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Viertes Kapitel.
Am Spargelbeet.

Es war an demselben Abend, etwa gegen elf Uhr, als Fräulein Treuhold mit ihrer Nichte noch in ihrem Zimmer saß, nachdem sie bisher vergebens die Rückkehr ihres Herrn erwartet hatte. Beide nahmen am Tische ihre gewöhnlichen Plätze ein und waren beim Scheine einer hellbrennenden Lampe, jede in ihrer Art, emsig beschäftigt. Während die Jüngere in einem Geschichtswerke las, strickte die Ältere an einem weißen Strumpf, was sie nicht im geringsten behinderte, ihren Grübeleien nachzuhängen und namentlich ihres lieben jungen Herrn, um den sich alle ihre Empfindungen zusammen drängten, lebhaft zu gedenken.

Bis vor einer halben Stunde hatten beide sich ruhig mit einander unterhalten, seit dieser Zeit jedoch war ein anhaltendes Stillschweigen eingetreten, was von seiten Fräulein Treuholds dazu benutzt wurde, mit scharfem Ohre nach dem Hofe hin zu horchen, wo sie jeden Augenblick den Huftritt eines Pferdes wahrnehmen zu müssen glaubte.

Als es aber endlich elf Uhr schlug und sich noch nichts auf dem Hofe geregt hatte, ließ sie die Hände mit dem Strickzeug wie ermattet in den Schoß sinken, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und sagte halb zu sich, halb zu Gertrud gewendet:

»Nun ist es elf Uhr und er ist noch nicht da. So spät ist er noch nie nach Hause gekommen, so lange er hier wohnt. Es wird ihm doch kein Unglück begegnet sein?«

Gertrud schaute bei diesen Worten lebhaft auf, legte ein Zeichen in ihr Buch und schlug es zu.

»Das verhüte Gott!« sagte sie leise mit ihrer sanften und wohlklingenden Stimme. »Aber ich fürchte das nicht. Er wird sich ungewöhnlich vergnügt haben und so ist er ungewöhnlich lange ausgeblieben. Das ist die einfachste Erklärung, die es gibt, Tante.«

Fräulein Treuhold antwortete hierauf nichts, als könne sie aus inneren Gründen nicht die Meinung des jungen Mädchens teilen oder als wollte sie ihr nicht gern widersprechen. Sie horchte nur um so aufmerksamer in der darauf folgenden Pause nach außen hin, was diesmal einen besseren Erfolg als vorher zu haben schien, denn es dauerte nicht lange, so glaubte sie einen Schritt auf dem stillen Korridor zu vernehmen.

Das scharfe Ohr Gertruds hatte dieselbe Entdeckung gemacht, und schneller in ihren Auffassungen und Mitteilungen als die Tante, rief sie lebhaft aus: »Da kommt er – er ist schon im Hause.«

Fräulein Treuhold schüttelte zweifelhaft den Kopf. »O nein,« entgegnete sie, »Du irrst Dich, liebes Kind, so leise tritt er nicht auf, ich kenne seinen Schritt besser.«

Dennoch erhob sie sich sogleich und wollte eben nach der Tür gehen, als diese sich langsam öffnete und Rieke, die Stubenmagd, ihr dunkelrotes Gesicht sehen ließ. Aber es lag diesmal auf diesem gesunden und gutmütigen Gesicht ein Ausdruck eigentümlicher Erregung, als habe sie der Gebieterin des Hauses etwas Neues und Besonderes mitzuteilen, was diese, da sie es sofort bemerkte, zu der Frage veranlaßte: »Was willst du, Rieke? Hast du mir etwas zu sagen?«

»Ja, Fräulein, ach ja! Sie erwarteten vorher den gnädigen Herrn und meinten, er bliebe so lange aus. Sie brauchen sich aber darüber nicht zu ängstigen, er ist schon zu Hause und sitzt ganz ruhig oben auf seinem Zimmer.«

Fräulein Treuhold wurde ganz blaß vor Schreck bei dieser Mitteilung, die sie am allerwenigsten erwartet hatte. Denn daß Herr von Sellhausen so still und von niemandem bemerkt nach Hause gekommen, schien ihr noch mehr Angst als sein langes Ausbleiben zu verursachen. »Wie,« rief sie, »er ist zu Hause? Aber wie ist er denn hereingekommen?«

»Justus, der Kutscher, sagt,« fuhr Rieke fort, »er sei vor einer halben Stunde ganz langsam eingeritten gekommen und habe ihm das Pferd gegeben, der ihn am Tore schon lange erwartet. Darauf ist der gnädige Herr gleich durch die kleine Pforte in den Garten und von da auf der Hintertreppe in das Haus auf seine Stube gegangen. Da sitzt er jetzt ganz still vor seinem Schreibtisch und liest einen Brief.«

»Was? Er liest einen Brief? Woher weißt du denn das, Rieke?«

»Ach Gott, liebes Fräulein, daß ich es nur gestehe: ich war so neugierig, als mir Justus das sagte und da bin ich hinaufgeschlichen und habe durch das Schlüsselloch geblickt.«

»Durch das Schlüsselloch? Aber das schickt sich nicht, Rieke, wie kannst du das tun? Der Herr wünscht eben so wenig wie ich, daß er von seinen Dienstboten so heimlich beobachtet werde.«

Die Magd wurde noch röter, als sie schon von Natur war, und senkte beschämt den Kopf. »Ja, es ist wahr,« sagte sie schüchtern, »und ich habe mir das auch schon gedacht. Aber Böses habe ich nicht tun wollen und ich habe es Ihnen ja auch gleich gesagt.«

»Es ist gut – tu' es nicht wieder und jetzt geh'.«

Als Rieke das Zimmer leise verlassen hatte, sahen sich die beiden Frauen wieder an, offenbar ebenso verwundert, wie sie vorher besorgt gewesen waren.

»Das ist seltsam,« fing Fräulein Treuhold wieder zu sprechen an. »Was mag das zu bedeuten haben? Das macht mich erst recht stutzig, Gertrud. Offenbar ist etwas Wichtiges in der Grotenburg passiert, denn daß er so heimlich zu Werke geht, liegt gar nicht in seiner Art. Er pflegt mir doch sonst einen guten Abend zu bieten, wenn er nach Hause kommt!«

»Wenn er nicht glaubt, daß du schon zu Bett bist, kommt er am Ende noch und sagt dir guten Abend,« erwiderte Gertrud und griff schon nach ihrem Lichte. »Ich will lieber in mein Zimmer gehen – meinst du nicht auch, Tante?«

»Ei, daß ich noch nicht schlafe, weiß er gewiß, er muß ja das Licht hier im Zimmer bemerkt haben. Nein, nein, das hat etwas anderes zu bedeuten. Aber ja, mein Kind, geh' lieber zu Bett, ich werde ihn noch eine Weile erwarten, denn schlafen kann ich doch noch nicht.«

Gertrud küßte sie, wie sie alle Abend vor'm Schlafengehen tat, nahm Licht und Buch und ging in ihr Zimmer, welches dicht neben dem Schlafgemach des alten Fräuleins auf dem äußersten Flügel des Hauses lag. Diese aber packte ihr Strickzeug zusammen, setzte sich auf das Sofa und lauschte mit angehaltenem Atem, ob sie nicht bald die Schritte ihres Herrn auf der Treppe vernähme.

Allein sie sollte vergeblich warten, er kam nicht herunter, und als die Uhr die Mitternachtsstunde schlug, ging sie endlich auch zu Bett, so unbefriedigt wie nie und völlig bewußt, daß sie mit ihrem schweren Herzen eine unruhige Nacht haben werde, was auch in der Tat eintraf.

Trotz dieser unruhigen Nacht aber war sie dennoch schon sehr früh wieder munter und in gewohnter Weise im Hause tätig. Von einer geheimen Neugier geplagt, ging sie um sieben Uhr, nachdem der Legationsrat schon um sechs von Rieke den Kaffee begehrt, in den Garten und schritt auf der obersten Terrasse dicht unter seinem Fenster hin und her, von Zeit zu Zeit einen Blick nach demselben emporwerfend, ob es sich noch nicht bald öffnen und den guten Herrn sichtbar werden lasse, wie es ja stets seine Gewohnheit war, an einem so schönen Morgen, wie der gegenwärtige, über das im Sonnenschein lächelnde Tal fortzuschauen.

Sie sollte auch nicht allzu lange vergeblich auf ihrem Posten stehen; der Bewohner des beobachteten Zimmers öffnete beide Fensterflügel, lehnte sich hinaus und schaute ruhig und, wie es schien, auch heiter über die wunderbar herrliche Gegend hin.

Fräulein Treuhold hatte mit lebhafter Befriedigung schon seinen Gesichtsausdruck studiert, noch ehe er ihrer ansichtig wurde, was wahrscheinlich infolge eines leichten Räusperns geschah, das sich von unten her vernehmbar machte.

»Ah!« rief er hinab, sobald er sie erblickte, »guten Morgen, liebes Fräulein! Schon so früh im Garten? Es ist wohl hübsch unten?«

»Gewiß, Herr Legationsrat, sehr hübsch. Aber von da oben muß es noch hübscher sein, und ich möchte Sie beinahe um Ihre Aussicht beneiden.«

»Wollen Sie sie mit mir teilen, so kommen Sie herauf!« entgegnete Bodo lächelnd, der wohl an dem Gesichtsausdruck der alten Dame ihren Wunsch erkannt haben mochte.

Fräulein Treuhold ließ sich nicht noch einmal dazu auffordern. So rasch sie gehen konnte, schlüpfte sie ins Haus, und wenige Minuten später stand sie vor ihrem Herrn, der ihr die Hand entgegenstreckte und, die Spannung ihres Innern wahrnehmend, mit herzlichem Tone sagte: »Nun, da sind Sie ja. Setzen Sie sich. Sie wollen gewiß ein wenig mit mir plaudern.«

»Plaudern? Ach Gott, nein, lieber Herr Legationsrat. Aber wenn Sie dazu imstande sind, so bin ich schon eine große Last vom Herzen los, denn man plaudert ja nur, wenn man leichten Gemütes ist.«

Bodo war ans Fenster getreten und schaute hinaus. Auf diese Weise blieb ihr der Ausdruck seiner Miene verborgen, die sie sich, sie wußte nicht warum, in diesem Augenblick etwas befangen vorstellte. Plötzlich aber, als wolle er sie nicht lange in Unruhe lassen, drehte er sich herum, schaute sie ruhig forschend an und sagte: »Sind Sie gestern beim Meier zu Allerdissen gewesen?«

»Ja, Herr Legationsrat, wir waren da.«

»So. Haben Sie sich gut amüsiert?«

»Es ging, obwohl gewiß nicht wie sonst. Wir waren alle etwas ernst gestimmt, denn wir haben uns – erlauben Sie, daß ich Ihnen das sage – mehr mit Ihnen als mit uns selbst beschäftigt.«

»Das ist freundlich von Ihnen!« versetzte er heiter, und doch nahm sein Auge einen ernsten, nachdenklichen Blick dabei an. »Inwiefern haben Sie sich denn mit mir beschäftigt?«

»O, das ist doch wohl ganz natürlich, Herr Legationsrat. Haben Sie nicht gestern einen wichtigen Besuch gemacht?«

»Ach so! Nun merke ich es schon – Sie sind ein wenig neugierig – wie dieser Besuch ausgefallen ist – nicht?«

»Wäre das ein Wunder? Gewiß nicht. Ich habe Sie gestern abend bis elf Uhr erwartet und da hörte ich erst, daß Sie ganz still auf Ihr Zimmer gegangen wären. Wahrscheinlich glaubten Sie, ich wäre schon zu Bett?« setzte die alte Dame etwas lauernd hinzu.

Bodo sah ihr ernst ins Gesicht, wobei ein leichter Schatten über seine Stirn und Augen flog. »Nein,« sagte er rasch, »offen gestanden, das glaubte ich nicht. Aber ich konnte Sie gestern abend nicht mehr sprechen, weil ich – auch das kann ich Ihnen sagen – weil ich innerlich zu viel mit mir selbst zu verarbeiten hatte.«

Er sprach dies mit einer sanfteren Stimme als gewöhnlich, woraus Fräulein Treuhold erkannte, daß sein Inneres immer noch in einiger Bewegung sei, so sehr er sich auch bemühen mochte, dieselbe zu verdecken.

»Ach, lieber Herr,« erwiderte sie, den ihr wiederholt hingerückten Stuhl nun endlich annehmend, »das glaube ich wohl und ich habe mir auch gestern selbst gesagt, daß es so sein müsse. Haben Sie denn nun alles in sich verarbeitet, was Sie beunruhigte?«

»Ich denke es, meine Liebe, ja, ich denke es.«

»Nun, wie haben Sie es denn auf der Grotenburg gefunden? Oder darf ich nicht danach fragen?«

»Immer zu! Vielleicht wissen Sie auch aus sich selbst, wie ich es gefunden habe. Sie kennen die Leute ja. Die Burg mit allen ihren Insassen pflegt sich nicht zu verstecken und wer Augen und Ohren hat, der sieht und hört, was darinnen vorgeht.«

Die Alte nickte zustimmend; es wurde ihr allmählich leichter ums Herz und ihr faltiges Gesicht nahm eine immer freiere Miene an. »Man hat sich wohl sehr gefreut, als Sie endlich kamen?« fragte sie weiter.

»Anfangs schien es nicht so. Der Baron allerdings empfing mich sehr freudig, fast herzlich, die Baronin dagegen in ihrer bekannten Weise. Sie denkt ja, daß kalt, gleichgültig, beleidigt tun – vornehm, fein und nobel ist – haha!«

»Aber die Baroneß, Herr Legationsrat – darauf hin bin ich am meisten neugierig. Was sagte die?«

Bodo drehte sich wieder halb zum Fenster, nahm dann eine Zigarre, zündete sie gemächlich an, blies den Rauch langsam vor sich her und sagte lächelnd: »Sie sprach viel ungehöriges Zeug – aber das verarge ich ihr nicht. Sie mochte befangener sein als sonst und saß zwischen zwei Feuern, zwischen dem freimütigen Vater und der schlau zurückhaltenden Mutter. Man muß sie erst näher kennen lernen, ehe man ein entscheidendes Urteil über sie fällt.«

Fräulein Treuhold schwieg. Ihr Herz schlug wieder voller und das Blut desselben wallte ungestüm empor, daß es lebhaft ihre Wangen rötete.

»Nun, wollen Sie noch mehr hören?« fragte Bodo, der es wohl bemerkt, wieder heiterer blickend.

»O ja, recht viel, wenn Sie mir noch mehr sagen wollen. Also im ganzen,« fragte sie fast ängstlich und mit bebender Stimme, »gefiel Ihnen Fräulein Klotilde?«

Bodo lächelte vor sich hin, auf eine Weise, daß Fräulein Treuhold nicht klug daraus werden konnte, was seine wirkliche Meinung war. »Darüber wage ich mich noch gar nicht zu äußern,« fuhr er ruhig fort. »Wie gesagt, das muß man abwarten. Die Zeit drängt ja nicht so überaus und ich werde sie ja wohl jetzt öfter sehen.«

Fräulein Treuhold fing, ohne es zu wissen, an zu zittern. »So,« sagte sie fast stöhnend. »Das würde Ihren Herrn Vater für den ersten Besuch befriedigt haben.«

Ueber Bodos ausdrucksvolles Gesicht flog eine düstere Wolke, aber schnell wie der Blitz, so daß es kaum zu bemerken war. »In diesem Punkte,« sagte er sehr ernst, »muß man nicht an die Befriedigung eines Dritten, sondern nur an die eigene denken. Da Sie aber gern wissen möchten, wie ich über das Fräulein inbezug auf meines Vaters Ihnen bekannten Wunsch denke, liebe Treuhold, so sage ich Ihnen, daß mein Vater anscheinend mir eine glänzende Partie ausgesucht und auf eine recht geputzte Dame verfallen ist. O ja wohl, das kann man dreist sagen. Ob aber der innere Wert diesem äußeren Glanze entspricht, weiß ich nicht, und das eben muß die Folge lehren.«

»Also, Sie sind noch nicht entschieden?« wagte die Alte, von ihrer ängstlichen Neugier fortgerissen, auszurufen.

»O, wie kann man das?« erwiderte Bodo, der die Miene des guten Fräuleins vollständig richtig entzifferte. »Gut Ding will Weile haben! Fassen Sie sich in Geduld – ich fasse mich auch darein.«

Fräulein Treuhold rang sich im stillen die Hände beinahe wund, und da sie aus dem verschlossenen Manne nichts weiter herauszubekommen hoffen konnte, stand sie auf. In demselben Moment aber übermannte sie ihr weibliches Gefühl. Sie trat auf ihren Herrn zu, legte ihre Hand vertraulich auf seinen Arm und sagte mit beinahe weinerlicher Stimme: »Nur eins noch sagen Sie mir, lieber Herr. Erinnern Sie sich, was wir sprachen, kurz bevor Sie nach der Grotenburg ritten? Ja? Nun denn – das eine sagen Sie mir: sind Sie mit vollem Herzen von daher zurückgekehrt?«

Bodo konnte sich nicht länger bemeistern, die Miene der armen Frau sah zu jämmerlich aus, er lachte wider Willen laut auf und erwiderte: »Ach nein, es ist sogar sehr leicht geblieben – bis jetzt!« setzte er bedeutungsvoll hinzu.

»O mein Gott!« rief die alte Dame freudig erleichtert aus, »Sie können lachen? Dann ist alles gut!«

»Was soll denn schlimm sein? Haben Sie noch etwas im Hinterhalt? Sprechen Sie dreist.«

»Ach nein, ach nein – aber ich bin so froh, daß ich es Ihnen nicht sagen kann, wie froh!«

»Das denke ich auch zu sein, liebe Freundin, und um es recht bald vollkommen zu werden, will ich jetzt in den Garten gehen, die Nachtigallen schlagen hören und den Blumenduft aus der ersten Hand schlürfen.«

»Da tun Sie recht – nun halte ich Sie nicht länger auf. Auch muß ich in die Küche. Ach Gott, nun wird mir die Arbeit wieder leicht – Sie glauben gar nicht, wie schwer mir das Herz war!«

Bodo beruhigte sie noch einmal mit ein paar herzlichen Worten, und dann ging sie hinunter, um ihre Hauspflichten pünktlich und gern wie immer zu verrichten. Bodo aber folgte ihr bald, und es dauerte nicht lange, so war seine hohe Gestalt hinter den Bäumen und Büschen verschwunden, und nur der balsamische Duft, der seiner Zigarre entströmte, bezeichnete den Weg, den er in den vielverschlungenen Pfaden des Gartens eingeschlagen hatte.

Es war ein wunderbar herrlicher Morgen, frisch und dabei warm, alle lebenden Wesen erquickend und zugleich erfreuend. Die Sonne mußte das schöne Wesertal unendlich lieben, denn sie lächelte mit unaussprechlicher Holdseligkeit hernieder und streute ihren Glanz und ihre Schönheit in ganzer Fülle darüber aus. Ein goldener durchsichtiger Schleier lag auf dem blauen mit diamantenen Punkten besäeten Flusse, durch den man um so begieriger zu schauen liebt, um das rätselvolle Geheimnis zu ergründen, welches man dahinter verborgen wähnt. Die üppigen Saaten mit ihren hochragenden Halmen wogten im frischen Morgenwinde wie ein von sanfter Brise bewegtes Meer, die mit Millionen bunten Blumen geschmückten Wiesen leuchteten im saftigen Grün, und die roten Felsen mit ihren majestätischen Baumwipfeln spiegelten sich in ihrer ganzen Erhabenheit und Größe in dem blitzenden Wasser wieder, das stolz zu sein schien, so viele Schönheiten in seinem kühlen Schoße aufnehmen zu können. In den Lindenbäumen des Gartens und Parkes von Sellhausen schmetterten zahllose Nachtigallen um die Wette; die roten und weißen Syringendolden, der helleuchtende Goldregen, der mit schneeigen Blüten bedeckte Faulbaum und der würzige Jasmin streuten weit umher ihre lieblichen Düfte aus, und unsichtbare Schwärme ewig tätiger Insekten summten in den klaren Lüften um die Baumwipfel, und zwischen den Blumenbeeten, die sich auf der obersten Terrasse des Gartens in reicher Fülle ausbreiteten. Mit einem Wort, es war ein Morgen, an welchem dem fühlenden Menschen, wenn er mitten in ihn hinaustritt und den blauen Himmel unabsehbar weit und klar geöffnet sieht, auch das Herz sich weit, weit öffnet, nicht allein weil das Auge die wundervollen Reize der Erde entschleiert findet, sondern weil das ganze Nervensystem durch alle diese äußeren Einwirkungen zugleich erregt wird, weil die Außenwelt auf Geist und Seele wie mit einem elektrischen Fluidum wirkt und sie weit und hoch über die alltäglichen Erdensorgen erhebt, wobei das Blut flüssiger zu kreisen und die Schranken des Lebens kein Hindernis mehr zu bieten, vielmehr vor der aufstrebenden Seele vollkommen geöffnet zu liegen scheinen.

Bodo, soeben noch umfangen von den Nebeln des gestrigen Tages, bedrückt von unbehaglichen und sich widerstreitenden Empfindungen, obgleich er sich die größte Mühe gegeben, sie dem Auge der ihn scharf beobachtenden Treuhold zu verbergen, frohlockte innerlich, als er in die frische Luft trat und das junge blühende Leben um sich her in üppigster Fülle sah. Allmählich lebte auch sein umdüstertes Herz auf, und er rang sich mehr und mehr los von allem, was ihn so schmerzlich belastete. Munter und rasch, wie man es so gern in der Freude tut, schritt er in den duftenden Gängen auf und ab und labte sich an allen den kleinen Vorgängen in der reinen Gotteswelt, die nur derjenige wahrzunehmen oder vielmehr dunkel zu empfinden versteht, der den Sinn dafür von der Natur selbst empfangen hat. So kam er, angelockt von dem schmelzenden Gesange einer ihm schon bekannten Nachtigall, zuletzt an seinem Lieblingsplatze an, und hier ließ er sich eine Weile auf einer Bank nieder, um mit einer der Andacht ähnlichen Gefühlsstimmung der wunderbar klagenden und doch wieder frohlockend jauchzenden Stimme des kleinen befiederten Sängers zu lauschen.

Der ganze weite innere Raum des hochgewölbten Lindensaales lag im stillsten Frieden und dämmerig beschattet da, nur hier und da stahlen sich einige neugierige Sonnenstrahlen durch das dichte Blättermeer, in der Höhe der Bäume aber schwirrte und summte es von arbeitsamen Bienen, die sich alle, wie er, an dem lieblichen Morgen erquickten und die süße Speise umschwärmten, die in den Blüten für sie aufbewahrt lag.

Bodo saß geraume Zeit auf seiner Bank still und lauschte auf diese seltsamen Naturtöne, die ihm so vertraut waren und die eine verständlichere Sprache für ihn redeten, als die Menschen, denen er am gestrigen Tage zum ersten Mal nahe getreten; dabei versank er in jene wonnige Träumerei, die uns in solchen Momenten zu besuchen liebt, und in der wir fast aus unserm Bewußtsein gerückt sind, um vielleicht an die Pforte jenes höheren Lebens zu treten, das uns einst auf andern Gestirnen erwartet, worüber uns jedoch nichts als ein dunkles Ahnen und ein unablässiges Hoffen und Wünschen zu Gebote steht.

Endlich schwieg die klagende Nachtigall, und auf der Stelle war der Traum Bodos vorübergerauscht, und er war wieder der ruhig denkende Mensch früherer Tage geworden. Halb bewußtlos aber noch, stand er gleichsam instinktartig von seinem Platze auf und trat an eins der künstlichen kleinen Fenster, die den Lindensaal mit dämmrigem Licht erhellten, und blickte durch dasselbe hinaus in die ferne Weite, bis er, das ganze Bild vor sich überfliegend, wieder in den engeren Rahmen des nächsten Umkreises zurückkehrte und die Blumenbeete betrachtete, die sich unmittelbar vor seinen Augen ausbreiteten.

Da zuckte er plötzlich, wie von einer inneren Regung getroffen, zusammen, und doch war es nur ein äußerer Anlaß, der ihn bewegte. Die schöne Natur, in deren Herzen er hier hinein zu blicken glaubte, war nicht nur von Düften, Blättern und seelenlosen Tieren belebt, nein, auch ein menschliches Leben teilte sie mit ihm und diesen allen, und dieses Wesen schien ihm in keiner Weise der allgemeinen Schönheit zu widersprechen, die er noch soeben bewundert, und in deren unergründliche Tiefen er sich mit ganzer Seele versenkt hatte.

Auf der zweiten Terrasse des Gartens hörten die Blumenbeete auf, und es begann die Gemüse- und Obstzucht ihre mannigfaltigen Keime und Früchte zu treiben. Wohlgepflegte Spargelbeete zogen sich daselbst vor allen in langen grauen Linien hin, von duftigen Lavendelhecken eingefasst, der besonders morgens und abends den so bekannten süßen Wohlgeruch aushaucht. An diesen Spargelbeeten entlang, die Reihen auf- und niederschreitend, bewegte sich Gertrud, ein Körbchen am Arme, und in der Rechten, die ein grüner Lederhandschuh bedeckte, ein Messer tragend, um den während der Nacht aus seinem trockenen Bette zum Lichte aufgeschossenen Spargel zu stechen.

Bodo, als er diese Gestalt erblickte, blieb lange Zeit unbeweglich an dem verborgenen Orte stehen, der ihn den Blicken von außen her entzog, und beobachtete mit steigendem Anteil jeden Schritt, jede Bewegung, die das schon so früh tätige Kind des guten Meiers unternahm. Ach, und dieser Anblick mußte sein Inneres wohltätig berühren, denn der bisher etwas strenge und ernste Ausdruck seines Gesichts schmolz, seine Züge nahmen eine weiche, fast hingebende Milde an, die immer zufriedener, fast freudiger wurde, je weiter er in seiner Beobachtung vorschritt.

Was tat er wohl in diesem Augenblick, ohne es vielleicht selbst zu wissen oder sich davon Rechenschaft abzulegen? Er tat, was wir so oft tun, wenn wir einen unerwartet schönen Anblick genießen, er verglich denselben mit einem andern, den er erst vor kurzer Zeit gehabt und der ihm, das gestand er sich stillschweigend, viel weniger Befriedigung gewährt hatte.

Gestern hatte er nur die Kunst oder vielmehr die Künstelei, und nicht einmal in ihrer schönsten Form gesehen – heute, hier sah er die Natur, in der reinsten und herrlichsten Gestaltung, die sie nur annehmen kann.

Gertrud trug ihren gewöhnlichen schwarzen Anzug, der ihre runden jugendlichen Formen so vorteilhaft hervorhob und keiner ihrer natürlichen Bewegungen irgend einen hemmenden Zwang auflegte. Von dem edlen, sinnig getragenen Kopfe flossen die dunklen seidenen Bänder, in denen der Morgenwind dann und wann spielte, lang zu der feinen Taille herab, aber das Gesicht selbst war nicht zu sehen, da ein leichter Strohhut mit breiten Rändern es beschattete und zugleich vor den zudringlichen Strahlen der Sonne schützte.

Bodo glaubte, indem er sie mit den Augen verfolgte, nie leichtere und anmutigere Bewegungen gesehen zu haben. Langsam und bedächtig glitt die hohe geschmeidige Gestalt von Beet zu Beet, bald auf dieser, bald auf jener Seite einhergehend. Die Augen waren aufmerksam zum Boden gerichtet, und dann und wann, wenn sie das Gesuchte fand, bückte sie sich elastisch nieder, schaufelte mit dem Messer rasch die umgebende Erde beiseite und schnitt die erhaschte Beute kunstgerecht ab, worauf sie sie mit hastiger Bewegung in den schon halb vollen Korb warf.

Nach dem der stille Beobachter lange und unbemerkt sein Auge an dem ihm gebotenen Anblick geweidet, konnte er endlich einem inneren Antriebe nicht länger widerstehen und wie von seinem Willen unabhängig, trugen ihn seine Füße dem jungen Mädchen entgegen, wobei er selbst nicht geglaubt haben würde, wenn es ihm jemand gesagt, daß die in ihm pulsierende Blutwelle immer rascher kreiste und seinem Auge einen höheren Glanz und seinen Wangen eine lebhaftere Farbe verlieh.

»Guten Morgen!« sagte da plötzlich eine tiefe wohllautende Stimme hinter der so früh Tätigen, und als sie sich flüchtig, wiewohl durchaus nicht erschrocken, umdrehte, sah sie den jungen Freund ihres Vaters vor sich stehen, der ehrerbietig grüßend den Hut abnahm und ihr ein ebenso heiteres wie freundliches Gesicht zeigte.

Gertrud erwiderte den Gruß mit ihrer gewöhnlichen Unbefangenheit und gleicher Freundlichkeit und schaute dann dem sie fragend Anblickenden ruhig in die dunklen Augen, die er fest auf sie gerichtet hielt.

»Sie sind schon am frühen Morgen so fleißig,« sagte er, »und mit einer Arbeit beschäftigt, für die es doch wohl eigentlich andere Hände im Hause gibt, nicht?«

»Gewiß, Herr Legationsrat, es sind andere Hände genug da, aber ich habe mir einige leichtere Arbeiten vorbehalten, die ich mit besonderer Vorliebe verrichte, weil ich dabei einen Genuß empfinde, der einem nicht in allen Jahreszeiten zuteil wird.«

»Einen Genuß? Wie meinen Sie das?«

»Wie ich es sage, Herr von Sellhausen. Es ist von jeher ein Vergnügen für mich gewesen, das Keimen und Treiben der Pflanzen im Frühjahr und Sommer zu beobachten, und darum bin ich immer gern um diese Zeit zu meinem Vater aufs Land gegangen, um mich so ganz meiner Neigung überlassen zu können. Sehen Sie diese Spargelbeete zum Beispiel an. Dürr und anscheinend tot liegt die graue Erdrinde über den unansehnlichen Pflanzen und doch treibt und drängt die gewaltige Naturkraft unter dieser Decke die zarten Stengel unwiderstehlich empor. Abends ist noch nichts zu sehen, unter der Einwirkung der Nacht und ihrer geheimnisvollen Kräfte aber entwickelt sich rasch das saftige Gewächs und, sobald der Glanz des Tages darüber hinleuchtet, sucht das Auge desselben das Licht und freut sich, wie wir alle es tun, des wärmenden und belebenden Strahles. Ist das nicht schön und wunderbar?«

Als sie das mit warm errötendem Gesicht und lebhaft glänzenden Augen sprach, glaubte Bodo den wärmenden Sonnenstrahl selbst aus ihrem Innern darüber hinleuchten zu sehen und der Widerstrahl davon erwärmte auch ihn, und zwar so unerwartet, daß er im ersten Augenblick schweigend und tief aufhorchend dastand, als müsse er sich erst sammeln, um die rechte Antwort zu finden.

»Sie haben recht,« sagte er endlich, mit dem ernsten Kopfe beifällig nickend, »Sie haben sehr recht. Das Treiben und Drängen in der großen Natur selbst im kleinsten wiederzufinden und es sogar sichtbar wahrzunehmen, ist ein hoher und reiner Genuß, der über viele andere geht, und ich begreife Ihre Neigung dafür – vielleicht um so mehr,« setzte er lächelnd hinzu, »als ich selbst dieses Treiben und Drängen in anderen Dingen oft und gern beobachtet habe, obgleich ich noch nicht dazu gekommen bin, das Wachsen des Spargels wahrzunehmen oder dafür ein Interesse zu gewinnen. Sie haben es aber verstanden, dasselbe zu wecken, und so bitte ich Sie: belehren Sie mich gefälligst, ich lerne gern, was und wo etwas zu lernen ist. Sie sollen einen dankbaren Schüler an mir haben.«

Gertruds rote Lippen umspielte ein ebenfalls bedächtiges Lächeln und ihr dunkelblaues Auge blickte klar und frisch zu dem seinen empor. »O, das ist ja sehr einfach und leicht zu lernen,« sagte sie, »man muß nur ein gutes Auge haben und seine Aufmerksamkeit nicht zerstreuen. Bitte, blicken Sie da, wo Sie stehen, vor sich nieder – sehen Sie da nichts?«

Bodo senkte seine Augen rasch und schaute, wie er meinte, die vor ihm liegende Erde aufmerksam an, aber er sah in der Tat nichts. Nach einer Weile blickte er wieder auf, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, ich sehe mit dem besten Willen nichts.«

»Und doch ist etwas vorhanden, ich sehe es sogar von hier,« erwiderte sie.

Bodo bückte sich tiefer, aber er sah noch immer nichts. Nach einer Weile, während Gertrud ihn still hatte gewähren lassen, kam sie gelenken Fußes auf seine Seite herum, bückte sich nieder, deutete mit der Spitze des Messers nach einer Stelle hin und sagte: »Da haben Sie es!«

»Bei Gott!« rief er heiter aus, »ja, etwas ganz Kleines und Farbloses sehe ich, aber ich glaube, ich würde lange suchen müssen, ehe ich ein Gericht Spargel zusammen hätte, wie Sie es da schon im Korbe tragen. Bitte, nun zeigen Sie mir auch, wie man das kleine Wesen zutage fördert«

»Das ist noch einfacher. Geben Sie acht. Ich werfe die Erde zurück –«

»Ah, da kommt er zum Vorschein!« rief Bodo, als hätte er der Entwickelung eines bedeutenden Ereignisses mit beigewohnt.

»Jawohl – nun steht der Stengel frei, sehen Sie?«

»Ja, gewiß, aber er ist noch sehr kurz –«

»Darum nehme ich das Messer zu Hilfe, um tiefer an seine Wurzel zu dringen – sehen Sie, so – und da haben Sie eine sehr ansehnliche Stange.«

Sie nahm das Gefundene auf, hielt es ihm hin und er griff danach, um es aufmerksam zu betrachten, als wäre dasselbe für ihn ein ganz neuer und unbekannter Gegenstand.

»Das ist allerliebst,« sagte er, »Sie haben recht. Ich hätte nicht gedacht, daß man bei einer so einfachen Sache so viel Vergnügen haben könnte. Aber nun lassen Sie mich es ganz genießen. Geben Sie mir einmal Ihr Messer her.«

»Sie sollen es haben, sobald Sie einen neuen Spargel gefunden haben. Dort unten werden mehr stehen, da bin ich noch nicht gewesen.«

Bodo schritt unendlich eifrig das Beet entlang, er strengte sein gutes Auge nach Kräften an, und siehe da, es gelang, er entdeckte das kleine rosige Köpfchen, und als er es hatte, nahm er Gertrud das hingehaltene Messer aus der Hand, schaufelte die Erde fort und schnitt es kunstgerecht ab.

»Das ist hübsch,« rief er nochmals. »Erlauben Sie, daß ich noch ferner mit Ihnen gemeinschaftlich Jagd mache, Ihre Arbeit ist lehrreich, und nun werde ich den schönen Spargel heute mit viel größerem Genusse – mit einem gewissen Bewußtsein – verzehren, wie ich es früher nicht tat. Sie haben mir in kurzer Zeit eine neue kleine Welt aufgeschlossen.«

»Die Welt ist reich an solchen Kleinigkeiten, Herr Legationsrat, wenn man nur immer wüßte, was und wo sie sie birgt.«

»Sie haben recht. Sie birgt viel, viel mehr, als wir denken, in ihrem geheimnisvollen Schoße.«

»Das hat schon Hamlet sehr ernst und tiefsinnig gesagt,« bemerkte sie ruhig und in ihrer Arbeit weiter fortschreitend.

»Ach ja, Hamlet!« sagte Bodo gedankenvoll. »An den dachte ich jetzt nicht einmal. Ich wünschte wohl, ich könnte Ihnen nach Ihrer Art dankbar für die mir gewährte Unterweisung sein und Ihnen auch ein Stück Welt aufschließen, wie Sie es eben mir getan.«

»Das wird Ihnen nicht schwer werden,« bemerkte Gertrud, indem sie auf einen neuen Spargel deutete, den Bodo sogleich abschnitt. »Männer wie Sie, die einen großen Teil der Welt gesehen und so viele bedeutende Menschen kennen gelernt, belehren oft mit wenigen Worten, ohne daß sie es selbst wissen, und wenn Sie uns mittags oder abends von Ihren Reisen und Erlebnissen erzählen, habe ich stets mit offenen Ohren zugehört und meinem Vater es oftmals im stillen gedankt, daß er mir erlaubte, meine Tante auf einige Zeit zu besuchen.«

»Ha!« rief Bodo lachend, »Sie kamen hierher, um gewisse Studien in der Küche zu machen, und wie ich jetzt höre, machen Sie sie auf einem ganz anderen Felde.«

»Das begegnet dem Menschen oft, Herr Legationsrat. Sie stechen eben Spargel und haben heute morgen gewiß nicht an diesen Zuwachs Ihrer Erfahrung gedacht.«

»Nein,« sagte Bodo ernst und richtete sich empor. »Aber haben Sie noch nicht genug in dem Korbe?«

»Gewiß, mehr als genug. Ich bitte um das Messer.«

»Lassen Sie nur, ich werde es tragen. Sie sprachen soeben von Ihrem Vater,« fuhr er fort, neben ihr hergehend und die Terrasse ersteigend, was von beiden Seiten ungemein langsam geschah. »Sie waren gestern bei ihm, nicht wahr?«

»Ja, und er hat mir die freundlichsten Grüße an Sie aufgetragen. Er wollte, sobald die laufenden Geschäfte ihn nicht mehr in Anspruch nehmen, in diesen Tagen nachmittags herüberkommen, um Ihnen seinen Besuch zu machen.«

»Da sagen Sie mir etwas sehr Angenehmes, Fräulein. Ich habe Ihren Vater sehr lieb gewonnen, und ich freue mich, ihn endlich einmal bei mir zu sehen.«

»Er kommt ebenfalls gern, hat er mir gesagt, und ich glaube es wohl. Die Leute, die er in der Nachbarschaft und zugleich gern hat, sind nicht so zahlreich ausgestreut.«

»Ich habe schon dieselbe Bemerkung gemacht. Darum hoffe ich Ihren Herrn Vater – künftig recht oft hier zu haben. Doch da sind wir am Hause. Ich danke nochmals für die empfangene Belehrung. Aber Sie lächeln? Haben Sie vielleicht noch eine neue der ersten hinzuzufügen?«

»Sie verstehen gut zu raten, was man denkt oder meinte. Ja, ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht auch zu lernen wünschen, wie der Spargel zubereitet, gekocht und aufgetragen wird?«

Bodo lächelte überaus heiter und erwiderte: »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Gefälligkeit. In die Küche aber darf ich nicht kommen, das ist nicht mein Departement. Essen aber wollen wir ihn zusammen und dann unsre Morgenunterhaltung fortsetzen, wenn es Ihnen genehm ist.«

Gertrud verneigte sich in natürlichster Weise und verschwand vor Bodos Augen wie ein anmutiger Schatten, den man, obgleich ein Freund des Lichtes, lieber kommen als gehen sieht. In ein tiefes aber angenehmes Nachdenken versunken, kam er auf seinem Zimmer an, stand lange Zeit am Fenster und starrte in den Garten hinab, wo er soeben ganz unerwartete Studien begonnen. Dann aber nahm er seine Bücher zur Hand, ohne jedoch nur eine Zeile zu lesen, und blätterte rasch darin hin und her, wie jemand, der an etwas ganz anderes denkt und doch seinen Geist in eine neue Richtung lenken möchte, was nicht immer gelingt, selbst wenn man den besten Willen dazu hat.

Ob der gelehrte Herr diesen Willen im gegenwärtigen Augenblick hatte, wissen wir nicht; vielleicht war er sich seines Tuns und Treibens selbst nicht klar bewußt, und ebensowenig des geheimnisvollen Einflusses, der ihn dazu zu bewegen mächtig genug gewesen war.

Als der Legationsrat am Mittag dieses Tages in das Speisezimmer trat, waren beide Frauen überrascht, ihn einen ganzen Arm voll großer Kupferwerke und schön gebundener Bücher tragen zu sehen, die er ohne weiteres auf einen leeren Stuhl auszubreiten und zu ordnen begann. Als er, damit fertig, sich umwandte, schien er nicht wenig erfreut, das schöne blaue Auge Gertruds forschend auf sich und sein Tun gerichtet zu finden, während ihre Wangen in einer seltenen Purpurglut strahlten.

»Sie wundern sich,« sagte er, »mich so reich beladen hier eintreten zu sehen, nicht wahr?«

»Nein, Herr Legationsrat,« erwiderte Gertrud, »ich freue mich vielmehr, daß mein Wunsch so bald in Erfüllung geht, diese seltenen Kunstwerke jetzt mit voller Muße betrachten zu können.«

»Wie, kennen Sie sie denn schon?« fragte er mit still verhaltenem Lächeln.

Gertrud senkte einen Augenblick den Kopf, hob ihn aber sogleich wieder. »Ich sehe nicht ein,« sagte sie mit edlem Freimut, »warum ich verschweigen soll, was zu verraten mir keine Unehre bringt. Ja, ich kenne diese Bücher zum teil schon, wenigstens habe ich sie flüchtig durchblättert, als ich mit Tante Treuhold einige Mal während Ihrer Abwesenheit oben im Zimmer war, wo sie auf dem Tische lagen.«

Über Bodos männliches Antlitz flog ein Strahl wirklicher Freude. »Nun,« sagte er, »damit Sie ganz ungestört darin blättern, ja auch studieren können, – sie enthalten nämlich auch einen kleinen Teil der bewundernswerten Welt –, so bringe ich sie Ihnen und außerdem die Beschreibung der darin abgebildeten Kunstdenkmäler Roms, Griechenlands und Kleinasiens, die ich so glücklich war, in den letzten Jahren mit eigenen Augen zu erblicken. Wo der gedruckte Text für Ihre Wißbegierde nicht ausreichen sollte, bitte ich Sie, mir mündlich Ihre Fragen vorzulegen, und was ich sonst an, über diese und andere Gegenstände handelnden Büchern besitze, steht Ihnen jederzeit in meiner An- und Abwesenheit zu Gebote.«

Als Gertrud, ungemein erfreut, ihm für seine Aufmerksamkeit Dank sagen wollte, und er es merkte, hob er sanft seine Hand gegen sie auf und sagte: »Bitte, sprechen Sie nichts darüber. Was ich tue, ist zu natürlich, als daß Sie ein einziges Wort darüber zu verlieren hätten. Außerdem aber,« fügte er lächelnd hinzu, »möchte ich mich gern für die heute morgen empfangene Belehrung – die in mir ganz andere Gedanken angeregt hat, als Sie denken mögen – dankbar erweisen, und einen wahrhaft gemeinten Dank abermals mit einem Gegendank beantworten, hieße des Guten zu viel tun. So, nun sind wir fertig, und jetzt wollen wir sehen, ob die Spargel so gut schmecken, wie ihr Einsammeln mir Freude und Erheiterung verursacht hat.« –

Als eine Stunde nach Tische aber der Legationsrat das Speisezimmer verlassen hatte und Gertrud sich anschickte, in den neuen Schätzen wiederholt zu blättern und wiederholt zu bewundern, was ihr das meiste Behagen erweckte, trat Fräulein Treuhold an ihre Nichte heran und, indem sie ihren Arm um deren schlanken Leib legte, sagte sie: »Na, Trude, was sagst du nun? Ist es nicht ein freundlicher Herr, dem ich meine Dienste geweiht habe?«

Gertrud regte sich kaum, hielt aber die leuchtenden Augen unverwandt auf einen Kupferstich gerichtet, den sie eben zu betrachten angefangen hatte. »O ja!« sagte sie endlich, wiewohl leiser, als sie gewöhnlich zu ihrer Tante zu sprechen pflegte.

»Und dabei tut er gar nicht,« fuhr Fräulein Treuhold in ihrer Lobpreisung fort, die ihr gewiß aus dem Herzen kam, »als ob er wüßte, daß er dir eine Freude damit macht. Ach ja, das wäre alles recht gut und schön, wenn ich nur erst meine Sorge inbezug auf diese Grotenburgs los wäre.«

»Du mußt damit Geduld haben, liebe Tante,« sagte Gertrud jetzt laut und indem sie ihr sinniges Auge ernst auf das klagende alte Fräulein richtete.

»Ja, Geduld! Freilich, die muß ich haben; aber wenn es damit nur allein abgetan wäre und meine Angst und Sorge dadurch gemindert würde! Ach, Gertrud, wenn er nur nicht in die ihm so klug gelegte Schlinge fällt, er ist arglos und ehrlich, und jene Leute sind so arglistig und habsüchtig! Noch dazu handelt es sich bei ihnen um die Mittel zum ferneren Leben – ich weiß es wohl, und du weißt es ja auch – und die Not verstärkt ihre List und ihre Ränke.«

Gertrud blickte wieder auf ihren Kupferstich und, obwohl gewiß ihre Ohren weit geöffnet waren, gab sie kein Zeichen von sich, daß sie die Worte der Tante gehört habe. Daher fuhr diese nur um so lebhafter zu reden fort, ließ aber ihre Nichte los und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster nieder. »Ach, Trude,« sagte sie seufzend, »du kannst mir glauben, schon der Gedanke, diese Baroneß Klotilde, mit ihrer schlauen und hoffärtigen Mutter im Rückhalt, hier auf dem ehrbaren Sellhausen als Gebieterin schalten und walten zu sehen, bricht mir fast das Herz – wie würde es erst in der Tat sein, wenn er selbst, mein guter Legationsrat, sie hierherführte, sie mir mit vertrauensvollem Auge vorstellte und sagte: Treuhold, da haben Sie Ihre neue Herrin – überliefern Sie ihr das ganze Haus, Küche und Keller – wie, was meinst du dazu, mein Kind?«

Gertrud wandte den schönen Kopf mit fast stolzer Geberde der Tante zu, ihre Augen flammten hell, ihr Busen wogte ein oder zweimal hoch auf, aber, obgleich sie Gedanken in Fülle auf dem Herzen haben mochte, ihre Lippen verschlossen fast jedes Wort, als sei es nicht nötig, die ihr vorgelegte Frage mit hörbaren Lauten zu erwidern.

»Nein,« fuhr die sich immer mehr erhitzende Haushälterin fort, »ich ertrüge das nicht, ich bliebe keine Stunde länger im Hause und rettete mich zu deinem Vater hinüber, der mir ja auch wohl noch eine heimatliche Stätte bieten würde.«

»Darüber brauchst du nicht in Sorgen zu sein,« erwiderte Gertrud tief aufatmend und liebevoll zu ihr hinblickend, und zugleich lag in dem Ton ihrer leise bebenden Stimme ein gleichsam ermutigender Klang, als denke sie sich noch gar nicht so Arges, wie die alte Dame es sich in ihrer regen Phantasie vorstellte.

»Das ist freilich noch ein Trost, meine Liebe,« fuhr Fräulein Treuhold fort, »obwohl nur ein ganz kleiner, denn es würde mir das Herz abstoßen, dies Haus, wo ich nun zwanzig Jahre gewirtschaftet und mich um Alt und Jung gesorgt habe, in meinem Alter verlassen zu müssen. Ach, warum muß der alte Herr – ich darf das seinem Sohne nicht einmal sagen – so närrisch in diese Grotenburgs vergafft gewesen sein, daß er ihre Verlockungen nicht durchschaut hat und nun sogar seinen einzigen Sohn darunter leiden läßt.«

»Woher weißt du, daß er darunter leidet?« fragte Gertrud rasch und etwas schneller atmend – »er kann ja wirklich zu der Baroneß Neigung fassen und dann mit ihr glücklich sein?«

»Ich weiß es, mein Kind, ganz gewiß, daß er leidet. Ich sehe und fühle es, an jedem Worte, das er mit mir darüber spricht, obgleich er sich mächtig zusammennimmt und gefaßt scheinen will, wo er es durchaus nicht ist. Aber das ist so seine Art, er hat einen starken Willen, und der bezwingt sogar sein Herz. Aber wie, du sagst, er könnte eine gewisse Neigung zu der Dame fassen? Höre, wenn ich mir denke, daß diese Klotilde ihn zu fesseln vermöchte, nein – nein, es wäre fast zu schrecklich. Und doch müssen sie alle ihrer Sache ziemlich gewiß sein. Du hättest sie nur sehen sollen, als sie, angeblich krank – o, welche abscheuliche Komödie! – hier im Hause war, wie sie alles und jedes mit ihren hochmütigen Augen halb gebieterisch, halb begierig anblickte, als gehöre es schon ihr – ich habe sie genau beobachtet und könnte dir fast malen, was dabei in ihrem Herzen vorging.«

»Nun,« sagte Gertrud und richtete stolz ihren Kopf in die Höhe, der sich während obiger Worte wieder gesenkt hatte, »das scheint mir doch zu viel gesagt zu sein. Es wird doch wahrlich nicht allein von ihr abhängen, ob Herr von Sellhausen sie heiraten will. Er hat doch auch eine Meinung und ist ein Mann, der mir nicht danach angetan zu sein scheint, blindlings sich in ein Verhältnis zu stürzen, das ihm so viel Unheil verspricht – wenn es sich nämlich so verhält, wie Ihr alle sagt, da ich es nicht aus eigener Erfahrung kenne. Überdies sagt mein Vater, daß der Legationsrat ein vorsichtiger, kluger Mann sei, der sich so leicht nicht täuschen läßt, und was ich von ihm bisher gesehen und gehört, bestärkt mich in dieser Ansicht.«

»Ach, mein Kind, das sagt dein Vater, du glaubst es, und es hat auch seine volle Richtigkeit. Allein dein Vater bringt nicht in Anschlag, und du weißt es nicht, was solch ein kokettes Frauenzimmer, wie diese Klotilde von Grotenburg ist, mit einer hübschen Larve, und von Vater, Mutter und Verwandten unterstützt, vermag. Solche Leute machen das Unmögliche möglich und wissen selbst den Klügsten und Vorsichtigsten zu berücken und in ihre Netze zu ziehen.«

Gertrud erwiderte zwar nichts hierauf, aber sie sah etwas ungläubig aus. Plötzlich ging sie auf die Tante zu, umfaßte sie liebevoll, küßte sie auf die Stirn und sagte: »Du magst in manchen Punkten recht haben, aber du mußt dich nicht vor der Zeit ängstigen. Du missest einer koketten Frau große Gewalt bei, ich aber vertraue einem redlich denkenden und weise handelnden Manne mehr. Hierin stimme ich ebenfalls mit meinem Vater überein, und du weißt, er hat mit seinen Voraussagungen am Ende immer recht behalten.«

»Mag sein, in vielen, aber in diesen –? O, wie kann er das wissen! Und wenn ich es bedenke, in noch nicht ganz sechs Wochen von heute an muß es entschieden sein! Gott, welche kurze Frist!«

»Sechs Wochen!« wiederholte Gertrud bedachtsam. »Das ist unter Umständen eine lange Frist, Tante!«

»Mir wird sie zu einer Ewigkeit werden, obgleich sie kurz ist!« stöhnte Fräulein Treuhold.

»Und dennoch mußt du sie ertragen und ruhig durchleben. Komm her, laß von deinen traurigen Gedanken ab und sieh diesen herrlichen Stich an. Das ist die Akropolis von Athen – hast du schon je ein schöneres Bauwerk gesehen?«

Fräulein Treuhold richtete zwar ihre Augen auf das Blatt, aber sie sah nicht darauf. Vor ihren Ohren brauste es und vor ihren Augen lag die Zukunft wie hinter einem trüben Schleier verborgen, der ihr auch die Betrachtung der Gegenwart entzog, und so sah sie auch nicht, wie mühsam Gertrud selber mit ihren dunklen Empfindungen kämpfte und wie sie sich Gewalt antat, ihren Gleichmut zu bewahren, den die weichere Tante heute unbewußt gewaltig erschüttert hatte.


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