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Buchschmuck

Neuntes Kapitel.
Die Eisgrotte im Grindelwaldgletscher.

Wie sehr man sich auch freuen mag, daß man, nach so langem, beschwerlichem Ritt die Wengernalp hinauf von der Scheideck aus, den anfangs ganz bequem bergabführenden Weg nach Grindelwald wieder zu Fuß fortsetzen kann, so verwandelt sich die anfängliche Zufriedenheit doch schon oft nach zweistündigem Gehen, namentlich wenn die liebe Sonne ihre heißesten Strahlen über die kahlen Halden und Matten ausgießt, in ein stilles Murren, was abermals beweist, daß der Mensch selten imstande ist, lange in einem und demselben Zustande auszudauern, selbst wenn es der behaglichste und friedlichste wäre.

Während Herr van der Swinden und seine Gemahlin ihren Weg ruhig zu Pferde verfolgten, schritten die jüngeren Reisenden unter bald ernsten, bald heiteren Gesprächen langsam hinter ihnen her, und sogar gelang es der überaus munteren und scherzhaften Braut, dem bisher immer schweigsamen und nur in steter Aufmerksamkeit für Miß Edda verharrenden Ungar das Siegel von den Lippen zu lösen und ihn zu einzelnen Mitteilungen aus seinem früheren Leben zu veranlassen. So legte man ohne große Mühe Strecke auf Strecke zurück, stieg bald einen kleinen Hügel hinauf, bald einen großen Berg hinab, bis man, leidlich erhitzt und Gott dankend, wenn einmal ein Stückchen Wald zu durchstreifen war, der kühleren Schatten warf, in der Alpigelner Sennhütte anlangte, wo man eine halbe Stunde zu rasten und sich zu erquicken beschlossen hatte.

Auf dem fast dreistündigen Wege bis hierher hatte man zur Rechten immer die erhabene, schon früher genannte Bergkette vor Augen, die Gegend selbst aber, durch die man schritt, war selten verlockend schön, im Gegenteil oft öde, wüst und mit zerbröckelten Felstrümmern bedeckt, die von uralten Lawinenstürzen herrühren mögen und die Pfade, denen man folgen muß, bisweilen unangenehm und beschwerlich machen.

Von jener Sennhütte aus aber beginnt der Weg nach Grindelwald hinab stark zu fallen und dabei überaus steinig, schlüpfrig und teilweise morastig zu werden, weil unzählige kleine Quellen aus dem aufgerissenen Boden sickern, so daß selbst ein rüstiger Fußgänger oft Mühe hat, auf diesem Wege munterer Laune zu bleiben, wenn die Sonne ohne Nachlaß und unerbittlich auf seinen Scheitel brennt.

Franz Marssen hatte den Damen diese Unbill redlich vorher verkündigt, allein sie erklärten sich für rüstig genug, den Weg noch anderthalb Stunden länger, selbst unter schwierigeren Verhältnissen fortzusetzen, und so lieferten sie schon an diesem Tage eine Probe ihrer Ausdauer, die jeden an der Reise Teilnehmenden befriedigen mußte. Auch Herr van der Swinden, als er hörte, daß der Weg sehr steil bergab führe, entschloß sich, von jetzt an zu Fuß zu gehen und sich seinem neuen Alpstock anzuvertrauen, den bisher einer der Pferdeführer benutzt hatte, und der nun also doch nicht vergebens gekauft sein sollte. Dagegen gesellten sich zwei Führer zu der alten Holländerin, die durchaus nicht zu Fuß gehen wollte, und unterstützten von beiden Seiten ihr Pferd, das unter der schweren Last mühsam den Berg hinabkeuchte und nur äußerst langsam vorschreiten konnte, da die Steilheit oft beträchtlich und an einzelnen Stellen sogar so bedeutend war, daß die Reiterin es endlich dennoch für geratener hielt, hundert Schritte weit bergab zu klettern, als Gefahr zu laufen, über den tief niedergebeugten Kopf des Pferdes einen Abhang von tausend Fuß Tiefe hinabzustürzen. Auf diesem bedenklichen Wege wandte Franz Marssen der guten Dame alle Aufmerksamkeit zu, und da er zu gelegener Zeit auch dem mühsam fortstolpernden General-Konsul unter die Arme griff, so gewannen diese biederen Leute ihn außerordentlich lieb, und zuletzt war er fast eine Art Heiland und ein Retter in der Not für sie geworden, dessen Ausspruch immer größeres Gewicht erhielt und stets von ihnen befolgt wurde.

So ging die Reise, nachdem man sich in jener auf luftiger Höhe gelegenen Sennhütte an süßer Milch und duftigen Erdbeeren erfrischt, jetzt langsam von statten, und auf dem ganzen Wege blieb Franz Marssen bei den älteren Leuten, während die Jüngeren ihr Heil allein versuchen mußten. Endlich aber gegen fünf Uhr langte man in der Tiefe des Grundes an, der links nach dem Dorfe, rechts nach dem unteren Gletscher von Grindelwald führt, und nachdem man sich hier noch einmal geruht, sämtliche Pferde nach dem nächsten Gasthof vorausgesandt und Zimmer und Betten hatte bestellen lassen, traten alle den Weg durch Hecken und an einsamen Häusern vorbei nach dem Gletscher an, den man endlich zur rechten Seite zwischen seinen Felsgrenzen wie eine riesige grauweiße Schlange bis fast an das Dorf sich herabringeln sah.

Da alle Wanderer erhitzt, die beiden älteren Leute aber wie in Schweiß gebadet waren, gebot Franz Marssen, den Weg im langsamsten Schritt fortzusetzen, wenn man sich nach dem Gletscher begeben wolle, und alle folgten ihm gern, obgleich die beiden jungen Damen sich nicht bezähmen konnten, voranzuschreiten, um die ersten zu sein, die den Gletscher mit der vielgerühmten Eisgrotte aus der Nähe sähen.

Nur zwei Führer hatte der Maler bei der Gesellschaft zurückbehalten, die für die leicht gekleidet Gehenden warme Tücher und Röcke trugen, deren man in der Nähe des Eises so sehr benötigt ist.

So gelangte man endlich zu der gewaltigen alten Moräne, welche eine Viertelstunde lang vor dem Fuß des unteren Gletschers ausgebreitet liegt, und da sich alle über die zahllosen größeren und kleineren Felsblöcke wunderten, die im wirren Durcheinander den verschlammten Boden bedeckten und fast den Weg versperrten, bisweilen aber auch die einzige kunstlose Brücke über ein seichtes Wassergeriesel bildeten, welches beständig aus den Gletschern hervorsickert, so hörten sie mit Erstaunen von dem Maler, daß auf der Stelle dieser Steinwüste noch vor wenigen Jahren eine saftige Wiese gelegen, daß der Gletscher aber an einem Tage in kurzer Zeit über die ganze Wiese vorgerückt sei und sie völlig verschlungen habe. Das abgelagerte Eis war allmählich geschmolzen, und nur die Steintrümmer, die es mit von den Felsen heruntergebracht, waren liegen geblieben, infolge welches Unglücks der Besitzer dieser Wiese, die sein einziger Reichtum gewesen, ein armer Mann geworden war.

»Das ist traurig und sieht auch recht traurig aus,« sagte Miß Edda, die sich wieder mit den andern vereinigt hatte. »Also so sieht eine alte Moräne aus! Nun, am Fuße des Rhonegletschers gefiel es mir besser, da wuchsen doch Alpenrosen und Gras, aber hier sehe ich nichts als eine unfruchtbare, starre graue Steinwüste, die mich ganz melancholisch stimmen könnte, wenn Melancholie in meinem Blute läge.«

»Sie haben recht,« erwiderte Franz Marssen, »der Rhonegletscher sieht von unten her malerischer aus als der von Grindelwald, aber oben ist dieser viel, viel schöner und großartiger, obgleich ich noch nie weiter als bis zur obersten Hütte an seinem rechten Rande am Anfang des Eismeeres gekommen bin.«

»Stiereck!« sagte der eine Führer, der die Worte gehört hatte.

»Ja, so heißt sie, glaube ich. Und da oben hat es mir allerdings sehr gut gefallen.«

»Also Sie sind noch nicht auf dem Zäsenberg gewesen?« fragte Miß Edda lächelnd.

»Nein, mein Fräulein, ich habe nur davon sprechen hören, daß man dort oben, wo die im Berner Oberlande am höchsten gelegene und von Menschen bewohnte Hütte steht, eine bezaubernd schöne und seltsame Welt vor sich haben soll.«

»Nun dann freuen Sie sich, denn eben nach dem Zäsenberge wollen Elise und ich Sie alle führen.«

Franz Marssen wollte seine Bewunderung über den kühnen Entschluß äußern, aber er kam nicht dazu. Man war eben an den Fuß des Gletschers gelangt, aus dessen düsterem Eisgewölbe sich die schwarze Lütschine brausend und rauschend die wilde Bahn zum Tageslicht bricht. Alle standen still und niemand sprach ein Wort, so sehr waren aller Augen gefesselt, als man endlich den noch ziemlich hohen Fuß des berühmten Gletschers vor sich sah, der nichts weniger als schneeweiß und blau, sondern schmutzig grau, mit Steintrümmern und Staub bedeckt erschien, womit er allerdings keinen ergreifenden Eindruck auf Augen machte, die so schöne und glanzvolle Punkte an diesem Tage bewundert hatten.

Franz Marssen lächelte still vor sich hin, als er die getäuschte Erwartung auf den Gesichtern seiner Gesellschaft las, und mit ruhiger Miene bat er die Damen, sich hier auf einen Stein niederzulassen und sich gehörig abzukühlen, da das Gletschereis schon eine bedeutende Kälte an dieser Stelle ausstrahlte, weshalb sich Herr van der Swinden und seine Gemahlin auch bereits in ihre Tücher hüllen ließen.

»Ja, da tun Sie recht,« sagte der Maler. »Hüllen auch Sie sich leicht ein, meine Damen; später, wenn wir das Innere des Gletschers besuchen, werden Sie aller Ihrer Tücher benötigt sein.«

»Das Innere des Gletschers?« fragte Fräulein Elise. »Kann man denn wirklich das Innere eines solchen Eisberges besuchen?«

»Gedulden Sie sich und bereiten Sie sich auf einen Anblick vor, der wenigstens neu und originell ist, was man von wenigen Dingen auf der Welt sagen kann.«

»Nun, da bin ich neugierig, und Sie auch, liebe Edda, nicht wahr? Der Anblick dieses morschen und zerbröckelnden Schneehaufens hat uns eben keine großen Erwartungen beigebracht, vielmehr viele meiner schönen Illusionen zerstört.«

»Fassen Sie sich in Geduld, wiederhole ich, man darf eine Sache weder loben noch tadeln, bevor man sie gesehen hat.« –

*

Nach einer Viertelstunde, die Miß Edda in der größten Ungeduld zugebracht und dabei nur mit sichtbarer Mühe ihre vorwärts drängende Hast bewältigt hatte, sprang sie mit einem Male von ihrem Steinsitz auf und rief.

»Anstatt kühler zu werden, werde ich jeden Augenblick heißer; die Sonne da oben meint es heute fast unbarmherzig gut mit uns. Wer jetzt nicht mit mir gehen will, bleibe zurück, ich werde dann meinen Weg allein finden.«

Fräulein van der Swinden war gleich nach ihr aufgesprungen und beide junge Damen, heißblütig wie kein anderer, standen eben im Begriff, ohne Säumen dem Häuschen zuzuschreiten, in dessen Nähe ihnen einer der Führer den Eingang in den Gletscher bezeichnet hatte, als Franz Marssen sich ihnen in den Weg stellte und rief:

»Nein, meine Damen, ich bitte Sie dringend, gehen Sie nicht allein voraus; gönnen Sie uns vielmehr, Ihre Mienen zu sehen, wenn Sie etwas Ihnen ganz Neues schauen. So lassen Sie denn Ihre Eltern voran, Fräulein van der Swinden, sie haben die nötige Ruhe zu diesem Wege und nun, Mann,« wandte er sich an einen der Führer, »geben Sie die Tücher und Röcke her, und dann führen Sie die Herrschaften die Leitertreppe hinauf.«

»Ja,« rief der alte Holländer, »das war ein verständiges Wort, mein Freund. Ich bin ruhig wie ein gebratenes Huhn, denn die Unruhe, die noch in mir war, habe ich den steilen Berg herunter ausgetobt. Vorwärts, Frau, ich habe Mut! Vorwärts, meine Kinder!«

Alle nahmen jetzt ihre Tücher und Oberröcke in Empfang, hingen sie sich um und schritten dann dem vorangehenden Führer nach, der sie nach dem niedlichen Häuschen führte, welches ein spekulativer Schweizer – man sagt, es sei derselbe, der durch den Gletscherfall die schöne Wiese eingebüßt – auf einem großen Steinhaufen errichtet, um den Reisenden Erfrischungen, Mineralien und sonstige, dem Boden entsprossene Produkte zu bieten, wofür er sich allerdings einen leidlichen Preis zahlen läßt. Ob er aber oder ein anderer auf den sinnreichen Gedanken gekommen, den Reisenden den geheimnisvollen Gletscher zu öffnen und das menschliche Auge einen Blick in die wunderbare Werkstatt der Natur tun zu lassen, ist einerlei, jedenfalls ist das Unternehmen ein glückliches und so geschickt ausgeführt, daß man es mit dem innigsten Dank anerkennen muß.

Vor dem noch neuen Hause stand ein niedliches Mädchen in Oberländer Tracht und forderte bescheiden für jede Person, die die Gletschergrotte betreten wollte, fünfzig Centimes. Der alte Holländer, immer großmütig und freigebig, wenn es ans Bezahlen ging, griff in die Tasche und nahm ein kleines Goldstück heraus.

»Reicht das, mein Kind, für uns alle?« fragte er.

Das Mädchen lächelte und knixte. »Das ist viel zu viel, mein Herr!« sagte sie errötend.

»So behalte den Überschuß für dich und schaffe dir einen Bräutigam an, der so hübsch ist wie du.«

»Den hab' ich schon!« lachte das Mädchen hinter ihm her und lief triumphierend in das hölzerne Haus zurück.

»Vorwärts!« rief nun der muntere Holländer, »vorwärts, meine Kinder, ich habe Mut!«

Unmittelbar hinter dem Häuschen sah man auf einem festen Untergestell von Holz eine leichte Brücke erbaut, die ziemlich steil in die Höhe führte und schlüpfrig von dem Gletscherwasser war, welches unaufhörlich von dem ungeheuren Eisgewölbe herab rieselte und tröpfelte, und höchstens an kalten Tagen oder in der Nacht erstarrte, wenn die Sonne ihre Einwirkung versagte. Der alte Holländer glitt gleich beim ersten Schritt von dem glatten Brett aus und, indem er einen besorgnisvollen Blick nach der Öffnung im Eise emporhob, die am Ende der Brücke in den Gletscher gebrochen war, rief er laut:

»Herr Maler, Herr Maler! Leihen Sie mir Ihren starken Arm, oder ich bin ein verlorener Mann!«

Auf diese Weise kam Franz Marssen an die Spitze des Zuges, und dem Ungar fiel das Los zu, Miß Edda die glatte Brücke hinaufzuführen, wie Herr van der Hooft es mit seiner Braut tat. Endlich war man ohne Schwierigkeit bis an den eigentlichen Gletscher gelangt, trat unter den tröpfelnden Eisbogen, der den Eingang bildete, ging ein paar Schritte in eine Art gewölbten Korridor hinein und blieb dann stehen, um sich gegenseitig stumm anzublicken und mit verwunderten Mienen zu fragen, ob es denn Wirklichkeit und Wahrheit sei, was man jetzt vor und rings um sich sah.

»Vorwärts!« rief Franz Marssen. »Jetzt gehen Sie sicher, Herr van der Swinden, und ich lasse Sie los.«

Mit diesen Worten überließ er das alte Ehepaar sich selbst und schritt in die Tiefe des Korridors hinein, und die andern folgten ihm langsam, staunend über das seltsame Wunderwerk, welches vor ihren fast geblendeten Augen lag.

Und in Wahrheit, wunderbar ist es, was das Auge hier schaut! Man wandelt auf sicheren Brettern, die auf dichten Eisboden gelegt sind, durch einen Korridor wie in ein Haus von Eis hinein. Das Eis aber ist durchsichtig wie das reinste geschliffene Glas, an den Rändern und Kanten der vorspringenden Gegenstände farblos wie Quellwasser, in der Tiefe derselben aber von einem unbeschreiblichen schönen Blau, das immer dunkler und gesättigter wird, je mehr die Dämmerung zunimmt, in der man hier wandelt, eine Dämmerung, die durch den dumpfen Widerhall, welcher der menschlichen Stimme von allen Seiten folgt, etwas Unheimliches und doch wunderbar Erregendes, Verlockendes hat.

Die Menschen, die dies Werk, um so zu sagen mitten in das Herz der Natur hinein gearbeitet, haben mit ihren Äxten nach den Regeln der Baukunst eine Reihe von Hallen ausgebrochen, die Decken darüber künstlich gewölbt und glatte Säulen aus dem rohen Eisstoff ausgehauen, so daß man in einen Tempel mit Nebenkapellen zu treten glaubt, wie außer in diesen Gletscherländern keiner mehr in der ganzen Welt existiert.

In der Mitte des Hauptsaales erhebt sich eine ungeheure Säule von ungefähr zwölf Fuß im Durchmesser, die allein imstande ist, den darüberragenden Eisberg zu stützen, und von ihr aus führen strahlenförmig auslaufende Gänge und Gallerien nach verschiedenen Richtungen hin, durch deren Wände man teilweise wie durch Wände von Glas blickt, die aber sämtlich in ihren dickeren und tieferen Lagen jene herrliche Bläue zeigen, die man nicht genug bewundern kann, da ihr keine andere blaue Farbe an Schönheit, Reinheit und regelmäßiger Abstufung gleichkommt, wie denn das prächtigste Azur des Himmels dagegen trübe und rauchartig geschwärzt erscheint. Von den gewölbten Decken tröpfelt nun mit singendem, metallisch klingendem Ton das klarste Wasser nieder, welches die von außen eindringende Wärme vom Eise ablöst, aber im Fallen und Aufschlagen erstarrt und gefriert es wieder, und so erzeugen sich wunderbare Gestalten und Formen, die an allen Wänden konsolenartig prangen und von dem Deckengewölbe vielgestaltig herabhängen, wie Tropfsteingebilde, nur daß sie hier durchsichtig wie Glas sind und in tausend bunten und prachtvollen Farben spielen.

Franz Marssen stellte sich mit dem Rücken gegen die breite Säule auf und ließ die Damen und Herren an sich vorüberziehen, um ihre Gesichter zu mustern. Alle waren stumm, betroffen und blickten sich mit seltsam fragenden Mienen wie in einer neuen Welt nach allen Richtungen um.

»Nun,« sagte der junge Mann zu Miß Edda, als sie in seine Nähe gelangt war, »was sagen Sie jetzt? Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«

Miß Edda schüttelte mit einem unbeschreiblich milden Lächeln den Kopf. »Nein,« erwiderte sie, »aber ich kann kaum sprechen, meine Empfindungen drücken wie ein Alp auf meine Brust; lassen Sie mich noch eine Weile schweigend verharren, nachher will ich Ihnen meine Gedanken sagen. Doch nein, eins muß ich Ihnen gleich sagen. Wissen Sie, daß mir dies alles, obgleich ich es noch nie gesehen, dennoch bekannt vorkommt, als erinnerte ich mich eines Traumes, den ich einst gehabt? Doch es war kein Traum, Sie zeigten mir auch etwas Wirkliches. Ja, Ihr Gemälde steht vor meiner Seele, und ich sehe, wie treu und wahr Ihre Hand dies Märchen von Eis wiedergegeben hat. O, o, bin ich, sind wir denn alle noch Menschen? Beinahe komme ich mir wie ein Geist, eine unterirdische Elfe, eine Gnome vor – ja ja, das ist das Wunderbarste, was ich je in meinem Leben gesehen, und wenn es von etwas noch Wunderbarerem übertroffen werden kann, so sind es allein die unaussprechlichen Empfindungen, die mich in diesem Augenblick beherrschen.«

Sie winkte ihm mit der Hand und schritt schweigend weiter. Franz Marssen aber trat rasch aus der Grotte ins Freie hinaus und rief den daselbst stehenden Mädchen zu, doppelt so viel Lichter wie sonst anzuzünden, aber sie alle mit einem Mal herein zu bringen.

Die Gesellschaft bewegte sich indes, immer von neuem staunend, in den weiten Gängen umher; kein Mensch dachte an die Kälte, die er einatmete, das Gefühl der Seele war zu mächtig, um die Gefühle des Körpers zum Durchbruch kommen zu lassen.

Da, nach einiger Zeit, erhellte sich plötzlich der Eingang der Grotte, und in vorher unbeachteten Nischen und auf festen Vorsprüngen der Wände wurden schnell Laternen und Lichter aufgestellt, welche nun ihr grelles Licht mit magischer Wirkung in den blauen Eisräumen verbreiteten, die es, von allen Ecken und Enden tausendfach glitzernd, flammend und strahlend zurückwarfen. Wie durch einen Zauberschlag war die tiefe blaue Farbe des Eises verschwunden, alles ringsum blitzte wie von reinem Kristall, mit Diamanten, Rubinen und Edelsteinen von allen Farben besetzt, so daß das geblendete Auge fast erschrak und nicht wußte, wohin es sich wenden sollte, um irgendwo einen Punkt der Ruhe, des Schattens, der Erholung zu finden.

In wenigen Minuten war das ganze Innere der Grotte erleuchtet und strahlte wie ein feenhafter Glaspalast. Frau van der Swinden hatte sich an den Arm ihres Mannes gehängt und ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, denn sie war wie betäubt, und die Tränen standen ihr in den Augen. Hinter den Eltern schritt das Brautpaar einher, sich fest umschlungen haltend und aneinander pressend, wobei es süße Worte austauschte, um seine Empfindungen kund zu tun. Der arme Ungar aber war fast peinlich geblendet; er wischte sich beständig die Augen und gab unartikulierte Töne in seiner Muttersprache von sich, die wild und seltsam klangen und das Wesen des sonst so stillen Mannes ganz umgewandelt erscheinen ließen.

Franz Marssen weidete sein Auge an dem Entzücken aller; er schlich bald diesem, bald jenem nach, keins von ihnen konnte sich satt sehen, und doch begannen sie schon allmählich alle zu frösteln. Die ersten, welche die Grotte verließen, waren die Eltern der Braut. Ihnen mußte der Ungar folgen, da er stark zu husten anfing. Das Brautpaar hielt noch eine Weile aus, dann aber folgte es ebenfalls den Eltern nach, die sich draußen in der verhältnismäßig warmen Luft erquickten, wie sie sich vorher an der kühlen erquickt.

Franz Marssen dagegen wandelte noch immer einsam in den blitzenden Hallen herum und trat endlich in einen schmaleren Nebengang, den er früher noch nicht betreten und den man erst neuerdings gebrochen hatte. Am Ende dieses Ganges fand er eine Art Altar von Eis aufgerichtet und reich mit kleinen brennenden Wachskerzen geschmückt, zwischen denen Alpenrosen, Blumen und Moos in sinniger Weise angebracht waren, was einen reizenden Anblick gewährte, indem so die Erzeugnisse des Sommers und Winters nebeneinander standen und an Farbenpracht und Schmelz sich gegenseitig den Rang abzulaufen schienen.

Als der Maler aber vor den kleinen Altar trat und in der, am Ende sich etwas erweiternden, blitzenden Kapelle den Blick umherschweifen ließ, fiel dieser auf eine Gestalt, die, fest in ihr Plaid gewickelt, mit vor der Brust gefalteten Händen, still und in sich versunken seitwärts von dem so lieblich geschmückten Altare stand und das dunkle Auge träumerisch von einer Stelle zur andern schweifen ließ.

Es war die schöne Schottin, die noch allein hier zurückgeblieben war, da sie sich nicht so rasch von ihrem wunderbaren Märchen trennen konnte. Ihr Gesicht, von dem so hellblitzenden Eise umgeben, schien bleich zu sein, doch war es fast wie durchsichtig anzuschauen und strahlte von einem seltsamen Gefühlsglück. Als Franz Marssen an ihre Seite trat, drehte sie sich langsam herum, ihr Gesicht hob sich zu dem seinen empor, und beider Augen fielen aufeinander. Aber nicht wie sonst senkten sich jetzt die Blicke dieser Augen, im Gegenteil, sie schienen sich sogar festzuhalten, und immer tiefer und tiefer drangen die Strahlen des einen in die unergründliche Tiefe der andern, bis sie, gegenseitig sich gleichsam verschlingend, wie festgewurzelt aneinander haften blieben.

Aber welcher Ausdruck lag dabei auf den beiden so verschieden gestalteten Gesichtern! Aus dem ihren, das früher so stolz, fast hochmütig gestrahlt, war aller Stolz, aller Hochmut verschwunden, mit ihm das Gefahrdrohende und Raubtierartige, wie es Tante Karoline seltsamerweise genannt, und dafür leuchtete eine unbeschreibliche Milde, eine bezaubernde Freundlichkeit aus jedem ihrer wunderbar schönen Züge, die niemals schöner, vollendeter gewesen waren, als in diesem Augenblick, und den Augen des Malers fast überirdisch verklärt erschienen.

Aus Franz Marssens ebenfalls bleichem Gesicht war dagegen die frühere Resignation einer edlen Seele und das demutsvolle Gepräge der Unterordnung gewichen, die so oft darin zu erkennen gewesen, wenn er das schöne Weib, das jetzt an seiner Seite stand, bescheiden anblickte: nein, stolz, männlich, kraftvoll erschien jetzt dieses Gesicht, es sprach sich ein energischer Wille, eine bewußte feste Selbständigkeit darin aus, aber auch bei ihm hatte die schöne Natur verklärend gewirkt, denn, gleichsam von unsichtbarem Atem angehaucht, thronte ein höherer geistiger Schwung auf seiner festen Stirn, und eine Kühnheit spielte um die festgeschlossenen Lippen, die Miß Edda wenigstens noch nie darauf bemerkt hatte.

Aber immer noch schauten sich beide fest und unverwandt an. Bisweilen war es, als ob der eine oder die andere etwas sagen wollte, aber immer blieben ihre Lippen geschlossen und stumm, als wären sie nicht imstande, an diesem geheimnisvollen Orte, der alle ihre bisherigen Anschauungen so weit überragte und sie gleichsam wie eine fremde Welt umschloß, ein gewöhnliches Wort zu sprechen, das sie an das Leben in einer geräuschvolleren, aber bei weitem nicht so schönen Welt erinnerte.

Da wurde der Zauber, der beide gefangen hielt, plötzlich gebrochen, denn die Stimme des wieder in die Grotte getretenen Herrn van der Hooft rief laut hinter ihnen: »Fräulein Edda! Herr Maler! Wo sind Sie? Wollen Sie sich denn in diesem Eiskeller zu Eis erstarren lassen?«

Im ersten Moment zögerten die beiden Gerufenen noch, von dem einmal eingenommenen Platze zu weichen. Es war ihnen, als ob der Ruf, den sie soeben gehört, ihre Nerven schmerzlich erschüttert hätte und, als ob ihr Geist sich nicht entschließen könnte, wieder in eine Welt zurückzukehren, die weniger von Eis erfüllt war als diese und doch dem armen Menschenherzen noch viel mehr und verletzendere Kälte entgegenträgt. Ein leichtes Beben umspielte endlich Miß Eddas Lippen, und indem sie sie leise öffnete, wie der Kelch einer schönen purpurroten Blume sich öffnet, hauchte sie kaum verständlich die Worte hervor: »Kommen Sie,« und gleich darauf war sie dem ihr mit fast verworrenem Sinn nachschauenden Maler verschwunden, gleich einer hellen Lichtgestalt aus einer höheren Welt, die man nur einmal im Leben und dann nie wiedersieht.

Da raffte auch er sich aus den Zauberbanden empor, die ihn umschlungen hatten; alles warme Blut, was in seinen Adern war, strömte in sein Herz, in seinen Kopf zurück, und er war wieder der anspruchslose Mensch geworden, der er früher gewesen – freilich, ob ganz derselbe, das wollen wir hier noch nicht zu entscheiden wagen, ebensowenig, wie wir zu entscheiden vermögen, ob die Lichtgestalt, die vor ihm die warme Luft gesucht, nicht auch eine bedeutsame Erinnerung an diese traumvollen Minuten mit sich hinausgenommen hatte.

Als Franz Marssen wieder die Brücke nach dem Häuschen hinunterschritt, fand er die Gesellschaft auf Bänken vor demselben sitzend und sich lebhaft über das eben Gesehene unterhaltend. Nur Miß Edda saß stumm neben ihrer Freundin und schaute nachdenklich nach der Sonne hinauf, die nicht mehr weit von den Schneekuppen der Berge entfernt war, hinter denen sie bald versinken sollte. Nach kurzer Rast aber ging man dann wieder den Weg zurück, den man gekommen war, kletterte über die Steine, setzte über die leise murmelnde Lütschina und lenkte die Schritte dem Gasthofe »Zum Gletscher« zu, in dem die vorausgesandten Führer und Jürgen für das Unterkommen der Gäste hinreichend gesorgt hatten.

Auf diesem ganzen Wege sprach weder Miß Edda noch Franz Marssen ein Wort. Stumm schritten sie bald neben, bald hintereinander her, bis sie vor das neue Gasthaus gelangt waren, wo letzterer dem Herrn van der Swinden erklärte, daß er sich ohne Säumen nach dem Dorfe begeben wolle, um den berühmten Gemsjäger Michel, seinen Bekannten, aufzusuchen, den er bitten werde, sie, wie die jungen Damen es wünschten, am nächsten Morgen auf das Eismeer des Grindelwaldgletschers und darüber fort nach dem abgelegenen Zäsenberge zu führen.


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