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Buchschmuck

Zweites Kapitel.
Die Exzellenz.

Als Franz Marssen am nächsten Morgen nach einem weiteren Spaziergange, wozu ihn diesmal mehr denn je ein unabweisbares Bedürfnis getrieben, eine halbe Stunde später als gewöhnlich unter die Veranda trat, wo das Frühstück bei gutem Wetter im Sommer eingenommen wurde, fand er den Vater allein am Tische sitzend und mit gutem Appetit seinen Kaffee und sein Weißbrot verzehrend. Er war nicht in seinem gewöhnlichen Anzuge, vielmehr mit Bergrock und Bergschuhen angetan, was dem Sohne sogleich verriet, daß er einen Ausflug ins Gebirge vorhabe.

»Guten Morgen, mein Vater!« rief ihm Franz entgegen. »Aber wie, ich sehe dich im Reisekleide? Willst du in die Berge?«

»Ja, Franz,« erwiderte der Vater, dem Sohne die Hand über den Tisch hinstreckend, »das Wetter ist zu günstig, um es nicht gründlich genießen zu wollen, und damit der kleine Kreislauf in mir, der seit gestern zu stocken scheint, ein gutes Beispiel habe und munter seine Pflicht erfülle, so will ich ihn zu einem größeren führen, und mein armseliges Menschenherz soll sich an dem großen Naturherzen aufrichten und erstarken, damit es noch eine Weile ohne Nachlaß seine Schuldigkeit tue. – Ha, du siehst mich so fragend an,« fuhr er nach einer Weile fort, »als hättest du mich nicht ganz verstanden, wie? Nun siehst du, wie es im kleinen menschlichen Organismus einen Kreislauf des Blutes gibt, indem das Blut aus dem Herzen bis in die Fingerspitzen und aus ihnen wieder zum Herzen zurückfließt, so gibt es auch einen größeren Kreislauf in der Natur, der mit ihm viel Gemeinsames hat. Betrachte einmal die großen Gletscher als Herzen und verfolge mit deinen Gedanken, was sie tun. Von ihnen herab sickert, rinnt und quillt das Wasser und sammelt sich zu ihren Füßen in einen brodelnden Bach. Der Bach brodelt und rinnt weiter und weiter, nimmt viele andere Bäche auf und vergrößert sich zum Strom. Der Strom läuft durch Länder und Länder, bis er sich endlich ins Meer ergießt. Die Feuchtigkeit des Meeres aber verdunstet unter den Strahlen der Sonne und aus dem Dunste bilden sich die Wolken. Diese Wolken bläst der Wind wieder zu unsern Gletschern herüber und auf sie lassen sie sich als Regen oder Schnee nieder, die allmählich zu Eis gerinnen, um sich von neuem als Bach und Strom in die weite Welt zu ergießen. Nun, ist das nicht auch ein Kreislauf, mein Sohn? Und wie mich dünkt, ein recht großer, erhabener und vollkommener, nicht wahr?«

»Da hast du recht,« versetzte der Maler sinnend, der den großen, in ihm angeregten Gedanken noch weiter zu verfolgen schien. – »Wirst du lange fortbleiben?«

»Einige Tage gewiß.«

»Aber wer besucht in der Zeit deinen Patienten?«

Der Doktor lächelte. »Niemand,« sagte er freudig, »der befindet sich ganz wohl. Ich bin heute morgen schon bei ihm gewesen und habe seinen Arm in einen Gipsverband gelegt. Alle übrigen Verletzungen sind ohne Bedeutung, und so kann er mich recht gut einige Tage entbehren.«

»Das freut mich. Wohin wirst du deinen Schritt richten?«

»Ich will einmal die Aar verfolgen, bis ich zu ihrem Ursprunge auf dem Aargletscher gelange. Das ist für mich ein großer Genuß, mein Sohn, denn ich überschaue da auch einen Lebenslauf von seiner Geburt an, der mir interessanter und lehrreicher und dabei übersichtlicher ist als der manches Menschen. Beide haben nur das eine gemein, daß man, wenn man ihren kleinen Anfang mit ihrem großen Ende vergleicht, sich verwundert, wie aus ein paar Tropfen ein so mächtiger Fluß und wie aus einem so unschuldigen kleinen Kinde ein so seltsames Geschöpf hat werden können, als welches sich uns so oft der ausgewachsene Mensch darstellt.«

»Du bist heute heiter,« sagte der Sohn, nachdem er wiederholt seine träumerischen Augen auf das lebensfrohe Gesicht des Vaters geheftet hatte.

»Ja, ich bin wirklich froh, Franz, und fühle mich seltsam leicht, nachdem ich gestern abend einen Alp von meiner Seele gewälzt, der schon lange darauf gedrückt hat. Du aber bist heute sehr ernst und wortkarg, wie mir scheint. Ich hoffe nicht, daß der Alp von meiner Brust auf die deine gefallen ist.«

Franz versuchte heiter zu lächeln, wie der Vater, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. »Ein Alp drückt mich nicht,« erwiderte er, »aber doch ist mein Auge etwas getrübt. Es hat gestern abend dunkle Bilder geschaut.«

»Die Dunkelheit wird sich wieder aufklären, mein Sohn, und wenn das Herz nur klar und hell bleibt, so wird der Schleier auch nicht lange auf dem Auge liegen, der erste beste kleine Windhauch kann ihn verwehen. Doch sieh, da kommt Karoline und hat mir meine Reisetasche mit Fleisch und Wein für die Bergpartie gefüllt. Ah, ich danke dir, Karoline, das hast du gut gemacht, und nun muß ich Euch verlassen, Kinder. So, behütet das Haus wohl, lasset keinen Dieb herein und seid vergnügt; das ist alles, was ich Euch heute sagen will. Mit Gott denn, vorwärts! Ist mein Pferd noch nicht gesattelt – weißt du es nicht, Karoline?«

Karoline hatte eine reich gefüllte Jagdtasche herbeigebracht und auf einen Stuhl gelegt. Sie nickte dem Bruder die Bejahung seiner Frage mit dem Kopfe zu und ging dann zu dem Neffen, dem sie mit stillem sanften Blick die Hand reichte und ihm herzlich zulächelte, als dieser ihr einen guten Morgen geboten. »Ja,« sagte sie dann zu dem Bruder, »Jürgen hat den Rappen gesattelt. Wirst du denn aber allein reiten?«

»Bis Brienz, ja. Da bleibe ich ein paar Stunden und erwarte meinen Freund Michel, den Gemsjäger aus Grindelwald, dem ich heute morgen einen Boten gesandt. Er hat mir versprochen, jeden Tag in dieser Woche meines Rufes gewärtig zu sein.«

Bald darauf führte Jürgen den glänzenden Rappen vor die Tür, dem die Jagdtasche und der Regenmantel des Reisenden aufgeschnallt wurde, und dieser selbst nahm nun einen herzlichen Abschied von den Seinigen, die ihn bis an das Pferd begleiteten.

»Nimm dich in Acht!« rief ihm die zärtlich besorgte Schwester nach, als er davonritt und er rief ein fröhliches: »Ja! Ja!« zurück, während er sich noch einmal umdrehte und zum letzten Male mit der Hand winkte.

»Er ist immer fröhlich, wenn er in die Berge geht!« sagte Karoline, leise vor sich hin sprechend, als sie nach der Veranda zurückkehrte.

»Nun, heute gönne ich ihm den Frohsinn doppelt!« bemerkte Franz, der die Worte der Tante gehört hatte und sich nun zum Frühstück neben ihr niederließ.

Karoline erwiderte nichts darauf, als wollte sie dem sich hieran knüpfenden Gespräch absichtlich aus dem Wege gehen; als sie aber ihres Lieblings noch immer ernst gebliebene Miene wahrnahm, versuchte sie ihre eigene aufzuheitern, aber auch ihr gelang es nicht recht. Eine Weile saßen sie so schweigend nebeneinander, da raffte sich Franz zusammen, rückte der Tante näher, ergriff plötzlich ihre Hand und sagte mit warmem Tone:

»Liebe Tante, ich muß dich recht herzlich um Verzeihung bitten.«

»Warum?« fragte sie mit forschend aufgeschlagenem Auge, und doch lag in dem Blick desselben ein sprechender Ausdruck, den man ohne Mühe dahin deuten konnte, daß sie die Frage nur zum Schein tue, da sie die Antwort sich schon selbst gesagt.

»Warum?« erwiderte Franz. »Darum: ich habe dir gestern wehe getan, ohne zu wissen, daß ich es tat, und das schmerzt mich. Hätte ich gestern deine Vergangenheit so genau gekannt, wie ich sie heute kenne, so hätte ich jene Bitte, mir die Mittel zu einer Reise nach Italien zu gewähren, nicht ausgesprochen. Also verzeih' mir, ich habe dich nicht absichtlich quälen wollen.«

Karoline ließ ihm ihre Hand und erwiderte den Druck derselben ebenso herzlich: »Ich glaube es,« sagte sie mit ihrer leisen Stimme, »aber laß uns heute zum letzten Male darüber reden. Da du von dem Vater jetzt alles erfahren hast, wie er mir heute morgen sagte, alles, was ihm und mir begegnet ist, so wird dir auch manches Auffallende und Mißtönige in unserm Wesen erklärt sein. Nun werde ich also auch auf deine Nachsicht zu rechnen haben, wenn ich einmal Launen zu haben scheine, das heißt schweigsam bin und meine Gedanken in der Erinnerung schweifen lasse.«

»Das sollst du aber nicht tun, liebe Tante, warum willst du den alten Kummer immer von neuem beleben?«

Karoline lächelte wehmütig. »Ich will es auch so eigentlich nicht, mein Lieber, aber es macht sich immer von selbst. Wie das geschieht, erfährt nur der, der selbst einen solchen Kummer gehabt hat. Du weißt davon freilich nichts, und Gott behüte dich davor! Doch nun laß uns genug darüber gesprochen haben. Lieber will ich dir sagen, daß ich mich diese Nacht mit dem Gedanken beschäftigt habe, wie deine Reise nach Italien zu ermöglichen sei, und da bin ich mit meinen kleinen Ersparnissen zu Rate gegangen und habe gefunden –«

Franz hielt ihr die Hand auf den Mund. »Kein Wort mehr, liebe Tante,« bat er, »du brauchst darüber nie mehr nachzudenken. Die Mittel sind längst gefunden.«

»Wie? Wer hat sie dir denn gegeben?«

Franz Marssen hob sich stolz in die Höhe und streckte seine Rechte über den Tisch hin. »Da liegen sie,« sagte er, »darin allein, und nun hast du mich erinnert, daß der Mensch nicht zu lange ruhen darf. Die Arbeit ruft und so will ich mich ihr mit ganzer Seele hingeben. Guten Morgen, Tante; vor Mittag siehst du mich nun nicht wieder.«

Wenige Minuten später hatte er sich durch den Weingang nach dem kleinen Hause begeben und bald darauf saß er vor der Staffelei, um zuerst an dem landschaftlichen Bilde, dann an dem Porträt zu arbeiten, wozu ihn plötzlich die Neigung anwandelte und wobei ein neuer, siegreicher Gedanke seinen Pinsel zu regieren schien. Jedoch, wie leicht ihm die Arbeit auch sonst werden mochte und wie gern er sich namentlich dieser hingab – mit ganzer Seele, wie er vorher gesagt, war er heute nicht dabei. Die Erzählung seines Vaters in der vergangenen Nacht hatte einen tiefen Eindruck auf sein Gemüt gemacht. Er konnte von den Personen, die ihm vor Augen geführt waren, und von den Schicksalen, die sie betroffen hatten, gar nicht loskommen; immer wieder kehrte er in Gedanken nach dem nordischen Lande zurück, das ja eigentlich auch seine Heimat war, und beklagte aufrichtig und herzlich das trübe Geschick, dem so viele brave Menschen daselbst verfallen waren. Vor allen Dingen aber bedauerte er das gestörte Lebensglück seiner guten Tante, denn daß diese noch immer an ihren Jugenderinnerungen tief und schwer litt, war ihm nur zu klar. »Doch was hilft's,« sagte er sich endlich, »sie leidet, wie schon viele Menschen gelitten haben und noch leiden werden. Ja, Gott behüte mich vor einem ähnlichen Schicksal! Den Wunsch sprach sie heute morgen aus, und ich hege ihn gewiß. Aber ich werde mich zu hüten wissen, daß mir dergleichen begegnet – ha!«

Dieser Ausruf galt seinem Bilde. Er war eben dabei, das Auge der schönen jungen Schottin zu malen und hatte schon lange die dunkelbraune, fast schwarze Farbe aufgetragen, die er in dem bezaubernden Antlitz des seltsamen Wesens so oft bewundert und in Gedanken auf seiner Palette im voraus gemischt hatte. In diesem Augenblick hatte er den Lichtpunkt eingesetzt, und dabei schoß ihm ein seltsames Gefühl durch den Kopf, denn, waren seine Erinnerungen so treu und warm, oder war das von ihm geschaffene Auge wirklich der Natur so ähnlich, genug, eine wunderbare, auffallende Ähnlichkeit in Farbe und Blick trat ihm daraus entgegen, und es war ihm einen Moment lang zu Mute, als schaue ihn das Auge des jungen Mädchens lebendig und mit dem bekannten herausfordernden oder vielmehr beherrschenden Blick an.

Da trat er von der Staffelei zurück, legte den Pinsel fort und starrte eine Weile nach den blauen Bergen hinüber, als ob er in tiefe Gedanken versunken wäre. Endlich brachen sich diese Gedanken Bahn, und er sagte halblaut zu sich:

»Ja, zwischen jenen Bergen da drüben und diesem kleinen Hause muß sie ein Unterkommen gefunden haben, denn alles, was in Interlaken lebt und atmet, bewegt sich in diesen Grenzen. Wo mögen die Herrschaften wohl eingekehrt sein? Ob ich ihr wohl einmal wieder begegne?«

Weiter kam er in seinen Gedanken nicht, denn diese wurden rasch von einer vor einer halben Stunde noch nicht gedachten Tat abgelöst. Gegen seine Gewohnheit war noch einmal der Wunsch in ihm erwacht, einen Spaziergang durch den belebtesten Teil von Interlaken anzutreten, und da ihm die junge Dame einmal in den Sinn gekommen war, wollte er auf diesem Gange sich bemühen, eine Spur zu entdecken, die ihm Aufklärung gebe, wo sie geblieben sei. Doch nicht auf diese Absicht allein wälzte er die Schuld seiner heutigen Arbeitsunlust, vielmehr auf des Vaters Erzählung und den tiefen Eindruck, den sie auf ihn gemacht; und zuletzt, während er sich schon in seinem Zimmer im Vorderhause zum Ausgehen ankleidete, sagte er sich:

»Ich muß durchaus heute gehen, das Stehen und Sitzen behagt mir nicht. Die traurige Geschichte meiner Verwandten liegt mir schwer auf dem Herzen; vielleicht werde ich den Druck los, wenn ich unter Menschen gehe. Das wird mich zerstreuen. Und habe ich mich erst von allen Grübeleien freigemacht, so wird mir nachmittag die Arbeit um so besser schmecken.«

Schon war er zum Ausgehen fertig, und da er Tante Karoline nicht gleich fand, so trat er den nächsten Weg nach Unterseen an, denn von hier aus wollte er ganz Interlaken durchwandeln und zuletzt vom Brienzer See her wieder in seine abgelegene Wohnung zurückkehren.

Der stattliche, in feiner moderner Sommerkleidung mit grauem Filzhut noch edler als in seinem Bergrock erscheinende Mann schritt langsam zwischen den grünen Wiesen nach Unterseen hinab und labte sein Auge an dem funkelnden Sonnenschein, der auf den Blättern der Bäume und in den Schneefeldern der Berge spielte: dabei aber ließ er die hübschen Gebäude nicht außer acht, die auf seinem Wege lagen, und er mußte über sich selbst lächeln, als er mit seltener Ausdauer zu den Fenstern derselben hinaufblickte und die ihm begegnenden Leute musterte, was sonst gerade nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, da seine Spaziergänge in der Regel weniger seine Neugierde als seine Künstleraugen in Anspruch zu nehmen pflegten.

Alle Häuser, meist Pensionen oder Gasthöfe, die er auf diese Weise heute zum ersten Male förmlich studierte, waren bewohnt, und vor den Türen der meisten, im Garten und im Schatten der breiten vorspringenden Dächer, saßen die zeitigen Bewohner und labten sich an dem warmen Wetter und der reinen Luft des wundervollen Tages. Nirgends aber sah unser Spaziergänger ein bekanntes Gesicht, und so trat er, bisher wenig befriedigt, aber um so hoffnungsvoller in Unterseen ein, wo gerade zu dieser Zeit ein munteres Leben herrschte, da die Abgangsstunde des Thuner Dampfbootes herannahte, und alle dahinfahrenden Wagen mit Menschen dicht besetzt, in Bewegung waren.

So ging er langsam am Beausite vorüber, welches eine reiche Zahl Fremder unter der Halle und auf den von Marquisen beschatteten Bänken vor den Türen aufwies, aber so scharf sein Auge auch die einzelnen Gesichtszüge prüfte, alle Personen waren ihm fremd, und keiner von ihnen war er jemals an irgend einem Orte der Welt begegnet.

Gemächlich schritt er nun gegen das alte baufällige Städtchen mit den merkwürdigen Schweizerhäusern aus uralter Zeit vor, und hier blickte er sich weniger genau um, denn hier pflegte kein Fremder von einigen Ansprüchen einzukehren; als er aber über die erste Aarbrücke kam und sich rechts und links Gasthaus an Gasthaus, Pension an Pension reihen sah, galt es wieder aufmerksamer zu sein, denn auch hier wimmelte es von fremden Besuchern aus allen Ländern Europas. In diesen geschmackvollen und eleganten Häusern gab es schon manche anmutige Gestalt und manches hübsche Gesicht zu sehen, aber ein so charakteristisch schönes, wie das seiner ehemaligen Reisegefährtin, nahm er nirgends wahr. Vor allen Türen, an Tischen unter Blumen und unter duftenden Topfgewächsen, saßen Fremde, die Männer rauchend und lesend, die Damen an feinen Stickereien arbeitend oder die mit bunten Handschuhen bekleideten Hände müßig in den Schoß legend, plaudernd und neugierig die Vorübergehenden musternd; aus allen Fenstern lehnten alte und junge Gestalten, schauten hübsche und häßliche Gesichter; Spaziergänger drängten sich auf Spaziergänger, Reiter auf Reiter, Wagen rollten hinter Wagen her, aber so langsam Franz Marssen auch ging, so haarscharf er nach allen Türen und Fenstern spähte, niemals erhaschte er ein Gesicht, was ihm auch nur im entferntesten bekannt erschienen wäre.

Wenn man auf diese Weise an einem von Menschen übervoll gedrängten Orte einen Bekannten sucht, so wächst die Erwartung, das Verlangen, ihn zu finden, mit jedem Augenblick, und schon die getäuschte Erwartung, das betrogene Verlangen, bringt eine unruhige Spannung, verbunden mit einer zähen Hartnäckigkeit, sein Ziel zu erreichen, hervor, die sich ganz von selbst erklärt, ohne daß ein tieferer Grund dazu vorhanden zu sein braucht.

Endlich war das ganze von Leben und Fröhlichkeit schwirrende Interlaken durchwandert, ja auch die bedeutendsten Nebenstraßen waren einer genauen Musterung unterworfen worden, aber nichts, gar nichts zeigte sich, was die Hoffnung unseres Freundes befriedigt hätte.

»Nun,« sagte der junge Mann zu sich, »da wären wir denn schon an das Ende unserer Wanderung gelangt und kehren ebensoklug nach Hause zurück, wie wir davon weggegangen sind. Aber es tut nichts; es soll eben nicht sein, was sein könnte, und damit müssen wir uns zufrieden geben. Doch, jetzt dürfte es wohl Zeit sein, daß ich mich zu Tante Karoline verfüge, sie wird das Essen bereit haben und soll nicht auf mich warten, weil ich ein Nichtstuer und Gaffer geworden bin. Haha!«

Während er dies zu sich sprach, schlug er von der Dampfschiffbrücke, wohin er zuletzt gekommen war, den Weg nach seines Vaters Haus ein und erreichte es, als es ein Uhr schlug und Tante Karoline, da sie ihn nicht im Atelier gefunden, schon vergeblich nach ihm ausgeschaut hatte.

Zwar war sie etwas verwundert, als sie ihren Neffen von einem so ungewöhnlichen und vor ihr geheim gehaltenen Spaziergange zurückkehren sah, aber sie sagte nichts. Nur saß sie aufmerksam neben ihm am Tische und beobachtete seine gehaltene Miene, aus der sie ganz richtig schloß, daß sich seltsame Gedanken in seinem Geiste umtrieben. Karoline, obgleich eine kluge Frau oder vielmehr ein kluges Mädchen, war zwar etwas neugierig, wie alle ihre Schwestern, indessen bezwang sie sich doch stets, wenn sie fürchten mußte, durch ihre Neugierde den inneren Gedankengang ihrer Verwandten zu stören. Ihr Liebling hatte seit dem vergangenen Abend genug zu denken, das wußte sie ja, und da sie auch die Teilnahme kannte, die er an ihrem eigenen Schicksal nahm, so schob sie sein Schweigen und sein zurückhaltendes Wesen fast allein auf diesen Umstand. Endlich aber schien Franz das ungewöhnliche Verhalten beider selbst zu gewahren, und so begann er von seinem Vater zu sprechen, dessen Reise er Schritt vor Schritt verfolgte, wobei er sich schließlich mit der Tante ganz leidlich unterhielt.

Als das Essen vorüber war, ging er einige Mal im Garten mit ihr auf und ab, dann aber zog er wieder den Malerrock an und suchte das Atelier auf, wo er sich fleißig an die Arbeit machte und mit Ausdauer darin fortfuhr, bis er plötzlich viel früher als sonst seine Pinsel reinigte und sich abermals zu einem Ausgange anschickte.

»Es ist doch sonderbar,« sagte er zu sich, »daß ich heute auf dem ganzen langen Wege kein einziges bekanntes Gesicht gesehen habe. Ich bin begierig, zu erfahren, ob es mir heute abend ebenso gehen wird. Hoffentlich nicht! Der Abend ist schön, alle Welt ist im Freien, und vielleicht – vielleicht – ist meine Tante ausgegangen?« fragte er Resi, die ihm zufällig in den Weg trat, als er gerade das Haus verlassen wollte.

»Ja, Herr, sie ist nach dem Rugen spaziert. Ich sollte es Ihnen sagen, hat sie mir aufgetragen, vielleicht kämen Sie ihr nach.«

Franz nickte, schlug aber demungeachtet den Weg nach der Hauptstraße von Interlaken ein, ging einige Male darin auf und ab, schaute wieder nach allen Türen, Balkonen und Fenstern, und als er auch diesmal kein bekanntes Gesicht sah, lachte er fast fröhlich auf, und sagte mit einem leisen Anflug verhaltener Ungeduld:

»Tor ich! Das ist mein letzter einsamer Spaziergang bei Tage gewesen, und eigentlich ist es unverantwortlich, daß ich die schöne Zeit so ungenutzt verstreichen lasse. Ich hätte dafür etwas Gutes lesen oder malen, oder Tante Karoline im Walde des Rugen aufsuchen können. Nun, das soll mir für künftig eine Lehre sein. Vorwärts! Steigen wir einmal nach Felsenegg hinauf, es strömen ja so viele Menschen dahin. O, es ist ganz natürlich, da oben finden sie eine schöne Aussicht und genießen den Sonnenuntergang aus erster Hand. Wohlan denn, teilen wir ihren Genuß und machen wir die kleine Reise mit, damit wir das Bergsteigen nicht ganz verlernen.«

Bei diesen Worten schlug er den Weg über die gedeckte Zollbrücke ein, die über die schäumende Aar führt, und bald stieg er den anmutigen Bergpfad hinauf, womit die Landstraße über den Brüning beginnt und auf dem die Spaziergänger in wenigen Minuten nach dem reizend gelegenen Felsenegg gelangen, einer Pension mit Kaffeehaus, das jeden Abend von den periodischen Bewohnern Interlakens reich bevölkert ist und eine verlockend schöne Fernsicht über den Brienzer See, die Aar und den östlichen Teil von Interlaken bietet, während gerade vor ihm die hohen Schneeberge der Jungfrau und ihrer Nachbarn aufragen und das weite, kostbare Bild in den schönsten Rahmen der Welt einschließen.

Felsenegg mit seiner luftigen, wie eine Klippe über den grünen Abhang vorragenden Terrasse, war auch heute dicht mit Menschen besetzt, die in einzelnen Gruppen an kleinen Tischen saßen, Wein, Bier oder Kaffee tranken und das liebliche, unter und vor ihnen aufgerollte Landschaftsbild mit Muße betrachteten. Franz hielt eine scharfe Umschau, schritt zweimal die Terrasse entlang und wollte sich eben, da er wieder kein bekanntes Gesicht bemerkte, auf einen einzelnen leeren Stuhl am Geländer niederlassen, als er plötzlich zusammenschreckte, denn in demselben Augenblick nahm er nicht weit von sich entfernt an einem Tisch drei Herren wahr, die mit der Wirtin von Felsenegg sprachen und eben ihren Kaffee, den sie bereits getrunken, zu bezahlen schienen.

Franz Marssens gutes Auge schaute wie gebannt auf einen der drei Männer hin, denn er hatte ihn auf der Stelle erkannt. Es war kein anderer, als der Vater der schönen Schottin, dessen Gesicht finster wie immer über die Aar hinschaute, während einer seiner Begleiter mit der Wirtin einige Worte wechselte. In dem Augenblick aber, als er die Gruppe genauer studierte, standen die drei Herren auf und, ohne einen Blick um sich her zu werfen, schritten sie die Terrasse entlang, um ihren Rückweg nach Interlaken anzutreten.

Sie mußten dicht an dem Maler vorübergehen, und da sie ihm ihre Gesichter zukehrten, so nahm er mit höflichem Gruße den Hut ab, um sich seinem ehemaligen Reisegefährten bemerklich zu machen. Dieser jedoch schien für nichts Äußerliches Sinn zu haben; er faßte wohl oberflächlich an den Hut, erhob aber kaum das drohende Auge gegen den jungen Mann und ließ auch nicht das geringste Erkennungszeichen merken, als er langsam und stolz an ihm vorüberschritt.

Wäre diese Begegnung Franz Marssen nicht zu überraschend gekommen und hätte er sich nur einige Überlegung dabei gegönnt, so hätte er ganz im stillen den drei Männern folgen und auf diese Weise die Wohnung des einen von ihnen erfahren können, allein das fiel ihm gerade nicht ein, wie uns oft das am wenigsten einfällt, was uns zunächst zu unserm Ziele führt. Wenige Minuten mochten verstrichen sein, da kam ihm erst der richtige Gedanke, aber nun kam er zu spät, wie so viele gute Gedanken, und um doch nicht ganz vergebens dem Herrn begegnet zu sein, ging er ins Haus, suchte die Wirtin auf und fragte sie, ob ihr vielleicht die drei Herren bekannt wären, die an dem Tische gesessen hätten, den er ihr genau bezeichnete.

Die gute Frau besann sich nur kurze Zeit, dann sagte sie: »Ah, meinen Sie die drei Herren, die Tee tranken und von denen der eine einen so hellgelben Nankingrock trug?«

»Ob sie Tee tranken, weiß ich nicht, aber sie sind es, die ich meine, – kennen Sie sie?«

»O ja, wenigstens zwei von ihnen. Den kleinen dicken mit dem Nankingrock, und den großen mageren mit dem grauen Haar – sie wohnen schon lange in Interlaken und kommen fast alle Tage hierher, um eine Tasse Tee zu trinken.«

»Wer sind sie?«

»Der erste ist ein niederländischer Generalkonsul und der zweite ein hannoverscher Geheimrat. Die Namen aber habe ich vergessen.«

»Und der dritte, den kannten Sie nicht?«

»Nein, er war heute zum erstenmal hier, aber es muß ein vornehmer Herr sein, denn die beiden anderen redeten ihn »Exzellenz« an und legten eine große Achtung gegen ihn an den Tag.«

Franz Marssen fuhr, wie von einer Biene gestochen, zurück, bedankte sich kurz und schlich wie ein geschlagener Mann davon. Das eine Wort: Exzellenz! dröhnte ihm, er wußte nicht warum, in den Ohren wieder, denn noch niemals bis jetzt hatte in einem solchen Titel etwas ihn Verletzendes, etwas wie der Ausfluß einer ihm feindseligen Macht, gelegen. Jetzt aber, mit einem und zum ersten Male, störte ihn dieser Titel fast jählings aus seinen Träumen auf, es war ihm beinahe zu Mute, als ob er in seinem männlichen Wesen, seinem künstlerischen Stolz beleidigt worden wäre, und ohne sich noch einmal umzusehen, schritt er langsam und gedankenvoll den Berg hinunter, über die Brücke fort, um nach dem Höheweg zu gelangen, der vom Staub rollender Wagen und flutender Menschen wirbelte und auf den sich bereits die Schatten des Abends niedersenkten, trotzdem die Gipfel der hohen Schneeberge noch lange den lieblichen Widerstrahl der sinkenden Sonne zeigten.

»Ah,« sagte er zu sich, als er wieder zu klaren Gedanken kommen konnte, »dieser Herr ist also eine Exzellenz! Nun, dann ist auch seine Tochter eine sogenannte vornehme Dame, wie es ihrer so viele auf der Welt gibt und von denen die Welt so wenig hat. Ja, ja, ich glaube es gern, aber für mich – für mich – doch was will ich denn? Nichts will ich, gar nichts. Was konnte sie mir denn sein? Eine solche Dame bildet sich stets auf ihren Rang und Stand mehr ein als recht und billig ist, und betrachtet die armen Künstler als ein Mittel zum Zweck, als ein Spielwerk, einen Unterhaltungsgegenstand, dem man sich eine Minute hingibt, wenn man gerade bei Laune ist oder Langeweile hat – und gegen eine solche Auffassung vom Künstlertum streubt sich ebenso sehr mein persönlicher wie männlicher Stolz. So, das wäre also abgemacht. Nun wollen wir uns keine Mühe mehr geben, sie wiederzufinden, es würde das nichts Angenehmes im Gefolge haben und ich kann meinen Kopf zu etwas besserem gebrauchen, als über eine solche Persönlichkeit lange nachzudenken. Abgemacht, Franz, und nun sieh dir lieber da drüben die Jungfrau an, das ist auch eine Exzellenz, und eine recht große, ewige, unvergängliche, und sie läßt sich von mir ebenso gern beschauen, wie von jedem Fürsten, und lächelt mir ebenso gnädig, so freundlich, so herzlich zu.«

Mit solchen Gedanken schritt er durch Interlaken nach seinem Hause, aber trotzdem er nicht mehr über unbekannte Personen und ihre geheimen Verhältnisse nachdenken wollte, so brach sich doch immer von neuem die Erinnerung an die in den Bergen verlebten Stunden in ihm Bahn, und gerade dadurch, daß die Person, an die sie sich knüpfte, ihm so weit entrückt war, wurde diese Erinnerung eine um so schönere, reinere, so daß er sich, als er endlich zu Hause anlangte, im stillen jedes Wort mit Ruhe wiederholen konnte, was er mit ihr gesprochen, und sich zuletzt sogar darüber freute, wie eine solche zufällige Begegnung ohne näheres Bekanntwerden so wunderbare Empfindungen hervorrufen und eine so furchtbare Wirkung erzeugen konnte, wie wir hier gesehen, eine Wirkung, die ihn wenigstens um eine schöne Idee bereichert und ihm einen dankbaren Stoff für seine künstlerische Hand geboten hatte.

Noch immer sinnend und fast mit sich zürnend über den halb verlorenen Tag, trat er an den Tisch unter der Veranda, wo ihm Karoline mit herzlichem Gruße entgegenkam, ohne sich mit einer Silbe zu beklagen, daß er sie nicht auf dem Rugen aufgesucht.

»O, wie bin ich froh,« rief sie. »daß du wieder da bist, Franz! Hast du dich recht amüsiert auf deinem Spaziergange?«

»O ja, Tante, wie man sich auf solchem Gange amüsiert, wenn man eben nichts anderes zu tun hat.«

»Bist du keinem Bekannten begegnet?« fragte sie halb schalkhaft weiter.

»Wie meinst du?« erwiderte er erstaunt und hob das helle blaue Auge forschend gegen sie auf.

»Ich meine,« sagte sie und legte ihre weiße Hand sanft auf seine Schulter, »bist du vielleicht heute deiner schönen Reisegefährtin begegnet oder hast du dich gar nicht nach ihr umgesehen?«

»Ah!« dachte Franz. »Wir begegnen uns am Ende in einem und demselben Gedanken. Sei vernünftig, alter Freund und mach' ein unbefangenes Gesicht, Frauen sind schlau, wenn sie auch alt und grau sind. Nein,« sagte er dann laut, »ich bin ihr nicht begegnet, obwohl ich mich, die Wahrheit zu gestehen, – bisweilen nach ihr umgeschaut habe.«

»Nun, es ist noch nicht aller Tage Abend, mein Lieber, und es gibt der Winkel viele in Interlaken, in die sich so kleine niedliche weiße Mäuse verkriechen können.«

»Weiße Mäuse?« fragte er lächelnd. »Wie kommst du auf diesen sonderbaren Vergleich?«

»Wie man überhaupt auf einen Vergleich kommt – nimm es nur nicht übel, daß ich die schöne Schottin eine weiße Maus nannte, du hast sie mir doch als mit einem wunderbar schönen Teint begabt geschildert?«

»Ja den hat sie auch, Tante, aber mit einer Maus möchte ich sie am wenigsten vergleichen.«

»Mit welchem Tiere denn sonst?« fragte Karoline heimlich lächelnd.

»Mit gar keinem Tiere – mit – mit –«

»Du hältst sie doch wohl nicht gar für eine Göttin?«

»Ach nein, aber – im ganzen da hast du es – für eine »exzellente« junge Dame. Nun aber, Tante –«

»Was denn? Aber –«

»Ich habe Appetit – gib mir bald etwas zu essen.«

»Oho, mein Junge, das ist ein gutes Zeichen, und bald sollst du das Beste haben, was in Küche und Keller vorhanden ist.«


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