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Buchschmuck

Zehntes Kapitel.
Der Gemsjäger Michel.

Der in der ganzen Umgegend von Grindelwald als Bergsteiger und Gemsjäger berühmte Michel, der zuverlässigste Fremdenführer nach allen Richtungen der Schweiz, vorzüglich aber in der Umgebung seines Heimatdorfes, lebte, wenn er niemanden in die Berge zu begleiten hatte oder nicht sein gefährliches Waidwerk trieb, als ehrlicher Schuhmacher in Grindelwald, wo er ein kleines Häuschen in einem winzigen Kirschgarten besaß und im Winter weniger von dem Ertrag seiner Hände als Handwerker, als von dem Verdienst zehrte, den er sich im Sommer von wohlhabenden und abenteuernden Reisenden erworben hatte.

Da wir ihn bereits im ersten Kapitel dieser Erzählung in Mürren kennen gelernt haben, so brauchen wir hier keine genaue Beschreibung seiner Person mehr zu liefern und erwähnen nur, daß sich der kühne Mann von seiner damaligen Demütigung noch immer nicht völlig erholt hatte, daß er seit jenem Unglückstage zurückgezogener denn je lebte und daß er namentlich den Besuch der Wirtshäuser vermied, um so den Fragen und Anspielungen seiner Gefährten aus dem Wege zu gehen, von denen mancher Neidische nur zu geneigt sein mochte, ihn wenigstens mit spöttischen Blicken zu betrachten, da der Ruf des allbeliebten Mannes es selten zu verdächtigen Worten kommen ließ.

Franz Marssen war etwa vor Jahresfrist mit seinem Vater schon einmal im Hause des Gemsjägers gewesen, um ihn zu einer Bergfahrt nach der Umgebung der Grimsel abzurufen, und so ging er denn, ohne jemanden zu fragen, die Dorfstraße hinab, deren Häuser, durch Gärten getrennt, etwas weit auseinander lagen, und gelangte sehr bald zu der Wohnung Michels, die sich schon äußerlich durch reiche Verzierung ihrer hölzernen Pfosten und Giebel mit Gems- und Steinbockhörnern vor anderen auszeichnete.

Als Franz Marssen in den schmucklosen Vorgarten des Hauses trat, sah er unter einem kleinen Kirschbaum Michel selber in Hemdsärmeln sitzen, ruhig seine Pfeife rauchend und sorgfältig die Sohlen seiner Bergschuhe betrachtend, deren Nägel er mit einer Feile zu schärfen oder teilweise zu erneuern im Begriff stand. Nicht weit von ihm an einem wackligen Tisch saß seine Frau, ein derbes, frisches Weib mit einem fast männlichen Gesicht, und putzte mit geschickter Hand den Stutzen ihres Mannes, mit dem sie fast ebensogut umzugehen wußte wie er und sein elfjähriger Sohn, der im Garten mit zwei Buben aus der Nachbarschaft mit einer Armbrust nach einer hölzernen Scheibe schoß.

Michel hatte soeben seine Pfeife beiseite gelegt und pfiff ein lustiges Lied zu seiner leichten Arbeit; von Zeit zu Zeit jodelte er auch still vor sich hin, nach der Art der Lerche, die im engen Käfig nur leise und klanglos zwitschert, und erst, wenn sie auf das freie Feld unter Gottes blauem Himmel gelangt, ihr fröhliches Lied laut und jubelnd in die Lüfte schmettern läßt. Als Franz, von dem Ehepaare unbemerkt, an die kleine Gartenpforte trat, hatte Michel eben seine zweite Schuhsohle geschärft, hob nun beide empor und betrachtete das kräftige Leder und die spitzen Nägel mit sichtbarem Wohlgefallen, vielleicht schon wieder mit Sehnsucht der Stunde entgegensehend, die ihn in die Berge führen sollte, denn Leute seines Schlages glauben nur zu leben, wenn sie eine halsbrechende Bergfahrt ausführen, oder wenn sie die flüchtige Gemse auf fast unzugänglichen Schneepfaden verfolgen und oft mit furchtbaren Anstrengungen, unter Entbehrungen aller Art, einen hochgelegenen Punkt in den Bergen ihrer Heimat erreichen, den nur wenige oder gar keiner vor ihnen jemals betreten hat.

»Guten Abend, Michel!« rief da eine freundliche Stimme dem leise pfeifenden Mann zu, dessen braune, bis an die Ellbogen entblößten Arme die ungeheuren Muskeln zeigten, deren Kraft und eiserne Ausdauer weit und breit unter allen seinen Gefährten bekannt waren.

Michel hob schnell das kluge, energische Gesicht in die Höhe, und als er den Maler sah und auf der Stelle erkannte, sprang er von seinem Schemel auf, lief ihm mit springenden Sätzen, wie nur ein Gemsjäger sie hat, entgegen und rief:

»Getröste mich Gott! Was seh' ich? Wie, Sie sind es, Herr Marssen? Nun, am Morgen den Vater und am Abend den Sohn zu begrüßen, das muß in Wahrheit etwas zu bedeuten haben. Wahrlich, da schwebt der heilige Geist doch gewiß in der Mitte, nicht? Nu, nehmen Sie's nicht übel, Herr Maler, das soll kein Spott von mir sein. Darauf verstehe ich mich nicht, und ich habe vor dem heiligen Geist just so viel Respekt, wie jeder andere gute Christ. Aber bei meinem blitzblank polierten Stutzen da, was führt Sie denn her, Herr? Sie kommen doch nicht auf Kundschaft nach dem Vater? Der ist heute Morgen nach dem Bödeli abgeritten, nachdem er mit mir eine herrliche Fahrt auf die weiße Frau und den Eiger gemacht hat. Ja, Herr, Ihr Vater ist ein Mann, mit dem unsereins gern zu tun hat. Es ist ein Vergnügen, mit ihm in den höchsten Bergen herumzuklettern. Der hat ein Falkenauge und einen schwindelfreien Kopf wie ich, und einen Fuß, so gelenkig und straff, wie der einer Gemse, und das ist wahrhaftig nicht wenig gesagt. Aber nun, Herr, was schwätze ich denn da? Kommen Sie doch heran und setzen Sie sich, Sie scheinen heute auch schon einen guten Weg gemacht zu haben, das sehe ich Ihnen an der Nase an.«

Franz Marssen hatte dem zu Hause redseligen und auf seinen Wanderungen meistens schweigsamen Gemsjäger während seiner langen Rede wiederholt die derbe Hand geschüttelt und war ihm jetzt an den Tisch gefolgt, wo bisher die Frau mit dem Stutzen beschäftigt gewesen war. Nachdem er auch diese begrüßt und ihr ebenfalls die Hand gereicht hatte, setzte er sich auf die Bank und erzählte Michel, daß er mit einer Gesellschaft auf einer kleinen Bergreise begriffen und jetzt gekommen sei, um ihn selbst zu einem Ausfluge in der Nähe aufzufordern.

Michels kühnes blaues Auge blitzte bei diesen Worten heller auf: er warf einen hastigen Blick auf seine neugeschärften Schuhe und rief: »Ob ich es mir nicht gedacht habe heute den ganzen Tag! Wenn man einmal im Sprunge ist, kommt immer Gelegenheit zu weiterem Sprunge, und da haben wir's – gleich nach Ihrem Vater kommen Sie. Aber ich bin bereit, natürlich, wie immer, und gern. – Woraus besteht denn Ihre Gesellschaft?« setzte er lauernd hinzu.

»Aus zwei älteren und, mich eingerechnet, fünf jüngeren Personen, von denen die beiden ersteren zu Hause in Grindelwald bleiben.«

»Hm! So! Also fünf! Sind es lauter erfahrene und geübte Bergsteiger oder nur hüpfende Dilettanten?« fragte der Gemsjäger mit spitzem Lächeln weiter.

Auch Franz Marssen lächelte. »Nein,« erwiderte er etwas kleinlaut, »erfahrene Bergsteiger sind eigentlich gar nicht darunter, wenn Ihr mich nicht als solchen gelten lassen wollt, der ich eben von den Eisfeldern des Montblanc zurückgekehrt bin. Von den vier anderen sind zwei ganz unerfahrene Fußgänger, ein Holländer und ein Ungar, und endlich zwei junge Damen, die vor Sehnsucht brennen, mit Eurer Hilfe etwas von Euren Bergen zu sehen.«

Michel zog ein krauses Gesicht und biß die Zähne aufeinander. »Damen!« sagte er, fast verächtlich, »das liebe ich nicht, mit denen kann man keine vernünftige und angenehme Bergtour unternehmen.«

»Warum nicht? Diese Damen sind nicht zimperlich wie andere, im Gegenteil, sie sind mutig wie ein Mann und –«

»Übermütig, wollen Sie sagen,« unterbrach ihn Michel, »ha, die Gattung kenne ich auch, und das ist noch schlimmer, denn diese Puppen kennen die Gefahr nicht und glauben nicht daran, wenn man sie ihnen zeigt, sie treten immer wie auf einem hölzernen Stubenboden auf, wo nur eine dünne Schneeschicht liegt.«

»Ihr braucht das nicht von ihnen zu besorgen,« erwiderte Franz ernsthaft, »sie sind vernünftig, folgsam und überschätzen ihre Kraft nicht; und dauerhaft sind sie, ich habe sie schon erprobt, und den besten Willen haben sie gleichfalls – was wollt Ihr mehr?«

»So. Na, dann muß man es mit ihnen wohl einmal versuchen, obwohl ich seit jenem Unfall mit dem Frankfurter Herrn – Sie wissen es ja – besorgt und vorsichtig geworden bin. Na, Gott sei Dank, Ihr Vater sagt ja, es gehe ihm gut, und so bin ich noch einmal mit einem blauen Auge weggekommen. – Aber wie weit soll denn die Reise mit den Damen gehen?«

»Nicht gar zu weit, aber es ist doch immer eine Tagereise.«

»Nur eine Tagereise? Ah, dann bin ich dabei – und wohin?«

»Nach dem Zäsenberge über das Eismeer des unteren Gletschers fort.«

Michel schüttelte wieder besorgt den dichtbehaarten Kopf und sah nach dem Himmel über den Bergen empor, die er von seinem Garten aus leicht bestreichen konnte. »Hören Sie,« sagte er rasch, »die Sache gefällt mir doch nicht recht. Den Weg nach dem Zäsenberge mache ich allein bei günstigem Wetter hin und zurück freilich mit Leichtigkeit in einem halben Tage ab, aber mit Damen und unerfahrenen Männern brauche ich einen vollen Tag dazu. Die wollen an jedem Eisblock stehen bleiben, in jedes Loch schauen, die wollen sich unterhalten, die wollen sich ruhen, die wollen, Gott weiß was noch, und ich bin noch nie vor spätem Abend nach Grindelwald zurückgekehrt, wenn ich mit solchen Leuten den beschwerlichen Weg unternommen habe. Nun aber, wie dann, wenn sich das Wetter ändert, he? Und ich glaube gewiß, daß es das tut. Denn schauen Sie mal da, haben Sie schon je solche Klarheit der Fernen verspürt? Haben Sie schon je solche rote Lichter auf den Schneekuppen gesehen, wie sie sich jetzt eben zu entwickeln beginnen? Dabei ist es so windstill, daß man jede Mücke summen hört, und ich habe einen frischen Föhn lieber als solche verteufelte Ruhe in der Luft. Nein, lieber Herr Marssen, ich sage es Ihnen im Voraus: morgen mittag, spätestens Nachmittag, werden wir einen Umschlag des heißen Wetters erleben. Es wird eine hübsche Bise mit schwarzen Wolken kommen und einen ganzen Sack voll Schnee auf die Eislöcher schütten. Und wo bleiben wir dann mit Ihren Damen, he?«

»Nun, auf dem Zäsenberge, denke ich. In der Not werden sie sich zu behelfen wissen.«

»Herr, Sie sind noch nicht auf dem Zäsenberge gewesen, nicht wahr? Nun, dann wissen Sie auch nicht, wie sich eine Nacht in der Kälte dort oben zubringt, obendrein mit blondgelockten Damen, wie wahrscheinlich die Ihrigen es sind. Haha! Ja, wenn das Eismeer nicht zwischen Grindelwald und dem Berge läge, über das man wieder zurück muß, dann wollte ich fünf gerade sein lassen, aber das Eismeer ist, an sich ganz leicht übersteigbar, bei Schneegestöber ein unartiges Ding, und ich selber weiche ihm lieber aus, wenn es geht.«

Franz Marssen wandte den Kopf nach den Bergen hinüber und schüttelte ihn dann. »Mein Vater hat mich auch schon gewarnt,« sagte er, »aber die Führer, die uns von Lauterbrunnen her begleiteten, meinten, morgen werde sich das gute Wetter noch halten.«

»Die Führer!« fuhr Michel ergrimmt auf, »und den Kerlen glauben Sie? Bei Gott, Herr, die schwätzen immer den Leuten nach dem Munde, wenn sie ihren Profit dabei haben; ich aber, Herr Marssen, ich bin kein gewöhnlicher Führer, ich bin ein erprobter Gemsjäger, und ich sage Ihnen, daß wir spätestens morgen abend ein Gewitter haben werden, wie lange keins in diesen Bergen gehaust hat. Die Hitze war förmlich erdrückend acht Tage lang, und länger hält sie hier in einem Ruck nie aus.«

»Nun,« sagte Franz Marssen, der seit kurzem nicht in der Stimmung war, dem Lieblingswunsche Miß Eddas entgegenzuarbeiten, »dann wollen wir uns beeilen, wollen früh aufbrechen und die Damen darauf vorbereiten, daß wir eine Nacht irgendwo bleiben müssen, wenn das Unwetter kommt.«

»Nein, das wollen wir ihnen nicht sagen, lieber Herr, das macht die armen Dingerchen ängstlich, und Angst macht schwach. Wir aber, wir wollen uns darauf vorbereiten, wenn die Reise denn doch unter allen Umständen gemacht werden soll. Wissen Sie was? Ich werde nachher mit Ihnen zu Ihren Damen gehen und mir sie ansehen. Halte ich sie für dauerhaft und vernünftig, dann werden Sie mir's bald anmerken, und dann soll die Reise vor sich gehen, wenn sich das Wetter bis morgen früh sechs Uhr nicht geändert hat. Sagen sie mir aber nicht zu, das heißt, muß ich sie für Zierpüppchen halten, dann wird nichts daraus, und da haben Sie mein Wort darauf, denn ich bin verantwortlich für alles, da ich doch einmal die Karawane anführen soll.«

»Ihr habt recht,« versetzte der Maler, »und so soll es sein. Alle Vorkehrungen bleiben Euch überlassen, auch mögt Ihr die Zahl unserer Begleiter bestimmen, wie die Nahrungsmittel, die wir mitnehmen müssen. Es darf an nichts fehlen, lieber ein Mann mehr als einer zu wenig, es sind wohlhabende Leute, die Euch freie Hand geben.«

»Ach was, wohlhabende Leute! Arme Hungerleider kommen nicht hierher, das versteht sich von selber, und einen Führer für jeden nehme ich so wie so. Wo wohnen Sie denn?«

»Im Gletscherhotel am Ende dort.«

»Aha, ich weiß schon. Nun, ich werde nicht auf mich warten lassen. Gehen Sie nur immer voran, ich komme in einer halben Stunde nach. Ich will mich nur ein bischen reinlich anziehen, wenn ich doch einmal in Damengesellschaft geraten soll, was ich eben nicht liebe. Auch werde ich meinen Buben da mitbringen, der kann gleich die anderen Führer und Träger zusammentrommeln, wenn wir einig sind, während ich mich mit dem Wirt wegen der Nahrungsmittel bespreche. Abgemacht. Da haben Sie meine Hand. Wenn nur das Wetter aushält!« fügte er mit einem Blick nach den Bergen hinzu, die wie in glühender Lohe zu strahlen begannen. »Da, da haben wir es, sehen Sie es wohl?«

Franz Marssens Auge folgte seiner deutenden Hand, und er nickte ihm zu. »Ja, ich sehe es, so schön habe ich die Alpen fast noch nie glühen sehen. Also Ihr kommt gleich?«

»In einer halben Stunde bin ich da. Verlassen Sie sich auf Michel, den Gemsjäger!« – –

Als Franz Marssen von seinem kurzen Gange nach dem Gasthof zurückkehrte, fand er die Gesellschaft auf einem anmutig gelegenen Rasenplatz vor dem Hause um einen schon gedeckten und mit Weinflaschen besetzten Tisch sitzen und die prachtvolle Aussicht bewundern, die vor ihnen ausgebreitet lag. Und in der Tat, eine schönere und großartigere mochte es so leicht nicht wieder geben, zumal wenn man in Betracht zog, in welcher Gemütlichkeit und Gemächlichkeit sie jetzt nach vollbrachter Anstrengung von dem sicheren Ruheplatz aus, in unbewegter, warmer Abendluft genossen wurde.

Schon bei gewöhnlicher Tagesbeleuchtung wird der Beobachter, wenn sein Auge von dem Dorfe Grindelwald aus über den mit grünen Wiesen und Ahornbäumen bedeckten Vordergrund nach dem ungeheuren Rundgemälde dieser himmelanstrebenden Felsriesen mit ihren Gletschern emporschaut, von Staunen und Bewunderung ergriffen. Die mit ewigem Firn belasteten Spitzen stechen mit ihren hellen, weiß und bläulich schimmernden Farbentönen scharf gegen die grauen und braunen Felskämme ab, und damit das großartige Bild nicht des tieferen Schattens entbehre, streben dichte und fast schwarz erscheinende Tannenwälder bis zu der Höhe empor, in welcher die starre Kälte des Eises und Schnees der Vegetation ihre bestimmte Grenze gesetzt hat.

Unendlich und fast zauberisch verschönert aber wird dies Bild durch eine glückliche Beleuchtung, wie sie an diesem Abend stattfand, denn die vom Horizont schon verschwundene Sonne vergoldete soeben die Spitzen mit einem dunkelrosaroten Schimmer, der nach der Tiefe hin allmählich blasser wurde und endlich die unteren Gletscherterrassen wie in einen ätherischen Nachtmantel zu hüllen schien.

Zumeist nach links erhob sich, über gewaltigen Felsmauern aufstrebend, das schöne Wetterhorn, dessen blendender Firn, wie von einer bengalischen Flamme erleuchtet, in glühendster Pracht glänzte und gleichsam mit feurig goldenem Auge von seiner Höhe herab sich die farbenreiche Tiefe beschaute. Neben ihm stieg der schroff abgeschnittene Berglistock auf, der gegen die unter ihm liegenden Schneemassen dunkel und gespenstisch hervortrat. Neben ihm, weiter zur Rechten vorschreitend, türmte sich in voller Breite die kahle Felspyramide des Mettenberges auf, hinter der sich, gleichsam zaghaft, obgleich im ganzen noch riesiger, ein Teil des Schreckhorns verbarg. Zwischen den festen Wänden des Wetterhorns und dem Mettenberg wälzte sich der obere Grindelwaldgletscher aus seiner dunklen Talkluft hervor und erschien, da auch er rosig bestrahlt war, einer ungeheuren Zunge ähnlich, die in gewundener Richtung sich durch die schönen grünen Matten und Gehölze des ihn umgebenden Tales herniederringelte. Ihm zur Seite, blendend weiß bei gewöhnlicher Beleuchtung, aber jetzt golden schimmernd, stieg der Kamin der Viescherhörner auf und dann folgte der riesige Eiger mit seinen starrenden Eismassen und seinem himmelhohen, schroff emporragenden Gipfel. Zwischen ihm und den kahlen Wänden des Mettenberges aber lag die wilde Kluft geöffnet, durch welche der viel längere und größere untere Grindelwaldgletscher aus den unnahbaren Regionen des Vieschergrates und der Strahleck hervorbricht, gräulich zerklüftet in seiner Höhe und da, wo das berühmte Eismeer liegt, in sonderbar geformten Eistürmen sich mit jähem Schwunge nach der Ebene wälzend, in der endlich, wie wir aus der Nähe gesehen, die schwarze Lütschine, glücklich, der eisigen Haft entronnen zu sein, aus ihrer dunkelblauen Eisgrotte an das Tageslicht hervorströmt.

Als Franz Marssen, der schon unterwegs im Gehen dieses prachtvolle Gemälde bewundert hatte, sich der Gesellschaft näherte, die in stummem Entzücken an dem langen Tische saß, richteten sich aller Augen auf ihn, und die alte Holländerin wies ihm sogleich einen Stuhl zwischen sich und ihrem Manne an, den man schon für ihn in Bereitschaft gehalten hatte.

»Ah, da sind Sie ja,« rief sie ihm entgegen, »nun setzen Sie sich endlich. Sie müssen ja übermäßig ermüdet sein, und sehen noch immer so erhitzt aus!«

Franz Marssen setzte sich und trank sogleich von dem Wein, den ihm der General-Konsul mit freudestrahlendem Gesicht eingoß.

»Nun,« rief Herr van der Hooft, ungeduldig, den Ausfall seines Besuches bei dem Gemsjäger zu erfahren, »was für Nachricht bringen Sie mit? Wird uns der Mann führen, der hier einen so guten Ruf besitzt, wie man allerseits hört?«

»Ja,« erwiderte Franz, während aller Augen auf ihm wurzelten, »er wird uns führen und bald selbst erscheinen, um die Gesellschaft, die sich ihm anvertrauen will, kennen zu lernen und mit ihr seine Verabredungen zu treffen.«

»Aber wenn ich nicht irre,« nahm nun Miß Edda mit seltsam befangenem Wesen das Wort, »tragen Sie doch noch einiges Bedenken auf Ihrem Gesicht. Heraus mit der Sprache, was gibt es für ein Hindernis in betreff unserer Reise?«

»Sie haben ein scharfes Auge,« versetzte Franz Marssen bedeutsam, »aber ein eigentliches Bedenken für unsere Reise gibt es jetzt noch nicht, indessen kann es kommen. Michel traut dem guten Wetter nicht recht.«

»O, das kann nur ein Irrtum sein,« rief der Bräutigam, für den es keine Schrecken auf der Welt gab, so lange das blaue Auge neben ihm heiter blickte. »Auf einen so schönen, goldklaren Abend kann kein schlimmer Morgen folgen.«

»Die Bergbewohner verstehen sich besser darauf, als wir, Herr van der Hooft. Auch fürchtet Michel nicht für den Morgen, nur für den Abend will er keine Garantie übernehmen, und unsere Rückkehr dürfte dann nicht so angenehm wie unser Hingang sein. Sehen Sie – dort oben liegt das Eismeer, darüber müssen wir fortschreiten nach dem gegenüberliegenden Rande und wieder zurückkehren, ehe wir geborgen sind.«

Miß Edda warf ihm einen lächelnden, ermutigenden Blick zu: »Lassen Sie den Rückweg immer etwas schwierig sein,« sagte sie, »wir haben dann doch das beste genossen und finden zu Hause ein warmes Bett. Sie wissen ja, wir fürchten uns nicht, und es schadet uns nichts, selbst wenn wir einmal tüchtig naß werden sollten.«

Während man nun von dem soeben aufgetragenen Abendbrot speiste, sprach man noch hin und her über alle Möglichkeiten, die sich auf einer an sich nur kurzen Tagereise einstellen könnten, und malte sich eben das bevorstehende Vergnügen mit grellen Farben aus, als vom Gasthause her, mit hochaufgerichtetem Kopfe, stolzen, ruhigen Schrittes und mit höchst neugierigem Gesichtsausdruck Michel herankam, an der Hand, wie weiland Wilhelm Teil, seinen Knaben führend, der ein ebenso strammer Bursche wie sein Vater zu werden versprach.

Der Gemsjäger trug an diesem Abend seine besten Kleider. Auf dem kraushaarigen dunklen Kopf saß ein spitzzulaufender Tirolerhut mit dem Gemsbart und der hochaufragenden Feder eines wilden Vogels. Eine neue, braunwollene Jacke umgab in weiten Falten seine breite mächtige Brust, die mit einem weißen Hemd bedeckt war, dessen offener Kragen durch ein lose umgeschlungenes Tuch zusammengehalten wurde. Den Leib schnürte ein breiter, seidengesteppter Ledergürtel mit hoher Schneppe ein. Seine riesigen Schenkel bedeckten schwarze Manchesterhosen, die dicht oberhalb des Kniees, das er entblößt trug, mittels einer silbernen Schnalle befestigt waren. Seine ungeheuren Waden aber umschlossen prall dunkelblaue wollene Zwickelstrümpfe, und auf den breiten Füßen hafteten die schweren Bergschuhe, die er eben zu Hause zur neuen Gletscherfahrt frisch geschärft hatte.

Als der Gemsjäger die Gesellschaft mit den Damen so nahe vor sich sah, nahm sein kühnes Gesicht einen Ausdruck bescheidener Verlegenheit an. Er blieb einen Augenblick stehen, als suche er jemanden mit dem Auge heraus, dann aber, als er Franz Marssen wahrnahm, der sogleich aufstand und ihm entgegentrat, zog er hastig den Hut ab, schwenkte ihn zweimal um den Kopf und stieß einen nur halb unterdrückten jodelnden Ton aus, der offenbar eine freundliche Begrüßung sein sollte.

Der Maler faßte jetzt seine Hand, und ihn dicht an den Tisch führend, sagte er: »Hier, meine Damen und Herren, stelle ich Ihnen den Freund und Reisegefährten meines Vaters, den berühmten Gemsjäger Michel aus Grindelwald vor, und hier, lieber Michel, seht Ihr die beiden Damen, die Ihr mit uns drei Männern morgen, so Gott will, nach dem Zäsenberg führen sollt.«

Michel nickte den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft mit freundlichem Blick zu, worin eine fast herzliche, aber immerhin kühne Vertraulichkeit lag, und reichte dann seine Hand dem alten Holländer hin, der ebenfalls aufgestanden und ihm entgegengetreten war.

»Guten Abend,« sagte Michel mit einer Stimme, in deren zurückgehaltener Kraft sich noch eine gelinde Befangenheit aussprach, »aber Sie, alter Herr, wollen doch wohl nicht mit den Gletscher hinauf?«

»Gott bewahre mich davor! Ich und meine Frau haben gewiß keine Lust dazu, obgleich ich mutig genug bin. Wir bleiben zu Hause und gönnen unsern Kindern und Freunden allein das Vergnügen.«

»Da haben Sie auch recht; wer weiß, ob alle ein Vergnügen daran haben werden!«

»Warum?« fragte Miß Edda mit scharfem Aufblick, auf die der ungekünstelte Gemsjäger einen guten Eindruck hervorgebracht hatte.

Michel, den man unterdes an den Tisch genötigt und zufällig einen Stuhl neben Miß Edda angewiesen hatte, ließ seine großen Augen langsam und fest über die Gestalt und das Gesicht der redenden jungen Dame schweifen. Sein Blick wurde daher immer erstaunter, und endlich, gegen Franz hin, wohlgefällig mit dem Kopfe nickend, sagte er langsam und lächelnd:

»Sie gefallen mir, mein Fräulein, Sie haben ein mutiges Gesicht und tragen da obendrein eine sehr passende Kleidung für das Bergsteigen. Bei meinem Stutzen, so etwas Gescheites habe ich noch nie gesehen! Nun werde ich Sie, wenn Sie es erlauben, in meine besondere Obhut nehmen. Aber wie ist es denn mit der anderen jungen Dame hier? Na, mein Fräulein, Sie haben auch ein dralles Gesicht, aber tragen Sie auch keinen Reifrock von Stahl, wie es jetzt bei den närrischen Leuten in der Ebene Sitte ist?«

Alle lachten laut, Fräulein Elise aber sagte: »Nein, mein lieber Mann, obgleich ich ihn zu Hause getragen, habe ich ihn doch abgelegt, sobald ich an die Grenze der Schweiz gekommen bin. Ich sehe ein, daß er hier ganz überflüssig, ja, offenbar hinderlich ist.«

»Na, da sind Sie ja auch vernünftig,« rief Michel frohlockend und trank ein ihm dargebotenes Glas Wein, »und mit Ihnen beiden denke ich schon ein kleines Wagnis ausführen zu können. Aber wie steht es denn mit Ihrem Schuhwerk? Das zeigen Sie mir einmal her.«

Miß Edda stand sogleich auf, setzte ihren zierlichen Fuß auf einen Stuhl und sagte lächelnd: »Da sehen Sie – sind diese Stiefel Ihnen recht?«

Michel bückte sich nieder, nahm den gelbbraunen Stiefel in die Hand, strich prüfend darüber hin, untersuchte die Sohle mit den Fingern und sagte endlich lächelnd:

»Das ist ein gutes Lederwerk und von kunstfertiger Hand zusammengefügt. Ich würde mich ihm zwar keine zwei Stunden anvertrauen, aber für Sie wird es wohl bis morgen abend reichen.«

»O, ich denke noch länger!« versetzte die Schottin, von neuem lächelnd.

»Das wollen wir sehen. Man darf den Tag nicht vor dem Abend loben, und eine Schuhsohle nicht eher, als bis sie sich bewährt hat. – Nun kommen Sie an die Reihe, mein Fräulein. Herauf mit dem Pfötchen!«

Die junge Holländerin hob ihren schweren Bergschuh ebenfalls auf einen Stuhl, und dabei wurde das dunkelblaue Beinkleid sichtbar, welches sie unter dem Kleide trug. Michel besah mit Kennerauge den Schuh, befühlte ihn und dann rief er: »Ah, den haben Sie in Interlaken gekauft, das ist gute Ware, und damit kommen Sie aus. Nun bin ich zufrieden, meine Damen, und um die Herren bekümmere ich mich nicht, die können für sich selber sorgen.«

Man hatte sich wieder gesetzt und aß weiter, woran nun auch Michel nach des alten jovialen Holländers Aufforderung Teil nehmen mußte.

»Sie haben mir noch immer nicht meine Frage beantwortet,« fing Miß Edda von neuem wieder an – »warum sollten wir kein Vergnügen an dem Gange nach dem Zäsenberge finden?«

Michel warf einen raschen Blick nach den Bergen hinauf, deren dunkle Glühfarbe jetzt in ein bleiches Rosa übergegangen war, und sagte, den rechten Zeigefinger an die Adlernase legend: »Weil es schlechtes Wetter geben kann, mein schönes Fräulein. Und was fangen Sie an, wenn ein Gewittersturm ausbricht und wir mitten auf dem spaltenreichen Gletscher sind, wie?«

»Das weiß ich ganz gewiß,« erwiderte Miß Edda kühn. »Wir gehen dann dahin, wohin Sie uns führen, denn Sie werden doch gewiß irgend ein schützendes Obdach kennen?«

»O ja, das kenne ich, und mehrere sogar, und Sie haben da keinen üblen Entschluß gefaßt. Aber wenn Sie nun eine Nacht unterwegs bleiben müßten, wie dann?«

»Dann fügen wir uns darein,« nahm die junge Holländerin das Wort – »wir sind keine zimperlichen Zierpuppen, müssen Sie wissen.«

»Nein, nein,« rief der alte Holländer, »das sind sie beide nicht, und meine Tochter hat Mut, wie ich!«

»Muß es denn aber durchaus eine Nacht sein?« fragte die besorgt werdende Mutter.

»Nein, liebe Madame, es muß keine Nacht sein,« erwiderte Michel, »aber es kann eine daraus werden, wer will das vorher bestimmen – ich bin nur ein Mensch und kein Gott, der den Wind und die Wolken da über den Bergen regiert.«

»Sie haben recht, man muß auf alles vorbereitet sein, lieber Mann,« erwiderte die Mutter, »aber nehmen Sie die Kinder nur recht in acht und verschaffen Sie ihnen recht viel Vergnügen. Wir gönnen es ihnen.«

Michel lächelte und nickte dann den beiden alten Herrschaften zu. »Seien Sie außer Sorge,« sagte er. »ich will das Meinige schon tun. Nun muß aber alles Notwendige bald besorgt werden. Geben Sie mir darin freie Hand?«

»Vollkommen!« rief Herr van der Hooft, »machen Sie alles ab, was nötig ist.«

»Wieviel Stunden brauchen wir zu dem Marsch?« warf Miß Edda wieder ein.

»Ja, meine schöne Dame, das kommt darauf an, ob Sie rasch oder langsam vorrücken, wenn Sie von den Pferden abgestiegen sind, denn anderthalb Stunden können Sie reiten, – und dann, ob Sie viel oder wenig und alles ordentlich sehen wollen.«

»Wir wollen viel und alles ordentlich sehen, ja!«

»Dann, ob Sie lange ruhen müssen und wieviel Zeit Sie zum Tafeln gebrauchen.«

»Wir ruhen selten und nur kurze Zeit, und essen so rasch wie es geschehen muß, um die Reise nicht unnötig aufzuhalten.«

Michels Gesicht wurde immer zuversichtlicher und strahlender, und wiederholt nickte er dem aufmerksam zuhörenden Maler zu. »Nun,« sagte er, »das alles läßt sich hören. Ich sehe, ich bin in keine üble Gesellschaft geraten. So sage ich Ihnen denn, wenn Sie alles recht bequem sehen wollen, können Sie acht Stunden rechnen: rechnen Sie aber lieber zehn, und dann ist die längste Zeit angesetzt.«

»Wann müssen wir aufbrechen?« fragte der Ungar, der seine Blicke bisher nur zwischen Miß Edda und den im Abendlicht prangenden Bergen geteilt hatte.

Michel erhob seinen Kopf gegen den kleinen Mann, den er fast noch gar nicht bemerkt hatte, weil er immer schwieg, und fragte naiv: »Sind Sie auch mit von der Partie?«

»Ja. Warum sollte ich nicht?« fragte Herr von Tekeli sanft.

»Sie werden müde werden, müder als diese Damen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Aus Ihren Mienen. Ich kenne die Gesichter der Menschen und weiß im voraus, ob sie Strapazen ertragen können oder nicht. Ein Mensch aber, der Herzeleid hat – und das lese ich auf Ihrem Gesicht – der wird leicht schwach!«

Der Ungar wurde fast totenbleich. Schnell aber sich fassend, sagte er, zwar immer freundlich, doch etwas stolz: »Sie irren sich. Ich werde so leicht nicht schwach – ich bin Soldat gewesen!«

»Das glaube ich wohl – in der Ebene, aber nicht auf einem Eisgletscher. Haha! Das ist ein Unterschied. Aber was denn, was schadet die Müdigkeit, wenn sie nur mit Ausdauer verbunden ist!«

»Das denke ich auch,« rief der Ungar, »und nun beantworten Sie meine Frage.«

»Wenn ich mit diesem Herrn, dem Sohne meines Bergfreundes allein ginge, so bräche ich nachts um zwei Uhr auf; da dies aber für die Damen zu früh und etwas unheimlich ist, so wollen wir fünf Uhr sagen. Um fünf werde ich mit den nötigen Männern hier sein und den Zug ordnen. Und wie ich es am Anfang bestimme, so bleibt es bis ans Ende, denn Ordnung und Zucht muß bei einer solchen Expedition sein.«

Sein Gesicht nahm bei diesen Worten einen strengeren Ausdruck an, und man sah ihm an, daß er unter Umständen zu befehlen verstand.

»Wieviel Männer werden Sie nehmen?« fragte Herr van der Hooft.

»Das habe ich schon mit Herrn Marssen besprochen. Jeder von Ihnen bekommt einen Führer, und außerdem nehme ich zwei Träger mit, den einen für die warmen Kleidungsstücke, und den anderen für die Nahrungsmittel, die ich sogleich mit Ihrer Erlaubnis bei Ihrem Wirt bestellen werde.«

»Bestellen Sie, bestellen Sie!« rief der alte Holländer, an den die letzten Worte gerichtet waren. »Nehmen Sie das beste mit, was Sie kriegen können – ich bezahle alles, alles.«

»Gut, doch ich nehme nur, was wir brauchen. Und damit, denke ich, wäre unsere Unterhaltung zu Ende, und die Damen müssen früh zu Bett gehen, damit sie gut ausschlafen und mit klaren Augen in den Morgen sehen.«

Er stand auf, nahm den Hut ab und verbeugte sich. Der alte Holländer gab ihm zuerst seine Hand, dann auch dessen Gemahlin. Als Herr van der Hooft sie ihm geschüttelt hatte, reichte er sie dem Ungar, und dann stellte sich ihm Fräulein Elise in den Weg, die auch eine Hand von dem kühnen Gemsjäger haben wollte.

»Da haben Sie sie,« sagte er lächelnd, »nun muß mir aber die schöne Dame in dem kurzen Rock mit den langen Stiefeln auch eine geben.«

Miß Edda reichte ihre schneeweiße schöne Hand hin. Michel ergriff sie, hielt sie fest und betrachtete sie dann kopfschüttelnd. »Das ist ein seltenes Stück Menschenfleisch,« sagte er, ihr freundlich ins Auge blickend, »so eine warme, weiche Hand habe ich noch nie in der meinen gehalten. Kann sie aber auch mit einem Alpstock umgehen? Ist sie dazu kräftig genug?«

Miß Edda wurde von einem wilden Gedanken ergriffen. Sie umfaßte mit beiden Händen die Hand des Gemsjägers und drückte sie mit Macht.

Michel verzog keine Miene; als der starke Druck aber nachließ, lachte er und sagte: »Das war gut gedrückt, potz Tausig! Wenn Sie es so mit Ihrem Liebhaber tun, muß er gute Knochen haben. O ja, Sie können den Alpstock führen und Sie werden auch klettern und keine Furcht haben – das sehe ich an Ihrem Auge. Und nun gute Nacht, meine Herrschaften! Um fünf Uhr bin ich mit meiner ganzen Gesellschaft da und hoffe dann auf die Ihrige nicht warten zu müssen.«

Er schwenkte den Hut einigemal um den Kopf, stieß wieder seinen jodelnden Gruß aus und entfernte sich mit seinem Buben, der unterdes in der Nähe gestanden und mit trunkenem Auge die rosigen Gletscher seiner Heimat betrachtet hatte.

Als beide fortgegangen, waren alle des Lobes über den Gemsjäger voll; namentlich die alten Holländer waren glücklich, ihre Kinder in so guten Händen zu wissen. Um den Tisch im Freien aber blieb die ganze Gesellschaft versammelt, bis das letzte mattrosige Leuchten von den Firnspitzen verschwunden war und die herabsinkende Nacht sie alle mit ihrem unheimlichen Mantel umhüllte. Da erst suchten sie ihr Lager auf und baten alle Gott, daß er ihnen einen günstigen Tag schenken möge, ein Wunsch und eine Bitte, mit denen sich schon viele Menschen aus fremden Ländern in der Schweiz niedergelegt haben, und die schon leider so oft nicht erfüllt worden sind.

 

Ende des zweiten Teiles.

 


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