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Achtes Kapitel.
Auf Betty's Ruh

Endlich dürfte es wohl auch für uns an der Zeit sein, uns nach Betty's Ruh zu begeben und das geheimnißvolle Schloß, an das sich so viele Räthsel knüpften und auf welches so manche, hie und da unsern Lesern bereits angedeutete Hoffnung gerichtet war, mit eigenen Augen zu betrachten und auf die Verhältnisse der Personen näher einzugehen, die durch eine besondere Fügung der Vorsehung gegenwärtig in demselben zu walten berufen waren. So wandeln wir denn dem mit eiligem Schritt seinem Ziele zustrebenden Paul van der Bosch voran, damit wir, wenn er daselbst eintrifft, schon von manchen Einzelnheiten unterrichtet sind und dann mit ihm selbst um so ungestörter an die auf seine Schultern gelegte Arbeit gehen können.

Die eigenthümlichen Umstände, denen das Gut Betty's Ruh seinen jetzigen Namen, den Neubau des Schlosses und die gegenwärtigen Einrichtungen in des letzteren Umgebung verdankte, kennen wir schon, und so viel müssen wir dem Gründer derselben zugestehen, daß er, wenn er auch ein seltsamer Sonderling und in einer Beziehung ein ängstlicher Geizhals, anderer dagegen fast ein Verschwender gewesen, doch seinen unschuldigsten und reinsten Jugenderinnerungen treu geblieben war. Als Jüngling hatte er zum ersten Mal das einsam gelegene Besitzthum seines Principals betreten, und die Eindrücke, die, sein Herz und Gemüth daselbst empfangen, waren so nachhaltig und unauslöschlich gewesen, daß sie selbst der vieljährige Aufenthalt im schönen tropischen Lande und eine allmälig sich immer glänzender entfaltende Lebensstellung nicht hatten verwischen können. Schon dem Greisenalter nahe und durch eigenthümliche Gewohnheiten und besondere Gesinnungsart der gegenwärtigen Zeit und Lebensweise entrückt, zog ihn die Sehnsucht noch einmal nach der Stätte zurück, wo seine Jugendliebe begraben lag, und nun hielt er es für seine erste Pflicht, über diesem Grabe nach seinem Geschmack einen Altar zu gründen, an dem er vielleicht in mancher einsamen bitteren Stunde seine Andacht verrichtete, sein von Aufregungen volles und eigentlich zielloses Leben in allen seinen wunderbaren Phasen noch einmal in Gedanken durchwanderte und so wenigstens sich im Traume einen Genuß und ein Glück vorspiegelte, welche das wirkliche Lesen ihm so unerbittlich und grausam versagt hatte.

Das Gut Betty's Ruh hatte, wie wir wissen, ehemals dem Vater seiner verstorbenen Betty gehört und schon dieser hatte mit seinen damals bedeutenden Mitteln das ursprünglich aus Geestland und zum Theil nur aus Marschland bestehende Grundstück wesentlich zu cultiviren gesucht, was ihm auch bis zu einem gewissen Grade gelungen war. Durch reichliche Anpflanzungen kleiner Nadelholzwaldungen hatte er den feindseligen Nordwestwind davon abzuhalten gewußt und nun entstand allmälig jenseits dieser Schutzbäume ein schöner und kunstgemäß angepflanzter Park, der mit großen Kosten, aber glücklicherweise mit nicht geringerem Geschmack in's Leben gerufen ward.

Als nun aber Quentin van der Bosch das Gut mit seinem alten Wohnhause – jetzt die Wohnung des zeitigen Pächters – übernahm und unter Beirath eines aus Holland herbeigezogenen Baumeisters nach seiner eigenen Idee sich in der Nähe des Grabes seiner Betty ein schöneres und kostbareres Haus erbaute, da wurden noch viel größere Mittel auf den Park und das Gedeihen des Gutes verwandt und im Laufe von ziemlich sechs Jahren entstand auf diese Weise eine Niederlassung, die nicht allein die Verwunderung der Nachbarn erregte, sondern auch dem Besitzer so vollständig zusagte, daß er sie fast keine Stunde verließ und in derselben gleichsam eine gelungene Verkörperung des ihm inwohnenden Ideals gefunden zu haben glaubte.

Der Flächeninhalt von Betty's Ruh betrug jetzt etwa achthundert Morgen vollständig cultivirten Landes, wovon allerdings zweihundert auf das Schloß und dessen nächste Umgebung kamen.

Der Park, in dessen Mitte das Schloß lag, war rings mit einem eisernen Gitterwerk umgeben, welches auf steinerner Unterlage ruhte, und nur an einigen Stellen, wo der Besitzer keinen Einblick von außen hatte gestatten wollen, war eine acht Fuß hohe Mauer von Backsteinen gezogen, die auch an der Stelle sich erhob, wo der nach Norden sehende Eingang lag. Das schwere eiserne Gatterthor, welches diesen Eingang verschloß, wurde von einem alten Diener gehütet, und dieser war einer der Wenigen gewesen, der auch unter dem neuen Herrn sein altes Asyl und sein leichtes Amt hatte behalten dürfen. Hatte man diesen Eingang, der zwischen zwei kleinen thurmartigen Gebäuden von runder Form lag, hinter sich, so ging man auf einem vielfach gewundenen und chaussirten Fahrwege durch eine Allee von Buchen, Kastanien und Eichen dem Schlosse zu, das sich plötzlich bei einer Biegung des Weges zum ersten Mal in seiner ganzen Schönheit und Großartigkeit darstellte, obgleich gerade die Hauptfront nach Süden lag und also erst bei der Umgehung desselben sichtbar ward.

Unmittelbar vor dem mächtigen, aus broncirtem Eichenholz bestehenden Eingangsthor lag ein großer, mit schön gruppirten Bäumen und Blumen geschmückter Rasenplatz, in dessen Mitte zu früherer Zeit eine Fontaine aus einem Marmorbecken emporsprang, wie dergleichen in verschiedener Form und Größe noch an mehreren anderen Stellen des Parkes vorhanden waren, die alle eine Dampfmaschine in Bewegung setzte, welche in der Nähe des Schlosses, hinter dichtem Tannengebüsch ganz versteckt, ihren Platz gefunden hatte. Seit ungefähr einem Jahre aber hatten alle diese Fontainen keinen Tropfen Wasser mehr sprudeln lassen. Still und verlassen lagen die Delphine und Tritonen, die den silbernen Strahl einst so lebhaft von sich gegeben, auf ihren trockenen Steinblöcken, still und verlassen wie auch der ganze Park sich darstellte, in dessen Gängen nur selten ein Menschenfuß sich erging, wenn nicht der alte Gärtner mit dem noch älteren Parkhüter sich bemühte, irgend eine unbedingt nöthige Arbeit darin zu verrichten, damit der allmälig hereinbrechende Verfall des Ganzen, wie man ihn jetzt leider erwarten mußte, doch nicht zu schnell um sich greife und das Auge des schweigsamen und still wandelnden Herrn nicht dadurch getrübt werde – eine vergebliche Besorgniß der alten Leute, denn dieser still wandelnde Herr sah nur wenig von Allem, was ihn umgab, da er stets mit sich selbst und seinen so lange in's Stocken gerathenen Gleichungen beschäftigt war, wenn er einmal auf seinem alltäglichen Spaziergang durch den Park schritt.

Von diesem Rasenplatz nun aus gesehen, stellte die Nordseite des im holländischen Styl erbauten Schlosses sich ebenso imposant wie schön dar, obgleich ein feines Kennerauge wohl Mancherlei an der Ausstattung des Aeußeren hätte kritisiren können. Es war ein etwa hundert Fuß langes und beinahe eben so breites Bauwerk, aus röthlich gestrichenen Backsteinen, welches sich über einem Souterrain in zwei Stockwerken erhob und reichlichen Schmuck von graugeädertem Marmor in den hervorstechenden Linien seiner Façaden zeigte.

Das ungeheure Dach, so weit man es wahrnehmen konnte, war flach und bestand aus großen, dicht übereinandergeschichteten Schieferplatten, wurde aber mit Ausnahme der Hauptfront auf allen Seiten durch vielfach durchbrochene und zinnenartig ausgezackte Giebelwände verdeckt, deren hochaufstrebende Spitzen dem ganzen Gebäude eine scheinbare Höhe verliehen, welche es in Wirklichkeit nicht besaß, die aber noch um ein Bedeutendes von dem runden Thurm überragt wurde, der die Mitte der Südfront schmückte. Auf diesem Thurme drehte sich, wie auf dem nördlichen Giebel ein colossaler Blitzableiter angebracht war, ein ungeheurer, aber sehr schön modellirter, stark vergoldeter Mercur, dessen über den linken Arm gebreitetes Gewand den Wind auffing, so daß seine rechte ausgestreckte Hand stets die Richtung angab, aus welcher derselbe blies.

Von der Basis dieses Thurmes erhob sich das Dach auf beiden Seiten zu zwei rundlichen Kuppeln, die mit Glas gedeckt waren und dem Tageslicht ungehinderten Eintritt in die darunter liegende Räumlichkeit gestatteten, die wir sogleich näher kennen lernen werden.

Ueber dem Eingangsthor auf der nördlichen Seite sprang aus dem Fußboden des zweiten Stockwerks ein breiter von sechs Säulen getragener Marmorbalcon vor. Oben war er mit einer Ballustrade umgeben und zwischen den beiden mittleren Säulen führten einige Stufen in die Eingangshalle, die hoch durch beide Stockwerke ging, von oben durch eine dritte Glaskuppel ihr Licht empfing und zu beiden Seiten breite marmorne Treppen mit ächtem Broncegitter zeigte, die mit dichtem wollenen Zeuge belegt waren, so daß kein Schritt innerhalb des Hauses gehört werden konnte.

Diese kostbare Halle wollen wir ebenso wenig näher beschreiben, wie die Gemächer im oberen Stockwerk; wir begnügen uns vielmehr, zu sagen, daß alle sehr reich ausgestattet waren und viele prachtvolle Gemälde, Statuen und andere Kunstgegenstände enthielten, die Quentin van der Bosch theils in Holland, theils in Italien von seinen Agenten hatte ankaufen lassen. Ein Theil dieser Gemächer war zur Aufnahme von Fremden eingerichtet, bisher aber war noch keiner in sie eingetreten und sogar der ehemalige Herr des Hauses selbst hatte sich nur selten aufgelegt gefühlt, in ihnen umherzuwandeln, da Alles, was er am meisten liebte und zur Lebenserheiterung bedurfte, in seinem gewöhnlichen Wohnzimmer und dessen nächster Umgebung enthalten war.

Dieses Wohnzimmer aber, von dem wir schon in dem mitgetheilten Brief des Rentmeisters eine schwache Andeutung erhalten haben, müssen wir vor Allem genauer zu beschreiben versuchen, da es wohl zumeist geeignet ist, ein scharfes Streiflicht auf den freundlosen und verlassenen Einsiedler zu werfen, dessen Laune und Menschenscheu es versucht hatte, sich in demselben ein Paradies ganz eigener Art zu schaffen, was ihm auch bis zu einer gewissen Gränze so ziemlich gelungen war. Zu diesem Wohnzimmer, gemeinhin der große Saal genannt, welches die ganze Südfront des Schlosses und, wie die Halle, die Höhe beider Stockwerke einnahm, gelangte man von dieser Halle aus durch drei gleich große Gemächer, von denen das erste mit Eichenholzgetäfel bewandet und mit Waffen und Flaggen aller möglichen Völkerschaften verziert war. Das zweite, mit rother Sammettapete bekleidete, enthielt die Privatgalerie Quentin's und hier waren herrliche Originalgemälde aus der niederländischen Schule zu sehen, die der Besitzer schon aus Patriotismus allen übrigen vorgezogen hatte. Das dritte war ein mit künstlichem weißen Marmor überzogenes Blumenzimmer, an dessen breiten und erkerartig vertieften Fenstern zu jeder Jahreszeit auf beweglichen Ständern allerlei Gewächse Platz fanden, die zu betrachten und selbst zu pflegen für Quentin van der Bosch stets ein großer Genuß gewesen war.

Aus diesem Zimmer führte eine mächtige Flügelthür von reich mit vergoldeter Bronce ausgelegtem Mahagoniholz in den großen Saal des ehemaligen Besitzers selbst, und diese Thür, erwähnen wir es hier gleich, war die einzige, welche der Saal überhaupt besaß, obgleich auf der entsprechenden Stelle an derselben Wand eine gleiche Thür angebracht war, die jedoch einem ganz anderen Zwecke als dem Ein- und Ausgang diente, wie wir später erfahren werden.

Wie schon bemerkt, war derselbe ein gewaltiger Raum von einigen neunzig Fuß Länge und der verhältnißmäßigen Breite, während seine Höhe die des ganzen Schlosses, das Souterrain und den Thurm abgerechnet, betrug. Zufolge seiner Architektur sowohl wie seiner inneren Einrichtung und Ausstattung bestand er eigentlich aus drei verschiedenen Theilen, die aber ein ununterbrochen zusammenhängendes und harmonisches Ganzes bildeten.

Betrachten wir zunächst den größeren Mittelraum, so erkennen wir sehr bald, wenn wir an das mittelste der fünf colossalen Fenster desselben treten, die jedes aus einer großen Glasscheibe bestanden, von außen aber mit vergoldeten und tief ausgebauchten Eisengittern versehen waren, daß dieser Theil selbst die Mitte der Südseite des Schlosses einnahm. Die Wände desselben waren, wie die der beiden Seitenräume, mit glatt polirtem seegrünen Gypsmarmor überzogen, der Fußboden aus Taxus- und Cedernholz getäfelt, aber mit ungeheuren persischen Teppichen von kostbarem Stoff und herrlicher Farbenmischung belegt. Die Decke stieg in anmuthig geschwungener Wölbung über einem reichverzierten Fries in die Höhe; in dem freien Mittelfelde des sechseckigen Plafonds aber war ein großes Frescobild gemalt, eine Allegorie des Handels vorstellend, voll lebensgroßer schöner Figuren, unter denen der Gott Mercur eine hervorragende Stellung einnahm.

Dem mittelsten Fenster gegenüber lag auf der entgegengesetzten Seite des Saales ein breiter und tiefer, mit seiner Hinterwand bis an die Eingangshalle reichender Alkoven, der bei Tage mit purpurrothen Sammetvorhängen geschlossen war und dessen innere Einrichtung wir erst später kennen lernen werden. In der Mitte des Raumes zwischen diesem Alkoven und den Fenstern stand ein ungeheurer runder Tisch auf einem prachtvoll broncirten Fußgestell, von dem aber wenig zu sehen war, da eine mit Goldfranzen umsäumte, fast bis auf den Boden reichende grüne Sammetdecke den Tisch verhüllte. Um ihn herum stand ein Dutzend Sessel, von bequemster Form und ebenfalls mit grünem Sammet überzogen, an denen Franzen und Troddeln von Gold auf keine Weise gespart waren.

Zu beiden Seiten des Alkovens sah man zunächst zwei kostbare Schränke von dunkler, mit Gold und Perlmutter ausgelegter Holzart, und dann kamen auf jeder Seite ein Kamin von schwarzem Marmor, deren Simse prachtvolle Vasen von Porphyr, Granit, Malachit und japanischem Porzellan schmückten. Vor diesen Kaminen waren leicht bewegliche Chaiseslongues und Sessel aufgestellt, die je nach Bedürfniß dem Feuer näher oder ferner gerückt werden konnten. Zunächst diesen Kaminen kamen auf beiden Seiten die schon vorher bezeichneten, reich mit vergoldeter Bronce ausgelegten Mahagonithüren, womit nun der Mittelraum abschloß, um in die beiden Nebenräume überzugehen. Die breiten Wände neben dem mittelsten Fenster waren mit colossalen, bis auf den Fußboden reichenden Spiegeln, die der anderen Fenster mit Oelgemälden geschmückt, unter denen abermals wie auf der gegenüberliegenden Seite zwei kostbare Schränke standen, die mit Sammlungen aller Art gefüllt waren.

Was nun die beiden Nebentheile dieses großen Saales betrifft, die ihr Licht durch die hoch darüber gewölbten Glaskuppeln empfingen, so enthielt der zur Linken der Eingangsthür liegende die Bibliothek und an der Fensterwand den ungeheuern Schreibtisch, ein Meisterwerk von dunklem Acajouholz, reich mit Perlmutter und Silber ausgelegt, das in seinem weitbauchigen Innern Hunderte von Fächern und Kasten barg, die sämmtlich mit Schätzen aller Art, Curiositäten und dergleichen gefüllt waren. Die hohen Bücherschränke von gleichem Holze an den beiden freien Wänden enthielten reich gebundene Bücher, die allen möglichen Sprachen und Wissenschaften angehören mochten. Zwischen ihnen und in den Ecken erhoben sich auf granitenen Postamenten Statuen von carrarischem Marmor, und an jedem freien Wandraum waren Oelgemälde in entsprechenden Rahmen angebracht. Vor dem Schreibtisch stand auf broncenen Rollen der bequeme Sessel des Verstorbenen, den auch der jetzige Besitzer benutzte, sonst aber war der Raum zwischen den Bücherschränken und dem Schreibpult vollkommen frei.

Der diesem entsprechende, auf der entgegengesetzten Seite des Saales liegende Raum war eine Art Gesellschaftszimmer, reichlich mit größeren und kleineren Tischen und Sesseln versehen und an den Wänden herrliche Landschaftsgemälde zeigend, welche die schönsten Gegenden der Welt darstellten. In der Mitte desselben aber stand das Billard, und die dazu nöthigen Utensilien bewahrte ein an der Wand befindlicher kleiner Schrank von Ebenholz.

Bei Tage erhielt dieser ganze Raum eine fast magisch helle Beleuchtung durch seine fünf großen Fenster in der Mitte und die beiden Glaskuppeln über den Seitensälen; bei Abend aber wurde er einst nicht nur durch verschiedene Wandleuchter, sondern hauptsächlich durch drei herrliche Kronleuchter von blitzendem Bergcrystall erleuchtet, von denen der mittelste unmittelbar über dem runden Tisch vor dem Alkoven hing. Das Billard wurde noch besonders durch tragbare Candelaber erhellt, die in der Nähe an der Wand standen und wie jene Kronleuchter gegenwärtig noch mit denselben halb abgebrannten Wachskerzen besteckt waren, die ihr Licht ausgesandt hatten, als der ehemalige Besitzer dieses herrlichen Schlosses in den Armen seines treuen Secretairs seine Augen für alle Ewigkeit schloß.

Noch Eins müssen wir bemerken, bevor wir in unserer Erzählung fortschreiten, und das ist die Aussicht, die man von den so sorgfältig vergitterten Fenstern und namentlich von dem mittelsten derselben genoß. Vor diesen Fenstern lag der am besten gepflegte und am zierlichsten gehaltene Theil des Parkes. Ueberall sah man herrliche Baumgruppen, durch kleinere Gebüsche mit einander verbunden, und im Hintergrunde, jenseits einer smaragdgrünem kurz geschorenen Rasenfläche, tauchte das schöne sogenannte Mausoleum auf, in welchem jetzt Quentin van der Bosch mit seiner Betty schlief. Obgleich es einige hundert Schritte vom Schlosse entfernt lag, gewahrte man doch deutlich in seiner Umgebung eine reiche Blumenzier, die von einem glitzernden und mit schweigsamen Schwänen bevölkerten Wasserspiegel umgeben war. In der Mitte dieses Wassers erhob sich die kleine Insel mit dem grünen Hügel, worunter das festgemauerte Grabgewölbe lag, und auf der Spitze desselben ragte auf granitenem Sockel eine schneeweiße Marmorfigur empor, die wir später als eine Psyche erkennen werden, welche sich auf ihren leichten Flügeln von dem Mühsal der Erde zu dem lichtvollen Himmel aufschwingt.

Was nun den Eindruck betrifft, den ein kunstsinniger Mensch empfinden mußte, wenn er zum ersten Mal in diesen glanzvollen, lichten und, architektonisch wie künstlerisch, so glücklich ausgestatteten Saal trat, mußte er unter allen Umständen ein eben so mächtiger wie überraschender sein. Wie das Ganze zuerst das Auge bewältigte, indem es das so reichlich Gebotene nicht auf der Stelle umfassen konnte, so entzückte es bei näherer Betrachtung alles Einzelne. So viel Verschiedenartiges, an Farben und Formen mannigfach Gestaltetes es hier auch gab, – eine wohlthuende Harmonie lag doch in Allem und Jedem, Alles war eben so schön wie bequem, so reich wie kunstvoll, und wer sich an die große Räumlichkeit nicht sogleich gewöhnen und im ersten Augenblick sich darin nicht heimisch fühlen konnte, der erkannte doch nach längerem Verweilen sehr bald, daß sie auch ihr Gemüthliches hatte, zumal darin für jedes Bedürfniß gesorgt war und jeder plötzlich entstehende Wunsch sofort erfüllt werden konnte.

Wenn man sich nun diesen schönen Saal und das ganze große Haus von einem lebhaften und glücklichen Familienkreise, einer hinreichenden thätigen Dienerschaft bewohnt und häufig von benachbarten Freunden und Bekannten besucht vorstellt, so dürfte man es ohne Zweifel für ein eben so kostbares wie angenehmes Besitzthum halten; gegenwärtig aber, wie es so menschenleer, öde und verlassen dalag, machte es mit allen seinen reichen Schätzen und Sammlungen, mit seinem verödeten Park und Garten und seinen trockenen Springbrunnen einen nur zu traurigen und fast melancholischen Eindruck auf den Beschauer. Dieser Eindruck wurde noch peinlicher, wenn man irgend einem der alten Diener begegnete, die noch hier und da, gelangweilt oder ihrer oft vergeblichen Mühe überdrüssig, irgend eine Pflicht mit fast maschinenartiger Gleichgültigkeit erfüllten. Auch ihnen war der frühere frische Lebensmuth und die Lebens- und Arbeitslust entschwunden, seitdem sich auf Betty's Ruh Alles so sehr verändert, seitdem ihre befreundeten Kameraden sie verlassen hatten und der Glanz des Hauses, auf den kein Anderer stolzer ist als die treuen Diener desselben, so vollständig erloschen war ein Glanz, wofür sie selbst das milde Gesicht des neuen Herrn und sein freundliches, leutseliges Wort nicht entschädigte, wenn er, was häufig auf seinen Spaziergängen geschah, bald mit diesem, bald mit jenem ihm begegnenden Diener sprach und ihn nach seinen Verhältnissen, Arbeiten und Wünschen fragte. O ja, sie antworteten ihm auch ehrerbietig und freundlich auf diese Fragen, aber die Wehmuth, die ihr ganzes Herz erfüllte, sprach sich doch dabei in ihren Gesichtszügen und Mienen aus, und Keiner fühlte mehr als der Professor selbst, daß diese Wehmuth eine gerechtfertigte, daß er nicht der Mann sei, die Wünsche dieser Menschen zu erfüllen und daß es ihm unter den obwaltenden Umständen nie gelingen würde, ein geliebter und von seinem schönen Besitz befriedigter Herr von Betty's Ruh zu werden, wie er es seiner ganzen Naturanlage nach wohl so gern hätte sein mögen.

Bevor wir jedoch in unserer im vorigen Kapitel abgebrochenen Erzählung fortfahren und Paul van der Bosch an diesen seltsamen und räthselhaften Ort begleiten, müssen wir um einen Tag in der Zeit zurückkehren und getreulich berichten, was auf Betty's Ruh vorging, als Paul in dem Hause zum Vierländer saß und die wunderbaren Erzählungen vernahm, deren Wahrheit er nun bald durch eigene Anschauung bestätigt finden sollte.

Auch auf dem stillen Landsitze war an diesem Tage die Hitze groß gewesen und alle im Freien verkehrenden Leute hatten aus den allmälig näher rückenden Anzeichen das kommende Gewitter vorausgesehen. Nicht so der Professor Casimir van der Bosch. Hitze und Kälte gab es eigentlich für ihn nicht, wenigstens brachte keins von beiden die geringste Abweichung von seiner alltäglichen Beschäftigung hervor. Er dachte, arbeitete und rechnete an schlimmen wie an guten Tagen in gleicher Weise und mit gleicher Hingebung, und nur über den Sonnenschein freute er sich, wenn er ihn auf seinen Spaziergängen begleitete, denen er auch hier, wie wir wissen, aus alter Gewohnheit treu geblieben war, die sich aber, wo keine besondere Pflichterfüllung ihn an bestimmte Stunden band, jetzt oft auf die doppelte Zeit ausdehnten, welche sie an seinem früheren Aufenthaltsort in Anspruch genommen hatten.

Da man jetzt in Betty's Ruh Punct ein Uhr zu Mittag zu essen pflegte, was Jedermann daselbst und auch die wenigen in der Umgegend wohnenden Bekannten wußten, und da der jetzige Herr viel weniger Zeit dazu bedurfte als der verstorbene, der mit Behagen und in größter Seelenruhe täglich seine sechs Gänge zu verspeisen und seine zwei Flaschen edlen Weines dabei zu trinken pflegte, bei welchem Genuß ihm in der Regel der Rentmeister Hummer Gesellschaft leistete, so war der Professor um halb zwei Uhr schon zu seinem weiten Gange gerüstet und da er jetzt jeden Tag mit großer Sehnsucht den, wie Frau Dralling sich ausdrückte, ›verschriebenen‹ Neffen erwartete, der ja ohne Zweifel über Cuxhafen kam, so schlug er auch heute den Weg dahin ein, vertiefte sich aber unterwegs so sehr in verschiedene Berechnungen, daß er sich bisweilen an irgend einer geeigneten Stelle niedersetzte und sein Notizbuch zur Aushülfe hervorzog, wobei er denn freilich nicht die Vorgänge beobachtete und, etwa eine halbe Stunde von der Kugelbaake entfernt, von dem gewaltigsten Platzregen überfallen wurde, dem er in seinem Leben bisher noch preisgegeben war. Da er sich um diese Zeit gerade in der Nähe eines ihm bekannten Bauerngehöftes befand, so sprach er in demselben ein und hielt sich hier etwa drei Stunden auf, bis ihm der Regen zu ausdauernd und das Warten zu langweilig wurde und er sich nun von dem Gespann des Bauers wieder nach Hause fahren ließ.

Während seiner etwa vierstündigen Abwesenheit von Betty's Ruh nun wollen wir sein Schloß besuchen und die beiden Personen näher kennen lernen, die um diese Zeit daselbst auf den Schauplatz traten, da wir vermuthen, daß der Leser an Beiden einen genügend großen Antheil nehmen wird, zumal er die eine derselben noch nicht vor Augen gehabt, sondern erst aus Erzählungen Paul's und anderen brieflichen Mittheilungen kennen gelernt hat. –

Der Hausherr hatte das Schloß so eben verlassen und war mit Hut und Stock in den Park getreten. So stand der große schöne Saal, den auch er bewohnte, leer und nichts regte sich darin als ein alter schneeweißer Kakadu mit gelber Tolle und Schweif, der stumm wie ein nachdenklicher Weltweiser auf seiner vergoldeten Stange nicht weit von dem Billard entfernt saß und dann und wann, gleichsam unwillig über die ihn umgebende Eintönigkeit, sein glattes Gefieder schüttelte und dabei einen rauhen Kehllaut ertönen ließ, der halb wie ein Seufzer, halb wie ein Gemurr über seine augenblickliche Verlassenheit klang.

Aber nicht lange sollte seine Verlassenheit dauern, es gab doch noch eine mitleidige Seele im Schlosse, die seine Einsamkeit theilen wollte, und als die Person, in der diese Seele wohnte, in seinen Gesichtskreis trat, stieß er ein freudiges Gegurgel aus, das freilich unharmonisch genug durch den weiten öden Raum schallte.

Noch nicht fünf Minuten waren vergangen, seit sich hinter dem abgehenden Professor die schöne Mahagonithür mit dem vergoldeten Schmuckwerk geschlossen, als dieselbe sich wieder öffnete und eine Frauengestalt eintrat, die zur gegenwärtigen Zeit bei Jedermann auf dem Gute für die Hauptgebieterin des ganzen Schlosses galt. Es war Niemand anders als Frau Thusnelda Dralling, der alte Dragoner, wie ihr Herr sie im Scherz nannte, ein Ausdruck, der allerdings einigen Anspruch machen durfte, für einen ziemlich richtigen zu gelten. Denn Frau Thusnelda Dralling, die Wittwe des ehemaligen Polizeisergeanten, war eine Frau von fünfzig und einigen Jahren, konnte aber zufolge ihrer körperlichen Erscheinung, ihrer Rüstigkeit und Beweglichkeit recht gut um zehn Jahre jünger geschätzt werden. Es war eine stämmige, markige Gestalt von etwas umfangreichen Verhältnissen, einem treufesten und kerngesunden Gesicht, aus dem zwei kluge graue und überaus scharfe Augen hervorsahen, die jenen seltsamen, manchem Menschen eigenen Ausdruck besaßen, als sei ihnen von der Vorsehung die Gabe verliehen, zwanzig verschiedene Winkel mit einem einzigen Blick zu durchforschen.

Dennoch war dieses lebhafte Auge, wenn man es einer genaueren Musterung unterwarf, gegenwärtig leicht umflort; irgend eine die gute Frau bedrückende Sorge sprach sich darin aus, und selten hatte man ihren redseligen Mund so viel und so verstohlen seufzen gehört, als es jetzt fast den ganzen Tag über geschah.

Wie der Professor noch den Trauerflor um Hut und Rockärmel trug, den er nach dem Tode seines Bruders angelegt, so ging auch Frau Dralling noch in dem schwarzen Kleide einher, welches sie vor einem Jahr von ihrem Herrn zum Geschenk erhalten. Nur hatte sie seit einigen Monaten wieder ihre gewohnte, bis an den Hals hinaufreichende weiße Hausschürze vorgesucht, um den fetten Hals ein kirschrothes seidenes Tuch geschlungen und ihre schneeweiße Haube, die trotzig auf dem pechschwarzen Scheitelhaar saß, mit einem eben solchen Bande verziert, gleichsam um dadurch zu zeigen, daß es doch noch eine Farbe auf der Welt gäbe, die greller und brennender sei als das Roth, welches auf ihren trotz der vielen Sorgen wohlgenährten Wangen blühte.

Als Frau Dralling die Thür leise hinter sich geschlossen, bewegte sie sich mit luchsartig vorgestrecktem Kopfe unhörbar über den weichen Teppich dem kostbaren Schreibpult ihres Herrn zu, auf welchem Wege sie schon der grelle Schrei des alten Kakadus erreichte, dem sie ein »Schweig, altes ausländisches Thier!« mit einer gebieterischen Handbewegung zurief, was allerdings ein Ruf und eine Geberde war, die manchem Menschen imponirt haben würden, aber durchaus keine Wirkung auf die Schreilust des ausländischen alten Thieres übten.

Frau Dralling ließ sich jedoch dadurch nicht in ihrem Vorhaben stören. Ruhig schritt sie dem Schreibsecretair zu, den sie mit haarscharfen Augen überflog, ob auch nicht irgend wo ein Schlüssel stecken oder ein Fach offen geblieben sei; und da diesmal ›der alte Mann‹, wie sie ihren Herrn gewöhnlich nannte, ihren hundert Mal wiederholten Rath befolgt und Alles wohl zugeschlossen hatte, nahm ihr Gesicht vorläufig den Ausdruck behaglicher Zufriedenheit an und nun schritt sie langsam von Schrank zu Schrank, einen jeden mit den Händen prüfend, ob er auch eben so gut verschlossen und verwahrt sei; – beiläufig gesagt, ein Manöver, welches sie tagtäglich so oft wiederholte, als der Professor den Saal verließ, wie sie es denn überhaupt in ihrer neuen Lage für eine ihrer ersten Pflichten hielt, die Hüterin seines Besitzes zu sein, da ›der alte Mann‹ selbst ja nicht die geringste Sorge dafür hatte und allem Gesindel und herumvagabondirenden Spitzbuben seine ›kostbaren Reichthümer‹ so selbstmörderisch preisgab.

Als sie nun so die Runde gemacht und Alles wohlverwahrt gefunden hatte, gab sie ihre Zufriedenheit dadurch zu erkennen, daß sie eine Minute bei dem Kakadu stehen blieb und ihm freundlich den Kopf kraute, was dieser sich wohlgefallen ließ und, auf diese Weise besänftigt, wieder in seinen gewöhnlichen philosophischen Halbschlummer zurücksank.

Als sie endlich ›das alte ausländische Thier‹ verließ, vor der zweiten im Saal vorhandenen Thür ankam und auch diese fest verschlossen fand, nickte sie mit einem bedeutsamen Blick überaus befriedigt, sah einen Augenblick nach dem großen Chronometer hinaus, der auf dem Kaminsimse stand und begab sich dann an den Schreibtisch ihres Herrn zurück, wo sie einige von ihm gebrauchte Bücher, die er nach seiner Gewohnheit auf den ersten besten Stuhl gelegt, in das dazu bestimmte Repositorium stellte, damit sie nicht, wie in der Stadt einst, wie ›Kraut und Rüben durcheinander‹ an den unpassendsten Orten liegen blieben. Nachdem sie nun auch hier die nöthige Ordnung hergestellt, trat sie an die prachtvollen Vorhänge von Purpursammet, welche den Alkoven schlossen, zog sie auf ihrer vergoldeten Stange so weit zurück, bis sie von einer an der Wand befestigten Schlinge gehalten werden konnten und ließ so das helle Tageslicht in einen Raum fallen, den genauer zu besichtigen auch wir erst jetzt Gelegenheit finden.

Ohne Zweifel war dieser Alkoven eine sehr wichtige Räumlichkeit für den verstorbenen Quentin van der Bosch gewesen, denn er hatte ihm nicht allein zum Schlafgemach, sondern auch zur Aufbewahrung seiner bedeutungsvollsten Documente und baaren Gelder gedient. Demgemäß war er auch eingerichtet und ausgestattet und der Erbe hatte nicht das Geringste daran verändert, bis auf diesen Augenblick, wo Frau Dralling nach langen Debatten mit ihrem Herrn endlich ihren Vorschlag durchgesetzt hatte, dem bisher unentweiheten Heiligthum zu einem ganz besonderen Zweck eine etwas andere Gestalt zu geben,

Der ganze Alkoven war ein mehr langer oder tiefer als breiter Raum, obgleich auch seine Breite für eine ansehnliche gehalten werden konnte. Am Saale unmittelbar hinter den jetzt zurückgeschlagenen Vorhängen beginnend, stieß er mit seiner hinteren Wand an die Eingangshalle, ohne jedoch zu ebener Erde durch eine Thür mit dieser verbunden zu sein. Wohl aber konnte man auf einer am Ende des Bettes angebrachten eisernen Wendeltreppe, die unten wie oben durch eine feste eiserne Thür stets verschlossen und verriegelt war, auf die obere Galerie der Halle und von hier aus in alle Gemächer des ganzen Hauses gelangen, ohne irgend eine andere Treppe zu berühren.

Die Wände dieses Alkovens waren mit einem weichen grünen Wollstoff überzogen, der den Schlafenden vor jeder Feuchtigkeit schützen sollte und der an Farbe und Dichtigkeit völlig dem Velourteppich gleichkam, welcher den ganzen mit rautenförmigen Holzstücken getäfelten Fußboden bedeckte. Die Decke war hoch und rund gewölbt, hellblau wie der Frühlingshimmel gemalt und reichlich mit goldenen Sternen besäet.

Wenn man vom Saal aus eintrat, stand zunächst an der linken Wand das prachtvolle, aus Buchsbaumholz künstlich geschnitzte Bett, in welchem Quentin van der Bosch einst geschlafen und nun auch sein Bruder Casimir schlief, nachdem er die mit Seide überzogenen Daunenbetten hatte entfernen und gewöhnliche mit Leinen überzogene an deren Stelle legen lassen. Zunächst dem Bett, und zwar hinter der an dieser Stelle wegzuhebenden Wandbekleidung, lag die eiserne Thür zu der Wendeltreppe, und hinter dieser stand eine große Commode, ebenfalls aus Buchsbaumholz im Rococcostyl geschnitzt, von jeher dazu bestimmt, die Leibwäsche des Besitzers in ihren weitbauchigen Truhen aufzunehmen. Neben dieser Commode sah man einen reichen Toilettentisch, von Elfenbein mit Silber ausgelegt, auf dem alle Gefäße von feinstem mit Blumen bemalten japanesischen Porzellan waren.

Die Hinterwand enthielt drei in das Mauerwerk eingelassene Schränke. In der Mitte den großen, vortrefflich gearbeiteten eisernen Geldschrank, und zu beiden Seiten desselben zwei ähnliche von Eichenholz, für Kleidungsstücke bestimmt.

Die Wand zur Rechten dagegen war mit einem Sopha, einem kleinen Tisch davor und verschiedenen Sesseln besetzt, und auf diese, für diesen Ort ihr zur Zeit überflüssig erscheinenden Gegenstände hatte Frau Dralling heute ihr Hauptaugenmerk gerichtet.

Zuerst jedoch spähte sie auch in allen Ecken des Alkovens umher, ob ›der alte Mann‹ nicht etwa irgend ein Kleidungsstück an die unrichtige Stelle gelegt. Nachdem sie sich aber überzeugt, daß Alles in bester Ordnung, ergriff sie eine an der Seite des Bettes ihres Herrn hängende Klingelschnur und zog sie zweimal hinter einander stark an.

Es dauerte nicht lange, so erschienen an der Thür des Saales der Kutscher, der alte Gärtner und die jüngere der im Hause gebliebenen Mägde, um die ihnen von Frau Dralling bereits aufgetragenen Dienste zu leisten, da sie ja die Einzigen waren, die zu Arbeiten, wie sie hier vollbracht werden sollten, verwandt werden konnten.

»Aha,« rief Frau Dralling mit einem leichten Schwenken der Arme ihnen entgegen, »da seid Ihr schon! Das ist gut. Nun tretet einmal näher und traget den Tisch, das Sopha und die Stühle hinaus und stellt sie in dasselbe Zimmer, aus dem Ihr das Bett und den Toilettentisch nebst der Commode holt.«

»Wir haben schon Alles vor der Thür, Madam,« sagte der Kutscher, welcher der rüstigste und gesprächigste dieser drei alten Dienstboten war.

Frau Dralling gab noch einmal einen Wink, daß man das Werk beginnen solle, und in wenigen Minuten waren die bezeichneten Möbel entfernt und ein großes schönes Bett mit passender Commode und Toilette nahmen deren bisherige Stelle ein. Als nun Frau Dralling, nachdem sie die Diener wieder entlassen, das Bett vorschriftsmäßig überzogen und Alles in Ordnung gebracht hatte, stand sie mit in die Seite gestemmten Armen da und beschaute mit heiterem Gesichtsausdruck das schnell vollbrachte Werk.

»So,« sagte sie in lautem Selbstgespräch, »so habe ich es also doch endlich durchgesetzt, was mir durchaus nothwendig erschien, und es soll Einer erleben, er wird es mir noch danken! Ja, es mußte so und durfte nicht anders sein. Aber was ist das – Pferdegetrappel – im Park?«

Und sie sprang rasch an das nächste Fenster, schaute hinaus und kam noch zur rechten Zeit, um eine anmuthig im Sattel sitzende Reiterin auf einem schönen braunen Pferde am Fenster vorüber galoppiren zu sehen, die, als sie die Haushälterin gewahrte, ihr einen Gruß zuwarf, der trotz seiner Flüchtigkeit eben so viel Vertraulichkeit wie natürliche Freundlichkeit erkennen ließ.

»Ach Du lieber Gott, das ist ja prächtig!« rief Frau Dralling erfreut, indem sie sofort den Saal verließ und nach der Halle lief, wohin die Reiterin sich ohne Zweifel begab. »Es ist die Frau Baronin von Wollkendorf! Na, das muß man sagen, die ist eine eifrige Schülerin. Sie kommt vierundzwanzig Stunden zu früh zum mathematischen Unterricht, denn morgen Nachmittag wurde sie ja erst von dem Professor erwartet!«

Da hatte sie die Halle erreicht, vor ihr aber war schon die Reiterin daselbst angelangt und mit Hülfe des ihr folgenden Dieners in Livree schnell aus dem Sattel gestiegen. Die lange Schleppe ihres schwarzen Reitkleides trug sie über dem linken Arm und die Reitpeitsche in der mit braunledernen Stulphandschuhen bekleideten Rechten. Ueber ihr anmuthiges, von der schnellen Bewegung in der heißen Luft lieblich geröthetes Gesicht flog ein helles und freundliches Lächeln, als sie die behäbige Frau Dralling wiedersah und von derselben auf's Herzlichste begrüßt wurde.

»Ja, ja, Sie wundern sich, liebe Dralling,« sagte sie, mit ihr durch die drei Vorzimmer dem Saale zuschreitend, »daß ich schon heute komme. Allein – es machte sich gerade so und ich hatte Lust zu einem tüchtigen Ritt. Ueberdies mußte ich wohl kommen, wenn ich den Professor morgen nicht vergebens auf mich warten lassen wollte.«

»Was haben Sie denn morgen zu thun, daß Sie keinen Unterricht nehmen können?«

Die Baronin lächelte. »Ich habe Besuch, liebe Dralling,« sagte sie leichthin, »es hat sich Jemand ansagen lassen und da konnte ich doch nicht erwidern, daß ich wegen einer mathematischen Stunde in Betty's Ruh sein müsse.«

»Natürlich, natürlich. Und wie befindet sich die Frau Mutter, Frau Baronin?«

»O, es geht ihr viel besser – nur das Zimmer will sie noch nicht verlassen, da sie etwas ängstlich ist. Indessen wird es bei der Wärme, wenn sie so anhält, bald möglich sein, sie zu einer Spazierfahrt zu bewegen und dann kommt sie gewiß auch einmal hierher. – Ah,« fuhr sie fort, als sie in den geräumigen und lustigen Saal trat, »ab, hier ist es kühl und frisch. Welche köstliche Temperatur herrscht hier immer und welch' einen schönen Eindruck macht das Ganze stets auf mich! – O, draußen wird es bald ein tüchtiges Gewitter geben und ich bin froh daß ich unter Dach bin. Aber wo ist denn der Professor?« fragte sie, sich rings im Saale umschauend. »Er wird doch noch nicht ausgegangen sein? Ich bin absichtlich deshalb so früh gekommen.«

»Und doch ist er leider schon fort, Frau Baronin, und zwar nach Cuxhafen. Er erwartet ein Schiff und mit diesem seinen Neffen, den Herrn Baumeister Paul, den er nun wirklich auf unsern Rath verschrieben hat.«

Diese Worte mußten von gewichtiger Bedeutung sein, denn sie übten auf die Dame im Reitkleide einen mächtigen Einfluß aus. Oder war es vielleicht die Folge der Einwirkung der kühleren Luft im Saal, daß sie plötzlich erst ganz bleich und dann glühend roth wurde?

»Also er hat wirklich und endlich an ihn geschrieben?« fragte sie mit einem seltsamen Lächeln, indem sie den Kopf von Frau Dralling weggewendet hielt.

»Gewiß, und er hat es sogar sehr eilig gemacht, der Herr Professor, so daß er den Neffen nun jeden Tag erwarten kann. Und sehen Sie da – ich war eben dabei, sein Bett hier aufzuschlagen – denn er soll neben dem Professor schlafen, das habe ich gegen den alten Trotzkopf doch endlich durchgesetzt.«

»Aber warum denn hier, da doch oben so viele und schöne Besuchzimmer sind?«

»Warum, gnädige Frau? Ei, mein Gott, wie Sie so fragen können! Sie sprechen ja gerade, wie der Professor anfangs gesprochen hat. Der hätte ihm freilich gleich das ganze obere Stockwerk eingeräumt, aber das war durchaus nicht nach meinem Geschmack. Unter uns gesagt, ich habe immer Angst, es könnte doch einmal in der Nacht, trotz des so gut verwahrten Hauses, irgend ein Bösewicht hereinbrechen und den alten Mann erwürgen, um ihn nachher zu berauben. Ach Du lieber Gott, und der gute Herr hört eben so wenig Diebe wie Mörder, wenn er rechnet oder schläft – er schläft nämlich so fest wie eine Windmühle, wenn sie keinen Wind hat, und wie taub er ist, wenn er rechnet, das wissen Sie ja. Wie leicht kann eine ruchlose Hand einem so alten Manne den entscheidenden Genickfang geben, nicht wahr? Nun also, damit das wenigstens nicht in der Nacht vorkommen kann, habe ich eben diese Vorsorge getroffen, wie es ja auch meine Pflicht ist. Mit einem Wort, der Herr Neffe soll hier dicht neben dem Onkel schlafen. Als ich den jungen Menschen vor etwa acht Jahren sah – es war damals, als er auf die Universität ging – da war er eben über die Zwanzig, und ein hochgewachsener Schößling, der einmal ein kräftiger Mann zu werden versprach. Jetzt ist er es hoffentlich geworden und kann nun seinen schwächeren Onkel in Schutz nehmen. Haha! und vernünftig wird er auch sein, – hoffe ich; der wird bald Alles mit meinen Augen ansehen und wird mich verstehen, wenn ich ihm sage, daß wir hier von lauter Spitzbuben, aber von keinen Gespenstern umlagert sind, wie die dummen Leute in der Küche es erzählen. Na ja, freilich, Spitzbuben sind es, die hier unsichtbar ihr Wesen treiben, und weiter nichts. Aber den Professor würde ich davon kaum überzeugen, wenn ich sie ihm auf der flachen Hand präsentirte, denn der alte Mann ist so tugendhaft und ehrlich, daß er alle Menschen für eben so tugendhaft und ehrlich hält. – Aber mein Gott, Frau Baronin,« unterbrach sie sich, nachdem sie tief Athem geschöpft, »Sie sprechen ja kein Wort und haben sich ganz erschöpft auf einen Stuhl niedergelassen. Ihnen ist doch nicht unwohl?«

»Bewahre, liebe Dralling, im Gegentheil, nur bin ich etwas rasch geritten und es ist heiß. Ach, bitte, knöpfen Sie mir doch die Schleppe ab, damit ich mich leichter bewegen kann – so – doch nun erzählen Sie weiter. Wie lange wird denn der Herr Neffe hier bleiben?«

»Der Herr Professor hat ihm geschrieben, er solle sich wenigstens auf ein Paar Wochen frei machen, so lange sei er durchaus hier nöthig.«

Die Dame im Reitkleide nickte. »Und Sie erwarten ihn bald?«

»Er kann jeden Tag kommen und vielleicht bringt der Professor ihn schon heute mit.«

Da die Frau Baronin auf diese Antwort nichts erwiderte und in ein stilles langes Nachdenken versunken blieb, fuhr die gesprächige Haushälterin wieder zu reden fort.

»Na, nun sehen Sie doch,« sagte sie, »wie ich sein Schlafcabinet eingerichtet habe – ist das nicht gut und hat der alte Herr nicht ganz unnütz dagegen geeifert?«

Die Dame stand auf, trat dem Alkoven näher und warf einen neugierigen Blick hinein, da sie diese Räumlichkeit des Saales früher noch nie gesehen hatte. »O ja,« sagte sie, »es ist ganz gut. Also das ist auch die Schlafstube des alten Holländers gewesen?« setzte sie hinzu, als ob sie zu sich selbst spräche.

»Ja, und da hinten ist auch der bewußte eiserne Geldschrank, Frau Baronin, und hier – sehen Sie, ist die Thür zu der Wendeltreppe –«

»Wohin führt diese?«

»Auf die obere Galerie der Halle. Doch halt, wir plaudern und plaudern, und damit vergeht die Zeit. Wie wäre es denn zunächst mit einer Tasse Kaffee, Frau Baronin?«

»Die nehme ich gern an, und während Sie draußen sind, werde ich es mir bequem machen, Frau Dralling. Ihren Herrn möchte ich gern heute sprechen und so will ich warten, bis er kommt. Ich habe Zeit in Fülle und kein Mensch hat darüber absoluter zu gebieten als ich. Also lassen Sie Kaffee machen und dann wollen wir plaudern, bis der Professor kommt.«

Als Frau Dralling den Saal verlassen hatte, ging in dem Wesen und der Haltung der Baronin eine plötzliche Wandlung vor. Sobald sie sich allein sah, stand sie auf, faltete die Hände und warf einen unaussprechlich innigen, gleichsam dankbaren Blick gegen die hoch über ihr sich wölbende Glaskuppel, als ob sie mit diesem Blick ein kurzes rasches Gebet zu dem Herrscher da über den Wolken emporsendete. Dann erst zog sie die Handschuhe aus, nahm den kleinen schwarzen Hut mit den wogenden weißen Federn und dem blauen Schleier vom Kopf und stellte sich vor einen der großen Pfeilerspiegel, um mit einem kleinen Kamm ihr durch den schnellen Ritt etwas in Unordnung gerathenes Haar zu glätten. Als sie aber auch damit zu Stande gekommen, drehte sie sich noch einmal nach dem Alkoven um, schritt ihm näher und betrachtete aufmerksam und bedächtig den ganzen Inhalt desselben. Nach einer Weile aber, als habe sie genug gesehen, ließ sie die schweren Vorhänge wieder zurückfallen und nun trat sie an das Fenster, da sich so eben draußen der erste Windstoß erhob, der dem heraufziehenden Gewitter voranging.

Ja, jetzt, bei dieser hellen Beleuchtung erkennen wir sie wieder, der wir als Betty von Hayden, als Fritz Ebeling's geliebte Cousine, als Paul van der Bosch's Freundin einst so nahe gestanden haben. Ja, wir erkennen sie auf den ersten Blick, wenn sie sich auch in den wenigen Jahren, in denen wir sie aus den Augen verloren, in manchen Einzelnheiten verändert hatte. Zwar war sie wohl nicht größer geworden, als sie damals gewesen, aber sie erschien doch vollkommener, ausgebildeter, denn ihre Büste hatte sich viel reicher entwickelt, die Rundung ihrer Arme, ihres Halses und Nackens hatte zugenommen und nur der ruhige, bedachtsame Gang, die anmuthigen schwebenden Bewegungen dabei waren dieselben geblieben.

Nun aber ihr Kopf, ihr Gesicht – hatten auch die sich verändert? Ja und nein, wie man es nehmen will. Der Kopf mit seiner reizenden ovalen Form war freilich derselbe geblieben; das schöne braune Haar war noch eben so reich und glänzend, fiel noch immer in wogenden, von einem feinen Netz umschlossenen Locken auf den vollen Nacken herab, und auf dem Vorderkopf über der marmorglatten und weißen Stirn mit den dunklen schön geschwungenen Augenbrauen flossen die einfach gescheitelten Haare sanft zu den lieblich gerundeten Wangen nieder.

Auf dem Gesicht aber nehmen wir die auffallendsten Veränderungen wahr. Es war zwar noch eben so schön, so jugendlich, so frisch wie vor einigen Jahren, ja, in Bezug auf die Farbe, welche der häufigere Aufenthalt in der freien Luft verleiht, noch frischer und blühender, aber in dem klaren, glänzenden lichtbraunen Auge lag ein ernsterer Blick und auf der makellosen Stirn ein sinnender Ausdruck, der ihr früher nicht eigenthümlich gewesen war und der die vorgeschrittene geistige Reife, welche Erfahrungen und Kummer immer hervorbringen, auch bei ihr in mildester Weise verrieth. Ihre feingeschnittenen etwas fleischigen Lippen endlich zuckten bisweilen wie von einer geheimen Empfindung zusammen, als ob ein magnetischer Draht von ihrem Herzen ausliefe und die Muskeln des sonst so sanften Gesichts in eine warm fluthende Bewegung versetzte.

So, mit diesen zuckenden Lippen und diesen ernst und sanft blickenden Augen sah sie jetzt nach dem Mausoleum auf der grünen Blumeninsel hinüber und richtete letztere dann zu den Wolken empor, die schon in heftigen Stößen über den weithin sichtbaren Horizont flogen und den bereits ganz nahen Sturm verkündete.

»Es giebt ein starkes Gewitter,« sagte sie leise zu sich, »und ich bleibe an Betty's Ruh gebunden. Jetzt reite ich nicht und vielleicht werde ich später fahren müssen. Das thut aber nichts. Doch nun wird es Zeit, daß ich die Luftfenster in der Kuppel schließe, denn es beginnt schon zu regnen.«

Und rasch trat sie an eine Wand der Bibliothek, in welcher der sinnreiche Mechanismus angebracht war, welcher einige Fenster in der Kuppel nach Belieben öffnete oder schloß. Da sie mit demselben vertraut war, lagen die Fenster bald in ihrem Verschluß und nun konnte es regnen, so viel es wollte, jetzt sickerte nicht das kleinste Tröpfchen durch die festgefügten Metallrahmen. Als sie aber eben damit zu Stande gekommen, erschien Frau Dralling wieder und meldete den Kaffee an, der in der That auch bald von einer alten Hausmagd gebracht und auf einen Tisch in der Bibliothek gestellt wurde, an welchem Frau von Wollkendorf so eben Platz genommen hatte.

Während Frau Dralling nun die Wirthin machte, den Kaffee in die Tassen goß und den bereitgehaltenen Kuchen darbot, brach das Gewitter los, wiewohl bei Weitem nicht mit der Gewalt, wie wir es auf dem Deich bei Cuxhafen gesehen.

»Da haben wir's,« sagte Frau Dralling. »Nun sitzt der arme Professor in der Patsche. O, warum geht der alte Mann immer so weit, wo er doch jetzt so gut fahren könnte!«

»Wollen Sie ihm nicht lieber den Wagen entgegenschicken?« fragte die Baronin.

»Ich habe schon draußen mit dem Kutscher darüber gesprochen, aber der räth davon ab, da er seinen Herrn zu verfehlen fürchtet. Glauben Sie nur nicht, daß der gute Mann schon beim Vierländer ist, wohin er jetzt fast alle Tage geht. Gott bewahre, der sitzt unterwegs in irgend einem Graben und rechnet, und merkt erst, daß Wasser vom Himmel fällt, wenn er bis auf die Haut durchnäßt ist. Nein, nein, wir finden ihn nicht, ich kenne ihn schon darin. Er sucht sich jedenfalls das erste beste Haus auf und läßt sich dann zurückfahren, wenn er sieht, daß er nicht durch die Pfützen waten kann.«

Es entstand eine Pause, während Betty ihren Kaffee trank und dabei bedachte, daß Frau Dralling in ihrer Annahme nicht ganz Unrecht habe. Als sie aber die zweite Tasse ausgetrunken, erhob sie den Kopf gegen die Haushälterin und fragte mit anscheinender Ruhe:

»Neues ist wohl nicht vorgefallen, seitdem ich in voriger Woche hier war?«

»Neues? Ah, Sie meinen in Bezug auf das – das Bewußte? Ach Gott, nein, leider nicht! Doch das wundert mich auch gar nicht. Der Herr Professor versteht ja gar nicht zu suchen. Dazu gehören die Augen eines Luchses und nicht die eines Gelehrten, die nur Buchstaben und Ziffern zu enträthseln verstehen. Ha, Sie müßten einmal so einen ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend hier sein, und mit mir in allen den tausend Kasten und Fächern herumkramen, nicht wahr? Ei ja wohl! Und wenn er mir auch nur allein einmal die Schlüssel geben wollte, es sollte schon mehr gefunden werden als bisher.«

»Warum lassen Sie sie sich denn nicht einmal geben und suchen ordentlich nach? Er wird doch das nöthige Vertrauen zu Ihnen haben?«

»Das Vertrauen – zu mir?« fragte Frau Dralling fast erschrocken, indem sie ihre grauen Augen weit aufriß. »Na wahrhaftig, wenn er das nicht hätte oder nicht haben könnte, dann wäre ich gewiß am meisten zu beklagen. O, und ich hätte ihn auch schon längst darum angesprochen – aber der Neffe, der Herr Neffe, Frau Baronin, der hat mich davon abgebracht und auf ihn habe ich meine letzte Hoffnung gesetzt. Lassen Sie den nur erst hier sein, dem will ich schon Feuer in die Adern gießen und Lust zum Spüren machen – auf den rechten Weg, den ich kenne –« und hierbei erhob sie sich stolz und zeigte mit dem dicken rothen Zeigefinger auf ihre Brust – »werde ich ihn schon zu bringen wissen, oder ich müßte nicht die Wittwe eines Polizeisergeanten sein, die ihre Schule durchgemacht hat. Und darin, Frau Baronin, ich meine den Herrn Neffen, können Sie mir vielleicht helfen, wenn Sie ihn auch ein Bischen zwischen Ihre Finger nehmen und ihm ganz ehrlich sagen, was Sie darüber denken, wie?«

Betty erröthete, und als sie es selbst merkte, lächelte sie, indem sie einen Theelöffel, mit dem sie spielte, auf die Erde fallen ließ und sich danach bückte. »Ich will, es versuchen,« erwiderte sie, »auf meine Weise wenigstens. Doch – um auf den Professor zurückzukommen – ich kann gar nicht begreifen, warum er nicht selbst eifriger nach dem Fehlenden sucht.«

»Das können Sie nicht begreifen? O, ich sehr gut. Er macht sich eben aus der Erbschaft gar nichts, die wir gemacht haben, und Sie hätten nur die Noth mit ansehen sollen, als er sich anschicken mußte, sie in Empfang zu nehmen. Das allein ist der Grund alles Uebels, Frau Baronin. Was ist ihm denn daran gelegen, ob er hunderttausend Thaler mehr oder weniger hat? Im Gegentheil, je weniger er hat, um so weniger Sorge habe er, sagt er. Er hat ja eine wahre Angst ausgestanden, Gold in großen Haufen zu finden, und wenn er es in solcher Menge gefunden hätte, wie die dummen Leute es sagten, was hätte er dann damit angefangen, wie? Na, ich weiß es wohl, er hätte es doch an andere Menschen gegeben, wie früher sein Bischen Armuth schon, und er selbst hätte nicht den geringsten Genuß davon gehabt. O, o, ich kenne meinen Mann! Er ist viel zu gut, sage ich Ihnen, und eigentlich müßte er beständig Jemanden um sich haben, der ihn so recht zu nehmen weiß und seine Kräfte zusammenhält, denn mir – mir folgt er schon lange nicht mehr, wie ich dachte, daß er mir folgen würde, wenn er älter geworden wäre. Nein, der ist viel zu zähe geworden und ich beuge ihn nicht mehr. Da müßte eine geschicktere und vielleicht sanftere Hand kommen, wenn es gelingen sollte – mit einem Wort, Frau Baronin – er müßte sich verheirathen und zwar mit einer gescheidten und klugen Frau, die zwar Antheil an seiner Gelehrsamkeit nimmt – denn das gehörte bei ihm nothwendig dazu – aber doch seinen blinden Eifer darin zu zügeln verstünde.«

Die Baronin von Wollkendorf mußte unwillkürlich lächeln, aber sie nickte mit dem Kopfe dabei. »Sie mögen wohl Recht haben, Frau Dralling,« sagte sie, »eine solche Frau, wenn sie immer in seiner Nähe wäre, würde allerdings günstig auf ihn einwirken.«

»Nicht wahr?« fuhr die Haushälterin lebhafter fort, da sie hier einen gewünschten Beistand erhielt, »nicht wahr? Na ja, Sie sehen das ein, denn Sie sind eine gescheidte und kluge Frau und nehmen auch Antheil an seiner Gelehrsamkeit, warum hätten Sie sonst wohl mathematischen Unterricht bei ihm genommen? Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal gesagt – es war gleich im Anfange unserer Bekanntschaft – der Professor wäre eine ganz gute Partie für Sie, nicht wahr?«

Betty lachte fast laut und nickte wieder. »O ja,« erwiderte sie, »Sie haben mir das schon einmal gesagt und es wäre wahrhaftig so übel nicht. Ich könnte mit meinem zweiten Manne zufrieden sein, er würde mir wenige Hindernisse in den Weg legen, nach meiner Art zu leben, nicht?«

»O gewiß gar keine! Einen besseren, lenksameren und geduldigeren Ehemann als den Professor gäbe es gar nicht auf der Welt. Er ist zahm durch und durch, ich kenne ihn genau, wenn er auch manchmal jetzt so ernste und trotzige Blicke auf mich wirft. Aber ich habe mich noch keine Minute vor ihm gefürchtet, das können Sie mir glauben. Und nun sehen Sie sich einmal das Schloß und diesen Saal hier an, der Ihnen immer so wohlgefiel, wäre das nicht eine prächtige Wohnung für Sie? Und Geld – Geld haben Sie ja auch und – und der Professor ist über die bewußten sechszig Jahre hinaus – ha! also es paßt Alles auf ein Haar.«

Betty gab sich einem neuen Ausbruch ihrer Lachlust hin und nickte immer dabei mit dem Kopfe.

»Ja, ja, liebe Dralling,« sagte sie, »es paßt Alles auf ein Haar und die Sache verdient wohl überlegt zu werden.«

»O, überlegen Sie sie sich bald – Sie glauben gar nicht, wie gern ich Sie für immer hier hätte – und wenn Sie so weit sind, dann sagen Sie es mir. Ich werde ihn schon überzeugen, daß Sie wie für ihn geschaffen sind, und wenn er sich auch erst ein Bischen ziert, wie alte Junggesellen es in der Regel thun, er heirathet Sie doch und Sie werden gewiß glücklich mit ihm.«

Betty nickte, diesmal aber nicht lachend und kein Wort sprechend. Sie horchte nur nach dem Fenster hin, gegen welches der Regen laut prasselnd schlug und der Wind in heftigen Stößen blies. Dann wandte sie sich wieder zu Frau Dralling und sagte:

»Eben war es mir, als ob ich einen rollenden Wagen hörte –«

»O nein, nein, da irren Sie sich; es sind die Tropfen, die schwer auf das dicke Glas da oben fallen. Aber mein Gott, nun werde ich doch ängstlich um den Professor. Ich will einmal hinausgehen und dafür sorgen, daß gleich Jemand da ist, der ihn empfängt, wenn er kommen sollte. Denn nun bleibt er gewiß nicht lange mehr aus.«

Sie verließ den Saal und Betty war wieder allein. Kaum aber hatte sich die Thür hinter der Abgehenden geschlossen, so veränderte sich wieder der Ausdruck ihres Gesichts und dasselbe nahm eine überaus ernste Miene an. Sie stand von ihrem weichen Sitze auf, that rasch einige Schritte im Saal auf und ab, ließ ihre Augen flüchtig über die aufgestellten Kunstwerke schweifen und drückte dann ihre heißen Hände vor die noch heißere Stirn.

»Ich bin zu warm gekleidet für diesen schwülen Tag,« sagte sie zu sich, »aber nun muß ich es schon ertragen. Ich gehe nicht nach Hause – wenigstens nicht eher – als –«

In diesem Augenblick hörte sie im Vorzimmer die laute Stimme der Dralling ertönen, die in ihrem gewöhnlichen derben Tone Jemanden Vorwürfe machte.

Betty hielt in ihrem Gange inne und blieb wie angewurzelt mitten im Saale stehen. Ihr Busen hob sich – ihr Ohr wandte sich nach der Thür und ihr Auge nahm einen falkenartigen Blick an, als wolle sie durch die feste Wandung derselben in das andere Zimmer schauen, und indem sie so auf die Worte der Sprechenden horchte, hämmerte ihr Herz so laut, daß sie es selber hören konnte.

Da ging die Thür auf und herein trat, mehr rasch geschoben als von selber gehend, der Professor Casimir van der Bosch. Aber ach, wie sah der gute Mann aus!

»Sehen Sie, sehen Sie, beste Frau Baronin,« rief die Dralling zürnend, »sehen Sie, wie der alte Mann aussieht! Ist es nicht zum Erbarmen? Sieht er nicht aus wie eine Katze, die in's Wasser gefallen ist und nicht schwimmen kann? O, nur kein Wort, kein einziges Wort jetzt gesprochen, Herr Professor. Ich werde gleich Alles zurecht legen und dann gehen Sie hinein und ziehen sich erst trocken an, sonst erleben wir noch einen Schnupfen, und der ist für Gelehrte immer ein gefährliches Ding, weil er ihnen leicht in das Gehirn steigt.«

Mit diesen Worten verschwand sie hinter den Vorhängen des Alkovens, wo sie flugs eine Kerze anzündete und in der Commode ihres Herrn zu kramen begann. Unterdeß aber war der triefende Professor über den schönen Teppich auf die Baronin zugeschritten und streckte ihr schon von Weitem mit seinem ewig heiter lächelnden Gesicht seine feuchte Rechte entgegen, indem er sie auf das Herzlichste begrüßte und seine Freude aussprach, sie bei diesem Wetter geborgen in seinem Hause vorzufinden.

Da der Professor Casimir van der Bosch jetzt zum ersten Mal auch vor unsere Augen tritt, so haben wir wohl die Verpflichtung, wenigstens mit einigen Strichen die Erinnerung aufzufrischen, die der Leser noch aus der Erzählung seines Neffen von ihm bewahrt. Abgesehen von seinen nassen Kleidungsstücken, seinem triefenden Haar und Bart – denn er trug jetzt einen wohlgepflegten, wie Schnee schimmernden Backenbart – stellte er sich uns in seinem noch immer etwas zu langen Rock und dem weißen Halstuch fast ganz so dar, wie Paul ihn einst seinem Freunde Fritz Ebeling geschildert hatte. Nur Eins finden wir außer jenem Bart an ihm verändert und das war sein früher so lang getragenes üppiges Haar. Seitdem er auf Betty's Ruh lebte, hatte er es, das nun auch vollständig silberfarbig war, bedeutend verkürzen lassen, was ihm ein viel jugendlicheres und fast modernes Ansehen gab. Auf seiner breiten und hohen Stirn war zwar noch immer die tiefe Falte zwischen den ungeheuer starken weißen Augenbrauen vorhanden, aber es thronte auch noch das alte menschenfreundliche Wohlwollen, die unverwüstliche Milde darauf, die seiner ganzen Erscheinung eben so das Gepräge männlicher Würde wie unbeschreiblicher Gutmüthigkeit verlieh. In seinen großen blauen Augen leuchtete nach wie vor jener weiche freundliche Strahl, der ihm so leicht Aller Herzen gewann, und um seine stets zum Scherzen aufgelegten Lippen spielte ein Zug liebenswürdiger Schalkhaftigkeit, den selbst die Sorgen der letzten Zeit nicht hatten verwischen können. Da er noch im Besitz aller seiner Zähne war, so erschien auch der untere Theil seines Gesichts noch fest und ohne Spur gebrechlichen Alters, und der ewig thätige Geist, der in seinem Gehirn arbeitete, gab jedem, selbst dem einfachsten von ihm gesprochenen Worte, eine viel höhere Bedeutung, als ihm dem buchstäblichen Sinn nach inne zu wohnen schien. So begrüßte er denn auch heute mit seinem gewöhnlichen hellen und wohlthuenden Lächeln die junge Dame, der er seit kurzer Zeit so sehr zugethan war, die er stets gern bei sich sah und deren Gesellschaft ihm einen doppelten Genuß bereitete, da sie nicht nur seine liebenswürdige Nachbarin, sondern auf ihren eigenen Wunsch zugleich auch die gelehrige Schülerin in seiner über Alles geliebten Wissenschaft geworden war.

»Ach, Du lieber Gott,« sagte er zu ihr, »ich muß Ihnen eine nasse Hand reichen, meine liebe Frau Baronin, aber sie wird sogleich wieder trocken werden; die Alte« – dabei warf er einen schelmischen Blick nach dem Alkoven hin – »wird schon dafür sorgen. Haha! Eigentlich bin ich schon so naß gewesen, ehe ich auf den Wagen des Bauers stieg, der mich gebracht, aber wer hat auch seit der Sündfluth einen solchen Regenguß erlebt, wie er heute in der Nähe der See gefallen ist!«

Betty von Wollkendorf hatte sich mit der liebevollen Natürlichkeit einer Tochter dem Professor genähert und ihm herzlich die Hand gedrückt. Sie wollte eben einige Worte erwidern, als die Stimme der Frau Dralling schon erscholl, die laut und dringlich rief:

»Herr Professor! Ich bin fertig. Kommen Sie geschwind, damit Sie keinen Schnupfen kriegen. Es liegt Alles bereit.«

Der Professor legte mit lächelnder Miene einen Finger auf die Lippen, nickte der Baronin schalkhaft zu und sagte: »Nachher mehr! Der da muß ich wie meinem Schicksal gehorchen. Adieu!«

Er verschwand hinter den dichten Vorhängen, und nachdem er hier noch einige kräftige Ermahnungen von seiner Pflegerin und die Anweisung erhalten, daß er sich ja recht trocken mit den Handtüchern abreiben solle, trat diese mit erhitztem Gesicht aus dem Alkoven hervor und sagte, indem sie sich der Baronin näherte:

»Nein, wie ein vernünftiger Mann sich so naß werden lassen kann! Als ob es keine Schirme oder Hausdächer in der Welt gäbe! Na, Gott sei Dank! nun wird der Schaden bald ausgebessert sein. Aber ich muß Sie jetzt einen Augenblick allein lassen, gnädige Frau. Ich will nur rasch eine Tasse warmen Kaffee machen lassen, damit der alte Mann sich nicht erkältet.«

Und rasch, wie sie immer bei jedem Geschäft war, ergriff sie sogleich das auf dem Tisch stehende Kaffeegeschirr und verließ damit den Saal, um ihrer neuen Pflicht nachzukommen, während Betty lächelnd und halb beruhigt, halb enttäuscht, langsam in dem großen Saale auf und abschritt und mit der größten Geduld die etwas lange dauernde Toilette des alten Herrn abwartete.

Endlich kam er wieder zum Vorschein, und als er nun in einem neuen, viel kürzeren Rock, der schon nicht mehr an seine frühere Stellung erinnerte, und mit getrocknetem und glatt gekämmtem Haar und Bart hereintrat, lag auf seinem milden Gesicht ein sinniges Lächeln, das sagen zu wollen schien: »Nun, bin ich nicht ein gehorsames Kind und habe ich mich nicht schnell genug in neuen Staat geworfen?«

Betty flog ihm entgegen und reichte ihm noch einmal die Hand. »So,« sagte sie, mit ihren hellbraunen Augen sein ausdrucksvolles Gesicht musternd, »nun bin ich zufrieden. Jetzt sind Sie wieder trocken. Hoffentlich wird Ihnen die Nässe nichts schaden. Aber warum haben Sie sich auch dieser Gefahr ausgesetzt?«

»Meine liebe Baronin,« erwiderte er lächelnd und mit seiner leisen Stimme noch sanfter redend als sonst, »wer denkt an die Nässe des Himmels, wenn er auf trockener Erde wandelt oder gar sitzt? Ich ging ganz wohlgemuth meinem Ziele zu, setzte mich an einer bequemen Stelle ein wenig nieder und – und machte eben eine lange begonnene Arbeit fertig, da kam es ganz unerwartet vom Himmel herunter. Und dem darf man doch wohl nicht zürnen, nicht wahr? Nun sehen Sie, das that ich auch nicht, barg mich ruhig in einem Hause und nun bin ich ja hier. Also kein Wort mehr darüber. Ihnen geht es gut, das sehe ich – aber was macht die Frau Mama?«

»Es geht ihr auch ganz gut, Herr van der Bosch,« erwiderte Betty, den eben genannten Namen mit einem eigenthümlichen wohllautenden Nachdruck sprechend, »und sie läßt Sie bestens grüßen. Hoffentlich finden Sie sie nächste Woche ganz munter, wenn Sie uns besuchen, warum ich Sie bitten wollte, da ich in der nächsten Woche – vielleicht nicht hierherkommen kann, um meine Stunde zu nehmen. Auch morgen komme ich nicht, da ich – eine Abhaltung habe.«

»O, das ist schade. Dann könnten wir die Stunde ja gleich jetzt abhalten?«

»Jetzt? Ach nein, Sie sind von Ihrem Gange ermüdet und mir fehlt es an der nöthigen Ruhe. Also heute einmal nichts von Mathematik. Erzählen Sie mir lieber, was Sie trotz des drohenden Gewitters nach Cuxhafen führte.«

»Ei, das ist sehr bald und gern erzählt, meine Liebe,« entgegnete der arglose Professor. »Ich habe endlich Ihren Rath befolgt und an – den Jungen geschrieben. Nun erwarte ich ihn sehnsüchtig alle Tage und hoffte ihn in Cuxhafen oder auf dem Wege hierher zu finden. Aber – da brach das Gewitter los und ich habe ihn weder getroffen, noch weiß ich überhaupt, ob ein Schiff von Hamburg gekommen ist.«

»Wenn es heute nicht gekommen, kann es morgen oder jeden anderen Tag kommen, also fügen Sie sich in Geduld.«

»Natürlich, was bleibt mir denn Anderes übrig? Ach, meine liebe Frau, ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich auf meinen Neffen freue, seitdem ich ihn sicher erwarte. Ich habe ihn zwar lange nicht gesehen, aber seine Briefe gaben mir doch immer ein treues Bild von ihm. Er muß ein prächtiger Kerl geworden sein, und gelernt hat er was, Gott sei Dank! Wenn er sich nur von seinen Geschäften los machen und recht lange bei mir bleiben kann – das ist eine neue Sorge, die mich unterwegs sehr gepeinigt hat. Ich denke schon wieder an seine Abreise, da er noch nicht einmal hier ist. Finden Sie das nicht sonderbar? Aber so thöricht ist der Mensch, trotz aller seiner vielgerühmten Philosophie.«

Betty hatte sich in der Abtheilung des Saales, wo das Billard stand, mit dem Professor auf ein Sopha hinter einem kleinen Tische niedergelassen und seine Worte scheinbar ruhig angehört. Jetzt erhob sie langsam den Kopf, den sie allmälig gesenkt, sah dem Professor fest in das redliche Auge und sagte: »O nein, ich finde das gar nicht sonderbar. Man trennt sich ungern und schwer von Denen, die man liebt, ach ja! und Sie lieben Ihren Neffen gewiß.«

»Wie meinen eigenen Sohn, meine Liebe, wahrhaftig, und ich will es ihm beweisen. Wenn er nur erst hier ist! O, o, dann werde ich wieder aufathmen, wieder arbeiten und rechnen können, denn die andere Arbeit – Sie wissen ja – die mir jetzt so schwer auf dem Herzen liegt, die soll er allein übernehmen und ich will mich ganz seinem Rathe überlassen. Thue ich darin nicht Recht?«

»Gewiß thun Sie darin Recht. Sie hätten es schon früher thun sollen.«

»Ach ja, freilich, jetzt sehe ich es auch ein. Aber was hätte er denn hier gehabt, wenn er mich in meinen Verwickelungen gefunden, die ich Ihnen ja vor zwei Wochen ganz offenherzig mitgetheilt habe, wie?«

Betty senkte wieder den Kopf und lächelte still vor sich hin. Sie war zu ihrer ruhigen Stimmung zurückgekehrt und der Scherz, dem sie in der Nähe des alten Herrn immer zugeneigt war, fing allmälig wieder an, sich ihres elastischen Geistes zu bemächtigen. Eben wollte sie etwas erwidern, als Frau Dralling mit einer großen Tasse Kaffee hereintrat und sie vor den Professor auf den Tisch stellte.

»Trinken Sie, Herr Professor, trinken Sie rasch,« sagte sie; »nichts ist besser gegen Erkältungen als heißer Kaffee.« Und als der Professor nun die Tasse an seine Lippen führte, fuhr sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf die Baronin fort: »Und wenn Sie getrunken haben, Herr Professor, dann lassen Sie sich von der gnädigen Frau erzählen, was wir vorher mit einander gesprochen haben, das nützt auch gegen die Erkältung.«

Mit diesen Worten ging sie gravitätisch nach dem Alkoven, um dort wieder die Arbeit des Aufräumens zu beginnen, wie sie sie jeden Augenblick des Tages mit unsäglicher Geduld und liebevoller Hingabe verrichtete.

»Was hat die Alte denn mit Ihnen gesprochen, Frau Baronin?« fragte der Professor, nachdem er die Tasse rasch halb leer getrunken.

Betty lächelte schelmisch. »O, Frau Dralling hat keinen üblen Gedanken geäußert,« sagte sie wenigstens ist er ganz geeignet, Ihnen das Leben zu versüßen.«

»Na, da bin ich sehr neugierig.« entgegnete er. »Was war es denn für ein Gedanke, lassen Sie mich ihn doch hören. Die Alte hat oft ganz erschrecklich närrische Einfälle, namentlich wenn sie sich den Dragonersäbel umschnallt.«

»Nun, so ganz närrisch war dieser Einfall eigentlich nicht. Mit einem Wort: sie möchte Sie gern verheirathet sehen.«

Der Professor machte große Augen und sah seine liebenswürdige Gefährtin verwunderungsvoll an. »Mich möchte sie verheirathet sehen? Ach, Du lieber Gott, hat diese Narrheit sie schon wieder heimgesucht?«

»Aber wo steckt denn da die Narrheit, lieber Herr van der Bosch? Ich sehe sie gar nicht darin.«

Des Professors Augen erweiterten sich noch mehr. »Auch Sie?« fragte er ganz leise. »Nun, das ist ein sehr logischer Gedanke! Wahrhaftig, wer sollte mich alten Menschen denn noch heirathen wollen?«

Betty lachte wieder wie früher. »Sie hatte sogar einen Vorschlag zu machen,« fuhr sie fort, »und der – der war so übel nicht –«

»Wie – will sie mich etwa selber heirathen? Den Dragonersäbel mit der Mathematik vermählen?« brachte der Professor etwas herber hervor, indem die tiefe Falte auf seiner Stirn sich um das Doppelte vergrößerte.

»Ach nein, eine solche Hoffnung hegt sie wohl nicht, ihr ist es allein um Ihr Wohl und Glück zu thun. Aber sie hat – verzeihen Sie die Offenherzigkeit, die ja zwischen uns Gebrauch geworden ist – sie hat an mich dabei gedacht,« fügte sie sanft lächelnd hinzu.

Der Professor saß wie ein Bild von Stein vor der jungen schönen Frau und wußte nicht, was er sagen sollte. »Und was haben Sie ihr darauf geantwortet?« fragte er endlich mit bebenden Lippen.

»Ich habe nicht Ja, nicht Nein gesagt und mit mir einige Zeit zur Ueberlegung vorbehalten. Was meinen Sie denn zu einer Frau, wie ich es bin!«

»Du lieber Gott!« rief der Professor seufzend, während Frau Dralling eben den Alkoven verließ und einen glückstrahlenden Blick auf das lebhaft plaudernde Paar zurückwarf, »was wollte eine so liebliche Fee mit einem so alten Bären anfangen, wie ich einer bin! Das ist doch nur ein Scherz und als solcher ist er freilich recht hübsch.«

»Nicht wahr? Das sage ich auch,« rief Betty fröhlich. »Nun, wir sprechen künftig noch mehr darüber. – Aber wie wäre es, Herr Professor, wenn wir eine Partie Billard spielten? Es ist noch immer hell genug dazu.«

Der Professor stand sogleich auf und ging nach dem kleinen Schrank, wo die Bälle und Queues aufbewahrt wurden. »Ja,« sagte er, »das thue ich recht gern. Früher habe ich nie begreifen können, wie die Menschen mit einem solchen Spiel ihre Zeit todtschlagen konnten. Aber seitdem Sie mich belehrt, daß man dabei rechnen kann, ja daß man den Stoß mathematisch berechnen muß, um den richtigen Abschlagswinkel zu erzeugen, seitdem hat mich eine Art Passion dafür ergriffen. Soll ich die Alte rufen, damit sie uns die Bälle aufsetzt?«

»O nein, das thun wir allein,« rief Betty, indem sie die drei Bälle schon auf ihre Puncte stellte. »So. Ich setze mich aus und Sie haben den ersten Stoß, da ich die letzte Partie gewann. Nun fassen Sie den rechten Punct in's Auge, damit die Caroline richtig abschlägt. Hier wird er sein. Sie lieben ja das Doubliren. Ha – diesmal war es richtig. Sie haben doch ein prächtiges mathematisches Auge.«

Der Professor freute sich wie ein Kind über seinen herrlichen Stoß oder vielmehr über seine richtige Berechnung, und so setzten sie das Spiel ruhig bis zum Ende fort, wobei Betty laut zählte. Als der Professor aber die erste Partie gewonnen hatte, wozu seine Mitspielerin absichtlich das Meiste beigetragen, legte sie ihr Queue nieder und sagte:

»Sie haben mich besiegt, wie es in der Ordnung ist, und für heute wollen wir uns damit begnügen. Ich bin in meinem Reitrock zu warm gekleidet und will mich nicht übermäßig erhitzen. Morgen oder übermorgen können Sie mit Ihrem Neffen spielen.«

»O, das werden Sie doch auch thun,« sagte der Professor, indem er an der Seite seines Besuchs langsam im Saal auf- und abging. »Nicht wahr, Sie werden mich auch besuchen, wenn er hier ist?«

Betty zögerte eine Weile mit der Antwort. »Ich hoffe es,« sagte sie endlich leise, »wenn Sie ihn mir zuerst auf Wollkendorf zugeführt haben. Nicht wahr, darauf darf ich doch rechnen?«

»Nun, das versteht sich ja von selber. Ich werde ihm bald sagen, was für eine gelehrige Schülerin ich in dieser Einöde gefunden habe und wie Sie mit, seitdem ich das Glück habe, Sie zu kennen, diese Einöde verschönert und verherrlicht haben – doch nun? Denken Sie an den Aufbruch bei diesem Wetter? Es regnet ja immer noch.«

Betty war an ein Fenster getreten und schaute forschend nach den Wolken empor. »Ja,« sagte sie, »ich glaube, ich muß Sie um Ihren Wagen bitten. Es hört so bald noch nicht auf und meine Mutter möchte besorgt um mich werden, da ich fortgeritten bin. Friedrich kann mit den Pferden hier bleiben, bis der Regen nachläßt, und wenn er bis morgen dauern sollte. Ich fahre in Ihrer Chaise allein, die ja glücklicherweise mit Glasfenstern geschlossen werden kann.«

Der Professor zog die Glockenschnur. Frau Dralling erschien sogleich und empfing den Auftrag, den Wagen mit Fenstern schließen und anspannen zu lassen.

In einer Viertelstunde kam sie mit der Meldung zurück, daß der Wagen vor der Thür stehe. Jetzt setzte Betty ihren Hut auf, zog die Handschuhe an und nahm ihre Schleppe als Tuch über den Arm. Dann dem Professor die Hand reichend, sagte sie:

»Mein lieber Freund, ich habe wieder ein paar angenehme Stunden mit Ihnen verlebt. Es ist immer hübsch bei Ihnen, sogar wenn Sie durchnäßt nach Hause kommen und Ihr eigentliches Ziel verfehlt haben. Ich will wünschen, daß der erwartete Besuch nicht lange mehr ausbleibt. Lassen Sie mich wissen, wann er gekommen ist. Ich nehme Antheil daran. Und dann – und dann,« fügte sie schelmisch lächelnd hinzu, »überlegen Sie sich Frau Dralling's Vorschlag. Und wenn Sie keine bessere Wahl treffen können, so erinnern Sie sich meiner – ich stehe Ihnen immer zu Diensten.«

Der Professor drohte ihr lachend mit dem Finger. »Sie kleiner Schelm!« sagte er, sie durch die Vorzimmer nach der Halle geleitend. »Sie machen sich über einen alten Mann lustig und rebelliren am Ende noch mein stumpfes Herz! Na, Ihnen nehme ich nichts übel. Ueberlegen kann man ja Alles, und das will ich jetzt auch.«

Man hatte die Halle erreicht und sah den kleinen festgeschlossenen Wagen mit den Grauschimmeln vor der Thür stehen, die schon, trotz des Regens, muthig den aufgeweichten Boden stampften. Noch ein Händedruck an den Professor und Frau Dralling, die sich auch wieder eingefunden, noch ein kurzer Befehl an Friedrich, mit den Pferden in Betty's Ruh zu bleiben – und Frau Baronin von Wollkendorf war in den Wagen gestiegen.

»Bringe die Frau Baronin gesund nach Hause, Louis,« sagte der Professor zum graubärtigen Kutscher, der in seinem wachstuchenen Rock stolz auf dem Bock saß.

Louis nickte und schwang die Peitsche. »Das soll geschehen, Herr van der Bosch,« entgegnete er lächelnd. »Kann es jetzt vorwärts gehen?«

»Ja, in Gottes Namen!«

Und mit beiden Händen die schöne Frau im Wagen grüßend, sah der Professor einen Augenblick dem rasch rollenden Gefährt nach und dann, ohne sich um Frau Dralling zu kümmern, schritt er langsam in den einsamen prachtvollen Saal zurück.

Wie Casimir van der Bosch sich so eben in Gegenwart des ihm so lieben Besuches gezeigt, war er bei Weitem nicht immer. Die Heiterkeit und die Neigung zum Scherz, welche diese junge Frau seit einiger Zeit ergriffen und die sich namentlich in seiner Nähe am deutlichsten kundgab, wirkte stets wohlthätig auf ihn ein, ließ ihn für den Augenblick alle seine Sorgen vergessen und machte ihn selbst heiter, gesprächig und zum Scherz aufgelegt. Keiner wußte das besser als Frau Dralling, denn keiner kannte ihn genauer als sie, und als er jetzt langsam vor ihr her in seine Wohnung schritt, brummte sie leise vor sich hin:

»Na, das war einmal wieder ein glücklicher Tag, wie sie nur selten kommen; aber nun ist die Sonne fort und der trübe Abend zieht heran. Der gute Mann! Er thut mir recht leid und heute will ich ihn einmal ungestört rechnen lassen, denn daß er damit gleich anfangen wird, sobald ich ihm die Lampe bringe, steht fest. Aber noch nicht, mein Lieber, erst ruhen, das geführte Gespräch überdenken, die schöne Frau wirken lassen und – ich gebe das Spiel noch lange nicht auf – am Ende macht er ihr doch einen Antrag und dann – dann wird es hier ganz anders aussehen.«

Unterdessen war der Professor schon lange wieder in seinen Saal zurückgekehrt und in weit weniger aufrechter Haltung, als er sie vorher gehabt, und mit gesenktem Kopfe sinnend hin und hergegangen, ohne einen Blick auf seine Umgebung zu werfen, noch weniger sich über sie freuend, wie so viele Menschen es inmitten ihres schönen Besitzes thun. Wie er jetzt halb gebeugt auf- und niederschritt und seinen Gedanken Audienz gab, sah der kleine hagere Mann älter aus als vorher, aber die Milde war nicht aus seinen Gesichtszügen geschwunden und die Ruhe seines Geistes konnte eben so wenig auf lange Zeit gestört werden, wie die angeborene Gutmüthigkeit jemals aus seinem Gemüthe wich.

»Es wäre nicht übel,« sagte er jetzt zu sich, »wenn ein solches Verhältniß möglich wäre. Sie ist eine reizende Person, schön, lieblich, gut, ach und wie gut! Ja, sie liebt mich auch wie einen Vater, das mag wahr sein, aber wie einen Mann? Nimmer, nimmer, es wäre ja die unsinnigste Thorheit auf der Welt, und wenn sie oder die dumme Dralling denkt, daß ich das Spiel für ernst nehme, so irren sich alle Beide. Aber ich will so thun, es macht mir und ihnen Spaß. Haha! Da spiele ich aber in meinem Alter gar noch Comödie. Wer hätte das früher für möglich halten sollen! – Nun, in der Welt ist eben Alles möglich, davon habe ich ja hier die sprechendsten Beweise vor Augen. Also gut, wir spielen Comödie. Und ich übernehme die Rolle des Liebhabers – haha! Und die Dralling, ha! das alte Weib rasselt mit seinem Dragonersäbel wie unklug. Na, die will ich nachher auslachen, wenn sie erfährt, daß ich sie gefoppt habe. Es liegt also doch Spaß in der Geschichte. Gut. Spaß kann man gebrauchen, und ich – ach wie sehr! – Aber der Paul! Wenn er nur bald käme! Aber er kommt gewiß, sonst hätte er längst geschrieben. Und was wird der sagen, wenn er hört, daß sein alter Onkel auf Freiers Füßen geht? Denn daß die Dralling ihm diese Neuigkeit als unläugbare Wahrheit brühwarm in die erste Suppe, brockt, das ist gewiß, so gut wie drei mal drei neun ist. Ich kenne sie. Ha, wenn man vom Drachen spricht oder an ihn denkt, so kommt er angerauscht – da ist sie schon mit der Lampe – aha! das ist gut, jetzt kann es losgehen.«

Frau Dralling war mit einer bescheidenen Schiebelampe von Neusilber hereingetreten und hatte sie auf einen Tisch in der Nähe des Schreibpultes gestellt. Als der Professor sich ihr näherte, lächelte sie ihn freundlich an und sagte:

»Na, Sie werden doch ein Bischen rechnen wollen, Herr Professor, nicht wahr? Sie haben ja den ganzen Nachmittag vertrottet und verplaudert und keinen Strich mit dem Bleistift gemacht. Das lass' ich mir gefallen, nun wird die Arbeit um so besser schmecken. – Aber was meinen Sie zu der Baronin? Ist sie nicht eine himmlische Frau?«

»Göttlich!« sagte der Professor, mit zum Himmel aufgeschlagenen Augen, da er gleich an den Beginn seiner Comödie dachte. »Ja, göttlich, Alte, und ich glaube wahrhaftig, es regt sich hier etwas für sie in meinem Herzen, was sich noch nie darin geregt hat.«

Die Haushälterin sah ihren Herrn zuerst mit stummem Erstaunen, dann mit Entzücken an. »Herr Gott,« kreischte sie beinahe auf, »das wäre ja köstlich –«

»Still, Alte, verscheuche die guten Geister nicht mit Deinem Geschrei, denn sie fürchten sich mit Recht davor –«

»Wie meinen Sie das, Herr Professor?« fragte die Dralling etwas bitter.

»Ich meine, die Baronin ist eine himmlische Frau, und wer solch eine Frau gewinnen könnte –«

»Das können Sie, Herr, wenn Sie wollen, ernstlich wollen –«

»Warum wollte ich denn nicht ernstlich?«

»So,« sagte Frau Dralling, ihren Muth zusammenfassend und ihr Heil in einer anderen Richtung noch einmal versuchend, »dann – dann machen Sie die Augen auf und suchen Sie nach einem gewissen Dinge, he? und entlarven Sie den Heuchler – den Spitzbuben –«

Weiter kam sie nicht mit ihrem Versuch. Der Professor hielt sich die Ohren zu und lief rasch an das andere Ende des Saales. Als er aber nach einer Weile zurückkam und die Dralling mit kochender Brust noch immer auf der alten Stelle stehen und ihn geduldig erwarten sah, sagte er mit seiner mildesten Stimme, die nur zuletzt zu einer etwas lauteren Fülle anschwoll:

»Wissen Sie was, Dralling? Ja, die Baronin von Wollkendorf ist eine himmlische Frau, aber Sie – Sie sind ein alter Dragoner, wie ich es immer mehr einsehe, und nun erlaube ich mir die Bitte auszusprechen, mich allein zu lassen, da ich arbeiten will. Leben Sie wohl. Um neun Uhr bitte ich mir meine Suppe aus.«

Er drehte ihr den Rücken und schloß mit einem Schlüssel, den er aus der Westentasche zog, das große kostbare Schreibpult auf, auf dessen herausgezogene Platte er die Lampe stellte und dann seinen Sessel davor rückte, ohne sich jedoch sogleich zu setzen. Frau Dralling dagegen sah ihn noch immer mit starrer Verwunderung an, dann schüttelte sie mit einem gewissen mitleidigen Bedauern den Kopf, drehte sich um und verließ, ohne ein Wort zu erwidern, den Saal.

Der Professor war wieder allein. Er stand vor dem Schreibtisch, ließ seine Blicke rasch über das kostbare Möbel schweifen, zog einige Kasten auf, blickte oberflächlich hinein und seufzte dann laut auf. Endlich öffnete er ein größeres Fach, nahm einige sorgsam aufbewahrte, noch halb reine Papierschnitzel heraus, legte sie vor sich auf die Platte und rückte nun den Sessel heran, in den er sich leise auf den äußersten Rand setzte, als fürchte er den kostbaren grünen Sammet zu beschädigen, mit dem er überzogen war. So fing er an, die kleinen Papierschnitzel der Reihe nach zu beschreiben und mit Ziffern und algebraischen Zeichen zu bedecken, und nun sah und hörte er nichts mehr um sich her, nicht einmal, wie kurz vor neun Uhr die Dralling wieder hereinkam und über den großen runden Tisch vor dem Alkoven, nachdem sie sorgfältig die Sammetdecke abgenommen, sein ungeheures Damasttuch zu breiten und Teller und andere Geräthe daraufzustellen begann.

Wie der kleine stille schmale Mann, ganz und gar seiner Arbeit hingegeben, jetzt in gebeugter Haltung vor dem kostbaren, von edlen Metallen und anderen Schätzen blinkenden Pult saß und mit laut kritzelnder Feder seine Papierstreifen beschrieb, sah er aus, als ob er nur durch Zufall, oder gar einen Irrthum des Schicksals in diesen prachtvollen Raum geworfen wäre. Sicher paßte er nicht dahin, eben so wenig wie seine kleine dürftige Lampe, die kaum das Papier beleuchtete, auf welches er schrieb. Der ganze übrige große Raum lag dunkel und still unter den rasch über ihn hinziehenden Wolken, nur der Regen prasselte bisweilen auf die großen Kuppelscheiben, und die vielen an verschiedenen Stellen des Saales aufgestellten Uhren ließen ziemlich regelmäßig ihre lauteren oder leiseren Stimmen vernehmen. Das waren aber auch alle Geräusche, die ein aufmerksames Ohr hätte erlauschen können, und nur der Professor vernahm keins von ihnen. Seine Arbeit fesselte ihn, wie sonst, auch heute vollständig, und er hätte sie sicher bis weit über die Mitternacht hinaus fortgesetzt, bis ihm die Augen vor Müdigkeit zugefallen wären, wenn es nicht eine Frau Dralling gegeben hätte, die schon wußte, wie sie mit einem solchen Manne verfahren mußte.

Die Uhren hatten eben alle fast zu gleicher Zeit die neunte Stunde geschlagen, als plötzlich eine wuchtige Hand sich auf die Schulter des Professors legte und eine Stimme mit fast mütterlicher Freundlichkeit sagte: »Herr Professor! Es ist neun Uhr, die Suppe steht auf dem Tisch und – um Punct zehn Uhr müssen Sie zu Bett gehen – das haben Sie mir heilig mit Ihrem Wort versprochen.«

Der Professor fuhr halb unwillig auf. »Was?« rief er, »schon neun Uhr? Ach, die dummen Dinger gehen hier nicht richtig und laufen alle viel zu schnell. Ich habe ja eben erst angefangen und fühle noch keinen Appetit.«

»Der findet sich ein, wenn man ihn weckt. Kommen Sie. Ich habe Ihre Lieblingssuppe – Sago mit Wein –«

»Sago mit Wein? So! Nun, dann werde ich wohl kommen müssen.« Und er griff schon nach der Lampe.«

»Lassen Sie sie hier stehen,« sagte die Dralling. »Man könnte wahrhaftig graulich werden, wenn der große Saal so dunkel ist. Es brennen zwei Kerzen auf dem Tisch.«

»Zwei Kerzen?« fragte der Professor verwundert und sich nach dem Tische begebend. »Wahrhaftig. Und noch dazu von Wachs! Na, seien Sie nicht zu verschwenderisch, Dralling, so lange der Vorrath reicht, mag es gehen.«

»Er reicht noch lange, Herr Professor. Sie brauchen ja gar keine Kerzen. Und nun wünsche ich Ihnen eine gesegnete Mahlzeit!«

»Ich danke.« Der Professor setzte sich auf den Stuhl, den ihm die Haushälterin unterschob, ohne über den Tisch zu blicken. Es war, wie immer, nur für ihn allein gedeckt, aber außer der dampfenden und einen leckeren Geruch verbreitenden Suppe stand noch ein kalter, kaum angeschnittener Braten, in Essig gelegter Lachs, Brod, Butter, Käse und – eine Flasche Rothwein auf dem Tisch, die auf der Etikette das für so Viele magische Wort: Chateau Lafitte. Grand vin. trug.

Während Frau Dralling ihrem Herrn den Teller mit Suppe füllte, zog dieser leise sein Notizbuch aus der Brusttasche und legte es nebst einem Bleistift neben sich.

»Jetzt essen Sie gefälligst,« sagte die Dralling und rückte das Notizbuch energisch von ihm fort. Er warf einen fast gierigen Blick wie ein Habicht darauf hin, dem man eine eben errungene Beute rauben will, und sagte:

»Lassen Sie liegen – es gehört auf den Tisch!«

Dann aß er einige Löffel voll, plötzlich aber hielt er inne, und den Löffel weglegend, murrte er: »Sie ist noch zu heiß – einen Augenblick Geduld.« Und nun griff er hastig nach dem Notizbuch und schrieb rasch einige Zeilen mit Zahlen darin nieder. Als der Reihen aber immer mehr wurden; nahm die Dralling sanft das Buch von ihm fort und sagte ernst:

»Jetzt ist sie kalt genug.«

Er aß wieder, dankte aber für mehr, als er fertig war. »Haben Sie sonst noch Etwas, Dralling?« fragte er.

»Mein Gott, da steht es ja – sehen Sie es denn nicht?«

»Ach so – ich dachte an etwas ganz Anderes. Geben Sie her – etwas Fisch – so. Das ist wahrhaftig lecker. Ha, das bringt die schöne See hervor.«

»Aber dabei müssen Sie auch ein Glas Wein trinken, Herr Professor,« sagte sie, den Kork lüftend und ein schönes Kelchglas füllend.

»Wein? Ich? Warum nicht gar! Wenn man allein trinkt, schmeckt der Wein nicht –«

»Nun, wenn das ist,« versetzte die Dralling phlegmatisch, »so will ich in Ermangelung besserer Gesellschaft heute mit Ihnen trinken. Darf ich?«

»Nun natürlich, wenn Sie ein Glas haben.«

»Da steht es schon.«

Und sie goß auch das zweite Glas voll und leerte es auf des Herrn Professors Gesundheit.

»Ich danke Ihnen. Ist der Wein gut? Mein Bruder muß ein großer Kenner und Liebhaber von dem Zeug gewesen sein.«

»Mir schmeckt er sehr gut und ich liebe ihn auch.«

»So trinken Sie mehr, so viel Sie wollen, davon ist Vorrath genug da, wie von so vielen unnützen Dingen. Na – morgen, morgen vielleicht schon ist noch ein Anderer hier – der soll auch trinken, so viel er will – o mein Gott, wie freue ich mich auf den Jungen!«

»Ach, Herr Professor,« fiel die Haushälterin ein, als er Gabel und Messer schon bei Seite legte, »da fällt mir ein, ich habe Ihnen ja noch nicht einmal die neue Einrichtung Ihres Schlafzimmers gezeigt. Sehen Sie doch da – gefällt Ihnen das?«

Dabei ging sie nach dem Alkoven, schlug die Vorhänge auseinander, die sie gleich für die Nacht an ihren Haken befestigte, und trug dann eine der brennenden Kerzen in den dunklen Raum. Der Professor stand auf, folgte ihr und sah sich die Einrichtung an. Dann lächelte er.

»Dummes Zeug!« rief er. »Na, der wird über uns lachen, daß man ihn hier mit mir unter eine Decke einpfercht. Als ob es keine andere Stube im Hause gäbe!«

»Wenn er den Grund erfährt, warum wir das gethan, wird er zufrieden sein.«

»Warum wir es gethan? Seit wann sprechen Sie denn im Pluralis majestatis von sich?« Und als die Dralling ihn nicht verstand, fuhr er fort: »Sie, Sie allein haben es gethan und Gott weiß warum!«

»Damit Sie nicht in der Nacht erwürgt werden, Herr Professor, allein darum. Nun sind wir wenigstens vor dem Aergsten gesichert. Ja wahrhaftig, Herr, Andere glauben hier an Spuk und Gespenster, und daran glauben Sie und ich nicht, aber an Spitzbuben und Galgengelichter glaube ich.«

»Aber ich nicht;« sagte der Professor fast streng.

»Ja, mein Gott, Sie – Sie glauben am Ende an gar nichts.«

»O ja – ich glaube an sehr Vieles, woran Andere nicht glauben,« erwiderte er in selten energischem Tone, »sogar an eine Existenz nach dem Tode, und den Beweis davon liefern Sie mir, nur daß Ihr ehemaliger Polizeisergeant in Ihren Leib gefahren ist und in Ihrer Gestalt also fortbesteht.«

Die Haushälterin sah ihn erst groß, dann wehmüthig an und zuletzt nahm sie die Schürze vor die Augen und wischte sich damit ein paar Thränen aus. »Ach Gott,« schluchzte sie, »was Sie heute böse sind, »und heute Nachmittag gegen die Baronin waren Sie doch so gut! Nun lassen Sie nicht einmal den armen Seligen in Ruh. Und er soll in meinen Leib gefahren sein? Ach, das ist ja schrecklich von Ihnen, Herr Professor! O, mein guter alter Dralling war ein prächtiger Mann, und wenn wir den hier hätten, sollten die Spitzbuben bald ertappt sein – darauf verlassen Sie sich –«

Der Professor hörte nicht mehr, was sie sprach. Er nahm sein Notizbuch auf und ging damit an den Schreibtisch, wo er sich wieder niederließ und zu rechnen anfing. Aber nur so lange durfte er bei seiner Arbeit bleiben, bis die Dralling den Eßtisch abgeräumt hatte, dann, nachdem sie sich schon längst wieder beruhigt, wie es immer bei ihr sehr rasch geschah, trat sie leise an den Schreibenden heran und sagte mit fast flehender Stimme:

»Herr Professor!«

Dieser schaute mit seinem mildesten Blick von der Arbeit auf. »Was giebt's, Dralling?«

»Es ist gleich zehn Uhr und Sie haben mir Ihr Wort gegeben, hier nicht länger arbeiten zu wollen. Sie dürfen sich nicht erhitzt in's Bett legen.«

Der Professor seufzte laut auf, aber legte doch die Feder weg und schloß das Pult zu, während die Dralling, Auge und Herz voller Triumph, die Lampe schon in den Alkoven trug, wohin der Professor ihr bald nachkam.

»Sie werden sich doch gleich niederlegen und nicht im Bett rechnen, wenn ich fortgegangen bin?« fragte die gute Person mit bittender Miene.

Er brummelte etwas vor sich hin, was man eben so gut für ein Ja wie ein Nein auslegen konnte.

»Das verstehe ich nicht,« sagte sie, »ich möchte ein deutliches Wort hören, dem ich vertrauen kann.«

»Ja, ja, nein, nein!« sagte er laut. »Zum Teufel, soll ich denn noch schwören kurz vor'm Zubettgehen?«

»Gute Nacht, Herr Professor,« sagte sie nun freudig. »Ich habe Ihr Wort, Sie schlafen bald ein. Vergessen Sie nicht, daß die Klingel hier dicht neben dem Bett hängt, wenn Sie Jemanden gebrauchen – ich habe einen leisen Schlaf.«

»Ich auch. Gute Nacht – und ich habe noch nie etwas in meinem Leben vergessen.«

Sie warf ihm noch einen liebevollen Blick zu, wie eine Mutter ihn auf ihr Kind wirft, von dem sie sich so lange trennen soll, und dann ging sie mit einer brennenden Kerze fort und schloß hinter sich die Thür ab, die eben so gut von innen wie von außen zu gleicher Zeit verschlossen werden konnte.

Als der Professor sich allein sah, seufzte er laut auf. »Ach ja,« sagte er, »so geht es alle Abende, als ob ich noch in Wickeln läge. Aber sie meint es gut und – hat vielleicht Recht. Seinen richtigen Schlaf muß der Mensch haben, sonst existirt er nicht lange. Sie ist doch eine prächtige Frau, obgleich ein Dragoner.«

Jetzt zog er seine kostbare goldne Taschenuhr auf, dieselbe, die der Rentmeister Hummer dem verstorbenen Bruder einst aus der Tasche genommen. Schon hatte er darauf den Rock abgeworfen, da fiel ihm noch eine Aufgabe ein. Rasch griff er nach dem Notizbuch, das auf dem Nachttische lag, und schrieb sie nieder damit er, der nie etwas vergaß, sie nicht vergesse. Er wollte sie sogar gleich berechnen, aber da fiel ihm zu guter Zeit das gegebene Wort ein, und nun entkleidete er sich, stieg schnell in das schöne breite Bett und, damit er nicht wieder wankend werde, blies er sogleich das Licht aus: Fünf Minuten später hatte er schon die Augen fest geschlossen und seine ruhigen und tiefen Athemzüge verriethen, daß er sanft eingeschlafen war.


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