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Zehntes Kapitel.
Die Sonne verschwindet hinter den Wolken

Niemanden vergeht die Zeit rascher als Dem, dem eine geregelte und seinen Geisteskräften angemessene Thätigkeit beschieden ist, der mit Freude seine tägliche Arbeit beginnt, in ihr seinen höchsten Genuß findet und am Abend in der Zeit der Ruhe schon wieder an die des Morgens denkt. Ja, diese Arbeit ist süß und, mag sie noch so schwer sein, sie wird leicht durch die Freude, die man daran hat; und so beglückt sie uns wie eine göttliche Wohlthäterin, deren Gaben nie für uns zu sprudeln aufhören, da wir selbst im Stande sind, sie alle Tage von Neuem hervorzurufen.

Auch Paul van der Bosch gehörte, wie wir wissen, zu den Menschen, die mit Freuden ihre Arbeit verrichten und ihren größten Genuß in deren Erfolgen finden, und so verstrich auch ihm in dieser jetzigen Zeit Woche auf Woche, ohne daß er wußte, wo eine und die andere blieb, als verschlänge der Tag den Tag und als bemühten sich Tag und Nacht um die Wette, einander abzulösen und ihre Herrschaft geltend zu machen.

Da wir von den vielen verschiedenen Arbeiten, die Paul zu verrichten hatte, bisher nicht besonders gesprochen haben, so wollen wir auch jetzt nur der einen gedenken, die wir allmälig haben entstehen sehen. Schon Ende August war das Haus vor dem Braunschweiger Thore im Rohbau fertig, gerichtet und mit Schieferplatten überdacht. Die handwerkliche Feier des Richtens selbst war still verlaufen; die Arbeiter hatten ihr übliches Fest dabei gehabt und die Familie des Bauherrn war in ihrem Hause heiter und glücklich gewesen, indem sie sich mit alter Liebe und Hingebung um den jungen Baumeister schaarte, der an diesem Tage mit Recht den Mittelpunct des Festes bildete.

Da seine Thätigkeit in dem Neubau für jetzt aufhörte und er nur noch zuweilen hinaufging, um den Fortschritten des Gärtners zuzuschauen und die Aufstellung des schönen Gitterwerkes zu überwachen, hatte er mit dem Tage der äußeren Vollendung des Baues auch seine Theilnahme an der Tischgenossenschaft des Bauherrn aufgekündigt, indem er der ihn verwundert darüber anschauenden Frau Ebeling sagte, daß seine jetzigen Verhältnisse eine solche Aenderung nöthig machten. Er würde nun bald wieder Vorlesungen in der Bauakademie besuchen, sich zum Baumeisterexamen vorbereiten und da müsse er wie früher um ein Uhr speisen, um allen seinen Verpflichtungen gewissenhaft nachkommen zu können.

»Gut,« erwiderte der Banquier auf diese Auseinandersetzung, »ich sehe ein, daß Sie Recht haben. So speisen Sie denn um ein Uhr, wo Sie wollen, aber dann leisten Sie uns jeden Abend eine Stunde Gesellschaft. Wir sind an Ihren Umgang so gewöhnt, daß wir ein Bedürfniß danach fühlen, Sie alle Tage wenigstens einmal zu sehen. Was aber unsern Bau betrifft, so soll er Sie nicht wieder von Ihren Geschäften abhalten. Er bleibt der sicheren Austrocknung wegen so stehen, wie er jetzt ist, bis Sie Ihr Baumeisterexamen vollendet haben. Dann soll er das erste Haus sein, an das Sie als Privatbaumeister die letzte Hand anlegen, und ich stehe Ihnen dafür, Sie werden bald mehr Häuser zu bauen bekommen, denn viele meiner Freunde haben sich schon meine Empfehlung bei Ihnen ausgebeten, um Sie zu ähnlichen Unternehmungen in ihrem Interesse zu gewinnen.«

Paul dankte ihm für seine Freundschaft und verhieß, jeden Tag wenigstens einmal vorzusprechen; Zeit und Dauer seines Besuches aber könne er nicht festsetzen, da dies von seinen Arbeiten abhänge.

So war es beschlossen und so blieb es, so lange Paul van der Bosch noch Bewohner dieser Stadt war, wenn freilich es Zeiten gab, wo sein Besuch sich nur auf einige Minuten erstreckte, da nicht allein Geschäfte oft seinen ganzen Tag in Anspruch nahmen, sondern auch Ereignisse eintraten, denen er in jeder Beziehung Rechnung tragen mußte.

Kehren wir jedoch für jetzt zu der Zeit zurück, in welcher wir das vorige Kapitel geschlossen haben. Nur die ersten Tage nach der Abreise der Familie des Oberforstmeisters waren den Zurückbleibenden wahrhaft bitter gewesen; als man sich aber erst an die Trennung gewöhnt hatte, wie der Mensch sich ja glücklicherweise an Alles gewöhnt, da fing man schon wieder an, sich zu freuen, daß die Reisenden einst zurückkehren würden, denn wie ja nun schon acht Tage verflossen, müßten auch alle übrigen verfließen und dann dann würde ja so bald keine neue Trennung wieder stattfinden können. Vor allen Dingen aber waren Frau Ebeling, Fritz und Paul auf die Ankunft der ersten Briefe gespannt, denn daß diese bald nach Verlauf der ersten Woche erwartet werden konnten, unterlag bei Niemanden einem Zweifel. Auch hatte man sich nicht geirrt; schon am zehnten Tage brachte der Postbote zwei Briefe, von denen der eine zwei Schreiben, eins vom Oberforstmeister an seinen Schwager, und eins von Frau von Hayden an ihre Schwester enthielt. Der zweite Brief dagegen war von Betty allein geschrieben und an ihren Cousin gerichtet.

Als Paul die Ankunft dieser Briefe erfuhr, war Fritz auf einem Geschäftsgange abwesend und sein Brief konnte also dem Freunde nicht sogleich mitgetheilt werden. Frau Ebeling aber ließ Paul zu sich herüberholen, um ihm die ersten Nachrichten von den Reisenden mittheilen zu können, und so saß er in ihrem Zimmer und las und besprach mit ihr den Inhalt der beiden ihr zugekommenen Schreiben, die in der That auf Jedermann eine befriedigende Wirkung äußern mußten.

Am heitersten, was man gerade am wenigsten erwartet, schrieb der Oberforstmeister. Er sprach fast nur von seinem Befinden, mit dem er alle Ursache habe, zufrieden zu sein. Sein Kopfschmerz hatte ihn verlassen, sein Appetit war wiedergekehrt und seine Laune – die beste von der Welt, wie er sagte. Er erzählte auch, daß er in Dobberan alte Freunde getroffen und mit ihnen in ein sehr angenehmes Verhältniß getreten sei. Er habe sogar auf dem Gute eines benachbarten Edelmanns schon wieder eine Jagd mitgemacht und die ungewohnte Anstrengung sei ihm sehr gut bekommen. »Grüße Charlotten und halte mir wacker den Daumen,« schloß der Brief, denn es ist möglich ich sage, es ist möglich, daß ich das Glück erfasse, nach dem ich schon längst auf einer Art Parforcejagd begriffen bin.«

Was diese Worte bedeuteten, wußte kein Mensch im Hause des Banquiers und erst in mehr als acht Wochen sollten sie ihnen klar werden. Dennoch flößten sie Niemanden Unruhe ein, da man an solche unbestimmte und in der Regel unverfängliche Ausdrucksweise des Schwagers schon gewöhnt war. Von Paul schrieb er kein Wort, bestellte also auch keinen Gruß an ihn, und wahrlich, Paul selbst hatte am wenigsten eine solche Freundlichkeit von ihm erwartet. Am meisten aber ärgerte sich Frau Ebeling im Stillen darüber und endlich konnte sie es nicht unterlassen, ihrem Mann ihre Meinung deshalb zu sagen.

»Laß ihn,« erwiderte dieser, »Du weißt ja, wie er ist. Er ist ein vornehmer Herr und unser guter Bosch ist ihm nur immer noch, der arme Student. Haha! Gut! Wir werden ja sehen, wir werden ja sehen, wer einmal der Reichste von ihnen wird!«

Der Brief Frau von Hayden's an ihre Schwester war sehr herzlich, aber in einer seltsam weichen Stimmung geschrieben. Auch sie sprach von der schon gebesserten Gesundheit ihres Mannes und seiner aufgeklärten Laune, aber ihre eigene Stimmung schien nicht gerade die heiterste zu sein, obgleich kein Grund dafür sich in dem Schreiben auffinden ließ. Am Schlusse grüßte sie ihren Schwager und Fritz sehr warm und fügte die Worte hinzu: »Ich muß hier viel öfter und lebhafter an Herrn van der Bosch denken, als zu Hause, wo er mir doch so nahe war. Ich glaube nein, ich bin fest überzeugt, Ihr habt einen eben so wahren wie wackeren Freund in ihm gefunden, einen Freund, wie sie im Leben selten sind. Grüßt ihn herzlich von mir und sagt ihm, daß ich mich freue, ihn wiederzusehen.«

»Da haben Sie es,« sagte Frau Ebeling zu Paul, als sie ihm auch diesen Brief vorgelesen. »Sie sehen, meine Schwester ist nicht immer die einsylbige Frau, wie sie Ihnen so oft erschien. Sie hat ein warmes Herz in der Brust, dessen laute Schläge leider nur zu oft durch das Machtwort ihres Herrn Gemahls in Schranken gehalten werden. Sie hätte sich ihm nicht so ganz unterthänig machen sollen. Nun hat sie keine Kraft mehr gegen und keine Gewalt mehr über ihn und handelt auf jeden seiner herrischen Winke, wie er gehandelt haben will. Das ist nicht gut, nicht heilsam nach meiner Meinung. Eine Frau muß nicht über den Mann herrschen wollen, aber sich eben so wenig sclavisch unter den Willen eines immer Recht haben wollenden Mannes beugen. Und meine Schwester hat leider öfters Recht als ihr Mann, das können Sie mir glauben. Doch still davon, das interessirt Sie ja nicht und bietet nichts Angenehmes dar. Nun, der Brief, den Betty an Fritz geschrieben, ist wirklich angenehmer, Sie werden Ihre Freude daran haben. Es steht auch Manches von Ihnen darin. Fritz beabsichtigt, heute Abend ein Stündchen in Ihrer stillen Stube zu verbringen und mit Ihnen zu plaudern ist Ihnen das recht?«

Paul's froher Blick bestätigte seine Worte, und bald darauf verließ er Frau Ebeling, um noch einen nothwendigen Gang zu thun und dann in seine Wohnung zurückzukehren und mit einem Herzen voller Freude Fritz und dessen Brief zu erwarten, der ja auch Manches von ihm enthalten und angenehm sein sollte.

Fritz stellte seine Geduld auf keine allzulange Probe. Etwa um neun Uhr trat er bei ihm in's Zimmer und rief schon in der Thür:

»Glück auf, Paul! Es sind gute Nachrichten von unsrer lieben Sonne angelangt. Nun können wir uns einmal eine Stunde vergnügen.«

»Ich habe es schon von Deiner Mutter gehört,« erwiderte Paul mit seiner jetzt immer so gleichmäßig ruhigen Miene. »Setz' Dich und dann zeige mir Deinen Brief, wenn ich ihn lesen darf.«

»Nun natürlich, er ist so gut an Dich wie an mich geschrieben, das geht aus seinem ganzen Inhalt hervor. Soll ich ihn Dir vorlesen?«

»Nein, wenn ich es darf, lese ich ihn lieber selbst.«

»Ja, da hast Du auch Recht. Aus Zügen, wie sie Betty mit der Feder hinwirft, spricht eben so viel Herzlichkeit und Wohlwollen, wie aus ihrem Auge, wenn man es sieht. Da hast Du ihn und nun werde ich mich ganz ruhig verhalten. Lang ist er leider nicht und Du wirst bald damit fertig sein.«

Er brannte sich eine Cigarre an und setzte sich ruhig auf das Sopha, allein er mußte doch länger warten, bis Paul fertig war, als er geglaubt, denn wenn der Brief eigentlich auch nur kurz war, so schien er doch für seinen Freund einen umfangreichen Inhalt zu haben, wenigstens las er manche Stelle nicht nur zwei oder drei Mal, sondern er ließ auch Pausen eintreten, die er mit kurzem Nachdenken und freudigen Empfindungen ausfüllte. Der Brief aber, der so viel Anziehendes für ihn besaß, lautete folgendermaßen:

»Mein lieber, guter Fritz! Da sind wir also in Dobberan angekommen und haben ein hübsches Haus in der Nähe der See am Heiligen Damm zur Wohnung gefunden. O, wer hätte gedacht, daß ich so bald schon von Euch getrennt sein würde! Alles liegt vor mir wie ein Traum: die Erkrankung meines Vaters, der plötzliche Entschluß seiner Aerzte unser Abschied und die Reise!

Doch – ich träume im Wachen aber sei es so angenehm oder so unangenehm, wie es will ich soll oder ich will Dir lieber Nachricht von meinem Leben geben. Ich lasse also alle Träume hinter mir liegen und bin wieder wach, ganz wach. Aber da concentrirt sich Alles, was ich Dir schildern oder noch lieber malen möchte, in einem einzigen Bilde und Worte, und dies Bild und Wort heißt die See! O, mein lieber Fritz, was auch Alles auf dem Grunde dieser See liegen mag, mir hat schon ihre Oberfläche viel des Herrlichen und Göttlichen geboten. Eine ganz neue Welt ist mir im stündlichen Anschauen derselben aufgegangen, und nie, nie habe ich sie mir so schön, so groß, so unendlich gedacht. Ich wünschte wohl, daß Herr van der Bosch, der sie ja auch noch nie gesehen, wie er mir oft gesagt, mit mir zugleich sehen, dabei an meiner Seite stehen und seine Gedanken und Empfindungen mit mir darüber austauschen könnte. O, was würde er sehen, er, dessen Auge viel schärfer und begabter ist, als das meine, was würde er sagen, der ja für jeden Gedanken ein Wort, für jede Empfindung einen Ausdruck hat, und wenn er auch nur sein Auge dabei aufschlagen sollte, das so sprechend, so klar seinen Gedanken selbst ohne Worte wiedergiebt. Doch, er ist so wenig bei mir wie Du, und wir müssen eben einmal von einander getrennt leben. Glaube mir indessen, daß ich oft bei Euch bin. Ich sitze in Gedanken zwischen Euch, wie früher so oft, und wir unterhalten uns über alles Mögliche dabei. Auch baue ich in Gedanken an dem herrlichen Schlosse Du weißt ja, was ich meine welches unserm Baumeister einst so schön, so wunderbar, so nachahmungswerth erschien. Ja, ich baue und baue und, glaube mir, ich habe viele Steine dazu vorräthig und sie schließen sich alle von selbst an einander, ohne daß es eines künstlichen Mörtels bedürfte.

Doch still davon. Soll ich Dir noch von meinem hiesigen Leben sprechen? Nein, meine Mutter wird Euch bessere Kunde davon geben, als ich es vermöchte, denn ich habe in dieser Beziehung noch nichts Bemerkenswerthes erfahren. Die Menschen, die ich hier vorgefunden, scheinen mir nur zu den Leuten zu gehören, und wie ich die Menschen auch liebe, jene sind mir immer sehr gleichgültig gewesen und langweilig erschienen. Wenn ich wieder schreibe, werde ich Dir jedoch einige Persönchen nennen, die sich hier gewaltig breit machen, mit ungeheuren Bärten, kahlen Köpfen, stutzerhaften Geberden, obgleich sie wie Greise erscheinen, mit hohnlachenden, austernlüsternen Augen und ganz hohlen Schädeln, wie sie mir noch niemals und nirgend im Leben vorgekommen sind. Und die Frauen und Mädchen entschuldige, sie heißen ja Damen ?! Ach, Du lieber Gott! so viele langschleppige, nackthalsige Figuren mit falschen Haaren und thurmdicken Röcken, wie sie hier in zahlloser Menge, immer von näselnden Verehrern umringt, umherlaufen und unerträglichen Staub aufwirbeln, glaubte ich niemals auf einem Punct versammelt sehen zu können.

Da es mir also an einer hörbaren Unterhaltung gebricht, lese ich viel, denn ich habe mir einen kleinen Schatz von Büchern mitgenommen, die mir einst Herr van der Bosch als meiner Beachtung werth empfohlen hat. Dafür danke ich ihm jetzt im Stillen, wie ich ihm schon so oft für Vieles gedankt, was ich von ihm kennen gelernt habe. Grüße ihn recht, recht freundlich von mir und er soll nicht zu viel arbeiten, hübsch langsam gehen, damit er nicht immer außer Athem zu Hause ankommt, täglich seinen Wein trinken und und bisweilen an mich als eine entfernte Freundin denken. Dich aber küsse ich herzlich, mein guter Junge, und bin und bleibe auf dem Lande, an der See, jetzt auf der Erde und einst im Himmel, also überall, überall

Deine Dich innig liebende Betty.«

»Nun, was sagst Du dazu?« fragte Fritz, als Paul seine Lesung endlich beendigt hatte. »Bist Du zufrieden?« »Zufrieden? Welch armseliges Wort, lieber Fritz, ich bin ganz glücklich einmal o, das war auch recht, recht nothwendig für mich. Das ist ein herrlicher Brief, mein Junge!« »Ich dachte es auch!« versetzte Fritz, mit den Augen listig blinzelnd und dann seinem Freunde herzlich zulächelnd. »Unsere Sonne sieht uns einmal wieder freundlich an « »Ja, und sie wärmt uns auch bis tief in's Herz hinein, ja!«

Nach diesen ersten drei Schreiben, die, wie wir eben sahen, außer einigem Schatten viel Licht und Wärme gebracht hatten, vergingen volle vierzehn Tage, ehe abermals ein Brief von Dobberan kam. Niemand konnte sich dies lange Schweigen erklären, so viel man auch darüber hin und herredete und sich gegenseitig die Sorgen verscheuchte, die Einer oder der Andere darüber empfinden mochte. Endlich jedoch kamen Briefe an, diesmal aber waren es nicht drei, sondern nur zwei, und Fritz und sein Freund gingen vollkommen leer dabei aus.

Der Oberforstmeister schrieb an seinen Schwager einen außerordentlich vergnügten Brief und schien bei Abfassung desselben ungewöhnlich glücklich gewesen zu sein. Er erzählte, daß er täglich bade und daß das Wasser ihm fast jugendliche Kräfte wiedergebe. Außerdem sei die Tafel herrlich, die Weine vorzüglich und die Unterhaltung und das Amüsement in der auserlesensten Gesellschaft über alle Begriffe schön. In vertrautem Freundeskreise bringe er wonnige Stunden zu, seine ganze Gegenwart sei hell und seine Zukunft kläre sich wider alle Erwartung auf. »Seid vergnügt, Kinder,« schrieb er am Schluß, »wie wir. Ihr glaubt nicht, wie angenehm man sich das Leben machen kann, wenn man nur den Willen und den Muth dazu hat. Und ich, Gott sei Dank, habe Willen und Muth hier wiedergefunden und damit auch die Kraft und die nachdrückliche Ausdauer.«

»Na, der ist ja sehr gesund geworden,« sagte Frau Ebeling zu ihrem Mann, als sie diese Zeilen las. »Ich möchte seinen Willen und Muth und seine Kraft und Ausdauer nur aus der Nähe kennen lernen. Die arme Emilie! Lies einmal, was die schreibt, sie hat nicht diesen Muth, und ihr Wille scheint mir etwas stark gefesselt zu sein.«

Der Brief der Frau von Hayden lautete allerdings sehr schwermüthig und man sah ihm die Unlust, ja, einen gewissen innerlichen Zwang an, unter dessen Einfluß er abgefaßt war. Augenscheinlich lag ein starker Druck auf der Seele der Schreiberin, sie bemühte sich vergeblich, irgend etwas Angenehmes zu sagen, es kam, wie sie es auch vorbrachte, immer klagend, trüb und fast bitter heraus.

»Ha!« sagte der Banquier zu seiner Frau, »weißt Du, welchen Eindruck dieses Schreiben Deiner Schwester auf mich macht? Als ob sie uns viel mehr verschwiege oder verschweigen müßte, als sie ausspricht. Ich kann mir nicht helfen, ich muß Dir sagen: ihr Brief gefällt mir ganz und gar nicht, und die Stimmung, in der er geschrieben noch viel weniger.«

»Und warum mag wohl Betty nicht an Fritz geschrieben haben?« fragte Frau Ebeling nach längerem Besinnen.

Der Banquier zuckte die Achseln. »Wer weiß es,« sagte er im Zimmer unruhig hin und her gehend. »Wenn man doch dreißig Meilen weit sehen könnte! Ich bin überzeugt, wir sähen viel, was nicht gerade angenehm ist.«

Frau Ebeling seufzte und damit war das Gespräch über die Briefe beendigt.

Vierzehn Tage später kamen noch einmal zwei Briefe an und wieder war keiner von Betty dabei. Die heitere, ja glückliche Stimmung des Oberforstmeisters war wo möglich noch mehr gewachsen, er sprudelte fast von Uebermuth. Er scherzte und tändelte mit seinem ernsten Schwager und schilderte ihm das Leben, welches er führte, als ein pikantes Fricassée, das so wohlschmecke und so gut bekomme, daß man es ohne Widerwillen alle Tage verspeisen könne.

Einen noch viel unheimlicheren Eindruck als die beiden ersten ihrer Briefe brachte dagegen dieser dritte Frau von Hayden's auf ihre Schwester und deren Mann hervor. Eine geheime, unbestimmte, unausdrückbare Angst sprach aus ihren Worten und dabei hatte sie sich so kurz gefaßt, daß es schien, sie fürchte sich mehr zu sagen, um nicht durch einen unvorhergesehenen Zufall das absichtlich Verborgene an den Tag springen zu lassen.

»Ebeling,« sagte die gute Frau zu ihrem Mann, als sie beide Schreiben zum dritten Mal gelesen hatte, »ich glaube, wir müssen uns auf irgend etwas Unerwartetes, ja, ich will es gleich heraus sagen, wie ich es fühle, auf etwas Verhängnißvolles gefaßt machen. Mein Herr Schwager ist nicht umsonst so glücklich, und Emilie nicht umsonst so karg und angstvoll.«

»Was denkst Du Dir?« fragte Herr Ebeling plötzlich und sah seine Frau mit großen durchbohrenden Augen an, wie es gar nicht seine Gewohnheit war.

Seine Frau erschrak fast über diesen Blick. »Ich denke mir gar nichts ich will, ich kann mir nichts denken «

»So, na, dann müssen wir uns in Geduld fügen. Ist Bosch heute noch nicht hier gewesen?«

»Nein, und es wäre mir lieb, er käme nicht. Auch sein trübes Gesicht ängstigt mich und mir ist immer zu Muthe, wenn er mich ansieht, als wüßte er mehr über diese Dobberaner Ereignisse als wir wissen.«

Der Banquier dachte einen Augenblick nach. »Nein, das ist es nicht,« sagte er dann, »er weiß nicht mehr, aber er ist klug und hat ein scharfes Auge. Er beobachtet uns, und da wir unruhig sind, ist er es auch.«

Die Zeit war ohne Rast verstrichen und die Hälfte des September hatte man hinter sich. Paul hatte seine Arbeiten bei der Regierung niedergelegt und war wieder Student geworden, aber ein Student, der mit gewaltig ausgreifenden Schritten seinem Ziele zustrebt und die muthig kräftige Hand schon mit sicherem Griff danach ausgestreckt hat. Er saß wieder viel bei seinen Büchern und Zeichnungen, besuchte seine Vorlesungen, die eben begonnen hatten, und außerdem verkehrte er bisweilen mit Gelehrten, Baumeistern und Literaten, mit denen er nach und nach bekannt geworden war und die ihn Alle liebten und achteten, ohne daß er um ihre Gunst gebuhlt oder nur mit Eifer ihre Freundschaft gesucht hätte.

Es war der sechszehnte September, ein trüber regnerischer Tag. Der Banquier saß noch bei seiner Frau im Frühstückszimmer und las eine Zeitung, als Fritz hereintrat und einen Brief auf den Tisch vor dem Vater hinlegte, mit den einfachen Worten: »Vom Onkel aus Dobberan!«

Damit ging er zur Thür hinaus und die Eltern waren wieder allein. Beide sahen mit starren Augen nach dem unerbrochenen Briefe, aber keines wagte die Hand danach auszustrecken, so beklommen fühlten sie sich plötzlich.

»Oeffne ihn doch, Emil,« sagte Frau Ebeling, »öffne und lies, in Gottes Namen wir brauchen uns ja nicht zu fürchten!«

»O, ich fürchte mich nicht,« erwiderte ihr Mann und hatte den Brief schon mit einem gewissen Unmuth ergriffen, hastig das Couvert abgerissen, daß es in Stücke ging, und las nun folgende wenige Zeilen, wobei er leicht aufathmete, als er nichts fand, was seine Beklommenheit begründen half:

»Meine Lieben!« las er. »Hier ist mein letzter Brief von Dobberan. Ich bin froh, bald wieder zu Hause zu sein. Was ich Euch Ueberraschendes mitbringe, wird Euch erfreuen, wie auch wir Alle erfreut sind. Wir kommen in den nächsten acht Tagen, genau kann ich aber Zeit und Stunde nicht bestimmen, da wir noch immer von allen Seiten mit Fußangeln gehalten werden. Prächtige Menschen hier! Lebt wohl! Auf frohes Wiedersehen rechnet

Euer Schwager.«

»Das gebe Gott!« seufzte Frau Ebeling auf. »Ja, das sage ich auch. Und die Betty hat wieder nicht an Fritz geschrieben?«

»Nein, und das begreife ich eben nicht.«

»Ich begreife Vieles nicht, aber bald, bald, Frau, werden wir Alles begriffen haben.«

 

Von dem Tage an, wo diese Meldung der endlichen Rückkehr ihrer Schwester und deren Familie an Frau Ebeling gelangt war, hatte diese wenig Ruhe, weder in ihrem Hause, noch in ihrem Herzen. Sie brachte fast den ganzen Tag in den Zimmern ihrer Verwandten zu, um es denselben so recht behaglich wieder in der Heimat zu machen, da sie aus Erfahrung wußte, wie angenehm eine solche Fürsorge die von einer Reise Rückkehrenden überrascht und wie wohl sie ihnen thut. So war denn Alles sehr bald gelüftet, die Teppiche lagen wieder an ihrer Stelle, die Vorhänge waren erneuert und auf dem so lange kalt gebliebenen Heerde flackerte lustig das Feuer, um jeden Augenblick bereit zu sein, den Heimkehrenden mit seiner Hülfe zu dienen. Vor Allen aber zeigte sich die zurückgebliebene Dienerschaft thätig, Guirlanden und Kränze zu winden und Blumen in allen möglichen Arten und Farben herbeizuschaffen, um die Treppen, die Flure, die Thüren zu schmücken, welche der Herrschaft zuerst in die Augen fallen mußten.

Zu kunstfertigerer Ausschmückung dieser Gegenstände hatte sich diesmal eine sehr geschickte Hand dargeboten; Paul selbst hatte die Anordnung der Kränze und Guirlanden geleitet und auch Frau Zeisig hatte auf seinen Betrieb zwei reizende Blumentischchen mit Schlinggewächsen und blühenden Topfpflanzen herbeischaffen müssen, die nach ihres Baumeisters Angabe an einem geeigneten Platze in den Damenzimmern aufgestellt wurden.

Als Alles so weit in Stand gesetzt war, erwartete man sehnlichst die Ankunft der Familie, wiewohl mehrere Tage lang vergebens, und die aufgehängten Kränze fingen schon allmälig an zu welken und die Blumen darin senkten ihre Köpfe, so daß viele von ihnen erneuert werden mußten. Und wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, so geschah es auch hier: die so lange Erwarteten kamen gerade zu einer Stunde, wo man sie am wenigsten erwartete, das heißt, Abends sehr spät, als man im Ebeling'schen Hause eben zu Bett gehen wollte.

Paul war zufällig an diesem Abend nur auf kurze Zeit bei Fritz und dessen Mutter gewesen, um ihnen anzuzeigen, daß er eine ihn sehr ehrende Einladung zu einem der größten Baukünstler der Residenz erhalten habe, wo die ganze Kunstwelt derselben sich an diesem Abend versammelte. Es war ihm unmöglich, dieser Einladung auszuweichen, so gern er auch zu Hause geblieben wäre, um von seinem Fenster aus dem möglichen Eintreffen der Familie des Oberforstmeisters beizuwohnen, da er ja wußte, daß Betty ein Abschiednehmen oder eine Begrüßung in Angesicht Vieler nicht liebte.

Als Paul Nachts gegen zwölf Uhr aus der Gesellschaft in seine Wohnung zurückkehrte, blickte er wie jeden Abend nach dem obersten Stockwerk des Ebeling'schen Hauses hinauf, fand aber Alles in Dunkel gehüllt, wie so lange Zeit vorher. Um so mehr war er erstaunt, als er Frau Zeisig noch wachend antraf, die ihn, nach ihrem strahlenden Gesicht zu urtheilen, mit Sehnsucht zu erwarten schien.

»Wie,« rief Paul ihr schon auf der Treppe entgegen, »Sie sind noch munter, Frau Zeisig?«

»Ach Du lieber Gott, ja, Herr Baumeister,« lautete die Gegenrede, »ich mußte es ja wohl, wenn ich Ihnen noch eine Freude bereiten wollte, denn daß Sie sich freuen, wenn die Herrschaft da drüben wieder da ist, kann ich mir wohl denken.«

Paul stand lebhaft betroffen vor der guten Frau, deren Oellampe nur einen matten Schimmer über ihres Herrn schönes Gesicht fallen ließ, aber sie bemerkte trotzdem, daß er ob ihrer Nachricht fast zu erschrecken schien, obwohl er auf den baldigen Eintritt dieses Ereignisses schon lange vorbereitet war. »Also sie sind da?« fragte er, rasch in sein Zimmer tretend, wohin die dienstwillige Frau ihm auf dem Fuße folgte.

»Ja, gegen elf Uhr heute Abend sind sie gekommen und ich bin gleich hinüber gelaufen und habe mir die Herrschaften angesehen. Frau Ebeling erschien schon im Nachtkleide, denn Niemand erwartete sie mehr. Auch war die Begrüßung der beiden Schwestern und der Anderen ganz merkwürdig kurz vielleicht waren die Damen von der Reise ermüdet. So viel ist gewiß, sie gingen sehr bald hinauf und nun liegt Alles drüben im tiefsten Schlaf.«

Paul stand noch immer vor Frau Zeisig und starrte sie mit einer seltsamen Ausdauer an, als könne er auf ihrem Gesicht noch viele andere Neuigkeiten lesen. »Also sie sind da und schon zu Bett!« sagte er noch einmal halb laut, als ob er zu sich selber spräche.

»Nun natürlich, Herr Baumeister!«

»Und Sie haben sie gesehen? Alle zusammen?«

»Nun gewiß, Herr Baumeister. Und der Herr Oberforstmeister sah ganz prächtig aus und er nickte seinem Schwager auf sehr herzliche Weise zu.«

»So und die Damen?«

»O, die Damen, die Damen die haben mir eigentlich, daß ich es nur sage, heute Abend gar nicht gefallen.«

»Warum denn nicht?«

»Sie sahen mir gar nicht vergnügt und erfreut aus, daß sie wieder hier waren. Allerdings fielen sie der Frau Ebeling gleich um den Hals, aber dabei weinten sie unaufhörlich.«

»Nun, das geschah doch gewiß vor Freude?«

»Ei Du lieber Gott, ja, gewiß, Herr Baumeister, Freude war wohl dabei, wie könnte es denn auch anders sein aber es war noch etwas Anderes dabei, eben das, was mir nicht gefiel.«

»Aber was war denn das? So sprechen Sie doch!«

»Ja, Herr Baumeister, das weiß ich eben nicht, denn ich bin ja nur eigentlich eine dumme Frau. Aber vergnügt sahen die beiden Damen da oben, wie, gesagt, wahrhaftig nicht aus!«

»Wissen Sie sonst noch Etwas?« fragte Paul nach kurzem Besinnen.

»Nicht ein Sterbenswörtchen mehr, Herr Baumeister.«

»Nun, dann schlafen Sie wohl und ich danke Ihnen für Ihre Benachrichtigung.«

»O bitte, es ist gern geschehen. Gute Nacht, Herr Baumeister!«

Paul zündete seine Lampe an und setzte sich, ohne den Gesellschaftsrock abzulegen, auf das Sopha. Hier saß er lange, den Kopf auf die Hand gestützt, ohne sich zu regen, und starrte in die kleine Flamme, die hell vor ihm brannte. Warum hatte die Mittheilung der Frau Zeisig ihn beunruhigt? Warum empfand er selbst nicht die Freude, die er empfinden mußte, nachdem er gehört: die Familie drüben sei wieder zurückgekehrt?

O, o! Hatten die dämonischen Geister, die den Schatten der Ereignisse auf ihren unsichtbaren Schwingen den Ereignissen selbst lange voraustragen, ihm schon ihren traurigen Besuch gemacht? Hatte eine schon lange empfundene trübe Ahnung, wie sie manchen Menschen von der Natur als verhängnißvolle Begleiterin für's Leben mitgegeben ist, ihre eisernen Klammern über sein warmes Herz gespannt und ihm einen unheilvollen Gedanken zugeraunt? Ja, warum hatte Betty nicht wieder an Fritz geschrieben? Stand dieses seltsame Schweigen vielleicht in irgend einer Verbindung mit den Worten der Frau Zeisig: »die Damen oben sahen wahrhaftig nicht vergnügt aus!«

Endlich fuhr Paul aus seinem langen Brüten empor, stand von seinem Sitze auf und begann sich zu entkleiden. »Ruhig!« sagte er sich, »immer ruhig! Es hilft alles Denken und Sinnen nichts, die Nacht ist dunkel und nur der Tag ist hell. Morgen, morgen werden wir erfahren, was alle seit Wochen in der Luft schwebenden Geheimnisse zu bedeuten haben.«

Mit diesem Gedanken ging er zu Bett und mit ihm schlief er ein. Als aber der Tag kaum angebrochen war, erwachte er schon wieder und rasch sich ankleidend, stellte er sich an's Fenster und schaute mit laut pochendem Herzen nach dem jenseitigen Fenster hinüber, an dem ihm so lange keine liebe Gestalt erschienen war, nun aber bald, bald wieder erscheinen würde. Doch jetzt noch nicht. Noch waren die Vorhänge geschlossen, noch ruhte fester Schlaf auf allen Augen da drüben, noch lag das Siegel des Geheimnisses fest und unerbrochen vor seinem Auge, vor seinem Herzen, und Paul beruhigte sich allmälig wieder, wie ja der Morgen des anbrechenden Tages immer mit kühlerem Fittig die Wange fächelt als die düstere, räthselhafte, Verderben spinnende Nacht.

Es war ein Sonntag und freilich sandten die Glocken der benachbarten Kirchen ihr harmonisches Geläut bis in die stille Wohnung unsers Freundes hinauf. Ihm aber schienen sie diesen Frieden so bald nicht bringen zu wollen. Unruhig wandelte er in seinem Zimmer auf und ab, bald auf die Straße, bald nach dem gegenüberliegenden Hause spähend, ob sich denn nicht irgend Jemand darauf zu ihm heraufbegeben wolle, um ihm Aufschluß über das Räthsel des Tages zu bringen. Aber nein! Die Vorhänge vor den Fenstern drüben im zweiten Stockwerk blieben bis auf zwei geschlossen und diese gehörten zu des Oberforstmeisters Wohnzimmer, an denen Paul nie ein besonderes Interesse genommen hatte. Jeden Augenblick glaubte er nun Fritz kommen zu sehen, der doch gewiß in das Vorgehende eingeweiht und wie sonst immer, bereit war, seinem Freunde Wichtiges so schnell wie möglich mitzutheilen.

Aber auch Fritz war nirgends zu sehen. In des Banquiers Ebeling Wohnung unten blieb Alles so ruhig wie oben, kein Mensch zeigte sich an irgend einem der Fenster, kein Laut drang aus dem festverschlossenen Hause, der irgend einen Vorgang in dem Innern desselben verrathen hätte.

Endlich, als es neun Uhr geworden, glaubte Paul eine ruhigere Stimmung in seinem ganzen Wesen wahrzunehmen. Vielleicht hatte er den Verstand zum Beistand herangezogen, und dieser Verstand hatte ihm gesagt, daß fortwährende Sorge und Angst nichts an der Sachlage ändere und, daß der Mensch sich ein wie alle Mal in das Unabänderliche fügen müsse. Als der Verstand ihm dies zugeflüstert, glaubte er seiner Beklommenheit Herr zu sein und setzte sich mit neuem Vertrauen an die Arbeit. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war er zerstreut und die Buchstaben vor seinen Augen schienen nicht fest zu stehen oder sich mit allerlei Farben zu bedecken, so daß er nach kurzer Zeit auch das Buch wieder bei Seite legen mußte.

Da fiel ihm plötzlich ein neues Heilmittel ein und das erwies sich in der That wirksam. Er nahm aus seiner Brieftafel, die er stets in der Brusttasche seines Rockes trug, Betty's Briefe, die er allmälig gesammelt und denen Fritz auf seinen Wunsch auch den letzten aus Dobberan beigefügt hatte. Diese Briefe las er langsam und bedächtig vom ersten bis zum letzten, und siehe da, die Buchstaben dieser Briefe blieben fest auf ihrem Platze stehen und nahmen keine verrätherische Farbe an. O, und der ruhige Geist, das milde Gefühl, welche in den einzelnen Worten und zwischen diesen Zeilen lebten und webten, wie ruhig und mild stimmten sie auch ihn wieder, so daß er sich zuletzt sagen konnte:

»Was für ein Thor ist der Mensch! Er bangt und zagt und weiß nicht einmal, ob er zu bangen und zu zagen hat!«

Das langsame Lesen dieser Briefe hatte wundersam rasch die Zeit weggenommen, und als plötzlich die nächste Thurmuhr die elfte Stunde des Vormittags angab, wollte er kaum seinen Ohren trauen und sah nach seiner Taschenuhr, einem Geschenk des guten Banquiers, welches dieser ihm zu seinem Geburtstag zum Dank für den schönen Bauentwurf verehrt hatte. Aber auch diese Uhr zeigte genau dieselbe Stunde wie jene, und nun nun glaubte Paul die Zeit gekommen, in der es am Ende schicklich und gerathen sei, selbst zu seinen Freunden zu gehen und sich bei ihnen nach den Heimgekehrten zu erkundigen.

»Ja,« sagte er, »das will ich, das muß ich. Was es auch sei, was ich erfahren werde, ich will es getrost auf mich nehmen, und Einer wird doch wenigstens drüben im Hause sein, der mir Rede steht, wenn alle Uebrigen auch schweigen wollen.«

So schickte er sich denn zu dem ihm so bedeutungsvoll erscheinenden Gange an. War es etwa Freude, die er empfand, als er sein stilles Zimmer verließ? Ach nein, Freude war es gewiß nicht, aber was war es denn? Er wußte es selbst nicht, aber so viel war sicher, die Beklommenheit und Unruhe vom Morgen packte ihn wieder und wie von einer centnerschweren Gewalt bedrückt, schritt er über die schmale Straße nach dem befreundeten Hause hinüber.

Bald hatte er die Hausthür geöffnet und trat in den geräumigen, vor einigen Tagen von ihm selbst so reich mit festlichen Kränzen geschmückten Flur. Alles war still, die eisernen Thüren des Comptoirs fest geschlossen, kein Mensch zu sehen. Langsam und immer wie von einer hemmenden Gewalt zurückgehalten, schritt er den Flur entlang und bog hinten um die Ecke, um zunächst an die Thür des Zimmers zu gelangen, in welchem Frau Ebeling sich gewöhnlich aufhielt. Eben hatte er die Thür erreicht und wollte klopfen, als er plötzlich einen jähen Schreck empfand und einige Schritte davon zurückfuhr. Er hatte irgend Jemanden sich von innen her derselben Thür nähern gehört und sein scharfes Ohr, heute noch viel schärfer als sonst, hatte ihn nicht getäuscht.

Auf that sich die Thür und heraus, im hellen Morgengewande, aber immer so reizend wie einfach gekleidet, trat die schlanke Gestalt des lieblichen Wesens, um welches sich seit langen öden Wochen sein ganzes Denken und Empfinden bewegt hatte. Ja, es war Betty selber, die, gewiß nicht erwartend, ihm hier zu begegnen, rasch aus dem Zimmer ihrer Tante trat, um eben so rasch die Treppe nach ihrer Wohnung hinaufzueilen Aber ach, wie sah sie aus! Wo war das freundliche, lächelnde, glückliche Gesicht der armen Betty geblieben? Wo der Frohsinn, die hinschwebende Leichtigkeit ihrer früheren Tage? Heute sah sie ganz anders aus als sonst, Paul hatte sie noch nie so gesehen, so daß er entsetzlich erschrak und fast gegen die Wand taumelte. Denn das rosige Gesicht Betty's war von reichlich vergossenen Thränen überschwemmt, ihre müden Augen hatten eine endlose Fluth dieses Seelenblutes vergessen, und in ihrem ganzen Wesen, in jeder Linie ihres Gesichts lag ein so tiefer unaussprechlicher Schmerz, daß Paul anfangs sich kaum überzeugen konnte, es sei dies dieselbe Betty, die er immer so heiter, freundlich und glücklich gesehen und deshalb nur mit der Sonne verglichen hatte.

Aber da hatte auch sie ihn schon mit ihrem schnellen Auge erfaßt, und einen leisen Schrei ausstoßend und mit ihrem Tuche über das nasse Gesicht fahrend, trat sie einen Schritt zurück und sah Paul van der Busch mit einem unbeschreiblich milden und tief wehmüthigen Blick an.

Doch da sammelte sich der starke Mann rasch und trat langsam und ruhig zu ihr heran. Eben wollte er den Mund zum Reden aufthun, da streckten sich zwei kleine weiße Hände nach ihm aus und augenblicklich hatte er sie fest mit den seinigen umschlossen, mit unsäglicher Wonne sich eingestehend, daß sie noch warm seien und den herzlichen Druck nicht zu spenden vergessen hätten, den er schon einige Male von ihnen gefühlt.

»Um Gotteswillen, Fräulein Betty,« brachte er endlich mit Mühe und kurzem Athem hervor, »was bedeutet das, was ist geschehen? Ich weiß noch nichts, noch gar nichts, und Niemand sagt mir, was ich doch endlich hören muß.«

»O mein Gott, Herr van der Bosch,« entgegnete Betty mit leiser und halb schluchzender Stimme, »von mir wollen Sie es hören? Nein, nein, ich kann es nicht, ich kann es nicht, und wenn Sie mich noch tausendmal flehender ansahen, als Sie jetzt thun.«

Paul war wunderbar ruhig geworden nach dieser Rede, die, so kurz sie war, einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn machte. Also es war wirklich ein Unglück geschehen. Dem Unglück gegenüber aber war er stets ein Mann gewesen und so wollte er es auch jetzt sein, selbst wenn er sein kostbarstes Herzblut dabei fließen sehen sollte. »Also Sie können es nicht,« sagte er, »gut, so bescheide ich mich. Ach, ist dies das Wiedersehen, auf welches ich mich so lange gefreut habe?«

»Nur Sie, nur Sie? O nein, Herr van der Bosch,« und von Neuem brachen die glänzenden Perlen aus ihren Augen »auch ich, auch ich habe mich sehr darauf gefreut, und das das Ihnen zu sagen, wird mir wohl Niemand verwehren können!«

»Wer sollte es Ihnen verwehren?« fragte Paul, in neues Staunen gerathend.

»Still!« unterbrach sie ihn. »Hören Sie auf, mit mir zu reden, ich bin nicht stark genug, Ihre fragenden Blicke zu ertragen, Ihnen gegenüber noch länger Schweigen zu bewahren, und ich möchte auch nicht, daß Jemand sähe, wie ich mit Ihnen hier auf dem Flure rede. Doch seien Sie ruhig, ja, seien Sie ruhig. Ich werde Fritz zu Ihnen senden, sobald ich seiner habhaft werden und ohne Störung mit ihm sprechen kann, und der ja, der soll Ihnen Alles sagen, was mir ach! was uns Allen begegnet ist. Leben Sie wohl, leben Sie wohl und bleiben Sie, wie es auch kommen mag, mein Freund!«

Bei diesen Worten preßte sie seine Hände mit aller Gewalt fest in die ihrigen, aber nur einen kurzen Moment; dann hatte sie ihn losgelassen und war mit raschem Fluge die Treppe hinausgeeilt, die in ihres Vaters Wohnung führte.

Paul stand unbeweglich auf derselben Stelle, wo sie ihn verlassen, und schaute ihr wie einem entschwindenden Traumbild nach, das dem Glücklichen nur einmal im Leben begegnet. Dann, als sie seinen Augen entzogen war, legte er seine Hand auf die glühende Stirn und drückte sie fest dagegen, als wolle er seine Gedanken ordnen oder zur Ruhe zwingen. »Ein Unglück, ein großes Unglück ist geschehen,« sagte er, »ja, ich sehe es, und man muß ein Mann sein, es zu ertragen, wie groß es auch sei. Vorwärts denn sie hat mich an Fritz gewiesen, aber Frau Ebeling ist auch meine Freundin, und ihr vertraue ich in diesen Dingen mehr. Vorwärts, ich werde sie fragen: was giebt es? und sie wird mir antworten, wie sie antworten muß.«

Bei den letzten Worten oder vielmehr Gedanken hatte sein Finger vernehmlich an die Thür gepocht, auf eine Art, daß Jedermann im Hause wissen mußte, wer der Einlaß Begehrende sei. Aber dieser mußte lange auf seinem Platze verharren, ehe Jemand auf sein Pochen achtete oder achten zu wollen schien. Endlich nach wiederholtem Pochen öffnete sich die Thür leise und die Jungfer Frau Ebeling's trat, ebenfalls mit thränenden Augen, heraus und begrüßte Paul mit ihrem gewöhnlichen höflichen und freundlichen Wesen.

»Kann ich Frau Ebeling sprechen, Auguste?« fragte der junge Freund des Hauses mit festgewordener Stimme.

»Ach Gott, Herr van der Bosch,« erwiderte sie, »ich glaube nicht. Frau Ebeling befindet sich so elend und unwohl, daß sie sich hat niederlegen müssen. Sie läßt Sie bitten, heute sie nicht zu besuchen, morgen aber, ja, morgen, sagte sie, will ich den ganzen Tag für ihn zu Hause sein. Aber der junge Herr wird heute noch zu Ihnen kommen,« fuhr das Mädchen leise weinend fort »das soll ich Ihnen bestimmt versprechen, hat mir Frau Ebeling aufgetragen.«

Paul stand mit bleichem Gesicht vor der also Redenden und sein glanzvolles Auge schien dabei in ihr Innerstes dringen zu wollen. Aber er sprach kein Wort mehr, er konnte das rechte nicht finden, und, nur leise mit dem Kopfe nickend, kehrte er dem Mädchen den Rücken und ging langsam und tief niedergedrückt aus dem Hause fort, das sich immer tiefer in Räthsel hüllte und durch Niemandes Mund ihm für jetzt einen Aufschluß geben wollte.

So kam er wieder in seinem Zimmer an. Und immerfort das eine Wort: »Also ein Unglück, es ist ein Unglück geschehen!« wiederholend, sprach er sich ein Mal um das andere selbst Trost und Fassung ein, bis er glaubte, er habe beides gefunden und nun könne Alles kommen, was kommen wolle, es würde ihn gewappnet finden.

Ach, aber wie lange dauert eine solche Fassung? Bis ein neuer Gedanke kommt und sie aus dem Sattel wirft, und in solchen Momenten, wie Paul sie jetzt zum ersten Male in seinem Leben durchmachen mußte, eilen die Gedanken auf Sturmesflügeln herbei und schwärmen in dichten Schaaren um unsern Kopf, um unser Herz, um unsere Seele, so daß man zuletzt, wie von stechenden Bienen umgeben, nicht mehr weiß, wohin man sich wenden, sich retten soll, bis man sich endlich mit dem Trotze der Resignation begnügt und sagt: »So sei es ich ergebe mich. Stecht und verwundet mich, ihr geflügelten Quälgeister, ihr könnt mir nicht mehr Blut entziehen, als ich besitze.«

In den Zustand dieser Ergebung war Paul endlich gerathen, und in diesem Zustande blieb er den Tag über auf seinem Zimmer sitzen, bald Fritz mit seinen erschreckenden Nachrichten erwartend, bald irgend eine Gedankenbahn verfolgend, die ihn zu Gott weiß welchen Zielen geführt hätte, wäre nicht immer wieder ein anderer Gedanke aufgetaucht, der den ersten verdrängt und beseitigt hätte.

Um ein Uhr rief er Frau Zeisig und bat sie, ihm eine Tasse Kaffee zu kochen, er befände sich nicht wohl und wolle nicht zu Tisch gehen.

Die verständige Frau schaute ihn nur mit einem raschen Blick an und sah, daß er wirklich leidend war. Ohne jedoch eine Frage zu thun, beeilte sie sich, seinen Wunsch zu erfüllen, und bald trank Paul eine Tasse sehr guten Kaffees und fühlte sich dadurch frisch belebt. Als nun aber Frau Zeisig noch einmal kam und sich nach seinem Befinden erkundigte, bat er sie, ihn zu verlassen, da er jeden Augenblick Besuch erwarte und außerdem dringend beschäftigt sei.

Langsam verging ihm dabei die Zeit und doch war der Nachmittag mit einem Male wie von einem Sturm weggefegt, verschwunden, und Paul konnte, als er es bemerkte, nicht begreifen, wo er geblieben sei. So lange und so tief hatte er sich in sein trübes Gedankenmeer versenkt, aus dem er erst wieder ganz auftauchte, als ihm ein neuer Gedanke durch den Sinn fuhr, den er geraume Zeit vergessen zu haben schien.

»Wo bleibt Fritz?« fragte er laut. »Ist sie seiner noch nicht habhaft geworden? Ha, der Himmel hat sich mit Schatten bedeckt und es bricht schon der Abend herein wo bleibt Fritz? Ist es denn noch nicht Zeit, daß er mich aus meiner Qual erlöst, bin ich nicht lange genug ein geduldiger Mann gewesen?«

Und als ob dieser seiner Seele ausgepreßte Ruf auf Geisterflügeln zu seinem treuen Freunde gedrungen wäre, so sollte die Frage sich bald selbst beantworten, denn langsam, nicht mit so springenden Sätzen wie sonst, kam eben ein schwerfälliger Schritt die Treppe heraus, als trage auch der Kommende eine drückende Last auf seinen Schultern, seinem Herzen.

Paul sprang nach der Thür und riß sie auf.

»Fritz!« rief er angstvoll und mit offenen Armen auf ihn zueilend, »Fritz, bist Du es endlich? O, was giebt's, was giebt's? Es ist nicht recht von Euch, daß Ihr mich so lange nach Eurer Mittheilung schmachten laßt!«

Ja, es war Fritz, der mit so schwerem Tritt die Treppe heraufgekommen war, aber ach! wie sah unser junger, sonst so frischer und lebhafter Freund heute aus!

In dem Zimmer Paul's war schon einige Dämmerung eingetreten, zumal draußen ein kalter Wind sich erhoben und den ganzen Himmel mit dunklen Wolken überzogen hatte; aber es war doch noch hell genug, die Gesichtszüge des jungen Mannes zu unterscheiden und die furchtbare Wandlung wahrzunehmen, die mit demselben vorgegangen war. Es war, als ob alle Jugend und alles Leben plötzlich daraus gewichen wäre, so blaß, fast verwelkt und abgespannt sah es aus. Dabei hielt er den Kopf gebeugt, als suche er etwas auf dem Boden oder als hege er Furcht, den Blicken des geliebten Freundes zu begegnen, und die Stimme, mit der er Guten Abend, Paul, sagte, klang hohl und fremdartig, als sei der frische Geist entflohen, der sie früher belebt und klangvoll gemacht hatte.

»Ach,« fuhr er fort, als er jene Anrede Paul's gehört, »Du bist ungeduldig geworden, ich glaube es; aber halt' ein und schelte nicht, ich komme Dir immer noch früh genug.«

Paul stand jetzt dicht vor ihm und musterte mit seinem scharfen Auge die auffallende Veränderung des Aussehens seines Freundes, und die Niedergeschlagenheit und die Ohnmacht desselben, die er sogleich wahrnahm, erhob fast seinen eigenen Muth wieder, der doch schon lange gesunken war.

»Sieh mich nicht so lange an und forsche mich aus, das gefällt mir heute nicht,« fuhr Fritz mit seiner tonlosen Stimme fort, »sondern setze Dich und höre mich an. Ich habe Dir viel zu sagen.«

Paul athmete bei diesen Worten laut, aber er bewegte sich nicht von der Stelle, denn zum Sitzen hatte er schon lange keine Ruhe mehr und den feindlichen Schlag, den er erwarten mußte, wollte er stehend empfangen, wie es einem Manne, der sich in sein Schicksal ergeben hat, geziemt. Fritz jedoch, als wäre er erstaunlich müde, ließ sich auf das Sopha fallen und stöhnte dabei laut.

»Nun,« fing Paul wieder an, »wirst Du bald reden? Oder muß ich noch länger zwischen Himmel und Erde in der Schwebe bleiben?«

»Nichts von Himmel, nichts von Himmel!« warf Fritz heftig hin, »die Hölle ist es allein, von der hier die Rede ist. Ah, nun kommt meine Wuth wieder, ich fühle es, und nun kann ich die Worte finden, die ich zu sprechen habe. Paul, ich bringe Dir tausend Grüße von meiner Mutter und von Betty,« setzte er langsamer und gedehnter hinzu.

»Von Betty!« klang es wie ein dumpfer Widerhall aus Paul's Brust hervor. »Ah! Und nun sprich rasch was ist mit ihr?«

»Was mit ihr ist?« fuhr Fritz fast unwirsch auf. »Nun, was denkst Du Dir wohl, he?«

»Ich denke jetzt gar nichts mehr, ich höre nur.«

»Nun, so höre denn: Ja, hahaha!« und bei diesem höhnischen Lachen kamen ihm die heißen Thränen in die Augen »verzeih, daß ich lache, aber bei Gott, wenn man ein schadenfroher Teufel wäre, man könnte sich über den Unsinn zu Tode lachen «

»Ueber welchen Unsinn denn? Fritz, ich bitte Dich, sei doch vernünftig!«

»Vernünftig? Ich? Wozu denn, wenn die ganze Welt so verrückt ist, daß sie einen solchen Unsinn zugiebt «

»Welchen Unsinn?« fragte Paul in einiger Erregung, da ihn seines Freundes Zustand zu ängstigen anfing.«

»Ach was,« fuhr Fritz fort »der Unsinn muß doch einmal heraus und wir haben uns lange genug den Kopf zerbrochen, wie wir es Dir mittheilen sollten, aber ich weiß nicht mehr, wozu sie riethen und mit welchen Worten ich zu Dir sprechen sollte, und so will ich es lieber offen und ehrlich mit meinen eigenen sagen: Betty, Paul, unsre gute, liebe, himmlische Betty, unsre Lebenssonne denn Du hast sie so lieb wie ich, ich weiß es Betty ist Braut geworden, hat Braut werden müssen und o! ja! in vier Wochen wird sie schon eine Frau sein!«

Paul sah ihn bei diesen mit einem gewissen Hohn und doch auch mit einer Wehmuth ohne Gleichen gesprochenen Worten starr an, als verstehe er ihn nicht recht oder als müsse er die Bestätigung derselben auf seinen Zügen lesen. Als er sie aber las, fand seine Brust kein Wort der Erwiderung. Nur war sein Gesicht leichenblaß geworden, seine Hände rangen sich krampfhaft in einander und von seiner Stirn perlte ein kalter Schweißtropfen nach dem andern nieder.

»Nun,« fuhr Fritz fort, aufmerksam nach dem Gesicht Paul's spähend, dessen Schweigen ihn in Verwunderung setzte, »und Du sprichst nichts darauf?«

»Nein!« sagte da eine kalte, aber feste und mannhafte Stimme, die ein Zeugniß von der großen Willenskraft des Redenden gab, »nein, ich spreche nichts fahre Du aber fort in Deiner Rede, mein Freund.«

»Ach,« sagte Fritz, »jetzt begreife ich: Du bist starr geworden vor Schreck, wie wir Alle es waren, als wir die herrliche Botschaft vernahmen. Nun, dann kann ich ja fortfahren in meiner lustigen Erzählung. Ja, Betty ist Braut, ihr guter Herr Vater hat sie dazu gemacht, mit einer Eile und Hast, als ob er die Zeit nicht erwarten könnte, daß sie aus dem Hause käme; und ob sie auch nicht gewollt und dagegen gefleht und gerungen hat, und obwohl ihre Mutter ganz auf ihrer Seite gestanden und mit für sie gebeten hat sie hat es doch werden müssen, und da hast Du die ganze Geschichte auf einen Wurf.«

»Aber das ist ja schrecklich!« rief Paul, dem nun die Worte kamen, mit fast ächzender Stimme, »wie kann denn ein Vater so grausam sein!«

»Das frage ihn nur und er wird Dir die Antwort geben: O, ich bin klug und weise! Mein Kind und Ihr Alle wißt nicht, was meinem Kinde heilsam ist, ich allein bin der Allwissende und glücklicherweise auch der Allmächtige in dieser Beziehung. Ich sorge für mein Kind am besten und am sichersten, wenn ich ihm einen reichen und vornehmen Mann gebe, denn alles Uebrige, was darum und daran hängt, Empfindung, Gefühl, Neigung, Liebe, was man so nennt, das Alles ist nichts als eingebildetes dummes Zeug.«

»Sprichst Du im Ernst?« fragte Paul mit wogender Brust, während wieder ein wärmerer Pulsschlag in sein erkältetes Herz trat.

»Nun, natürlich, warum sollte ich nicht? Was ist einem solchen Vater von hochadligen Gefühlen an dem wirklichen Glück seines einzigen Kindes gelegen, wenn er nur seinen eigenen Dünkel und Hochmuth befriedigt. Ein Kind aus den Banden der Familie zu reißen, in denen es glücklich ist und es einem Fremden in die Arme zu schleudern, der keine Liebe, kein Vertrauen erweckt, der nicht die geringste Bürgschaft bietet, dies Kind in Ehren zu halten, welches ihm nur aus blindem Gehorsam folgt und weil es keinen eigenen Willen hat und haben darf das ist einmal so die humane Art und Weise so vornehmer Väter, die sich was Besseres und Edleres dünken als alle anderen vom Weibe geborenen Menschenkinder!«

»Aber das ist ja in Wahrheit schrecklich!« erwiderte Paul, noch immer in dumpfer Betäubung seinen Freund anstarrend, der sich nun ausgetobt zu haben schien und ruhiger geworden war.

»Ja, gewiß ist es schrecklich,« fuhr er viel sanfter fort. »Meine Mutter ist außer sich, mein Vater hat geweint wie ein Kind, daß er auf diese Weise die Betty verlieren soll denke Dir das und wir, nun wir, ach, mein guter Paul, wir haben den halben Tod davon, nicht wahr?«

Paul schritt auf Fritz zu und drückte ihm herzlich die Hand und dabei nickte er wehmüthig mit dem Kopfe. »Ja,« sagte er, »wenigstens das halbe Leben, und die schönste Hälfte davon, ist uns mit Betty entwichen. Also in Dobberan hat diese Tragödie gespielt?«

»Ja, ja, ja, in Dobberan hat sie begonnen und ein Ende genommen und der Hauptacteur, als Heldenvater, hat, da ihn Niemand beklatschen wollte, sich selbst beklatscht, und darum, weil ihm der kühne Wurf gelungen ist, seine Tochter an einen von jenen kahlschädligen Baronen zu verschachern, der zehntausend Thaler jährliche Rente, ein großes Gut und darauf eine süperbe Jagd hat, darum ist er so glücklich gewesen.«

»Also ein Baron ist es?« fragte Paul, leise erhebend, nachdem er sich neben Fritz auf das Sopha gesetzt hatte.

»Ja, ein Baron von Wollkendorf auf Wollkendorf da oben im Herzogthum Bremen, in irgend einem abgelegenen Erdzipfel, wo nur Möwen und Schaafe in den Mooren und Haiden leben, da residirt der gnädige Herr und dahin nimmt er o Paul, wie grausam ist das! dahin nimmt er unsre liebe Sonne mit, um sich seine ewigen Wolken von ihr verscheuchen zu lassen. Und siehst Du,« fuhr er eifrig fort, »darum hat sie auch nicht mehr an mich geschrieben. Als sie den ersten Brief abfaßte, da war das Unheil noch nicht geschehen und sie war noch ganz unsre Betty, obgleich das blanke Schwert schon an einem seidenen Faden über dem armen Opfer hing. Da trat ihr Vater eines Tages zu ihr heran und machte sie mit seinem und des Herrn Barons Wunsche bekannt. Da erfolgte die schreckliche Scene zwischen Vater und Tochter und Mutter. Und als nun der Vater Sieger geblieben war, wie es bei seiner Uebermacht nicht anders sein konnte, schrieb Betty natürlich nicht mehr, denn sie hätte ihm ihre Briefe zeigen müssen, weil er gar zu gern mit eigenen Augen gesehen hätte, wie glücklich sie selbst war, indem sie uns ihr Glück verkündigte.«

»Nun ist es mir auch erklärlich!« tönte es still aus Paul's Brust hervor.

»Gewiß! Und in drei Wochen wird der Herr Bräutigam kommen und das ganze Haus beglücken und in vier Wochen wird er sie heimführen auf seine Wollkenburg.«

»Das ist noch ein Glück!« stöhnte Paul.

»Ah, Du meinst, weil dann die Pein nicht so lange für uns dauert darin hast Du Recht. Aber das wird eine recht vergnügliche Hochzeit werden! Meine Eltern nehmen unter keiner Bedingung daran Theil, und damit ist glücklicherweise auch Betty einverstanden, nur ihre Mutter kann sich noch nicht darein finden, daß ihre einzige Schwester nicht auf der Hochzeit ihrer einzigen Tochter sein soll. Doch mein Vater bleibt fest und kommt erst mit meiner Mutter von der Reise wieder, wenn das glückliche junge Paar fort ist, sie werden den Herrn Baron also vielleicht gar nicht einmal kennen lernen. Haha! Da werde ich also der Märtyrer unserer Familie sein. Gut, das muß ich schon, dann hat die arme Creatur doch einen Freund in ihrer Nähe, der mit ihr ein und dasselbe Gefühl theilt.«

Paul nickte stumm mit dem Kopfe. »Ich danke Dir,« sagte er endlich mit auffallender Ruhe, »daß Du mir diese Mittheilung in einer so großen Aufregung gemacht hast, aus der nur der Schmerz Deines Herzens spricht. Aufregung von Außen macht mich immer ruhig im Innern. Aber wenn die Sache wirklich so weit gediehen ist, wie Du sagst, und nicht mehr zurückgethan werden kann, dann dann laß uns nicht mehr von dieser Hochzeit sprechen ich bitte Dich darum.«

»Da hast Du Recht, das wollen wir auch nicht. So, ah! nun ist mir die Brust leicht, nun weißt Du Alles, jetzt habe ich mich ausgeschüttet und nun kann ich wieder nach Hause gehen und meine arme Mutter trösten. Du wirst sie doch morgen besuchen?«

»Ich werde sie besuchen, verlaß Dich darauf.«

»Nun, dann wird sich ja das Uebrige schon finden darf ich Dich jetzt verlassen? Es wird mir zu eng hier im Zimmer, ich muß frische Luft schöpfen. Willst Du mich vielleicht begleiten?«

Paul schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe. Geh' Du getrost, ich habe sogar das Bedürfniß, mit mir allein zu sein.«

»Lebe wohl!« sagte Fritz aufstehend und seinem Freunde die Hand hinreichend, die dieser lange und herzlich drückte und dann kurz den Abschiedsgruß erwiderte.

Fritz hatte das jetzt ganz dunkle Zimmer verlassen und Paul saß allein auf seinem Sopha, den Kopf auf die Brust geneigt, die Hände gefaltet, und sprach still mit sich und seinem Gott. Der Schlag war entsetzlich, der ihn getroffen hatte, das Weh, das seine Brust zerriß, kaum erträglich, und doch ertrug er es und bezwang es, wie ein Mann es muß, der auf keinen andern Beistand als auf seinen eigenen zu rechnen hat. Vielleicht auch kam ihm sein natürlicher Stolz zu Hülfe, der unbewußt in ihm schlummerte, vielleicht auch das Mitleid mit Betty, mit ihrer Mutter, ihrer Tante, seinem Freunde Fritz und dessen wackerem Vater, und als er so eine halbe Stunde allein zugebracht, war der Seelenkampf ausgekämpft, sein Herz blutete zwar noch in langsam rinnenden Tropfen, aber der Sturm brauste doch nicht mehr so gewaltig wie vorher und allmälig brach sich eine ruhigere Empfindung in ihm Bahn.

Plötzlich hob er den Kopf in die Höhe und schien nun erst zu bemerken, daß es im Zimmer um ihn her dunkel war. Da stand er leise, als wolle er Niemand stören, auf, nahm ruhig die Lampe von einem Seitentisch, zündete sie an und setzte sie auf sein Schreibpult nieder.

Bald darauf saß auch er auf einem Stuhl davor und öffnete einen verborgenen Kasten. Das alte Album der Mutter kam ihm in die Hände und er schlug langsam die erste Seite auf.

Da stand es vor ihm, was ihm plötzlich in den Sinn gekommen, und er beugte seinen Kopf nieder und las:

»Leide, meide, schweige und ertrage!
»Deine Noth Niemand klage!
»An Gott, Deinem Schöpfer, nicht verzage,
»Denn das Glück «

Weiter las er nicht. Ach, das Glück konnte ihm ja heute nicht mehr kommen, das fühlte er nur zu tief, aber in den gelesenen Worten war sein ganzer gegenwärtiger Trost enthalten, und lange, lange gab er sich in dieser Nacht diesem Troste hin, bis er ganz sein Eigen geworden und sein Wesen durchdrungen hatte. Erst als er sich dieses göttlichen Gewinnstes klar bewußt geworden war, erhob er sich von seinem Sitze, und dann von einer tiefen, an Erschöpfung gränzenden Müdigkeit heimgesucht, wie sie das übermäßig gequälte Herz endlich in der Regel überfällt, legte er sich still zu Bett, und kaum hatte er so viel Zeit, den Spruch noch einmal sich langsam vorzusprechen, da hatte ihn der Schlummer ergriffen und der Welt und ihrer Sorge, den Schmerzen und der Bitterkeit des Lebens entrückt, um ihn die Süßigkeit des Selbstvergessens kosten zu lassen, die nur dem Schlafenden oder dem Todten zu Theil wird, dem Todten, der erst in einer besseren Welt erwacht und dann vielleicht sanft lächelnd und voller Verwunderung auf das vergängliche Trübsal dieser Erde zurückblickt.


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