu verwenden, wie Baron Haas es für nötig hielt.

Diese kostbare Einrichtung des freiherrlichen Hauses kostete aber Geld, viel Geld, und damit sah es, wie wir schon wissen, allzeit am kläglichsten aus. Der Baron hatte allerdings früher ein ansehnliches Vermögen besessen, allein dasselbe war ihm allmählich und unversehens durch die Finger geschlüpft, und es begann schon seit Jahren eine fühlbare Ebbe einzutreten, die bisweilen sogar eine grauenerregende Dürre herbeiführte, von der man natürlich nach außen hin so wenig wie möglich etwas verlauten ließ.

So lange der alte Herr von Sellhausen gelebt, den man mit Aufmerksamkeiten und Liebesbeweisen allerlei Art zu blenden und zu ködern verstanden, so lange freilich hatte man eine nicht unwesentliche Stütze, wenigstens in den Zeiten der dringendsten Not gehabt. Die Gutmütigkeit dieses Mannes war eben so groß gewesen wie seine bescheidene Unterordnung unter den hochmütigen Geist der altadligen verwandten Familie, er hatte gegeben, was in seinen Kräften stand, und auch für die Folge Unterstützung verheißen, – ein Verfahren, das ihn zuletzt, wie wir wissen, sogar zu dem seltsamen Verlangen führte, welches zum teil den Gegenstand dieser Erzählung bildet. Als er nun aber gestorben, war eine große Zuflußquelle für den Baron verstopft, es trat eine bedeutungsvollere Ebbe ein denn je, und letzterer gewahrte mit Schrecken, daß er seinem Ruin entgegenginge, wenn nicht bald eine namhafte Hilfe käme, und diese nahete glücklicherweise von Tage zu Tage näher heran, noch dazu von zwei Seiten, und auf diese war sein Auge natürlich mit brennendem Verlangen gerichtet.

Die eine dieser Hilfen, für ihn die angenehmste und ergiebigste, war allerdings noch anscheinend am weitesten entfernt; sie entsprang wie ein üppig sprudelnder und fast unerschöpflicher Quell aus der bevorstehenden Erbschaft der guten Tante Birkenfeld, die ihren nächsten Verwandten ja auf keinen Fall entgehen konnte, so bitterböse sich auch die alte Dame bisher der Familie des Barons erwiesen hatte. War sie aber auch so böse, wie sie sein mochte – alte Damen haben ja oft unerträgliche und unbegreifliche Launen – was verschlug das? Sie war alt, sehr alt, und man konnte jeden gesegneten Tag ihres nicht weniger gesegneten Endes gewärtig sein. Noch dazu war sie kränklich und hinfällig, das Leben bot ihr keinen Reiz, keine Freude mehr – sie mußte sich zuletzt selbst zur Last sein – war es daher nicht natürlich, daß man in der Grotenburg, wo so zarte und menschliche Gefühle herrschten, alle Tage und Nächte Gott bat, daß er die arme Dulderin doch endlich von ihren irdischen Fesseln befreien möge?

Die zweite Hilfe dagegen war, wenn auch weniger ergiebig, doch glücklicherweise jetzt ganz nahe gerückt. Der Legationsrat von Sellhausen war von seiner amtlichen Stellung im Auslande entbunden und endlich in das Vaterhaus heimgekehrt, um sein Erbe in Besitz zu nehmen – unter der für den Baron so günstigen Bedingung, daß er die Tochter des Schwagers seines Vaters als Ehegemahl in dasselbe einführe. Daß Bodo keinen Augenblick anstehen werde, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, darüber hegte man auf der Grotenburg anfangs keinen Zweifel, dafür hatte der schlaue Baron und die noch schlauere Baronin hinreichend zu sorgen gewußt, dafür hatten sie jahrelang »gearbeitet« und sich in Liebe und Aufopferung gegen den alten trägen Herrn von Sellhausen erschöpft, den sie in ihrer Einbildung für dreimal so reich hielten, als er wirklich war.

Als nun aber Bodo fünf Monate lang als Einsiedler in seinem stillen Hause lebte, niemanden bei sich sah, zu niemandem ging, da wurden die hoffnungsvollen Gesichter in der Grotenburg immer länger und länger, und in ihren Herzen stieg eine dunkle Ahnung auf, daß der junge Herr von Sellhausen doch am Ende andere Gesinnungen als sein Vater gegen sie hegen könne. Jedoch »junge glatte Leute sind leichter zu regieren als alte verrostete Seelen,« sagte die Baronin, »warten wir es ruhig ab, und fassen wir den Strick am richtigen Ende an, sobald es uns in die Hand gegeben wird.«

Allein dieser »Strick« – man verzeihe, daß wir uns des Ausdruckes der edlen Baronin bedienen – wurde nicht in ihre Hand gegeben, und so konnte sie weder das falsche noch das richtige Ende desselben ergreifen.

Als nun aber fünf Monate vergangen waren, keine Nachricht über den seltsam diplomatisch verfahrenden jungen Mann einlief, niemand etwas Bestimmtes von ihm wußte, da stieg die Besorgnis in der Grotenburg zur Angst, und diese erreichte zuletzt eine so schwindelnde Höhe, daß die Frau Baronin in ihrer Not einen kühnen Versuch zu wagen beschloss, dessen tragikomischen Ausgang wir in den vorhergehenden Blättern geschildert haben.

So viel von der Not und den Hoffnungen der Familie des Barons, deren letztes Glied – das wichtigste und kostbarste von allen – wir in Fräulein Klotilde nun noch dem Leser zu schildern haben.

Diese zwanzigjährige Tochter, das einzige Liebespfand, womit den Baron seine ausgezeichnete Gemahlin beschenkt – wie konnte sie als Kind solcher Eltern anders sein, als sie wirklich war? Von beiden verzärtelt und verzogen von Jugend auf, ein Spielball in der Hand einer ebenso unverständigen Mutter, von den großartig erscheinenden Verhältnissen ihres Vaters berauscht und in den Wahn versetzt, eine noch großartigere Rolle in den künftigen Traditionen ihrer Familie zu spielen, war sie von der Natur ganz und gar dazu ausersehen, diese Rolle auf ihre Weise so früh wie möglich in Szene zu setzen.

Wenn man sie zum erstenmal sah und ihre Gestalt und ihre Züge im einzelnen betrachtete, konnte man nicht umhin, sie für hübsch, für fein zu halten, und doch war sie im ganzen durchaus keine wohltuende Erscheinung. Alle Vorzüge und Zierden, die sie besaß, waren, seltsam genug, teils durch ein unleidliches Übermaß entstellt, teils durch eine gewagte äußere Zutat, überladenen und geschmacklosen Putz und schließlich durch das schlimmste von allem, durch eine gekünstelte Effekthascherei in das Gegenteil verkehrt.

Was ihre körperlichen Verhältnisse betrifft, so war sie ziemlich groß und schlank, überdies mit Hilfe einer unsichtbaren Maschinerie maßlos eingezwängt, was ganz unnötig erschien, da sie auffallend fleischlos und für den Mann, der das Weib mit weiblichen Formen liebt, nicht gerade verführerisch ausgestattet war. Nur die Arme und Hände waren damit etwas reichlicher bedacht, sogar schön und gut geformt, nur wurden leider die Hände durch entsetzlich lange und haarscharf zugespitzte Nägel entstellt, eine Mode, die man, wenn sie uns ein Reisender von einem heidnischen Volke erzählte, vielleicht für gerechtfertigt, wenn aber von einem zivilisierten, für fabelhaft halten würde, könnte man sie nicht jeden Tag auch bei uns an solchen Leuten wahrnehmen, die jede Arbeit für eine Schande und die Trägheit für eine der vornehmsten Tugenden halten.

Bei sehr blaßblonden und im natürlichen Zustande sehr glanzlosen Haaren, wie sie auch der Baron und die Baronin besaßen, hatte sie einen sehr zarten Teint, aber dabei jenen faden, nichtssagenden Ausdruck der Miene, der vielen hochblonden Damen eigen ist, wenn sie geistlos sind, und welcher um so auffallender hervortritt, wenn sie, wie Fräulein Klotilde, fast farblose Augenwimpern und gänzlich unsichtbare Augenbrauen haben.

Das Auge war meistenteils matt, glanz- und ausdruckslos und in der Farbe etwas zu hellblau geraten, aber es nahm einen unnatürlich stechenden und herausfordernden Blick an, wenn seine Besitzerin bei irgend einem Vorkommnis sich ein bedeutendes Ansehen zu geben bemüht war, – ein Beginnen, das ihr aus langer Gewohnheit zur zweiten Natur geworden war und ihr vielmehr schadete, als wenn sie weniger hübsch gewesen wäre. Ihr Mund war etwas groß, und dabei die Lippen so schmal und umrißlos, daß man sie kaum bemerken konnte. Geziert war er allerdings mit weißen, wiewohl etwas großen Zähnen, aber sie zeigte sie bei den schmalen blassen Lippen so oft, daß man zuletzt nicht mehr darauf achtete und gewünscht hätte, sie möchten lieber von röterem und vollerem Fleische bedeckt sein.

Bei der schon bezeichneten Magerkeit wäre es sehr ratsam gewesen, wenn sie Nacken, Hals und Schultern etwas weniger entblößt getragen hätte, allein in diesem Punkt befolgte sie leider den ihr von der Mutter eingeprägten Grundsatz, daß ein junges Mädchen nie eine ihr zugefallene Schönheit verbergen müsse, die sie aller Welt mit einigen Ehren zeigen könne.

Um noch einmal auf ihre Augen und deren Blick zurückzukommen, so müssen wir bemerken, daß sie, ebenfalls von der Mutter dazu angeleitet, die leidige Gewohnheit angenommen hatte, die an und für sich schon etwas kleinen Augen bei jeder Gelegenheit noch mehr zusammenzukneifen, damit zu blinzeln und auf eine Person, die scheinbar keiner großen Beachtung wert sei, gleichsam wie durch einen Schleier von oben herabzublicken, etwa wie eine Königin des Morgenlandes, die die ihr Nahenden nur zu ihren Füßen liegen sieht. Überdies sei es sehr kleidsam und verleihe vornehmen Anstrich, wenn sie sich so oft wie möglich ihrer goldenen Lorgnette bediene, die Menschen dadurch sogar aus nächster Nähe scharf betrachte und sich damit das Ansehen einer Dame gebe, die, um genau urteilen zu können, auch genau beobachten müsse.

Ihre Sprache, denn von der müssen wir bei einer Dame, die wir so gründlich schildern, auch reden, da sie mit das Lieblichste ist, was ein schönes Mädchen besitzen kann, ihre Sprache war weniger wohlklingend, als sie hätte sein können, wenn sie minder geziert und affektiert vor das Ohr des Hörers getreten wäre und wenn die Sprecherin dabei nicht – eine Angewohnheit vieler kleinstädtischen und ländlichen Damen – stets eine Seite der Oberlippe emporgezogen hätte, wodurch ein sehr großer Zahn sichtbar wurde, der leider schon einen bläulichen Schimmer anzunehmen begann. Wenn sie lachte – ebenfalls eine schöne Eigenschaft für eine junge Dame, angenehm zu lachen – so klang es scharf, spitz und ein wenig zu laut, was den ganzen leidlichen Eindruck wieder zu vernichten imstande war, welchen ihre übrigen guten Eigenschaften soeben hervorgerufen.

Wenn man oft im Leben junge Damen sieht, die vor immerwährender Tätigkeit, unablässigem Hin- und Hergehen kaum zu Atem zu kommen scheinen, so konnte man Fräulein Klotilde mit diesem kleinen Tadel nicht belegen, denn noch niemals hatte sie irgend jemand mit irgend etwas beschäftigt gefunden. Sie verstand weder eine Handarbeit, auch nicht die feinste und niedlichste, anzufertigen, noch hatte sie überhaupt Lust und Neigung dazu, sich auf diese oder ähnliche Weise zu unterhalten. Desgleichen liebte sie das Lesen nicht sonderlich; nur dann und wann nahm sie eine kurze Novelle zur Hand – aber sie mußte ganz kurz und von einem adligen Schriftsteller verfaßt sein, stets mit Handlung beginnen und niemals irgend eine Beschreibung bringen – oder ein Journal, über dessen geistlosen Inhalt sie verächtlich die Achseln zuckte, ohne es einmal angeblickt zu haben, da es langweilig war, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, das Lesen aber überhaupt ungemein die Augen angriff.

Nichtsdestoweniger war sie – vielleicht durch göttliche Inspiration – von allem unterrichtet, kannte alles, wußte alles, und namentlich beurteilte sie alles, was in ihrer Gegenwart von anderen verhandelt und besprochen wurde. Bei solchen Gelegenheiten pflegte sie einen kaustischen wegwerfenden Ton anzunehmen, der bitterer verletzte, als das Urteil selbst, und mit der Miene eines orthodoxen Professors der Adelsrechte verdammte sie alles ohne Erbarmen, was ihr nicht fein und nobel genug erschien, so daß, wer sie so unnachsichtig den Stab brechen sah, sie gewiß nicht zum Richter zu haben wünschte, falls er einmal in Ungnade bei ihr fallen sollte.

Da sie nur eine höchst oberflächliche Erziehung genossen, von Literatur, Geschichte, überhaupt von allem, was in der Welt sich bewegt, was sie groß und herrlich macht und was der menschliche Geist darin Wunderbares zuwege bringt, kaum die allgemeinste Kenntnis hatte, so kann man sich denken, daß ihre Unterhaltung nur eine höchst oberflächliche sein und sich nie über den beschränkten Kreis ausdehnen konnte, den ihre leiblichen Augen beherrschten. Was aber in diesem Kreise geschah, war wichtig von Anfang bis zu Ende, nichts überbot das Interesse, welches sie an den kleinlichsten und erbärmlichsten Vorfällen innerhalb der Familien ihrer Bekannten und Freunde nahm, und nur was ihre eigene Person, die Mama, den Papa betraf, gelangte zu der Ehre, noch den Vorzug vor letzterem zu gewinnen.

Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, wenn man dies Wort für das, was wir sagen wollen, gebrauchen darf, war es, auf einem höchst bequemen und weichen Sessel in halb liegender Stellung am Fenster zu sitzen, dessen Aussicht den Weg bestrich, der nach der Grotenburg führte, und ins Blaue zu starren, die Hände gefaltet im Schoße zu halten oder an den Nägeln zu putzen, wobei sie, oft vor Langeweile seufzend, unbewußt die Lerche bewunderte, die sich ihres Lebens freute, jubelnd im lichten Äther schwirrte und dabei mit ihrer Stimme Himmel und Erde begrüßte. Dann und wann kam ihr auch dabei wohl einmal die Lust, selbst ein Liedchen zu trillern, wenn gerade die Mama zur Hand und bereit war, dasselbe am Flügel zu begleiten – denn was sollte man den ganzen lieben Tag beginnen, fragte sie oft, da ja nicht immer besuchende Herren anwesend waren, mit denen sie ein paar scherzhafte Worte tauschen konnte, die ihr Schmeicheleien »in großen Düten« mitbrachten und denen sie »geistreich« antwortete, indem sie sich über sie lustig machte oder über irgend einen Abwesenden das Richtbeil ihrer scharfen Zunge fallen ließ.

Einen großen Teil des Tages aber nahm ihr die Toilette fort. Vier Stunden brauchte sie in der Regel, um standesgemäß erscheinen zu können, bei gewissen Ausnahmefällen aber gingen auch sechs darauf hin, eine Zeit, die nur dadurch eine pikante Würze erhielt, daß sie mit ihrer Jungfer schalt, wenn das kostbare Kleid nicht gleich sitzen wollte, wenn die Blumen nicht bunt genug, die Haare zu widerspenstig waren, – Klagen und Vorwürfe, welche die arme Zofe oft zu Tränen brachten, da sie das gnädige Fräulein alle Tage schwerer zu befriedigen fand.

Der Sommer war für Fräulein Klotilde durchschnittlich die langweiligste Zeit. Das ewige Gehen und Sitzen im Garten bekam man doch überaus rasch satt; die Besuche, so oft sie auch erschienen, brachten immer dasselbe, niemals war eine kleine Aufregung in ihrem Gefolge, die das Gemüt tagelang zu beschäftigen vermag; Unterhaltungen über allerlei Fremdes aber, Spiele, wobei Papa immer so viel Geld verlor, Diners und Soupers – konnte eine junge Dame ihrer Art an dergleichen Dingen wohl irgend etwas Interessantes finden? Da war der Winter doch eine ganz andere Zeit und in ihm ging ihr stets erst der wahre Frühling auf. Da konnte man wöchentlich zwei- oder dreimal in die Nachbarschaft und bisweilen sogar in die Stadt zu Balle fahren, ein Kleid anziehen, dessen Farbe, Ausschnitt und Besatz alle Damen vor Neid eine Woche krank machte und ihnen ein Vierteljahr Stoff zur Unterhaltung bot, oder man konnte auserwählte Leute in Ballstaat bei sich selbst sehen, um an einem Abend mehr Geld zu vergeuden, als eine arme Tagelöhnerfamilie in der Nachbarschaft für das ganze Jahr gebrauchte. O, das war so lustig, so herrlich, so amüsant, daß es noch bei weitem das Vergnügen im Sommer übertraf, ein paar feurige Pferde vor dem neumodischen Kabriolett zu fahren oder ein neues Vollblut des Papas zu reiten, was sie noch viel lieber getan hätte, wenn ihr nicht bloß Bauern begegnet wären, die wahrhaftig von einer modernen Amazone noch weniger verstanden, als sie von dem Leben der Bauern.

So haben wir denn Fräulein Klotilde, ganz wie sie leibte und lebte, geschildert und wir denken durch Vorführung ihrer Person, so unliebenswürdig dieselbe erscheinen mag, dem Leser Stoff genug zum Nachdenken geboten zu haben, da wir überzeugt sind, daß ähnliche Erscheinungen auch in seiner Nähe ihr Wesen treiben und ihn schon oft mit Bewunderung erfüllten, – aber einer Bewunderung, die einen so kläglichen Beigeschmack hat, daß man sich auf keine Weise von der Natur für benachteiligt halten würde, wenn einem dieselbe für ewige Zeiten erspart bliebe.


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