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Zweites Kapitel.
Der arme Student

Gehen wir jetzt dem warmblütigen Fritz voran und nehmen wir das bescheidene Dachstübchen in Augenschein, bevor der unerwartete Besuch daselbst eintritt und durch sein kindliches Mitgefühl den Schatten lichtet, der bisher auf dem einsamen Zimmer und dessen uns noch unbekannten Bewohner lastete.

Das Haus, worin derselbe das oberste Mansardenstübchen für einen in der theuren Residenz ziemlich billigen Miethzins bewohnte, gehörte, wie wir bereits wissen, einem Bäcker, dessen Geschäft und Wohnung in dem untersten Stockwerk seines Besitzes lag. Die Belétage bestand aus zwei kleinen Wohnungen von je drei Fenstern Breite, von denen die eine Hälfte eine Putzmacherin und die andere ein Arzt inne hatte. Das zweite Stockwerk war an kleine Leute vermiethet, von denen eine rührige Waschfrau das ihr zugehörige Dachstübchen wieder dem armen Studenten abgelassen hatte, dem sie zugleich die Wäsche besorgte und die Dienste einer Aufwärterin versah, obwohl dieselben nicht häufig und nur für sehr geringe Leistungen in Anspruch genommen wurden.

Das Mansardenstübchen selbst war ein enger und, da er gegen Norden lag, unfreundlicher Raum, dessen Decke sich nach den kleinen Fenstern zu so tief abdachte, daß ein hochgewachsener Mensch dicht davor kaum aufrecht zustehen vermochte. Möblirt war es mit einem abgesessenen Sopha, dessen Ueberzug von Drell einst braune und grüne Streifen gezeigt haben mochte, einem runden Tisch davor, dessen Politur längst verschwunden war, und einem alten Kleiderschrank, in dessen vermodertem Holze Tag und Nacht geschäftige Würmer ihre nimmer ruhende Arbeit vernehmen ließen. Neben dem letzteren aber stand ein reinlich mit roth und weißgewürfeltem Kattun überzogenes Bett und eine Art Waschtisch, dessen Utensilien von Porzellan fast zu jeder Zeit sauber erschienen, wie auch das Handtuch, das an dem Thürpfosten daneben hing, an strahlender Weiße seines Gleichen suchte.

Die Hauptbesitzthümer des zeitigen Insassen aber hatten in der Nähe der beiden Fenster ihren Platz gefunden. In einer Vertiefung der Wand dem einen zunächst stand ein alter, ziemlich geräumiger Schreibtisch, dessen Aufsatz eine Fülle einfach gebundener aber brauchbarer und viel gelesener Bücher zeigte, und vor dem anderen Fenster, dicht davor gerückt, so daß das Licht des Tages hell darauf fiel, stand ein breiter Zeichentisch, dessen schräg abfallende Platte mit reichlichem Zeichenmaterial und einem mit schönem, starkem Papier überzogenen Reißbrett bedeckt war, auf welches eine geschickte Hand sehr sauber geführte architektonische Risse geworfen und mit Wasserfarben ausgemalt hatte.

Als wir dieses einfache und schmucklose Dachstübchen zum ersten Mal betreten, finden wir es von einer bescheidenen Lampe erleuchtet, die auf dem mit Büchern, Schreibmaterialien und gedruckten Correcturbogen bedeckten Arbeitstische brannte. Vor diesem Tische stand ein kleiner Rohrstuhl und hier, sehr eifrig in den Correcturbogen lesend und dann und wann einen Druckfehler anstreichend, saß der stille Bewohner des Zimmers selbst.

Da der Bogen, den er eben las, mit sehr kleinen Buchstaben bedruckt war, so hatte er seinen Kopf tief darüber gebeugt und die Lampe dicht davor gerückt.

Während einer Pause aber, die er machte, lehnte er sich, den Kopf gegen die Zimmerdecke erhoben, in seinen Stuhl zurück und blickte eine Weile sinnend in die leere Luft, ohne dabei zu bemerken, daß der Docht seiner Lampe kohlte und ein übelriechender, graubrauner Dampf in langsamen Spiralen zur Decke emporwirbelte.

Bei dieser Gelegenheit erfassen wir sein Gesicht zum ersten Male ganz und vollständig und blicken nun nicht ohne Rührung in ein Antlitz, dem frühzeitiges und andauerndes Entbehren eben so wie eine anstrengende geistige Arbeit ihren unverkennbaren Stempel aufgedrückt hatte.

Es war ein blasses, etwas langes Gesicht, dessen edle Form und characteristische Bildung auf jedem Zuge, ja fast aus jeder Linie erkennbar hervorleuchtete. Unter einer breiten und mäßig hohen Stirn, die von welligem, etwas langem und dunkelbraunem Haar beschattet ward, traten zwei lichtvolle, klare und große braune Augen hervor, die, wenn sie nicht voller Spannung auf einer schwierigen Arbeit ruhten, einen unendlich freundlichen und fast wehmüthigen Blick in sich schlossen. Die Wangen, hager und bleich zwar, aber nicht saft- und kraftlos, verschwanden zur Hälfte unter einem glänzenden Bart, der auch die Oberlippe und das feste Kinn umfaßte und doch in den häufig zusammengepreßten Lippen eine männliche Energie und eine große Willenskraft erkennen ließ.

Im Ganzen, wenn wir recht genau in unserer Schilderung sein wollen, lag etwas Fremdartiges in diesen feingeschnittenen und ausdrucksvollen Zügen, etwas, was uns bei aufmerksamer Betrachtung Rubens- oder Rembrandt'scher männlicher Portraits schon oft vor Augen getreten sein mag; sollen wir aber den am meisten hervortretenden Ausdruck derselben mit wenigen Worten bezeichnen, so müssen wir sagen, daß ein intellectueller Willensgeist sie belebte, der durch Blick und Miene verrieth, daß der vor uns sitzende, erst zweiundzwanzig Jahre zählende und doch fast älter aussehende Mann keinen Feind auf der Weit fürchtete, daß er dem Mangel in jederlei Gestalt, selbst der Noth zu trotzen verstand und daß er auch die schwerste Lebenslast zu tragen wissen würde, weil er, seiner inneren Widerstandskraft sich bewußt, auf jenes Bollwerk menschlicher Strebsamkeit sich stützte, welches noch niemals den ihm Vertrauenden im Stich gelassen hat – wir meinen den männlichen Geist, der im Stande ist, Berge zu versetzen und den Lauf der Ströme zu ändern, wenn er die Ueberzeugung gewonnen hat, daß der Lauf der Ströme verändert und die Berge versetzt werden müssen, um ihn zu seinem Ziele zuführen.

Der junge Mann, dem wir schon im Voraus und ohne ihn noch näher zu kennen, diesen männlichen Geist und die nachhaltige elastische Kraft und Ausdauer, ihn nach seiner Natur wirken zu lassen zuerkennen müssen, war in dem Augenblick, wo wir ihn zum ersten Mal besuchen, in seiner gewöhnlichen, leidlich modernen, wiewohl etwas abgetragenen Tageskleidung, nur hatte er den Rock, den er auf der Straße und in den Collegien trug, vorsichtig in den wurmstichigen Kleiderschrank gehängt und einen schon lange gebrauchten, aber noch dauerhaften Schlafrock übergeworfen, der ihm bequem saß und ihn gegen die bitteren Einflüsse des Winters schützte, denn sein Zimmer, obgleich am Morgen geheizt, war ziemlich kalt, und der Absicht wie den schwachen Mitteln des Studenten lag es jedenfalls fern, den alten, schwarzen Ofen noch einmal mit frischem Brennmaterial füllen zu lassen.

So, die langherabhängenden Schöße dieses Rockes fest um die untere Hälfte seines Körpers geschlungen und den Brusttheil bis an den Hals zugeknöpft, saß er vor seiner alltäglichen Arbeit, und als er nun noch immer in tiefem Sinnen gegen die von Rauch geschwärzte Zimmerdecke emporstarrte, ahnte er nicht im Geringsten, daß im nächsten Augenblick eine Störung in sein stilles Studium wie in sein ganzes Leben eingreifen würde, die bestimmt und geeignet war, seiner düsteren Gegenwart eine freundlichere Gestaltung und seinen ferneren Tagen eine wärmere Färbung zu geben.

So, ja, so unbekannt mit Dem, was ihm droht, schreitet der arglose Wanderer oft einem Abgrunde zu, der ihn erbarmungslos in der nächsten Minute verschlingen soll; so, ja, aber auch so wandelt der vom Schicksal Begünstigte ahnungslos seine mühsame Bahn dahin, ohne zu wissen, daß schon im nächsten Augenblick das Füllhorn göttlicher Gnade sich über ihn ausschütten will. Und wer aufmerksamen Geistes die verschiedenen Wendepuncte im menschlichen Leben in's Auge faßt, wird finden, daß diese sich selten mit großen und auffallenden Ereignissen ankündigen, viel häufiger dagegen in kleinen, unscheinbaren, gleichsam zufälligen Begegnungen bestehen, deren riesengroße Bedeutung erst klar wird, wenn Jahre verflossen sind und die, ohne Ruhe, ohne Rast rollende Schicksalswoge die Berge wirklich versetzt und den Lauf der Ströme verändert hat, wie auch jener wunderbare Geist es vermag, dem wir vorher den Namen des ›männlichen‹ beigelegt haben. –

Der in lautloser Stille Sitzende, den selbst die hinter ihm nagenden Holzwürmer nicht mehr bei der Arbeit störten, wurde plötzlich in seinem Nachdenken unterbrochen und zwar durch ein in seinem abgelegenen Zimmer selten gehörtes Geräusch. Eine bescheidene Hand klopfte erst leise und kaum vernehmbar, dann etwas stärker an die Thür, wenigstens schien es dem in Gedanken versunkenen Studenten so. Als er aber schärfer lauschte, ließ das Klopfen sich noch einmal hören, nicht mehr ganz so zaghaft wie früher, doch immer noch mit zurückgehaltener Kraft, als wage die klopfende Hand keinen stärkeren Eingriff in die ungestörte Einsamkeit des jungen Mannes.

Jetzt ließ dieser einen verständlichen Hereinruf erschallen und unmittelbar darauf öffnete sich die Thür und in dem Spalt ward die in einen Mantel gehüllte Gestalt des Secundaners sichtbar, der jedoch vor der Hand noch seinen Korb auf dem Flure hatte stehen lassen. Anfangs erkannte der Student bei dem matten Scheine seiner Lampe den jungen Menschen nicht, als dieser aber näher trat und in den Bereich der kleinen Flamme trat, die jener unterdeß von dem sie beschattenden Deckel befreit hatte, sah und erkannte er seinen unerwarteten Besuch. Doch auch jetzt noch glaubte er seinen Augen kaum trauen zu dürfen, denn er stand rasch auf und schritt dem zögernd Nähertretenden mit keiner zwar verwunderten, aber doch gelassenen und freundlichen Miene entgegen.

Als nun aber Fritz die hohe Gestalt des Studenten, welche die seinige noch um einen halben Fuß überragte, dicht vor sich sah, schwand ihm fast ganz die noch kurz zuvor gehegte Zuversicht, und seine jugendliche Befangenheit machte sich nicht nur in dem aufgeregten Gesicht, sondern auch in der schwankenden Stimme bemerkbar, als er sagte:

»Guten Abend! Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie so unberufen störe, aber – aber – Sie kennen mich wohl nicht einmal, wie? – Und doch,« fuhr er fort, als der Student seltsamer Weise noch immer schwieg, »jetzt sehe ich, daß Sie mich erkennen. Ja, ich bin Fritz Ebeling aus dem Hause drüben und ich habe zwar noch nicht das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zu reden, aber meine Aufmerksamkeit – ja, meine Aufmerksamkeit haben Sie schon lange auf sich gezogen.«

Ueber das bleiche Gesicht des Studenten leuchtete ein freundliches Lächeln, das seinem Besucher wie ein helles Licht auf dunklem Pfade erschien. »Treten Sie dreist näher,« sagte er mit seiner frischen männlichen Stimme, in der jeder Ton von Kraft und Wohlwollen zeugte, »ja, treten Sie dreist näher, jetzt erkenne ich Sie sehr gut, wir sind ja Nachbarn und haben uns oft am Fenster gesehen.«

»O, auch auf der Straße,« fiel Fritz rasch ein, »und Sie haben meinen Gruß stets freundlich erwidert, wofür ich Ihnen wirklich – wirklich Dank schuldig bin.«

»Dank?« fragte der Student mit verwunderungsvollem Lächeln. »Das wüßte ich doch nicht. Ich habe Ihnen nur eine Artigkeit erwidert, die Sie mir ganz unerwartet zuerst erwiesen haben. Aber nun legen Sie Ihren Mantel ab und setzen Sie sich ein wenig zu mir nieder. Hier – auf das Sopha, schlage ich vor – so – und damit wir uns besser sehen können, stelle ich die Lampe vor uns hin.«

Das Herz des Secundaners schlug hoch auf vor Freude, als er sich dieses ermunternden Empfanges bewußt wurde, und nachdem er Mantel und Mütze über einen Stuhl geworfen und mit einem raschen Blick das Zimmer und dessen Inhalt überflogen hatte, setzte er sich an das harte Sopha, worauf auch sogleich in der andern Ecke ihm gegenüber der Besitzer desselben seinen Platz einnahm.

Als die beiden jungen Leute so saßen, schauten sie sich eine Weile mit sonderbaren, langen und einigermaßen verwunderten Blicken an, wenigstens wußte der Aeltere von ihnen nicht wie er sich diesen unvorhergesehenen Besuch des Jüngern zu deuten habe, und Fritz war von dem ersten Erfolg seines Unternehmens so sehr erfreut, daß er ganz und gar die Fortsetzung des kaum eingeleiteten Gesprächs vergaß.

Da sammelte der gefaßtere Student sich zuerst, und mit abermaligem Lächeln, das dem Secundaner seine ausdrucksvollen Züge immer schöner erscheinen ließ, sagte er: »Ja, Sie sind so freundlich gewesen und haben mir zuweilen einen Gruß zukommen lassen. Das geschieht mir nur von wenigen Menschen, denn ich bin hier nirgends bekannt. Darf ich Sie fragen, aus welchem Grunde Sie mir, dem Ihnen ganz Fremden, diese Aufmerksamkeit erwiesen haben?«

Fritz seufzte erleichtert auf. Er hatte sich schon unterwegs Manches ausgedacht, was er dem Studenten sagen wollte, und obgleich er kein Wort mehr davon im Gedächtniß behalten hatte, so kam ihm dieser doch jetzt mit einer bestimmten Frage entgegen, und darauf glaubte er schon eine passende Antwort finden zu können.

»Ich habe verschiedene Gründe gehabt,« sagte er, »warum ich Sie grüßte und – offen gestanden – Ihre Aufmerksamkeit auf mich leiten und demnächst Ihre persönliche Bekanntschaft machen wollte. Einmal sind wir Nachbarn, Sie sagten es ja schon, und dann hat mich Ihr steter Fleiß, Ihre Tag und Nacht fortgesetzte Arbeit zu Ihnen hingezogen. O ja, ich fühle auch den geheimen Trieb, recht fleißig zu sein und etwas Ordentliches zu lernen, und dieser Trieb ist vielleicht der Hauptgrund, der mich zu diesem Besuch – und was sich daran knüpft – veranlaßt hat.«

»Was sich daran knüpft?« fragte der Student unwillkürlich, als ob er zu sich selbst spräche, und senkte dabei den Kopf, indem er vielleicht irgend einen anderen Grund suchte, der ihm diesen seltsamen Besuch verschafft. »Wie meinen Sie das?«

»Das sollen Sie bald erfahren, wenn Sie mir versprechen, mein kleines Anliegen nicht übel zu deuten. Es entspringt – o gewiß – aus gutem Herzen, und meine Mutter, der ich es mitgetheilt, wie ich ihr Alles mittheile, was mein Herz bedrückt, hat mich dazu ermuthigt.«

Es entstand eine Pause, die der Student mit Nachdenken, der Secundaner aber mit ängstlicher Ueberlegung ausfüllte, wie er wohl am besten auf die eigentliche Hauptsache seines Besuches kommen sollte.

»Sie leben so still und zurückgezogen,« fing er mit einem Male wieder an, als habe er die Brücke zu seinem Ziele gefunden.

»Still und zurückgezogen – ja, das ist wahr. Aber das muß so sein, das bringen meine Verhältnisse mit sich.«

Fritz ließ einen langen Blick in dem Zimmer umherschweifen, in welchem er saß, und die augenscheinliche Dürftigkeit, der er dabei überall begegnete, fiel ihm schwerer denn je auf's Herz und gab ihm den Muth, mit seinem ›Anliegen‹ schneller herauszurücken.

»Ihre Verhältnisse sind mir zwar gänzlich unbekannt,« sagte er, »und Niemand, den ich danach fragte, konnte mir irgend eine genügende Auskunft geben. Indessen habe ich sie mir im Stillen so gedacht, wie sie vielleicht sind, und Alles, was ich hier sehe, läßt mich glauben, daß ich mich – in Ihren Verhältnissen nicht ganz geirrt habe.«

Der Student schwieg, diesmal vor innerer Bewegung, aber unwillkürlich rückte er dem neben ihm Sitzenden um einige Zolle näher, denn nicht allein das erregte Gesicht des jungen Mannes, auch der Ausdruck weichen, milden Gefühls, welches in seinen blauen Augen schimmerte, zog ihn mit einer fast magnetischen Kraft zu ihm hin.

»Reden Sie weiter,« sagte er sanft, »Ich höre Sie gern sprechen, Sie sprechen nicht mehr wie ein – ein –«

»Ich bin Primus in Secunda!« fiel Fritz rasch ein.

»O – so – nun dann kann ich sagen – nicht wie ein Secundaner, sondern –«

»Wie denn, wenn ich fragen darf?«

Der Student lächelte wieder. »Wie Jemand, den – ich gern sprechen höre,« sagte er.

»O bitte, sagen Sie mir, wie spreche ich?«

»Nun denn, wenn Sie es hören wollen – wie ein Mensch, der Gefühl, Bildung und – Menschenliebe besitzt.«

Fritz war von diesen warm vorgebrachten Worten ganz bezwungen. Sein gewöhnlich blasses Gesicht färbte sich dunkelroth und nun rückte er seinerseits dem Studenten näher und, ohne daß er selbst wußte, wie es geschah, hatte er die Hand des jungen Mannes an seiner Seite gefaßt.

»Verzeihen Sie, sagte er, »daß ich junger Mensch Ihre Hand ergreife, aber es drängt mich ein unklares Gefühl schon lange dazu und – ich wiederhole es absichtlich – ich habe nach Ihrer Bekanntschaft förmlich gedürstet. Wenn Sie mich näher kennen würden, dürften Sie meine aufdringlich erscheinende Handlungsweise gewiß nicht falsch beurtheilen.«

»Nein,« sagte der Student mit fester und warm aus seinem Herzen kommender Stimme, »Ihre Handlungsweise erscheint mir nicht aufdringlich und ich beurtheile sie nicht falsch. Nun können Sie dreist weiter sprechen und sagen Sie mir Alles, was Sie auf der Seele haben.«

»Alles?« jauchzte Fritz fast auf – »Alles?« und dabei sah er den jungen, wirklich wohlthätig berührten Mann mit leuchtenden Blicken an und drückte herzlich seine Hand, wobei er bald einen leisen Gegendruck derselben fühlte, die noch immer in der seinen ruhte.

»Ja, Alles – und jetzt will ich Sie nicht mehr unterbrechen.«

»Gut denn. Nun sehen Sie – wir haben heute Fastnacht. Das ist ein Fest für viele Menschen. Auch in meinem elterlichen Hause findet ein Ball statt und ich habe Gelegenheit, mich recht zu vergnügen. An einem solchen Tage ist es – auch darin stimmt mir meine Mutter bei – Gebrauch, daß man seinen Freunden oder Denen, die man zu Freunden haben möchte, ein kleines Geschenk bringt, damit sie sich ebenfalls freuen – und da Sie eine solche Person sind und es mich bedrückte, daß Sie an einem solchen Festabend so allein waren und wie alle Tage und Abende arbeiteten, so wollte ich mir erlauben, – Ihnen – auch ein Geschenk zu bringen, worüber Sie Freude haben könnten und dadurch die Ueberzeugung erhielten, daß es Menschen giebt, die an Sie denken, die Theilnahme für Sie haben und die – ja, die – Sie lieben.«

Beinahe wäre der Secundaner bei diesen Worten in Thränen ausgebrochen. Aber nun waren sie glücklich über seine Lippen und er wünschte sich selbst Glück dazu. Auf den Studenten aber übten seine Worte eine große Wirkung aus. Auch sein Herz schwoll von warmer Empfindung hoch auf und obgleich keine Thräne in sein Auge kam, so weinte doch vielleicht seine Seele einen ganzen Strom davon.

»Sie bringen mir also ein Geschenk,« sagte er mit weicher und gedehnter Stimme, »weil – weil Sie mir Freude gönnen und – mich lieben. So habe ich Sie wenigstens verstanden. Aber das ist zu seltsam, als daß es mich nicht höchlichst überraschen sollte. Darf ich Sie nun fragen, ob Ihre Freundschaft es ist, die Sie mir heute – gerade heute – als Geschenk darbieten?« »Nein, die nicht allein!« rief Fritz frohlockend aus und sprang lebhaft von seinem Sitze auf. »Es ist noch etwas Anderes. Darf ich es hereinholen? Es steht noch auf dem Flure draußen.«

Jetzt stand auch der Student auf, und ehe er noch ein Wort erwidern konnte, war Fritz hinausgeeilt, hatte den großen Korb hereingeholt und mühsam auf den Tisch dicht neben die Lampe gestellt. –

Als der Student mit verwundertem Auge den umfangreichen und schweren Korb sah, ward er wieder still, nur hafteten seine großen braunen Augen länger und tiefer auf dem Gesicht des jungen Nachbars und seine sprechenden Züge nahmen einen wunderbaren Ausdruck von gewaltiger und nie empfundener Rührung dabei an.

»Da steht es, was ich Ihnen bringe!« rief Fritz mit wahrer Herzensbefriedigung, daß ihm nun seine Last endlich vom Herzen gehoben war. »Aber machen Sie den Korb nicht auf, so lange ich hier bin, ich verliere dadurch nur eine kostbare Minute. Jetzt wissen Sie, warum ich heute kam, und vielleicht würdigen Sie mein Thun so weit, daß Sie mir erlauben, Sie zu besuchen, der ich auch oft allein bin und keinen Freund habe, wie ich ihn so gern haben möchte.«

Der Student neigte wieder den Kopf und sann träumerisch über irgend Etwas nach.

»Woran denken Sie in diesem Augenblick?« fragte Fritz, voller Begier, die geheimsten Gedanken seines so keck errungenen Freundes zu erforschen.

»Es ist seltsam, höchst seltsam,« flüsterte der Student leise vor sich hin, als habe er die letzten Worte des jungen Mannes gar nicht vernommen, »daß diese Ueberraschung, diese Freude, dieses Geschenk mir gerade heute kommt.«

»O warum, warum?« bat Fritz mit flehenden Augen. »Bitte, dies Eine sagen Sie mir nur noch.«

Der Student schaute mit wehmüthig umflortem und doch dabei leuchtendem Blick empor. »Weil,«sagte er mit gepreßter Stimme, »weil heute gerade mein Geburtstag ist und Sie der einzige Mensch auf der Welt sind, der freundlich und liebevoll an mich denkt.«

»Ihr Geburtstag?« rief Fritz stammelnd. »O,« das ist ja köstlich. Doch nein, nicht köstlich, ich bedaure sogar, daß ich das nicht gewußt habe, ich hätte vielleicht –«

»Still, mein junger Freund, fügen Sie nichts mehr hinzu, Sie haben mir heute genug gegeben, mir eine ganz neue Freude bereitet, eine neue Lehre erschlossen, ja – Sie hätten mir keinen größeren Dienst erweisen können, als mich zu erinnern, daß es noch gute, noch herzenswarme, noch liebende Menschen auf der Welt – für die Verwaisten giebt.«

Fritz stand in großer Rührung vor dem also mit Erhebung Sprechenden und sah ihn mit thauigen Augen und hochschlagendem Herzen an. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen, seine Erwartungen waren zu weit übertroffen und der Lohn seiner jugendlichen Handlungsweise stand wie mit großen goldenen Buchstaben vor ihm in den Lüften geschrieben.

»Da haben Sie meine Hand!« sagte der Student plötzlich und reichte sie ihm mit einem kräftigen Drucke hin. Fritz ergriff sie und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben über seine Jahre hinausgerückt, als ihm ein älterer, von ihm bewunderter und im Stillen schon lange geliebter Mensch seine kleine Hand warm und innig drückte.

»Ich danke Ihnen,« stammelte er, »und nun darf ich Sie also wirklich einmal auf längere Zeit besuchen?«

»Herzlich gern werde ich Sie bei mir sehen, ja – kommen Sie, wenn Sie sich nicht anderweitig angenehmer beschäftigen können, wozu Ihnen doch gewiß reichliche Gelegenheit geboten ist.«

Fritz schüttelte auf eine sanfte Weise verneinend den Kopf. »Ach nein,« sagte er fast traurig, »so reichliche Gelegenheit habe ich nicht dazu, wie Sie vielleicht denken. Ich bin leider der einzige Sohn wohlhabender Eltern und man behütet mich übermäßig, verweichlicht mich fast, läßt mich nicht gern aus den Augen und sieht viel lieber, daß meine Freunde mich in meinem Hause besuchen, als daß ich zu ihnen gehe. Das behagt mir natürlich nicht ganz, ich möchte gern weniger bewacht, auf ernstere Weise beschäftigt sein und ginge am liebsten mit solchen Leuten um, von denen ich etwas Ordentliches lernen kann.«

»So. Das ist recht von Ihnen, Sie scheinen wirklich Trieb zum Lernen zu haben. Nun, wenn Sie glauben, von mir etwas lernen zu können, so kommen Sie so oft zu mir, als Sie Lust und Muße haben.«

Fritz sprang vor Freuden fast in die Höhe. »Aber Sie müssen auch zu mir kommen!« rief er dann.

»Das wollen wir sehen,« erwiderte der Student bedächtig. »Ich bin viel, sehr viel beschäftigt und muß jede Stunde wahrnehmen, um bald zu meinem Ziele zu gelangen.«

»Ach ja, das muß wohl so sein, ich sehe alle Tage, wie Sie arbeiten. Was haben Sie aber eigentlich so viel zu thun und welches Ziel wollen Sie denn so schnell erreichen?«

Der Student seufzte. »Ach, ich muß sehr fleißig sein,« sagte er, »denn ich habe viel in meiner Jugend Versäumtes nachzuholen. Ich bin erst spät zum Studium der Wissenschaften gelangt, und die Beschäftigung mit ihnen muß auf ernste und nachdrückliche Weise geschehen, wenn man es zu einem erquicklichen Ende bringen will.«

»O, erzählen Sie mir das ein andermal,« bat Fritz, »ich bin recht begierig, zu erfahren, wie Sie leben, was Sie treiben und warum Sie so unablässig arbeiten. Heute habe ich leider keine Zeit dazu, das heißt, ich wohl, aber meine Eltern möchten mich vermissen.«

»Ja, Sie haben Recht, es findet ja heute ein Ball bei Ihnen statt und Sie haben mir vielleicht schon zu viel von Ihrer Zeit gewidmet.«

Fritz, der noch einmal rings im Zimmer umhersah und sich jeden einzelnen Gegenstand einzuprägen schien, sagte plötzlich: »O nein, am liebsten bliebe ich heute den ganzen Abend hier. Aber – noch Eins wollte ich sagen – Sie wohnen hier doch sehr beschränkt. Was lesen Sie denn da – das sind ja lauter einzelne Bogen –«

Er war dabei, als könne er sich von dem neugewonnenen Freunde gar nicht losreißen, an das Schreibpult desselben getreten und hatte einen der darauf liegenden Bogen in die Hand genommen.

Der Student erröthete. »Das ist nur eine Nebenarbeit, die ich in meinen Mußestunden treibe,« sagte er. – »Jene aber, die dort am Fenster liegt, die nimmt den größten Theil meiner Zeit in Anspruch, denn sie ist die Hauptsache.«

»Was studiren Sie denn eigentlich – Theologie oder die Rechtswissenschaft? Das können Sie mir heute noch sagen.«

»Keins von beiden, sondern die Baukunst. Ich bin Eleve der Bauakademie und studire außerdem, was in mein Fach schlägt, zum Beispiel: Archaeologie, Geschichte, Maschinenkunde; vor allen Dingen aber habe ich mich der sogenannten ästhetischen Baukunst gewidmet, die ich für eine der schönsten und in das Menschenleben am tiefsten eingreifenden Künste halte.«

»O, das ist ein ganz neues Feld für mich, davon verstehe ich bis jetzt sehr wenig. Ich darf leider keine so schöne Wissenschaft studiren oder eine Kunst treiben, so gern ich auch möchte.«

»Warum nicht?«

»Ach,« versetzte Fritz achselzuckend und mit einem Ausdruck des Bedauerns in seinem intelligenten Gesicht – »ich bin ja der einzige Sohn und soll einst das Geschäft meines Vaters übernehmen, daher muß ich früh in dasselbe eintreten. Natürlich erst, wenn ich die Prima vollständig absolvirt habe, was etwa nach einem Jahre geschehen sein wird. Dann kann ich auch noch ein Jahr lang beliebige Vorlesungen an der Universität hören – das hat mir mein Vater versprochen – um mir einen Einblick in das wissenschaftliche Leben zu verschaffen – das ist aber auch Alles.«

»Nun, das ist so übel nicht. Als Kaufmann werden Sie wohl viele Reisen machen können oder gar außerhalb in einer großen Handelsstadt Ihre Kenntnisse vervollkommnen; das ist auch angenehm und bietet des Interessanten und Lehrreichen gar Vieles.«

»Reisen und außerhalb meine Kenntnisse vervollkommnen? O nein, da irren Sie sich. Meine Mutter will mich nicht aus dem Hause lassen, sie ist zu besorgt um mich, und mein Vater stimmt ihr darin leider nur zu leicht bei, da er der Meinung ist, daß ich unter seinen Augen und in seinem großen Geschäft das Nothwendige lernen kann. Ich werde also keine Gelegenheit haben, in meinem Leben große Erfahrungen zu sammeln.«

»Dann irren wahrscheinlich auch Sie. Man kann überall Erfahrungen sammeln, seine Pflicht erfüllen und doch dabei etwas Tüchtiges lernen, wenn man den guten Willen und offene Sinne dazu hat. Es lernt Jedermann in der Welt auf seine Weise, und ohne höheren Zweck sind wir nie auf unsere Stelle gesetzt, so beschränkt dieselbe unsrer Kurzsichtigkeit auch erscheinen mag. Das glaube ich Ihnen schon jetzt sagen zu müssen. Außerdem aber öffnen sich Ihnen, wie mir scheint, in Ihrem elterlichen Hause reiche Hülfsquellen zum Lernen, und in dieser Beziehung ist Ihre Stellung, so beschränkt sie Ihnen auch für den Augenblick erscheinen mag, noch immer viel, viel angenehmer als die meinige.«

Fritz hatte mit offenem Munde und großer Aufmerksamkeit den letzten Worten des Studenten sein Ohr geliehen. Als dieser schwieg, nickte er ihm gleichsam Beifall zu und lächelte wie zum Danke. »Sie mögen wohl Recht haben,« sagte er, »aber darüber sprechen wir künftig gewiß noch mehr. Jetzt jedoch muß ich Sie wohl verlassen, man möchte mich sonst drüben vermissen. Also ich darf wiederkommen – wie?«

»Zu jeder Zeit und am liebsten werde ich Sie Abends nach acht Uhr bei mir sehen. So gehen Sie, denn und ich danke Ihnen noch einmal. Was aber Ihren Korb betrifft –«

»O, den behalten Sie, bis er leer ist, und dann schicken Sie ihn gefälligst durch Frau Zeisig hinüber, die ist bei uns bekannt, denn sie wäscht bei meiner Mutter.«

Dabei reichte er seine Hand vertraulich noch einmal dem Studenten hin und dieser drückte sie ihm freundlichst. Dann leuchtete er mit der Lampe dem jungen Mann die Treppe hinunter, der hastig über die Straße sprang und bald in seinem elterlichen Hause verschwunden war.

 

Als der Student nach einiger Zeit in sein Zimmer zurückkehrte und die Lampe bedächtig auf den Tisch stellte, lag ein Ausdruck stiller Verwunderung und unverkennbarer Rührung auf seinem bleichen und von zu angestrengter Arbeit abgemagerten Gesicht. Nicht die so unvermuthet erhaltene und ihm noch unbekannte Gabe bewegte ihn so lebhaft, wohl aber die Freundlichkeit und die zutrauliche Natürlichkeit, mit der sie ihm geboten war. Und jetzt war ihm das früher auffällige, wohlwollende Grüßen des Secundaners auf der Straße, dessen Ursache er bisher nicht ergründet hatte, erklärt. Er hatte den jungen Menschen schon oft am Fenster drüben, sowohl im untersten wie im obersten Stockwerk gesehen und auch von seiner Aufwärterin erfahren, daß er der Sohn des reichen Banquiers Ebeling sei. Das heiter unbefangene und doch dabei sinnige Wesen desselben hatte ihm immer wohlgethan, ohne daß er besonders auf ihn geachtet hätte, erst als er ihm zum ersten Mal auf der Straße einen seltsam ehrerbietigen Gruß zukommen ließ und diesen, so oft es ging, wiederholte, war er aufmerksamer geworden und nun hatte dieser halberwachsene Knabe mit seinem offenen Gesicht, der, wo er ging und stand, stets eine ungewöhnliche Gesittung an den Tag gelegt, einen angenehmen Eindruck auf ihn gemacht. Als er nun aber so unerwartet selbst in sein Zimmer kam, ihn in seiner Einsamkeit aufsuchte und seinen unläugbaren Antheil durch sein verständiges Gespräch und ein, zufällig durch den Tag, an welchem es eintraf, bedeutsames Geschenk verrieth, da dachte er nicht mehr an die Seltsamkeit eines solchen Beginnens, da trat ihm diese mit so viel Zartgefühl sich kund gebende Handlungsweise in ihrer ganzen natürlichen Ursprünglichkeit vor die Augen und da wurde auch in seinem warmen Herzen ein wohlthuender Widerhall der Gefühle des Secundaners laut.

Nachdem er, diesem Gefühle Raum gebend, eine Weile mitten im Zimmer gestanden und das kleine Ereigniß dieses Abends überdacht hatte, zog ihn endlich eine leicht erklärliche Neugier zu dem Tische hin, auf dem der Korb noch immer unangerührt neben der Lampe stand. Mit lächelndem Antlitz und ruhiger Hand lüftete er den Deckel, aber in ein frohes Erstaunen gerieth er, als er zuerst den obenan liegenden prachtvollen Blumenstrauß erblickte, dessen lieblicher Duft ihm sogleich entgegendrang und bald darauf das ganze Zimmer erfüllte.

Ohne weiter einen Blick in den Korb zu werfen, hob er vorsichtig den Strauß hervor, besah ihn von allen Seiten, roch wiederholt daran und gestand sich endlich ein, daß er niemals in seinem Leben eine so schöne Vereinigung reizender Blumen gesehen habe. Nachdem er sich aber eine Weile an dem Anblick und Duft derselben gelobt, stellte er sie in ein Glas voll frischen Wassers und wies ihnen ihren Platz auf dem Tisch vor seinem Bett an, damit er sie am an dem Morgen beim Erwachen sogleich vor sich sähe und womöglich die wohlthuenden Gefühle noch einmal empfände, die ihn in diesem Augenblick beseelten.

Die zweite überraschende Gabe, die sich ihm jetzt im Korbe darbot, bestand aus zwei Flaschen edlen Weins und darunter nun zeigten sich ihm auf reizenden Tellern die wohlschmeckenden Spenden, die Fritz vom Büffet seiner Mutter für ihn ausgewählt hatte.

Als nun der ganze Inhalt des Korbes neben einander auf dem Tische ausgebreitet stand, den er vollkommen füllte, überkam den Beschenkten denn doch ein seltsames Gefühl der Ueberraschung, und mit einer Art naiven Erstaunens betrachtete er einen Teller nach dem andern, als wären ihm die Speisen darauf selbst fremd und als überlege er, was er davon zuerst genießen sollte.

Nie in seinem Leben hatte er eigentlich den Hunger in seiner traurigsten Gestalt, den aus Noth, kennen gelernt. Von Jugend auf an eine sehr magere Kost gewöhnt, hatte er selbst nicht einmal die Entbehrung einer nahrhafteren und wohlschmeckenderen Speise empfunden, er war mit den ihm zu Theil gewordenen Gerichten immer zufrieden gewesen, wenn sie ihn nur gesättigt hatten. Jetzt aber, jetzt zum ersten Mal regte sich in ihm ein seltsames, noch nie gehabtes Gefühl, das des erwachenden Appetites nach etwas Leckerem, und dieses Gefühl war ihm so neu, daß er erst darüber nachdenken und mit sich auf's Reine kommen mußte, bevor er es zu befriedigen unternahm.

Als er sich aber auch dieses erwachenden Appetites als der Wirkung eines bisher bei ihm untergeordneten Sinnes bewußt geworden, fiel er wieder in seine vorige Stimmung der Rührung zurück. Noch einmal kam ihm sein Geburtstag in's Gedächtniß, und daß nun endlich doch Jemand denselben zu einer Art Feier gestaltet und ihn als einen besonderen gekennzeichnet habe, bewegte und erfreute ihn in einer ganz eigenthümlich wehmüthigen Weise.

In diesem Augenblick, als erst der eine Sinn in ihm geweckt war, war es, als ob auch die anderen aus ihrem Schlummer erwachen sollten, denn sein Ohr, das früher niemals das Wagengerassel auf der Straße vernommen, wenn er in seine Arbeit versunken war, wurde plötzlich aufmerksam und er hörte, wie ein Wagen nach dem andern rasch vor das Haus drüben rollte und laute Stimmen dies oder jenes Wort einander zuriefen.

Unwillkürlich trat er an das Fenster und schaute auf das Treiben hinunter, welches da unten an der Ecke der Straße herrschte und bei dem hellen Schein der Gaslaternen wenigstens theilweise zu erkennen war. Da sah er denn die zahlreichen Gäste in ihren glänzenden Equipagen vor dem Hause des Mannes anlangen, dessen einziger Sohn noch so eben in seinem öden Zimmer gewesen war, auch die betreßten Diener gewahrte er, die den Ankommenden aus den Wagen halfen und die in Pelze gehüllten Herren und die im feinsten Ballstaat erscheinenden Damen bei dem anhaltenden Schneegestöber unter ausgebreiteten Schirmen in das Haus geleiteten. O wie wunderbar wurde ihm mit einem Male dabei zu Muthe! Niemals in seinem Leben hatte der Reichthum und Glanz der Welt demüthigend oder gar niederbeugend auf ihn gewirkt. Niemals hatte er jenes prickelnde, dämonische Gefühl kennen gelernt, welches man Neid zu nennen pflegt. Es konnten ja nicht alle Menschen auf Erden reich sein. Er selbst hatte eigentlich nie gefühlt, daß er arm und bedürftig sei, da seine kleinen Mittel noch immer für seine geringen Bedürfnisse ausgereicht hatten – aber jetzt, jetzt, wo der Gegensatz in den Erscheinungen der Welt und die Möglichkeit höheren Genusses ihm so nahe vor Augen gerückt wurden, war es, als ob plötzlich ein dichter Vorhang vor seinen Augen weggerissen würde und als ob er – nicht in das überquellende Leben jener Reichen, wohl aber in die Dürftigkeit und bisherige Entbehrung seines eigenen Lebens hineinschauen könne.

Wenn das Bild, welches ihm hier so unerwartet vor die Seele gerückt wurde, geeignet war, ein gewisses Wehmuthsgefühl in sein Herz zu träufeln, so war unser junger Freund doch auch wieder Mann genug, dasselbe mit siegesgewisser Kraft zu bekämpfen und niederzudrücken. »Ja,« sagte in ihm eine laut redende Stimme, »ich weiß es wohl und ich begreife es auch, daß ich gegen diese Leute da drüben arm und bedürftig bin, aber – was schadet mir denn das, wenn es auch für sie ganz angenehm ist? Ist es denn wirklich etwas Trauriges oder zur Traurigkeit Führendes, arm und unbemittelt zu sein? Nein, für mich gewiß nicht, denn ich fühle ja die Kraft in mir, den Unbilden und Angriffen der Welt zu widerstehen und mich emporzuarbeiten aus meiner Niedrigkeit und Dürftigkeit, ich habe Kopf und Verstand, auch an dem besten Willen gebricht es mir nicht, jedem Feinde zu trotzen, jeder Widerwärtigkeit des Lebens mit Geduld und Hoffnung auf bessere Zeiten zu begegnen, und darum, ja darum sehne ich mich nicht im Geringsten danach, reich zu sein, wie jener Knabe, obgleich ich ihn wohl um das eine – ja, das eine, Glück beneide, anderen Menschen auf der Welt Freude bereiten zu können.«

Wie lange er, in solche Gedanken versunken, am Fenster stand und nach dem hell erleuchteten Nachbarhause hinunterschaute, wußte er selbst nicht. Nur bemerkte er endlich, daß die Straße wieder still geworden war, daß kein Wagen mehr vor der Thür des Banquierhauses hielt und daß Alles, was er heute noch da drüben mit seinem frisch erwachten Sinne wahrnehmen könne, geschehen und beendet sei. In diesem Augenblick überfluthete ihn noch einmal der süße Duft jener lieblichen Veilchen, und sich rasch zu ihnen wendend und sie noch einmal betrachtend, trat er dann zu dem Tisch zurück, auf dem die freundliche Spende des Secundaners noch immer unangetastet stand.

Da war denn endlich jener bisher noch bezwungene Appetit zu seiner höchsten Höhe gediehen, ja, der junge Mann wollte speisen, einmal speisen, wie reiche Leute immer speisen, und er begann mit einer eigenen Sorgfalt die Teller zu ordnen und diejenigen Gerichte auszuwählen, die vor der Hand nur noch seinem Auge oder seiner Einbildung die wohlschmeckendsten erschienen.

Beneidenswerthe Jugend, die im Wachsthum und in zunehmender Fülle begriffen, im Vollgefühle ihrer blühenden Gesundheit einen Appetit ohne Ende entwickelt und, ohne leckerhafte Unterscheidung, nur mit gränzenlosem Behagen die Gaben genießt, die ihr der Zufall oder ein gütiges Geschick in die Hände gespielt hat! O ja, diese Jugend ist beneidenswerth, denn sie genießt ohne Wahl und Qual Alles, was zu genießen ist, und fühlt sich davon gelabt und erquickt, wo der ältere und träge Genußmensch nur eine überlästige Fülle bemerkt und ihr unterliegt!

Auch unser Student aß diesmal mit einem seltenen Appetit, und in der That, Alles was er bald von dieser, bald von jener Speise verzehrte, schmeckte ihm vortrefflich, ohne daß dadurch der Wunsch in ihm rege geworden wäre, alle Tage so zu essen. Aber dazu trugen vielleicht weniger die lecker zubereiteten Speisen als der damit verbundene Genuß des edlen Rheinweins bei, den er, wieder ohne peinliche Wahl, diesmal zufällig zuerst ergriffen hatte. Mit einem wunderbaren Behagen sog er den köstlichen Duft des goldfarbigen Rüdesheimers ein, der ihm hier geboten war, und als er erst ein Glas des Feuersaftes geleert, ward ihm das Blut leichter und flüssiger denn je und es war ihm zu Muthe, als ob alle bisher in ihm schlafenden Geister erwacht wären, sich geschäftig in seinem Hirne tummelten und ihm Gedanken einflößten, wie sie sich ihm noch niemals bemerklich gemacht hatten.

Ohne zu ahnen, daß der Geist des Weines seinen eigenen Geist entfesselte und den ungekannten Gedankenreichthum in ihm erzeugte, trank er, der nie Wein und am wenigsten solchen getrunken, die ganze Flasche leer, und erst als er bemerkte, daß die unerschöpflich scheinende Quelle wirklich erschöpft war, erschrak er, da eine dunkle Ahnung in ihm aufdämmerte, er habe am Ende ganz gegen seinen Willen und Wunsch des Guten zu viel genossen. Doch nein, das hatte er ja nicht, denn war er nicht im Besitz aller seiner früheren Gedanken, ja, waren diese Gedanken nicht alle viel schärfer, klarer und harmonischer als früher? Konnte er nicht mit wunderbarer Elasticität und Frische alle seine Verhältnisse erwägen, sich seine Zukunft gestalten, konnte er nicht sogar über manche dunkle Erinnerung aus seiner längst vergangenen und düsteren Kindheit lächeln und sich sagen: »Wohl Dir, das ist ja nun Alles überstanden und überwunden und Du bist auf dem besten Wege, ein brauchbarer Mann und im Nothfall der Lenker Deines ferneren Schicksals zu werden?«

Ja, so war es und noch viel schöner und herrlicher sogar. Denn wie aus dem Nebel früherer Tage tauchten ihm ganz wundersame Gestalten und Visionen auf. Vor seiner Phantasie stellten sich herrliche Tempel, strahlende Paläste und wolkenragende Dome dar, die er erdenken und erbauen konnte; alles zu Vollbringende schien ihm nur eine leichte Mühe zu verursachen, er arbeitete mit Federleichtigkeit, wie mit Flügelschnelle und Riesenkraft begabt, und wie hingezaubert stiegen seine duftigen Luftschlösser vor ihm auf, an deren schwere Construction und künstlerische Vollendung er sich früher nur mit Zagen und Bangen gewagt hatte.

Und wie schnell bewegte er sich dabei in der Zeit und im Raume fort! Schritt er noch mit trägen menschlichen Füßen auf der Erde oder schwang er sich mit Adlerfittigen durch die rauschenden Lüfte empor? Gab es denn noch düstere Wolken, undurchdringliche Nebel, unübersteigliche Gebirge für ihn? Waren nicht alle Wege eben, vom klarsten Licht einer wärmenden Sonne beschienen, so daß er nicht irren, nicht straucheln, sein nahes Ziel nicht verfehlen konnte?

Ja, zu irgend einem Ziele war er in seinen beschwingten Gedanken heute gekommen – zu welchem, das wußte er freilich nicht. Er glaubte nur, daß es ein Ziel, ein wünschenwerthes Ziel sei. Als er aber eben dabei war, sich dies schöne Ziel näher zu entziffern und es in eine greifbare, nennbare Gestalt zu verkörpern, da – da fuhr er aus seinen Träumen auf, denn plötzlich war er durch einen Laut in der Außenwelt, also einen irdischen Laut, aus seinen Himmeln gerissen und in die Gegenwart seiner nüchternen Weltanschauung zurück versetzt, und seine Luftschlösser zerrannen, seine Sonne verhüllte sich, seine Wege wurden wieder enge, steil und beschwerlich, und alle vor ihm liegenden Mühseligkeiten traten wieder klar wie alle Tage aus den wirklichen Nebeln und Dünsten seines bisherigen Lebens hervor.

Und was für ein Ton war es, der ihn aus dieser kaum besessenen, göttlichen Wunderwelt erweckte? Es war die Tanzmusik, die er aus dem Nachbarhause bis zu ihm herüberschallend vernahm, die ihm sagte, daß jene Leute noch immer reich, er noch immer arm, daß jene in Lust und Fröhlichkeit gesellig durcheinander wogten, und daß er allein, ganz allein in seinem öden Zimmer säße und heute – ach! auch zum ersten Mal in seinem Leben, seine Arbeit vergessen und einen Abend, o einen ganzen schönen Abend verloren habe.

Seine Arbeit vergessen und sein Abend verloren! O welcher Verlust für ihn, den immer ämsigen, immer unersättlichen Arbeiter! Und rasch erhob er sich von dem mit Speisen noch reichlich beladenen Tisch, ergriff seine kleine Lampe und trat an sein Schreibpult, das ihn ganz seltsam, wie mit nüchternen Augen anschaute, als wundere es sich, daß er noch einmal an diesem Abend zu ihm zurückkehre.

Und siehe da – schon saß er auf dem alten harten Stuhl davor und hatte die dunklen Augen auf die kleine Druckschrift gerichtet, die er in der Regel jeden Abend las und von ihren Fehlern zu reinigen suchte. Aber welche traurige Entdeckung sollte er da machen! Ach, wiederum zum ersten Mal schmeckte ihm diese Arbeit nicht, er konnte sie sogar nicht verrichten, und nach vergeblicher Bemühung, mit dem alten Eifer, der alten Lust zu ihr zurückzukehren, stand er von dem Stuhle auf, ging mit gesenktem Haupte mehrere Male im Zimmer langsam hin und her und dachte – er wußte selbst nicht mehr, woran er dachte. Da aber, als er nahe daran war, irgend einem traurigen Gedanken zu verfallen, drang noch einmal der süße Duft jener Veilchen belebend zu ihm hin, und flugs hatte er den schönen Strauß ergriffen und schlürfte mit langen, begehrlichen Zügen die Wohlgerüche ein, die demselben so freigebig entströmten.

Was für eine bewegende Kraft und Gewalt mußte dieser Duft aber besitzen! Denn er erinnerte ihn mit einem Male an den Frühling, an das werdende Jahr, das ja nun schon draußen vor der Thür stand, und da fiel ihm durch eine natürliche Ideenverbindung auch seine Jugend wieder ein und er sah sich als Knabe in einem Garten auf dem Rasen spielen und unter Gräsern und Moosen nach einem Veilchen, dem ersten des Jahres suchen. O, welcher unsagbare Zauber lag in dieser Erinnerung und wie wirkte er weiter! Denn nun trat auch seine gute, längst gestorbene Mutter wieder lebendig vor seine Seele, seine Mutter, die damals mit ihm in jenem Garten wandelte, und wie auf einen Schlag war er an die Seite der braven Frau versetzt, der er sein Leben, also auch Alles verdankte, was er jetzt war, was er besaß und – was er von der Zukunft erwarten konnte, die ihm noch eben so hold und golden gelächelt hatte.

In diesem Moment kam wieder, wie auf die fluthende Welle die ebbende folgt, jene frühere Wehmuth über ihn, wie auf unsichtbaren düsteren Schwingen der Nacht kam sie herangerauscht, und ja, er mußte ihr eine Folge geben und sich noch einmal ein liebes, süßes und doch trauriges Bild heraufbeschwören, das mit jener Wehmuth nur allzu nahe verbunden und ganz gewiß jetzt auch aus ihr entsprungen war.

Eine Minute später saß er wieder vor dem Schreibtisch und schloß einen kleinen Kasten auf, den er lange nicht geöffnet hatte.

In diesem Kasten aber lag ein altes schwarz eingebundenes Buch, mit verblichenen Goldstreifen verziert, und in der Mitte des Deckels stand in eben so verblichenen goldenen Buchstaben der Name seiner Mutter.

Er schlug das Buch auf und las auf der ersten Seite desselben folgende Worte:

»Mein Sohn Paul achte und ehre dies Vermächtniß seiner Mutter, das ihr einst sehr theuer war. Viel kann sie ihm nicht als Mitgift für dieses Leben überweisen, aber Gutes wünschen kann sie ihm in überschwenglichem Maaße. Wenn es meinem Paul aber einst nicht nach Wunsch auf dem rauhen Pfade des Lebens geht, so lese er, was auf der folgenden Seite geschrieben steht. Dieser alte, vaterländische Spruch ist mir mein liebster Lebensspruch und oft ein Trost in großer Noth gewesen, und so werde und sei er es auch ihm. Es liegt eine weise Lehre und zugleich eine häufig sich bekundende Wahrheit darin.«

Paul aber – jetzt wissen wir ja schon einen seiner Namen – schlug die Seite um und las auf der nächstfolgenden den schönen, alten Spruch:

»Leide, meide, schweige und ertrage!»Deine Noth Niemand klage!»An Gott, Deinem Schöpfer, nicht verzage,»Denn das Glück kann kommen alle Tage!« Wir geben den schönen alten Spruch oben in der Uebersetzung in's Hochdeutsche. In dem Album der Mutter Paul's stand er in der niedersächsischen Mundart, wie folgt:

»Lide, mide, swige und vortrage!
»Dine nodt nemandt klage!
»An God dinen Schepper nicht vorzage,
»De gelücke kummpt alle Dage!«

Unter diesen Vers aber hatte die Mutter noch geschrieben: »Wenn das Glück Dir einst kommen sollte, so denke an mich, denn ich habe es Dir von dem Schöpfer alles Guten alle Tage und Nächte auf den Knieen erfleht.«

Lange, lange den Inhalt, die Lehre, den Trost und die Hoffnung überdenkend, die so einfach, rührend und goldklar in diesem Spruche lag, blieb Paul auf dem Stuhle vor seinem Schreibpult sitzen. Und als er um die gewöhnliche Zeit spät Abends zu Bett ging, sprach er ihn sich wie ein Gebet noch zwei, dreimal langsam vor, bis er allmälig in den Schlaf sank, wo der letzte seiner leise verschwimmenden Gedanken war:

»Ja, sie hat Recht. Das Glück kann alle Tage kommen, denn auch mir ist an diesem wunderbaren Abend unverhofft ein ganz eigenes Glück gekommen und – und – ich danke – dem guten Gott dafür. Amen!«


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