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Buchschmuck

Sechstes Kapitel.
Der Antritt einer neuen Bergreise.

Obgleich es Franz Marssen möglich, ja sogar nicht einmal schwer gewesen war, auf dem abendlichen Spaziergange mit der guten Karoline eine ziemlich heitere Laune zur Schau zu tragen, so war er im Grunde doch nichts weniger als wirklich heiter gestimmt, denn jene Unterredung hatte in seinem Gemüt wie einen bitteren Bodensatz, den Anreiz zu ernstem Nachdenken hinterlassen, der langsam in ihm fortwirkte und erst ganz zum Durchbruch kam, als er spät abends wieder allein war, als die dunkle Nacht herabsank und er nun in ungestörter Stille sich Rechenschaft über den vergangenen Tag und die Ereignisse ablegte, die derselbe herbeigeführt. Und je länger er nun über die seltsame Warnung der Tante nachdachte, um so mehr mußte er sich gestehen, daß dieselbe für jetzt freilich ziemlich gegenstandslos, aber für die Zukunft doch nicht so ganz ohne Bedeutung sei, wie sie ihm im ersten Augenblick hatte erscheinen wollen. So fühlte er sich durch ihre Auffassung der Sachlage allerdings etwas eingeschüchtert, um so mehr, da sich allmählich ein, freilich nur halb klares Bewußtsein bei ihm einstellte, als sei die erfahrene Frau denn doch in vielen einzelnen Dingen der Wahrheit ziemlich nahe gekommen.

»Nun, ja,« sagte er endlich, nachdem er sich alle ihre Worte noch einmal wiederholt hatte, »wenigstens meint sie es gut mit mir, und es kann niemals schaden, wenn man überall und zu jeder Zeit auf seiner Hut ist. Ich werde mich streng beobachten, ich werde jedes Wort, was aus dem Munde jenes geheimnisvollen Wesens kommt, genau prüfen und meine Antwort ebenso genau erwägen, und ertappe ich mich auf einem gefahrvollen Wege, wie ihn Tante Karoline schon von ferne wittert, dann will ich lieber eine Bekanntschaft abbrechen, die mir für die Folge keine Freude verspricht und ohne die ich ja doch auch am Ende ruhig und zufrieden hätte leben können. Nur diese Reise in die Berge mitzumachen, werde ich nicht umhin können. Ich habe es einmal versprochen, und sie soll der Prüfstein sein, ob ich mich dieser Bekanntschaft noch länger erfreuen darf, oder ob ich sie kurz abbrechen muß.«

So dachte Franz Marssen in der stillen, dunklen geheimnisvollen Nacht, wo alles viel schwärzer und trüber, auch unkenntlicher und gefährlicher aussieht als bei Tage. Am hellen Morgen aber, als er die Augen aufschlug, als er einen reinen, klaren Himmel gewahrte und die Sonnenstrahlen auf Gräsern und Blättern blitzen und glühen sah, da war er wieder der sorglose, ruhige Mann geworden, wie er es immer gewesen, und er mußte über sich selbst und Tante Karoline lächeln, daß diese imstande gewesen war, durch ihre phantastischen, nebelhaften Hirngespinste, wie er es nannte, ihn auch nur einen Augenblick in Bezug auf seine Handlungsweise zweifelhaft zu machen. »Nein, nein,« sagte er sich nun, »fort mit euch, ihr nächtlichen Schatten und Phantasiegebilde. Ich sehe jetzt alles klar, wie es ist. Warum soll ich eine Bekanntschaft aufgeben, wenn irgend ein anderer, sollte dies selbst Tante Karoline sein, dadurch beängstigt wird. Mich, mich beängstigt sie noch nicht, mich erfreut und befriedigt sie, und ich sehe nicht ein, warum ich mein Auge nicht auch gern auf einem schönen Geschöpfe sollte ruhen lassen, wenn Millionen andere es mit Freude betrachten. So, nun bin ich in der rechten Stimmung, einen kühnen Pinsel zu führen, und ich will auch gleich damit meinen Tag beginnen und dem Schöpfer durch meine Kunst ein Danklied singen, daß er mir ein so wundervolles Modell vor Augen geführt hat.«

So finden wir ihn denn schon am frühen Morgen an der Staffelei eifrig beschäftigt, und mit großer Vorliebe malte er diesmal an dem sichtbar vorschreitenden Porträt die schönen frischroten und vollen Lippen, wobei er nur bedauerte, daß es ihm nicht gestattet sei, auch die kleinen, milchweißen Zähne durchschimmern zu lassen, die so oft, wenn Miß Edda einmal gelacht hatte, seine Freude gewesen waren, denn er, der selbst so schöne Zähne hatte, war ein Liebhaber dieser herrlichen Zierde, und er behauptete oft gegen andere Künstler, daß er lieber ein Gesicht mit minder schönen Augen als Zähnen sehen und also auch malen wollte.

Um sieben Uhr nahm er wie gewöhnlich mit Tante Karoline das Frühstück ein. Sie war heiter und ruhig gestimmt, wie am Spätabend vorher, denn ihre Besorgnisse hatte sie ja nun ausgeschüttet, und es war Windstille in ihrem Herzen eingetreten. Auch erschien ihr Franz so überaus fröhlich gelaunt, daß sie selbst immer fröhlicher ward und ein ganz anderes Aussehen gewann, als am Nachmittag des vorigen Tages, wo sie jene düstere Warnung ausgesprochen hatte.

Um acht Uhr aber saß unser Freund schon wieder vor der Staffelei, und da ihm einige schwere Pinselstriche in den feineren Linien um den Mund meisterhaft geglückt waren, so hatte er sich in eine so freudige Stimmung hineingearbeitet, daß er jetzt fast lachen mußte, wenn er an die ernste Unterhaltung am Abend vorher zurückdachte. »Kommen Sie nur wieder, Miß Edda,« sagte er still zu sich, »Sie werden sehr bald finden, daß Sie mir nicht gefährlich sind. Als Maler liebe ich Sie gewiß, und das darf mir keiner verdenken; als Mensch aber fürchte ich mich vor keiner Schönheit, auch vor der ihrigen nicht, und sie soll mir nur Freude und Genuß, aber wahrhaftig kein Herzklopfen verursachen.«

So sprach er, ohne damit das Schicksal herausfordern zu wollen; aber das Schicksal ist wachsam und hat ein scharfes Ohr; es vernimmt oft den leisesten Ruf und, da es auch schnell auf Len Füßen ist, führt es uns oft rasch in den Weg, was wir noch soeben gedacht haben. So sollte es auch heute und hier der Fall sein. Denn kaum hatte der Maler seinen kleinen Monolog gehalten, so vernahm sein Ohr ein seltsames Rauschen von gewissen dünnen und feinen Stoffen über den Rasen hin, und ehe er noch sein Auge erhob, um sich zu überzeugen, was dasselbe veranlaßt habe, deutete schon sein Herz, wider sein Wissen und Wollen, durch raschere Schläge an, daß es erraten habe, wer der Nahende und was die Ursache dieses Rauschens sei.

Als Franz Marssen den Kopf erhob und nach dem Garten blickte, sah er Miß Edda mit einem Körbchen in der Hand unter dem Apfelbaume stehen, in dem ebenfalls Brotbrocken enthalten waren, wie sie die Vögel erst kurz vorher von dem Maler empfangen hatten. Sie streute sie eben auf den Rasen aus, aber kein Vogel kam herbei, um das so reichlich Gebotene mit seinem Schnabel aufzupicken. Sie blickte sich mit ihren großen Augen neugierig fragend nach den Zweigen im Kreise um und dabei gerieten dieselben in den Bereich des Fensters, bis sie plötzlich auf zwei andere Augen trafen, die lächelnd auf sie und ihr Tun herniederschauten, das offenbar eine Nachahmung der schon öfter belauschten Morgenspende war.

»Guten Morgen!« rief sie mit ihrer klangreichen Stimme herauf. »Ist das nicht merkwürdig? Sehen Sie doch! Zu mir kommt kein Vogel herunter, und wenn Sie pfeifen und sie rufen, fliegen sogleich Hunderte herbei – ich habe es neulich wohl mit angesehen.«

»Sie stehen ihnen zu nahe, mein Fräulein, und deshalb fürchten sie sich vor Ihnen. Ich stehe hier außer ihrem Bereich und kann ihnen nichts anhaben; die Tiere sind klug genug, um das zu wissen.«

»Also ist es gefährlich, oder wenigstens Furcht einflößend, wenn man jemand so nahe steht?« fragte sie, sich wieder nach den Vögeln auf den Bäumen umschauend.

»Die Sperlinge mögen es so aufnehmen,« erwiderte Franz ernst, »bei anderen Geschöpfen, die größer und stärker sind, mag es indessen nicht der Fall sein.«

»Das ist ein wahrer Trost für mich, den Sie da sprechen,« versetzte die schöne Schottin neckend, »denn sonst würde ich es wahrhaftig nicht mehr wagen, mich unter diesen Apfelbaum in die Nähe Ihres Fensters zu setzen. Ich bin nur ein Weib und fürchte mich leicht.«

Sie sagte das mit einem Anflug von Ironie und Franz merkte es wohl, aber er war innerlich so verwundert, daß die junge Dame gleich im Anfange ihrer Unterhaltung auf dieses Thema kam, daß er sich im stillen die Frage vorlegte: ob es wohl möglich sei, daß sie seine Unterredung gestern mit der Tante Karoline gehört habe?

Und siehe da, kaum hatte er an letztere gedacht, so erhob Miß Edda ihren Kopf noch einmal zu ihm und sagte mit einem ganz anderen, viel milderen Gesichtsausdruck als vorher:

»Sie wissen wohl schon, daß ich gestern bei Ihrer Tante gewesen bin, nicht wahr?«

»Ja, mein Fräulein, ich habe es gehört und mich darüber aufrichtig gefreut.«

»Warum gefreut?« fragte Miß Edda mit einem Aufblick voll merklicher Spannung.

»Weil Sie meiner guten, zurückgezogen lebenden Tante einen so freundlichen Besuch abgestattet haben.«

»Den war ich ihr schuldig, und wissen Sie, daß ich sie recht oft besuchen werde, wenn ich erst aus den Bergen zurückgekehrt bin? Ja, das ist mein Vorsatz, und ich führe stets aus, was ich mir vornehme.«

»Sie sind sehr gütig und meine Tante wird Ihnen dafür sehr dankbar sein.«

»Ja,« fuhr sie fort, ohne auf seine letzten Worte zu achten, »Ihre Tante hat mir sehr gut gefallen. Sie ist eine weiche, liebevolle, herzliche Frau, die eine überaus zarte und weibliche Seele hat.«

»Haben Sie das so bald entdeckt?«

»Auf der Stelle. Ich sehe scharf. Übrigens war es leicht, das zu erkennen. Ihr Gesicht spricht deutlich genug. Es sieht bisweilen etwas schwermütig aus und macht den Eindruck, als habe Ihre Tante in ihrem Leben vielen Kummer gehabt.«

»O ja!« sagte Franz Marssen, der schon längst wieder an seine Staffelei zurückgetreten und bemüht war, sein Porträt von der Nähe derer, die es darstellte, Vorteil ziehen zu lassen.

»Sie sagen das sehr gleichgültig!« scholl es etwas herbe zu ihm hinauf.

»Gleichgültig? Gott bewahre mich davor! Der große Kummer, den meine Tante im Leben erfahren, ist mir nie gleichgültig gewesen und kann es auch wohl der Natur der Sache nach nicht sein. Ich habe nur noch zwei Verwandte am Leben, meinen Vater und seine Schwester, und in diesen beiden konzentriert sich alle meine Liebe.«

»Das ist auch recht,« lautete es sanfter herüber, »doch nun lassen Sie mich von etwas anderem sprechen. Es wird Zeit, daß ich Ihnen die nötigen Mitteilungen über unsere Reise mache. Die Gesellschaft wird sich morgen früh um sechs Uhr vor unserer Tür einfinden, und wenn wir vollzählig sind, fahren wir ab. Mein Vater bleibt zu Hause und Miß Rosy leistet meiner Mutter Gesellschaft. Ich selbst werde unter dem Schutze einer holländischen Familie reisen, mit der mein Vater schon lange befreundet ist. – Nun, Sie sagen ja nichts – steht Ihnen das alles nicht an?«

Franz hielt im Malen inne, wandte sein Gesicht zum Fenster hinaus und sagte mit einem stillen Seufzer: »Was soll ich denn dazu sagen? Sie wollen mich also wirklich mitnehmen?«

»Wie? Sie fragen noch? Haben Sie mir nicht gestern schon zugesagt? Oder können Sie sich vielleicht von Ihrem Porträt da drinnen nicht trennen?«

Jetzt lächelte Franz und, sich leicht verbeugend, sagte er, »Da das Original selber mit von der Partie ist, wird mir der Abschied von der Kopie leicht werden. Wohin geht die Reise zunächst?«

»O, Sie scheinen ja sehr vergeßlich zu sein. Man muß wirklich mit Ihnen Nachsicht haben. Also: zunächst geht es über die Wengernalp nach der Eisgrotte im Grindelwaldgletscher, und von da am nächsten Tage so tief in die Wildnis hinein, wie wir vordringen können. Ich will Ihnen einmal zeigen, daß auch Frauen nicht allein einen Willen, sondern auch Mut und Kraft haben, ihn auszuführen.«

»Ich habe weder an Ihrem Willen noch an Ihrem Mute gezweifelt, und wie weit Ihre Kraft reicht, werde ich bald durch den Augenschein kennen lernen. Sie werden doch bis Lauterbrunnen fahren?«

»Natürlich. Aber wir sind sechs Personen und haben nur einen Wagen; für Sie wird also kein Platz mehr darin sein.«

»Inkommodieren Sie sich meinetwegen nicht, ich habe ein gutes Pferd und werde also von Hause aus reiten.«

»Nun, dann sind wir ja einig, Gott sei Dank! Es hat mir ordentlich Mühe gemacht, alle die verschiedenen Querköpfe unter einen Hut zu bringen, und Sie haben zuletzt auch noch eine störrische Miene gezeigt. Ich werde Ihnen das nicht vergessen und bei Gelegenheit Vergeltung üben. Jetzt aber erlauben Sie mir die Frage: wie weit sind Sie mit dem Porträt gekommen? Wird es bald fertig sein?«

Franz zuckte die Achseln. »Das hängt nicht allein von mir ab,« sagte er.

»Von wem denn?«

»Von dem, der dazu ebenso nötig ist wie ich – also von Ihnen. Im ganzen ist es gediehen, das kleinere Detail spare ich mir für eine günstigere Zeit auf. Auch muß ich Sie notwendig noch einmal in Ihrem schottischen Reitkleide sehen.«

Miß Edda lächelte verschmitzt. »So. Nun, das muß man sich also merken. Haben Sie Geduld!« –

»Ihre Frau Mutter,« begann der Maler nach einiger Zeit wieder, »befindet sich also leidlich?«

»Sie behauptet es wenigstens und hat mich mit Gewalt zu diesem Ausflug gedrängt. Ich bin ihr zu lebhaft, sagt sie mir alle Tage, und selbst mein Schweigen ist ihr zu laut. Miß Rosy wird mich daher vollkommen vertreten, die ist sogar still, wenn sie spricht.«

»Ihr Herr Vater ist ja auch da!«

»O ja, freilich, aber der wird ihr nicht viel Unruhe machen, er ist wenig zu Haus. Er hat hier einen Kreis von Männern gefunden, mit denen er nach Gefallen politisieren kann. Es ist ein Glück, daß ich die Jeremiaden dieser Herren nicht alle Tage anzuhören brauche, ich habe die Politik schon lange satt.«

»Haben Sie sich denn viel in Ihrem Leben damit beschäftigt?«

Miß Edda wollte eine Antwort darauf geben, aber sie besann sich. »Halt!« rief sie mit einem Mal, »das geht Sie nichts an. Sie dürfen nicht zu tief in meine Karten blicken. Sie haben schon viel zu viel gesehen. Ihre Augen sind gut organisiert, und Ihr Kopf unterstützt sie redlich. Sie sind eigentlich zum Kundschafter geboren.«

»Gibt es auch weibliche Kundschafter?« fragte Franz, von der Seite nach dem blühenden Gesicht der Dame schielend, das sich voll und warm nach ihm hingewandt hatte.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich frage danach, weil ich glaube, daß das weibliche Geschlecht für diese Kunst – Diplomaten machen sogar eine Wissenschaft daraus – großes Talent besitzt und weil ich, wenn ich eine große Meisterin darin auffinden könnte, gern bei ihr Unterricht nehmen würde.«

Das Gesicht der Dame entzog sich ihm in diesem Augenblick, und er konnte beim besten Willen nicht wahrnehmen, ob ein unterdrücktes Lächeln oder eine vorübergehende Verlegenheit ihre Züge belebte. Nach einer Weile aber erhob sie den Kopf wieder und sagte:

»Wenn Sie noch einen maliziösen Zug in meinem Gesicht anbringen wollen, so beeilen Sie sich. Meine Zeit ist abgelaufen, und ich muß an die Toilette denken.«

»Wollen Sie sich noch schöner kleiden, als Sie gewöhnlich gekleidet gehen?«

»Bitte! Das gehört nicht in Ihre Kunst – Diplomaten nennen es vielleicht auch eine Wissenschaft. Malen Sie geschwind, ich gebe Ihnen nur noch fünfzehn Minuten Zeit.«

»Dann sitzen Sie gefälligst still und wenden Sie den Kopf nicht so häufig von meinem Fenster fort.«

Mit einer ironisch zustimmenden Verbeugung wandte sie ihm nun den schönen Kopf zu, und in den nächsten fünfzehn Minuten verhielt sie sich so still, daß der Maler seine Freude daran hatte und unter leichter Plauderei eine reiche Ausbeute für seinen Pinsel gewann. Kaum aber hatte die kleine Uhr, die an Miß Eddas Gürtel hing, ihr gesagt, daß die fünfzehn Minuten vorüber seien, so sprang sie hastig auf und rief:

»So, nun habe ich lange genug Modell gesessen und mich fürchterlich gelangweilt. Jetzt will ich mich meiner Freiheit bedienen und sie damit beginnen, daß ich Ihnen einen guten Morgen wünsche. Rüsten Sie sich also bis morgen. Um sechs Uhr werde ich die Ehre haben, Ihnen unsere Reisegesellschaft vorzustellen.«

»An mir soll es nicht fehlen, doch haben Sie mir noch nicht gesagt, auf wie viel Tage ich mich einzurichten habe.«

»Rechnen Sie drei oder vier, Sie werden sich ja wohl so lange Urlaub erteilen dürfen. Und nun leben Sie wohl!«

Sie nickte vertraulich, zog ihr leichtes Tuch nach den Schultern empor, setzte den Hut, den sie vorher auf den Rasen geworfen, auf das glänzend braune Haar und rauschte von dem Apfelbaum fort. Franz, dem die plötzliche Stille vor seinem Fenster fast drückend vorkam, sah ihr lange nach, dann schüttelte er den Kopf und kehrte zur Staffelei zurück, wo er mit fast liebevollen Blicken seine Arbeit überflog und mit sorgsamer Hand bald dies, bald jenes ausführte, bis es ihm endlich zu still in dem engen Raume wurde und auch er sich anschickte, unter Menschen zu gehen. Am Nachmittag aber blieb er einsam bei seiner Arbeit, keine der Nachbarinnen ließ sich blicken, und schon um fünf Uhr stellte er für die nächsten Tage das Malen ein, räumte das Atelier auf und, nachdem er den zärtlichsten Abschied von seinen Bildern genommen, schloß er das kleine Zimmer zu, das er erst nach mehreren Tagen wieder betreten sollte – in welcher Stimmung, mit welchen Gefühlen, ob zufrieden mit sich und anderen – das lag noch alles hinter dem Schleier der Zukunft verborgen, und kein menschlicher Blick war scharf genug, die Falten desselben zu durchdringen.

Als er an diesem Nachmittage aber nach dem Vorderhause kam, fand er Tante Karoline, die er am Mittag schon von seiner bevorstehenden Reise unterrichtet hatte, beschäftigt, sein Reisegepäck zu ordnen und alles zu dem kleinen Ausflug Notwendige zurechtzulegen. Jürgen hatte bereits Auftrag erhalten, mit dem wohlausgeputzten Fuchs schon um vier Uhr am nächsten Morgen aufzubrechen und die späterkommende Gesellschaft in Lauterbrunnen zu erwarten. Außerdem war er mit einigen wollenen Decken, der Gletscherrüstung des Malers und seiner eigenen versehen, denn Jürgen war ein so eifriger Bergsteiger wie sein Herr und liebte es ebenso, in den Gletschern herumzuklettern wie dieser.

Endlich war Karoline mit ihren Zurüstungen fertig. Ein kleiner Mantelsack, den der Schimmel tragen sollte, war mit Wäsche gefüllt, der Bergrock, die festen, mit Nägeln beschlagenen Schuhe, der Alpstock, der Regenmantel lagen in des Malers Zimmer bereit, so daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um alles sich anzueignen. Als Franz diese sorgsamen Vorbereitungen in Gegenwart der guten Tante mit freundlichem Blick überflog, faßte er ihre Hand, drückte sie warm und sprach ihr in herzlichen Worten seinen Dank aus.

»Laß es gut sein, Franz, laß es nur gut sein,« erwiderte sie, »ich habe das alles heute wie immer sehr gern getan. Vergnüge dich nur recht nach Herzenslust und komm gesund, heiter und glücklich wieder zurück, damit wir wie bisher unsere Freude an dir haben.«

»Freude sollt Ihr haben, das verspreche ich Euch,« erwiderte Franz fröhlich.

»Aber es muß auch die rechte sein, mein Junge.«

»O, es gibt ja keine linke Freude!« scherzte er. – Und so blieben sie zusammen bis zum späten Abend, wo endlich der Abschied genommen wurde, denn Karoline sagte, sie würde sich morgen früh einmal einen guten Tag machen und recht lange schlafen. Im Grunde aber wollte sie ihn am Morgen vor der Abreise nicht mehr sprechen, denn ihr Herz wurde schwer, wenn sie an diese Reise dachte, und so oft sie über das ruhige, leidenschaftslose Gesicht des geliebten Neffen mit prüfendem Auge glitt, sagte sie sich zu ihrem Trost, daß zwar noch keine Spur von Sorge und Kummer darin zu entdecken sei, daß sie aber dennoch ihre Ahnung nicht bemeistern könne, die ihr zuflüsterte, daß auch dieses Gesicht bald seine ruhige Glätte und seinen friedlichen Ausdruck verloren haben würde, denn das Feuerauge jenes Mädchens erfüllte sie immer wieder mit neuer Besorgnis, es schaute sie an Tag und Nacht, und wie es auf sie so aufrührerisch wirkte, glaubte sie, werde und müsse es auch bald auf Franz wirken.

Ob dieses Vorgefühl nun ein richtiges war oder ob bloß ihr weibliches Herz dasselbe aus übertriebener Besorgnis empfand, wird die Folge lehren. Wenn man aber Franz Marssen selber beobachtete, als er diesen Abend vom festesten, gesundesten Schlaf umfangen im Bette lag, schien jene Besorgnis in der Tat übertrieben zu sein, denn nie war er so ruhig und so glücklich eingeschlafen, und das schien denn doch dafür zu sprechen, daß bisher nur sein Auge von dem Feuerblick des fremden Mädchens begeistert, sein Herz aber noch in keiner Fiber davon in Flammen geraten war.

*

Ein prachtvoller Sommermorgen war über dem Bödeli und allen seinen benachbarten Bergen und Tälern aufgegangen. Die Sonne war ohne alles Gewölk über den Horizont getreten und hatte gleich von Anfang an Großes und Kleines mit ihrem goldensten Glanze überstrahlt. Die Luft war von einer so seltenen Klarheit und Durchsichtigkeit, daß drei Meilen weit entfernte Eisfelder und Bergspitzen dicht vor den Häusern des Dorfes zu liegen schienen, und um keinen der tausend Berggipfel, die rings um Interlaken zu sehen, flatterte der kleinste Nebelstreif oder ein verräterisches Wölkchen.

Als Jürgen kurz vor vier Uhr, wie ihm befohlen war, den Maler weckte, betraf dessen erste Frage das Wetter.

»Die Sonne scheint hell wie sonst am Mittag, es ist ganz windstill, aber die Luft ist zu klar und zu heiß,« erwiderte Jürgen. »Ich glaube nicht, daß wir für die ganze Reise gutes Wetter behalten.«

»Oho!« rief Franz. »Das wollen wir nicht hoffen, aber fast scheint es mir auch so. Zieh doch den Vorhang da auf und laß mich einmal nach der Jungfrau hinaufsehen. So. Ah, ja, du hast recht, eine solche Klarheit ist schön, aber sie dauert in der Regel nicht lange. Doch, wir müssen uns fügen. Bist du zum Abgang bereit?«

»Alles fertig, Herr, und dem Fuchs stehen die roten Seidenbänder in den Mähnen nicht übel.«

Der junge Mann lächelte. »Hast du mir im Stall alles zur Hand gelegt, daß ich den Schimmel selbst satteln kann, wenn es Zeit ist?«

»Alles liegt an Ort und Stelle, Sie brauchen bloß zuzugreifen.«

»So ist es gut, und nun halte dich nicht länger auf. Am Steinbock treffen wir uns um halb acht Uhr wieder.«

Jürgen empfahl sich, und wenige Minuten später ging er neben dem stattlichen Fuchs langsam einher, um die Kräfte des Tieres zu schonen, dem heute noch ein tüchtiger Marsch bis Grindelwald über die Berge bevorstand.

Franz dagegen kleidete sich rasch an, und so sehen wir ihn bald wieder in dem grauen Bergrock mit grünen Aufschlägen und Kragen, im Tirolerhut mit dem Gemsbart, und um den Hals, unter dem umgeklappten Hemdenkragen ein leichtes bundseidenes Tuch geschlungen. Nur statt der langen Stiefel, die er auf der Furca des Regens wegen getragen, trug er heute dicksohlige feste Schuhe, mit scharfen Nägeln beschlagen, auf dem Spann zugeschnürt, und lange graue Beinkleider, die weit und bequem genug waren, um das beim Bergsteigen stark arbeitende Knie nicht zu hindern.

Uni fünf Uhr brachte ihm Resi sein Frühstück, und er ließ es sich wohlschmecken. Als er aber damit fertig war, begab er sich in den Stall und begrüßte den Schimmel, der allein stand, was ihm selten begegnete, und seiner Ungeduld und seinem feurigen Mute durch frohes Gewieher Luft machte.

»Aha,« sagte Franz, das schöne Tier liebevoll streichelnd, »du siehst mich fragend an und schnupperst an meinem Bergrock herum. Haha, du kennst ihn schon, nicht wahr? Nun, mache dich nur fertig zu einem starken Marsch, du wirst deine Knochen heute abend schon fühlen, wie wir alle, o ja!«

Und während er dies sprach, begann er ihn zu satteln, was sich der Schimmel willig gefallen ließ, denn er kletterte gern über die Berge und durch die frische Luft der Hochalpen. Als das Pferd auch gezäumt und der Mantelsack und der Regenmantel hinter dem Sattel festgeschnallt war, ließ er ihm Freiheit, sich auf den Hof zu begeben, und es war klug genug, sich ruhig vor der Veranda aufzustellen, wo es gewöhnlich bestiegen wurde.

Franz sah nach der Uhr und fand, daß nur noch einige Minuten an sechs fehlten. So ging er denn zu Resi in die Küche, sagte ihr Lebewohl und bat sie, die Tante und den Vater, wenn er zurückkäme, freundlich von ihm zu grüßen.

»Reisen Sie mit Gott,« sagte die junge Magd, »und nehmen Sie sich vor den Eisgruben in acht!«

Franz nickte ihr zu, und sie folgte ihm vor die Tür, wo sie ihn den Schimmel besteigen und langsam abreiten sah.

Franz Marssen war absichtlich noch nie an dem Nachbarhause vorübergegangen, so lange die ihm bekannt gewordene Familie darin wohnte; heute trat er den Weg dahin zum ersten Male an und, wie er sich gestand, war ihm nicht ganz behaglich dabei zu Mute, denn neben der schönen Gestalt Miß Eddas tauchte in seinem Gedächtnis das finstere, feindselige Gesicht ihres Vaters und das leidende Antlitz ihrer Mutter auf, die beide niemals einen günstigen Eindruck auf ihn gemacht hatten, da der eine ebenso hochmütig, rauh und ungesellig, wie die andere apathisch und herablassend gegen ihn gewesen war. Aber da hatte er das niedliche Pensionshaus schon erreicht, das dem seines Vaters im Äußeren glich, nur keine so große und so reich mit Blumen geschmückte Veranda aufzuweisen hatte und noch stiller und zurückgezogener von allen übrigen Nachbarwohnungen lag. Vor und in dem Hause war noch niemand sichtbar, obgleich es schon vor einiger Zeit sechs Uhr geschlagen hatte. Als Franz eben auf der Straße davor langsam auf und ab ritt und noch einmal nach dem einen Fenster hinüberschaute, erschien eine Gestalt hinter den Scheiben, die er im ersten Augenblick nicht wiedererkannte. Erst als sie das Fenster öffnete und einige Worte zu ihm heraussprach, sah er, wer es war, und seine Verwunderung wuchs, als er das Gesicht und die Miene des alternden Mannes genauer betrachtete. Es war der Vater Miß Eddas, im bunten seidenen Schlafrock und eine rote Samtmütze auf dem graugesprenkelten Haar tragend. Aber der Mann kam dem aufmerksamen Maler diesmal wenigstens um zehn Jahre älter als früher vor; wie sein Haar mehr gebleicht erschien, so drückte seine Miene bei weitem nicht mehr den starren Sinn, den finsteren, abweisenden Hochmut aus, dafür aber trat der schon erwähnte leidende Schmerzenszug um seinen Mund stärker hervor, und das scharfe dunkle Auge blickte unsicherer und viel milder als damals um sich.

Wie war diese Veränderung an dem sonst so rüstigen und wohlbeleibten Mann in so kurzer Zeit möglich gewesen? fragte sich Franz. Welche Erfahrungen oder gar Leiden hatte er in den wenigen Tagen durchgemacht, die so sichtbare Merkmale auf seinem Gesichte zurückzulassen imstande waren? Doch, eine Antwort konnte er sich später ebensowenig wie jetzt geben, wo seine Aufmerksamkeit sogleich auf die Worte des Herrn gerichtet wurde, der den Maler auf der Stelle wiedererkannte und, ohne gerade besondere Freude über dies Wiedersehen an den Tag zu legen, ihn doch mit einer gewissen ungezwungenen Höflichkeit begrüßte.

»Guten Morgen, mein Herr,« sagte er und rückte dabei leise an seiner Samtmütze. »Sie sind der erste, der vor der Tür hält, und müssen sich also noch einige Minuten gedulden; der Wagen wird, denke ich, gleich kommen. Edda höre ich auch schon in ihrem Zimmer, sie wird nicht auf sich warten lassen. Übrigens bin ich zufrieden, daß Sie mitgehen. So ist doch ein verständiger Landeskundiger bei der Hand. Zügeln Sie das Ungestüm meiner Tochter, wo es sich nötig macht, das Mädchen vergißt nur zu oft, daß es kein Mann ist. Sie haben sie ja kennen gelernt.«

»Sie werden also nicht mitfahren?« fragte Franz, um doch einige Worte zu sprechen.

»Ich, ach nein, ich kann meine Frau nicht gut verlassen und habe außerdem viel zu tun. Auch ist mir die Ebene lieber als alle Berge zusammengenommen. Ich habe sie neulich sattgekriegt.«

»Darf ich mir erlauben, mich nach dem Befinden Ihrer Frau Gemahlin zu erkundigen?«

Über das braune und charakteristische Gesicht des Fremden glitt es wie eine düstere Wolke, und er machte eine Geberde mit der Hand, die mehr sagte als seine Worte: »Es geht schwach,« erwiderte er, »wie es schon lange geht, aber ich hoffe, daß es bald besser wird. Die Luft ist hier auch noch nicht milde genug.«

»Nein, mild ist sie allerdings im ganzen nicht, aber so gehen Sie doch weiter nach Süden.«

Jetzt krampfte sich das Gesicht des Mannes, wie von einem tief inneren Schmerz bewegt, zusammen, und um seinen Mund zuckte es wie von einer unsichtbaren leidenschaftlichen Erregung. Dennoch lauteten seine Worte viel milder denn vorher, als er sagte: »O, wie gern ginge ich hier fort, aber ich bin wie Prometheus an den Felsen geschmiedet. Auch will meine Frau nicht mehr reisen, die letzten Erfahrungen, die sie dabei machte, waren zu trauriger Art.«

So viel und anhaltend in einem Atem hatte Franz diesen Mann noch nie sprechen hören, und fast wurde eine Art Teilnahme in seiner Seele für ihn geweckt, als er die kummervollen Züge betrachtete, die sich während des Sprechens wie dämonische Schatten um seine düster blickenden Augen legten. Ihr Gespräch wurde aber unterbrochen, denn soeben kam ein großer eleganter Wagen angerollt, in dessen Innern vier fremde Personen, und auf dessen Bock neben dem Kutscher ein junger Mann saß, den Franz auf der Stelle erkannte, obgleich er einen hellfarbigen Bergrock und einen braunen Strohhut trug, eine Tracht, die dem kleinen stillen und ernsten Herrn ein ganz eigentümliches Gepräge verlieh.

Kaum hielt der Wagen, so sprang dieser kleine Mann von dem Bock herab und eilte mit freudigem Gesicht auf Franz Marssen zu.

»Baron Tekeli!« rief dieser. »Also Sie sind mit von der Partie? Ei, das hatte ich nicht erwartet!«

»Ich auch nicht, ich auch nicht!« rief der schwarzbärtige Ungar, dem alten Bekannten wiederholt die Hand schüttelnd, und wie früher vergeblich nach deutschen Worten suchend, um seine Gefühle auszudrücken. »Ah – ich habe nicht gewußt – daß ich das Vergnügen haben würde – es ist eine vollkommene Überraschung.«

»Auch für mich, Herr Baron, und ich freue mich gleichfalls, Sie wiederzusehen.«

Während die beiden Männer abseits, wo Franz auf seinem Schimmel hielt, ihre Begrüßungen austauschten, wollen wir uns flüchtig die anderen vier Insassen des Wagens betrachten, da sich jetzt die beste Gelegenheit bieten möchte, sie einigermaßen kennen zu lernen. Die Gesellschaft bestand aus zwei Herren und zwei Damen, von denen je eine Person vorgeschrittenen Alters und die beiden anderen jung und blühend waren. Der ältere Herr war derselbe in Nanking gekleidete Fremde, den wir schon früher auf Felsenegg in Begleitung Sr. Exzellenz oberflächlich sahen, ein kleiner, gedrungener Mann mit etwas dickem Bauche und raschen ungelenken Bewegungen, aber mit gutmütigem Gesicht, auf dem eine heitere Lebensanschauung in jeder Falte ausgeprägt lag. Es war dies ein holländischer General-Konsul, namens von der Swinden, der, wie sich später erwies, eine diplomatische Sendung in Bern ausführte und gegenwärtig zum Vergnügen mit seiner Familie einige Wochen in Interlaken weilte.

Dieser joviale Herr ließ in seinem ungekünstelten Äußern ebensowenig den Diplomaten wie den steinreichen Mann erkennen, denn er sah im ganzen sehr einfach, sogar nüchtern und fast spießbürgerlich aus, wozu freilich seine unbeholfene Figur und sein glatt geschorenes braunrotes Gesicht das ihrige beitragen mochten. Er verstand nur wenige deutsche Worte und unterhielt sich gewöhnlich in französischer Sprache; jene Worte aber, die er bei Gelegenheit gewissermaßen als Schlagwörter anbrachte, kamen stets auf eine komische Weise aus seinem zahnlosen Munde und erregten in der Regel ein heiteres Gelächter bei der Gesellschaft, da er sie auffallend breit und mit holländischem Akzent aussprach. »Ich habe Mut! Vorwärts!« war einer seiner Lieblingsausrufe, und damit mischte sich am häufigsten, wenn er sich freute: »Sehr schön!« »Welch' ein Berg!« »Viel Schnee!« »Ist das Eis?« und dergleichen mehr. Im ganzen aber war er überaus gesprächig und ein warmer Bewunderer der schönen Natur, wobei er einen gewaltigen Respekt vor Leuten hegte, die imstande waren, über ein glattes und tief gefurchtes Eisfeld zu gehen, auf dem er, aus Furcht in einen Abgrund zu fallen, keinen Schritt zu tun wagte.

Eine höchst gefällige und angenehme Erscheinung war seine Gemahlin, eine ebenfalls korpulente und schwerfällige Dame, die ihrem Pferde die Wengernalp hinauf keine geringe Last zu tragen gab. Ihr Gesicht aber war noch hübsch und frisch, trotz der etwas niedrigen holländischen Stirn und der kleinen hellgrauen Mausaugen, und wenn sie sprach, geschah es stets mit einer gemütlichen Freundlichkeit in den belebten Zügen, so daß sie jederzeit eines guten Eindrucks auf ihre Zuhörer gewiß sein konnte. Mit der deutschen Sprache, und sie hatte die Leidenschaft, sich stets deutsch ausdrücken zu wollen, sprang sie indessen sehr willkürlich um, denn die wenigen Worte, die sie verstand, sprach sie mit holländischen Endigungen oder französischem Akzent aus, wußte sich aber dabei immer verständlich zu machen, wobei ihre fleischigen, mit kostbaren Ringen bedeckten Hände eifrig durch Geberden halfen, die ebenso viel Komisches zur Schau trugen wie die Worte ihres Gemahls.

Die zweite Dame war die achtzehnjährige Tochter beider, ein zartes, anmutiges, kleines Geschöpf, obgleich ihr frischblühendes Gesicht dieselbe niedrige Stirn wie das der Mutter zeigte. Aus ihren hellblauen Augen strömte ein beständiger Frohsinn und ein sonnenklares jungfräuliches Glück, für das es weder Schranken noch Schatten auf Erden gab. Ihr blonder Lockenkopf war in steter Bewegung, schaute nach jedem fremden Gegenstande, jeder Bergspitze hin, und ihr kleiner kirschroter Mund floß von Fragen über, die sie an jeden richtete, der in ihre Nähe kam. Sie sprach dabei sehr gut deutsch und diente daher ihren Eltern als Dolmetscherin, ein Amt, welches diese sehr häufig in Anspruch nahmen und stets mit einer väterlichen oder mütterlichen Liebkosung erwiderten, die lächelnd und dankbar aufgenommen wurde. Obgleich diese junge Dame sehr zart und fast schwächlich erschien, so bewies sie doch später eine ungemeine Ausdauer und ebensoviel Mut und guten Willen, selbst große Schwierigkeiten zu überwinden, wie Miß Edda, der sie jedoch ebenso weit an Gelenkigkeit und Kraft nachstand, wie sie darin den steifen vorsichtigen Ungar und sogar den jungen Mann überflügelte, der beständig in ihrer Nähe war.

Dieser vierte Insasse des Wagens war ein niederländischer Marineoffizier, auf einer Urlaubsreise begriffen und der verlobte Bräutigam der jungen Holländerin. Er war ein gewandter, angenehmer junger Mann mit bartlosem, blassen Gesicht, aber von langsamen Bewegungen und einer fast dem Ungar gleichkommenden Schweigsamkeit. An der schönen Natur, die ihn umgab, fand auch er ein großes Gefallen, ein bei weitem größeres aber noch an seiner Braut, für die allein er nur Augen zu haben schien, und deren kleine Hand er jeden Augenblick ergriff, so oft sich nur eine Gelegenheit dazu bot.

Der Bräutigam war in einen ähnlichen weiten Nankingrock wie sein Schwiegervater gekleidet, auch trug er feste Bergschuhe und bewachte mit Argusaugen zwei große Alpstöcke, von denen der eine seiner Braut, der andere ihm selber zur Stütze dienen sollte. Die ältere Dame, wohl schwerlich zum Bergsteigen geneigt, war in rotbraune schwere Seide gehüllt und trug einen breitrandigen Strohhut: die junge Dame dagegen ging im leichten grauen Sommerrock einher, den sie später hoch aufschürzte und dabei ohne Scheu die dünnen Beinchen zeigte, die doch so viel Ausdauer und Kraft entwickeln sollten. Um die Brust hatte sie einen leichten Schal geschlungen, dessen Enden hinten in der Taille zu einem festen Knoten geschürzt waren, und auf dem Kopf trug sie ein Barett von grauem Stroh mit blauem Schleier, das mittels eines breiten Bandes um das rundliche Kinn festgebunden war. So war sie nach ihrer Meinung zu einer schwierigen Bergreise wacker ausgestattet, und auf ihr Schuhwerk hatte sie auf Zureden Miß Eddas eine große Sorgfalt verwandt, denn es war fest und, gleich den langen Stiefeln dieser, mit kleinen scharfen Nägeln beschlagen, eine Vorkehrung, deren Nützlichkeit die furchtlose Schottin auf dem Rhonegletscher hinreichend würdigen gelernt hatte.

Bald nachdem der Wagen vor das Haus gefahren war, öffnete der Diener des Schotten die Tür, und Miß Edda, von Miß Rosy bis an den Schlag begleitet, trat heraus. Franz Marssen, in diesem Augenblick gerade mit dem Ungar im Gespräch begriffen, der sich jedoch rasch von ihm losmachte, als die junge Dame sichtbar wurde, bemerkte zu seinem Vergnügen, daß diese wieder wie auf der ersten Reise in ihrer kleidsamen schottischen Tracht erschien, und dieser Anblick, obgleich er mit keinem besonderen Gruße von ihr beglückt wurde, versetzte ihn in eine Stimmung, die der ähnlich war, wie er sie auf der Furca gehabt, da er ihr zum erstenmal bei Tische gegenübersaß.

Die Familie des Holländers begrüßte Miß Edda mit herzlichen Worten, die diese ebenso herzlich erwiderte; während nun aber der Diener einen kleinen Reisesack und eine wollene Decke nebst Plaid im Wagen unterbrachte, näherte sich Franz der Tür und begrüßte Miß Rosy, die ihm freundlich einen guten Morgen bot, glückliche Reise wünschte und durch ihre Miene ihr Bedauern ausdrückte, daß sie die angenehme Fahrt nicht mitmachen könne.

Der ältere Herr im Wagen wechselte noch einige Worte mit dem im Fenster lehnenden Freunde, und als auch zwischen ihnen die besten Reisewünsche und Abschiedsworte ausgetauscht waren und Miß Edda nach einem flüchtigen Blick auf den Maler ihren Platz eingenommen hatte, setzte sich das Gefährt in Bewegung, sobald der Ungar wieder auf den Bock neben den Kutscher gestiegen war. Die drei Damen, die Mutter in der Mitte, saßen im Fond des bequemen Wagens, ihnen gegenüber der General-Konsul und der Bräutigam, und unter heiterem, sogleich beginnenden Gespräch ward die Fahrt angetreten, ohne daß ein Mensch irgend eine Rücksicht auf den in der Nähe ruhig zu Pferde haltenden Reisegefährten genommen hätte.

Dieser zog nun noch einmal seinen Hut gegen den Herrn im seidenen Schlafrock hin, und dann trabte er dem Wagen nach, der, von stattlichen Pferden gezogen, schnell, wie man in der Schweiz immer fährt, auf der glatten Straße dahin rollte.

Franz Marssen, der ein aufmerksamer Beobachter aller Vorgänge gewesen war, begann diese Vergnügungsreise mit eben nicht angenehmen Empfindungen. Man hatte es nicht der Mühe wert gehalten, ihn der Gesellschaft vorzustellen, und das peinliche Gefühl, welches jedermann unwillkürlich ergreift, dem eine solche Zurücksetzung zuteil wird, machte sich in seinem eben nicht allzu reizbaren Herzen und seinem bescheidenen Geiste doch auf der Stelle geltend.

»Das fängt gut an,« sagte er zu sich, »ich gratuliere mir selber zu der Fortsetzung. Das Ende kann angenehm werden!«

Indessen sollte er sich nicht lange zurückgesetzt fühlen. Als man die letzten Häuser von Interlaken hinter sich hatte und die obstreichen Gärten und grünen Wiesen der Landschaft sich öffneten, bog sich ein geschmeidiger Hals plötzlich zum Wagen heraus, und als nun zwei dunkle Augen den einsamen Reiter stolz und sicher hinter dem Wagen hertraben sahen, erhielt er einen grußartigen Wink mit der Hand, wie zum Zeichen, daß er keineswegs vergessen sei.

Kaum hatte sich die winkende Miß Edda wieder auf ihren Platz in den Wagen zurückgesetzt, so rief sie dem Ungar zu: »Herr von Tekeli, Sie haben doch Ihren alten Bekannten von der Furca den Herrschaften hier vorgestellt?«

Der sich sofort umwendende Ungar, der über die Nähe der schönen jungen Dame alles vergessen zu haben schien, zeigte ein verlegenes Gesicht und suchte, wie gewöhnlich, vergeblich nach Worten, um seine Unterlassungssünde einzugestehen.

»O – das geht ja doch nicht!« rief Miß Edda mit fast zürnendem Ausdruck ihrer funkelnden Augen. »Lassen Sie sogleich den Kutscher halten!«

Der Befehl war bald gegeben. Der Wagen hielt und einige Sekunden später brachte Franz seinen Schimmel neben dem Wagen zum Stehen, beinahe ahnend, daß dieser Aufschub allein seiner Person gelte.

»Meine Herren und Damen,« sagte nun Miß Edda zu ihren Begleitern, »da Herr von Tekeli es vergessen hat, Ihnen unsern Reisemarschall vorzustellen, so hole ich das Versäumte hoffentlich noch zeitig genug nach und erlaube mir, Sie gegenseitig miteinander bekannt zu machen.« Und nun erfolgte eine umständliche Vorstellung, wie es Brauch in guter Gesellschaft ist; die Herren zogen die Hüte, die Damen verbeugten sich mit lächelnder Miene und rasch wurden einige Worte ausgetauscht, wie sie bei solcher Gelegenheit gesprochen zu werden pflegen. Als dies aber geschehen, trieb der Kutscher wieder die Pferde an, und die Reise wurde ebenso rasch fortgesetzt, wie sie unterbrochen worden war.


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