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Zwölftes Kapitel.
Die Sonne geht unter und der Mond geht auf

Nach jenem Abschied, der unserm Freunde, so aufregend an und für sich gewesen war, eine wunderbare Ruhe, freilich nicht für lange Zeit, eingeflößt hatte, war es ihm zu Muthe, als ob er vom Glück und der Freude seines Lebens selbst Abschied genommen habe und als ob alles Uebrige, was nun noch kommen könne, nicht werth sei, sich ferner noch Sorge darüber zu machen oder ein gar eifriges Streben danach zu verrathen. Für ihn war Betty schon abgereist, er brauchte sich also nicht mehr um das drüben im Hause Vorgehende zu kümmern, und so sah er auch wirklich nicht mehr nach den Fenstern hinüber, wie er sich nach jenem Zufall gelobt, der ihm den Mann, Ihn vor Augen geführt hatte, der allein schuld war, daß die schreckliche Zwietracht in dem bisher so einträchtigen Hause seiner Freunde ausgebrochen und die jetzige Aufregung in alle Gemüther gedrungen war.

Nur einmal noch gerieth er in die Versuchung, einen Blick nach dem ehemals so oft gesuchten Fenster hinüber zu werfen und das geschah am Abend, welcher dem Hochzeitstage voranging. Daß kein sogenannter Polterabend stattfinden würde, hatte er längst von Fritz und zum Ueberfluß auch von Frau Zeisig gehört, die sich über eine solche Abweichung von der alten Regel nicht genug wundern konnte.

Allein Betty, die sich mit keiner öffentlichen feierlichen Kundgebung irgend welcher Art befreunden konnte, hatte sich die Gunst von ihrem Vater erbeten, daß dieser Polterabend ausfalle, und das war der einzige Wunsch gewesen, den ihr Vater von ihren Lippen vor der Hochzeit vernommen hatte. An dem Abend nun, an welchem dieser Polterabend hätte stattfinden müssen, saß Paul noch bis tief in die Nacht vor seinem Schreibtisch. Die Vorhänge seines Fensters waren geschlossen wie immer und zu den Ohren des fleißigen Arbeiters drang kein Laut mehr von der Straße herauf, so sehr war sein Geist beschäftigt und alle seine Sinne waren nur der Lösung seiner Aufgabe zugewandt.

Da aber zuckte er plötzlich zusammen. Es war, als ob eine innere Stimme ihm ein Halt! zugerufen und geboten hätte, sein Auge zu erheben und noch einmal nach dem gegenüberliegenden Hause zu schauen. Einen Augenblick schwankte er, ob er diesem seltsamen Antriebe gehorchen solle, aber schnell war er, entschlossen, ihm nicht nachzugeben, denn was Paul van der Bosch sich einmal selbst gelobt, das hielt er unverbrüchlich fest, sogar wenn es seinem Herzen eine bittere Entsagung auferlegen sollte.

Ach! Hätte er dieser inneren Stimme diesmal Folge geleistet, er hätte vielleicht doch noch an diesem Abend eine große Freude gehabt. Denn in demselben Augenblick stand drüben am, vom Monde hell beschienenen Fenster, während sein Haus im tiefsten Schatten lag, eine menschliche Gestalt und diese Gestalt schaute mit fast flammenden Augen, so scharf bohrten sie sich in die vor ihnen liegende Dunkelheit, nach seinem Fenster hinüber, auf dessen weißem Vorhang sich, ihm selbst unbewußt, der vornüber gebeugte Kopfschatten des nächtlichen Arbeiters abzeichnete. Ja, er sah sie nicht, aber wir sehen diese Gestalt, diese Augen, wie sie jetzt am Tage vor ihrem Scheiden, zum letzten Mal in der letzten Nacht, wo sie in der Heimat die Augen schloß, thränengefüllt nach dem Nachbarhause schauten und das beleuchtete Fenster durchforschten, an dessen Bewohner sie vor Jahren schon, von dem warmblütigen Cousin aufmerksam gemacht, mit Antheil geschaut, der ihr im Laufe der Jahre immer näher und näher getreten war, jetzt aber so unbarmherzig und unverhofft aus ihrem Gesichtskreise gedrängt würde, so daß keine, gar keine Hoffnung vorhanden war, daß er jemals wieder innerhalb desselben auftauchen werde. Und so nahm sie denn noch einmal im Geiste Abschied von ihm, so goß sie ihre herzlichsten, wärmsten Wünsche gleich einem Segenstrahl ach! jeder gute Mensch kann einen andern Menschen in Gedanken segnen, wie der böse ihm auch fluchen kann über ihn aus, und so begann sie die letzte Nacht im Vaterhause, das ihr einst eine so theure Stätte gewesen, jetzt seit wenigen Wochen aber ein Gefängniß geworden war, aus dem ihre Seele sich schon lange, nach Freiheit und Zwanglosigkeit dürstend, emporgeschwungen hatte wohin? Ach, das wußte sie selbst nicht, denn die Zukunft lag ihr wie ein dunkles Geheimniß in der Ferne und sie hatte kein Organ, nicht einmal ein ahnendes Vorgefühl, mit dem sie in dieses Geheimniß dringen und auch nur einen Schatten ihres Schicksals im Voraus erkennen konnte.

Der Tag der Vermählung Betty's von Hayden mit Isidor, Baron von Wollkendorf war angebrochen. Die Feierlichkeit sollte Mittags um zwei Uhr im Hause der Braut stattfinden und um fünf Uhr schon sollte das neuvermählte Paar seine Reise in die nordische Heimat antreten. Das wußte Paul, von Fritz nicht allein, auch Frau Zeisig hatte es ihm beizubringen gewußt, als sie ihm an diesem Tage das Frühstück auf sein Zimmer brachte.

Paul antwortete ihr nicht, selbst als sie ihre wichtige Neuigkeit zum zweiten Male wiederholte. Die gute Frau schüttelte den Kopf, sah den jetzt immer so seltsamen Baumeister fast mitleidig an und entfernte sich wieder. Dieser aber verzehrte sein Frühstück schnell, kleidete sich an und eilte mit raschen Schritten auf die Straße hinab, ohne einen Blick nach dem Festhause hinüber zu werfen, innerhalb dessen Mauern heute der Grundstein zu einem neuen menschlichen Seelenbunde gelegt werden sollte.

Wie Paul sich nun aber für diesen Tag auch vorbereitet und mit stählerner Geistesrüstung gegen die Eindrücke desselben gewappnet zu haben glaubte er erwies sich doch stärker, gewaltsamer, tyrannischer als unser armer Freund es für möglich gehalten hatte. Der Gedanke, der sich mit diesem Tage verband, ergriff ihn mit einer dämonischen Uebergewalt und jagte ihn einige Stunden lang ruhelos auf und ab durch die Straßen der volkreichen Stadt, ohne daß er sah und hörte, was um ihn her vorging. Dennoch aber vertauschte ihm Stunde auf Stunde mit pfeilschnellem Flügelschlage, und endlich endlich war er bezwungen und es war Alles im Reinen, wie der Banquier Ebeling sich gegen den Freund seines Hauses vor seinem Aufbruch ausgedrückt hatte.

Erschöpft, fast zerschlagen, wie nie in seinem Leben, trat Paul Abends nach sechs Uhr in sein bereits dunkles Zimmer und nur das Bedürfniß, sich zu ruhen, empfindend, warf er sich auf das Sopha, ohne die Lampe anzuzünden, die Frau Zeisig schon vorsorglich auf den Tisch gestellt hatte, damit ihr Herr bei seinem Nachhausekommen nicht lange danach zu suchen habe.

Kaum aber hatte der müde Mann fünf Minuten schwer athmend in dieser Lage zugebracht, da kam mit raschem Schritt Jemand die Treppe heraus und, ohne anzuklopfen wie sonst, trat er in's Zimmer, von Paul schon erkannt, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte.

»Bist Du hier, Paul?« fragte eine freundliche und doch von innerer Aufregung bebende Stimme.

»Ja, ich bin hier!« antwortete der Gefragte vom Sopha her, ohne sich aufzurichten. »Was willst Du?«

Fritz näherte sich dem Liegenden und suchte seine Hand, die er auch bald fand. »Was ich will, kann ich Dir auch im Dunkeln sagen, wenn Du kein Licht machen willst.«

»So sprich die ganze Welt ist dunkel, wenn die Sonne untergegangen ist, und unsere ist untergegangen, nicht wahr?«

»Ja,« seufzte Fritz, »da hast Du Recht. Aber höre, Paul, ich komme als Bote und ich muß sprechen, sonst drückt es mir das Herz ab. O, mein Gott, was war das für ein Tag! Jetzt aber sind sie fort ja, fort!«

»Gott mit ihnen! Laß sie unter seinem Schirme ziehen!«

»Das habe ich auch gedacht. Aber die Abschiedsscene war schrecklich sie war nicht von meinem Halse fortzubringen und weinte so laut, wie ich nie einen Menschen habe weinen hören. Es war zum Erbarmen, und ihre Mutter weinte eben so und ich auch.«

»Nun, da konntet Ihr Euch doch wenigstens trösten mit Euren sichtbaren Thränen manche Menschen weinen auch zum Erbarmen, aber nur ihre Seele ist es, die unsichtbare Thränen vergießt, und das thut vielleicht noch weher. Also sie ist fort?«

»Ja, sie ist fort, der Kelch ist an mir vorüber und ich bin froh, daß ich ihn nur allein zu leeren brauchte,« denn meiner Muter wäre der Athem dabei ausgegangen. Aber da hier nimm, das ist für Dich!«

»Was hast Du da?« fragte Paul, der fühlte, wie Fritz ihm einen leichten Gegenstand auf die Brust legte.

»Nimm es und bewahre es Dir auf, mein Freund. Es sind die Blumen, die Betty heute Mittag an ihrer Brust trug, und sie gab sie mir mit dem Auftrag, sie Dir zu bringen, zur Erinnerung an eine schöne Vergangenheit, die ach! niemals wiederkehren wird.«

Paul hatte sich schon erhoben und den halb welken Blumenstrauß, den er nun fühlte und dessen Duft er begierig einsog, in die Hand genommen, in der Dunkelheit hastig an seine Lippen gedrückt und dann beide Hände wie um einen theuren Schatz darüber geschlossen.

»Also sie hat auch heute noch an mich gedacht?« flüsterte er.

»O gewiß, bis auf den letzten Augenblick. Grüße ihn, grüße ihn herzlich, sagte sie, und er soll Wort halten und mein Freund bleiben, auch wenn er mich niemals mehr mit Augen sieht.«

»Das sagte sie?« jauchzte Paul beinahe frohlockend auf.

»Ja, und es muß ihr wohl Ernst damit gewesen sein, denn sie drückte mich dabei fast todt mit ihren Küssen und Liebkosungen.«

Paul war an das Fenster getreten und blickte nach dem jenseitigen hinüber, auf welches der Mond eben wieder sein blendendes Licht zu werfen begann, aber diesmal war keine Gestalt an demselben zu sehen, die mit thränenden Augen zu ihm herüber schaute.

»Ja, ja,« sagte er dumpf in sich hinein. »Zweimal hat sie mir Blumen gesandt. Das erste Mal, da kannte sie mich noch nicht, und das war der schöne Anfang unsrer Seelengemeinschaft. Aber das zweite Mal, da kannte sie mich, und das war das traurige Ende unsrer Seelenverbindung. Aber nein, nein, nein es giebt kein Ende für solche Seelen sie finden sich immer wieder auf der Erde oder endlich im Himmel!«

Er hatte die letzten Worte laut gesprochen, so daß Fritz sie vernehmen konnte. »Da hast Du Recht,« sagte dieser »es giebt kein Ende für solche Seelen. Ach, aber es ist kalt auf der Erde, wenn die Sonne verschwunden ist, nicht wahr, mein lieber Freund?«

»Ja, sehr kalt und finster dabei, und nun müssen wir uns mit dem Mondschein begnügen.«

»Ah, Du meinst meine Mutter! Ja, die soll unser Trost sein, sie hat ein Herz für Schmerzen, wie wir sie empfinden.«

»Ich weiß es. Wann kommt sie wieder?«

»O, ich habe heute Morgen einen Brief von ihr erhalten. Morgen Nachmittag trifft sie mit dem Vater ein. Du wirst doch gleich hinüberkommen, um sie zu begrüßen?«

»Natürlich, sobald sie mich empfangen will, laß es mich wissen.«

»Ja. Heute arbeitest Du wohl nicht?«

»Nein, Fritz, heute nicht, ich kann bei Gott nicht!«

»Nun denn, darf ich dann bei Dir bleiben? Ich will auch ganz ruhig sein schon Deine Nähe tröstet mich.«

»So bleibe. Auch ich habe Dich gern bei mir.«

Und die beiden treuen Freunde blieben bei einander bis zum späten Abend, und als sie sich endlich trennten, waren sie Beide ruhiger geworden, denn sie hatten den bitteren Kelch bis auf die Neige geleert, dessen Inhalt, wenn er erst getrunken ist, oft heilsamer wirkt, als der süßeste Trank wirken kann, der nicht die Läuterung hervorbringt, die jenem von dem Athem der Vorsehung zum Besten der leidenden Menschheit eingehaucht ist.

Um mit dem Schwager nicht gleich nach der Hochzeit seiner Tochter wieder zusammenzutreffen, hatte der Oberforstmeister von Hayden mit seiner Frau am Morgen des folgenden Tages eine Reise angetreten. So störte die Ruhe der von ihrem kurzen Ausfluge Zurückkehrenden nichts von Außen her und sie konnten sich ihren Geschäften wie ihren Freunden mit ganzem Herzen hingeben.

Am Nachmittag schon war der Banquier mit seiner Frau eingetroffen und Beide hatten gleich in der ersten Stunde den Bericht entgegengenommen, den Fritz ihnen in lebhaftester Darstellungsweise abzustatten geneigt war. Ruhig hatten die Eltern ihn angehört, und wenn Frau Ebeling auch einige stille Thränen dabei vergossen, so war sie doch schließlich froh, daß das Trauerspiel in ihrer Familie nun beendet und sie nicht gezwungen gewesen sei, der Handlung desselben als Zuschauerin beizuwohnen.

»Wie befindet sich Dein Freund?« fragte die Mutter, als Herr Ebeling sie verlassen hatte und in das Comptoir gegangen war.

Fritz zuckte die Achseln. »Heute habe ich ihn noch nicht gesehen; er hat viel nachzuholen, weil die traurige Geschichte ihn stark mitgenommen und er deshalb in den letzten Tagen wenig gearbeitet hat. Gestern Abend aber war ich bis elf Uhr bei ihm und da befand er sich ganz leidlich. Nur hatte er große Sehnsucht, Dich wiederzusehen, das hat er mir wiederholt gesagt.«

Frau Ebeling nickte befriedigt. »Das freut mich,« sagte sie, »ich trage auch Verlangen, mit ihm zu sprechen. Laß mich nur noch eine halbe Stunde allein, dann magst Du ihn zu mir bescheiden, wenn er Zeit hat, mich auf ein Stündchen zu besuchen.«

»O ja, Zeit hat er jetzt, das weiß ich, auch ist er zu Hause.«

»So geh' hinüber und lade ihn zu mir ein.«

Fritz sprang mit den lebhaften altgewohnten Sätzen die Treppe zu Paul hinauf und verkündete ihm mit strahlenden Blicken, daß seine Eltern wieder da seien und daß seine Mutter ihn in einer halben Stunde bei sich zu sehen wünsche.

Paul seufzte erleichtert auf. »Das ist gut,« sagte er. »Ich danke Dir für Deine liebe Botschaft und werde nicht auf mich warten lassen. Willst Du schon wieder fort?«

»Ei gewiß, ich muß in's Geschäft, mein Vater sitzt schon an seinem Pult und hat Mancherlei mit mir zu sprechen.«

»So thu' Deine Pflicht. Leb' wohl!«

Die Dämmerung war schon sichtbar herabgesunken, als Paul den Weg zu seiner mütterlichen Freundin antrat. Ein kalter Herbstwind wirbelte durch die staubigen Straßen und machte den Aufenthalt im Freien unbehaglich. Im gemüthlichen Zimmer Frau Ebeling's aber loderte ein kleines Feuer im Kamin und das gelinde Prasseln desselben störte die behagliche Stille nicht, die darin herrschte. Frau Ebeling saß, mit ihren Gedanken beschäftigt, auf einem Sessel vor dem Kamin, wie sie es bei wichtigen Veranlassungen wohl zu thun liebte, und erwartete den jungen Bauführer, auf dessen Erscheinen sie diesmal, sie wußte selbst nicht warum, äußerst gespannt war.

Paul wurde von einer ähnlichen Gemüthsbewegung heimgesucht, als er den Weg zu ihr antrat. Er wußte ja, wovon heute gesprochen werden würde, und das brachte sein Blut schon lange vorher in stürmische Wallung. Dennoch war er ziemlich gefaßt und ruhig, er hatte seit gestern Abend sein Schicksal überwunden und war nach seiner Meinung als Sieger aus dem schmerzenreichen Kampf hervorgegangen, den er zu bestehen gehabt. Was ihn nun bei Frau Ebeling erwartete, wollte er mannhaft ertragen und darum hatte er seine Brust mit der Rüstung erzwungener Willensstärke umkleidet und Niemand sollte ihm anmerken können, was in ihm vorgegangen war. So dachte er wenigstens und glaubte, seinen Vorsatz ohne Rückfall in seine gestrige Stimmung durchführen zu können.

Ach! als er aber nun in das trauliche Gemach, der so verehrten mütterlichen Freundin trat, in welches die Dämmerung eben ihr melancholisches Licht warf, als er dann die liebe Gestalt, das weiche, seelenvolle Gesicht dieser Frau sah und ihre sanfte Stimme hörte, die heute so klagend und traurig in sein Ohr tönte, da fielen, wie von einem Winde fortgeweht, die schützenden Panzer und Stahlketten von seiner Brust ab, da wurde der willensstarke Mann wieder ein fühlender Mensch und eine nie empfundene und unabweisliche Rührung ergriff ihn mit einer Macht, daß es ihm war, als ob das Herz sich in seiner Brust umdrehe, als ob ihm der Athem stocke, und die ganze Welt vor ihm und in ihm sich mit einem Male in das Gegentheil von vorher gewandelt habe.

Kaum sah Frau Ebeling ihn in das Zimmer treten, so eilte sie ihm entgegen und streckte beide Hände verlangend nach ihm aus. Als seine Hände aber die ihrigen erfaßt, zog sie den nicht Widerstrebenden dicht an sich heran, um einen prüfenden Blick in sein Auge zu thun und gleichsam mit ihrer Seele forschend in die seine zu dringen.

»Mein lieber Freund!« hauchte es leise von ihren Lippen aber weiter konnte sie zuerst kein Wort sprechen, so sehr übermannte sie die Bewegung ihres Herzens, als sie dies traurige Auge sah, das doch so liebevoll ihr entgegenschaute, als könne es Trost und Linderung aus ihrer Erscheinung saugen.

Kaum aber hatte sie jene Worte gesprochen, da war es mit Paul's Fassung und Standhaftigkeit vorbei. Wie durch einen Zauberschlag mitten in den schmerzlichen Gefühlswirbel seiner Seele zurück versetzt, war es, als ob die bisher gedämmten Schleusen seines Innern sich öffneten und er den für bezwungen gehaltenen Schmerz auf die Lippen treten lassen müsse, den seine Brust zu verschließen kaum noch im Stande war.

»Mein lieber Freund,« wiederholte sie endlich mit dem Aufgebot aller ihrer Willenskraft, »o wie lieb ist es mir, daß ich Sie wiedersehe! Nun sind wir wieder bei einander, nun können wir offen und ehrlich sprechen, was uns auf dem Herzen liegt, nicht wahr?«

Er nickte und sah sie nur um so trauriger, zerschmetterter an, denn das Wort, welches er in seinem Herzen trug, brannte ihn schon wie eine Flamme auf der Zunge und nur noch ein sanfter Anreiz fehlte, es ihm zu entreißen.

»Aber Sie sprechen ja nicht,« fuhr sie dringender fort, als er sein Gesicht vor ihren scharf forschenden. Augen senkte, »o, so reden Sie doch seit wann sind Sie denn so stumm?«

Da konnte er nicht länger an sich halten; die so lange verhaltene Qual, die auf seiner Seele lag, preßte seine Brust zusammen, daß er zu ersticken glaubte, wenn er sie nicht von sich würfe. Und so öffneten sich endlich seine Lippen, und seine Hände aus den ihrigen ziehend und sie vor seine Augen schlagend, als schäme er sich, seine Gefühle enthüllt zu sehen, rief er mit halb gebrochener und seinen ganzen inneren Zustand verrathender Stimme: »O mein Gott, was wollen Sie? Was soll ich denn sprechen, was kann ich sprechen! Sie ist ja fort, sie ist fort, und ich – ich habe sie auf ewig verloren!«

Frau Ebeling stand im ersten Augenblick halb erstarrt vor dem also seinen Schmerz offenbarenden Manne. Wie? Sah sie denn jetzt erst klar in sein Inneres hinein? Hatte sie sich denn so sehr in ihm, in seiner bisher zur Schau getragenen Ruhe getäuscht? War sie blind gewesen, hatte sie gar keine Augen gehabt? Ja, ja, sie war blind gewesen und sie nicht allein jetzt aber, jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und sie sah sonnenklar, daß Paul's Empfindung für Betty weiter nichts als eine gränzenlose, sein ganzes Wesen erfüllende und unausrottbare Liebe war.

Als sie dies aber sah und mit ihrem weiblichen Instinct sogleich die ganze Lage der Vergangenheit und Gegenwart überschaute, da trat auch auf der Stelle das wahre und edle Weib aus ihr hervor, und da sie nicht mehr durch die That helfen konnte, da wollte sie wenigstens mit dem Worte trösten und voll Mitgefühl an der Seite des Leidenden stehen. So eilte sie hastig, ohne sich eine Secunde zu bedenken, auf den jungen Mann zu, faßte seine beiden Hände, zog sie von seinem Gesicht fort und drängte ihn leise nach dem Sopha hin, wo sie neben ihm Platz nahm, um ihren Trost sofort beginnen zu können.

Allein sie wurde daran verhindert. Denn Paul, als er sich jetzt erst bewußt wurde, daß er wider Erwarten und Willen dieser Frau sein innerstes Geheimniß verrathen, blieb nicht bei dem bloßen Bekenntniß seines Seelenzustandes stehen jetzt, jetzt war es vielmehr Zeit, den ganzen in ihm tobenden Sturm auszuschütten und sich Ruhe für alle Zukunft damit zu verschaffen, und so, von einem inneren Drange dazu getrieben, sank er zu ihren Füßen, stützte seinen schwindelnden Kopf in ihre Hände auf ihrem Schooß und weinte laut, wie nur ein Sohn vor seiner Mutter über seine verlorene Liebe weinen kann.

Sie ließ ihn eine Zeitlang gewähren, nur drückten ihre Hände sich fester um sein heißes Gesicht; dann aber sich zu ihm niederbeugend, flüsterte sie leise und mit dem sanftesten Tone mütterlichen Gefühls:

»Mein armer, armer Paul!«

Kaum aber hatte sie diese wenigen Worte gesprochen, so übten der Ausdruck, womit sie sein Ohr trafen, und die unendliche Milde, die in ihnen lag, eine unbeschreibliche Wirkung auf den sie Hörenden aus. Er hob plötzlich, wie aus einem tiefen Traume erweckt, den Kopf in die Höhe, sah die edle Frau mit großen schwimmenden Augen fest an und rief, indem er langsam aufstand:

»Was sagten Sie da? Mein armer Paul? O, mein Gott, warum bin ich in Ihrem Sinne arm, warum nennen Sie mich so?«

»Weil ich Sie in tiefster Seele bemitleide!« brachte Frau Ebeling voller Verwunderung hervor, da sie sich diese Wandlung im ersten Augenblick kaum zu erklären vermochte.

»O nein, o nein,« rief er mit seiner allmälig ihm wiederkehrenden Willensenergie, »bemitleiden Sie mich nicht; fühlen Sie nur mit mir, dann bin ich schon glücklich und zufrieden. O, zweifeln Sie an meiner Kraft, an meinem Muth, gegen das Leben und seine Schmerzen zu kämpfen? Nein, nein, um Gottes willen, zweifeln Sie nicht!«

»Nein, nein, ich zweifle ja nicht,« rief sie, den Durchbruch des männlichen Stolzes dieses starken und nur für einen Augenblick gebrochenen Geistes mit Freuden gewahrend, »wie könnte ich an Ihnen und Ihrem Muthe zweifeln, der Sie ja von jeher dem Kampfe des Lebens ausgesetzt gewesen sind und ihm siegreich gegenüber gestanden haben. Nein, gewiß, ich zweifle nicht. O, mein lieber, guter Paul, mein zweiter Sohn, so gefallen Sie mir tausend Mal besser als vorher und ich habe nun, wie ich zu meinem eigenen Troste sehe, mit Ihnen einen schweren Moment überlebt und überwunden. Ja, ja, aber nun ist er vorbei, nun geben Sie mir Ihre Hand so, kommen Sie her und setzen Sie sich zu mir, und nun lassen Sie uns treulich wie sonst über uns selber reden.«

Paul setzte sich willig neben sie, aber dann sah er sie liebevoll und dankbar an und schüttelte seinen dunklen Kopf.

»Nein,« sagte er, »lassen Sie uns das Vorliegende ein für alle Mal abmachen: über mich selber kann ich und will ich niemals, niemals sprechen. Nur so viel will ich sagen: lassen Sie das Vergangene ich meine, was Betty betrifft vergangen sein und kommen wir nie mehr darauf zurück. Ich habe Ihnen wie ein Sohn den ganzen, tiefen, ewigen Schmerz meines Wesens enthüllt, und Sie haben mich, wie nur ein edles mütterliches Herz es vermag, getröstet. So liegt das alte Leben hinter uns und wir beginnen von diesem Augenblick an ein neues. Und glauben Sie mir so groß und weit es vor mir liegt, ich werde in seinen geweihten Kreis als ein Geprüfter, Berechtigter treten, ich werde mich Ihrer und aller Guten Liebe und Freundschaft würdig beweisen und Sie sollen mich nie wieder schwach, trostlos und unmännlich sehen, wie es vorher geschah.«

»O nein, o nein, mein lieber Freund, schwach und unmännlich sind Sie nicht gewesen. Die Liebe zu einem edlen und reinen Wesen betrachte ich mehr als eine Stärke, denn als eine Schwäche der menschlichen Natur, und daß Sie auch im Uebrigen stark, sehr stark sind und das fernere Leben siegreich bekämpfen werden, wie feindlich es Ihnen auch gegenübertreten mag, das habe ich in meinem Innern noch nie bezweifelt und werde ich nie bezweifeln, denn ich glaube an Sie, an Ihren Willen, Ihre Kraft und Ihre Tugend!«

Zum ersten Mal lächelte Paul sie jetzt freudig an. Sie hatte den rechten Fleck getroffen, wo der Trost bei diesem Manne haftete, und er fühlte sich wirklich durch diese Frau getröstet. Ruhig sprachen sie nun mit einander, was sie auf dem Herzen hatten, und als sie sich endlich trennten, schieden Beide mit dem Gedanken, daß diese Stunde eine wichtige für sie gewesen sei und daß von ihr an wirklich ein neues Leben tage, das nun mit frischen Kräften begonnen und hoffentlich zu einem guten Ende geführt werden solle.

Niemanden aber, selbst ihrem Manne nicht, sagte Frau Ebeling ein Wort von dem Gespräch, welches sie so eben mit Paul geführt hatte. Dieser hatte sie zwar nicht um ihr Schweigen gebeten, aber sie fühlte selbst, daß es gerathen wäre, keinem Andern die Neigung zu verrathen, die Paul zu Betty gehegt und die ihr in ihrem ganzen Umfange erst so spät klar geworden war. Fortan aber herrschte zwischen Frau Ebeling und Paul van der Bosch das herzlichste Einverständniß und Vertrauen, in großen wie in kleinen Dingen, und so lange noch Beide neben einander lebten, war es stets, als ob Paul nur ihr älterer und Fritz ihr jüngerer Sohn sei, denn es wurde ihr wirklich schwer zu entscheiden, welcher von Beiden ihrem Herzen näher stehe, einen solchen Standpunct hatte der arme Student sich bei ihr errungen und so würdig hatte er sich erwiesen, ein geliebtes Mitglied ihrer kleinen Familie zu sein.

So war also wirklich der sanfte Mond mit seinem milden Schein über Paul's Geschick aufgegangen, nachdem die Sonne seines Lebens von seinem Horizonte geschwunden war. Mit dieser hatte er das Theuerste und Liebste seines Lebens verloren, die Blüthe und Kraft seines Herzens aber war mit ihr nicht gestorben. Muthig wie immer raffte er sich zu neuen Anstrengungen empor, und wie ein großer Verlust im menschlichen Leben oft einen unerwarteten Gewinn zur Folge hat, indem wir mit frischer Thätigkeit den Mangel des Einen durch die Fülle des Andern zu ersetzen suchen, so war auch Paul aus diesem Schmerz seines Lebens siegreich hervorgegangen und ein Mann geworden, wie er es ohne denselben nicht so früh geworden wäre. Denn eine reine und wahre Jugendliebe haftet an dem edlen Menschen und macht ihn zugänglich für alles Gute; und wenn sie, falls sie ihm verloren ging, sein Herz auch einige Zeit mit Bitterkeit erfüllt, so wird doch sein Geist dadurch nicht gebrochen, vielmehr gestählt, und für alle Zukunft wenn sie die rechte Liebe war hat er sich einen Maaßstab erworben, nach dem er zu handeln, ein Ziel, wonach er zu trachten, wofür er zu ringen hat, und ringen und streben nach einem Ziele, mag es auch fern und dunkel vor ihm liegen, muß einmal der Mensch, wenn er nicht versumpfen und verbleichen will, wie so viele Tausende versumpfen und verbleichen, blos weil sie keine reine Vergangenheit gehabt und darum also auch keine edle Zukunft haben können.


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