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Sechstes Kapitel.
»Das Uebrige findet sich«

Der regelrechte Gang der Untersuchung, wie er Paul van der Bosch verheißen war, sollte nicht lange auf sich warten lassen. Als er nach Tisch in seine Wohnung heimkehrte, und bevor er noch Zeit gehabt, mit dem Banquier Ebeling über den Ausfall seiner Unterredung mit dem Buchhändler zu sprechen, fand er eine amtliche Aufforderung in seinem Zimmer vor, noch an demselben Nachmittage Punct fünf Uhr auf Zimmer Nummer 8 des Polizeidirectorium's zu erscheinen und Behufs seiner Vernehmung sich mit allen seinen Legitimationspapieren, eventuell den Heimatsschein mit eingeschlossen, zu versehen.

Paul las diese Aufforderung ruhig zwei Mal hinter einander und war dann entschlossen zu handeln, wie er sich bereits vorgesetzt. Um in das Haus der Freunde drüben keine Unruhe zu tragen, die durch sein ungewöhnlich häufiges Erscheinen daselbst nothwendig hervorgerufen werden mußte, ging er nicht hinüber, und als der Banquier, von seinem eigenen Wohlwollen getrieben, Nachmittags selbst zu Paul kam, fand er ihn nicht mehr zu Hause, ohne zu ahnen, daß derselbe zur Zeit schon auf dem Wege zum Polizeidirectorium sei.

Mit dem Glockenschlage Fünf trat der Vorgeladene in das ihm bezeichnete Zimmer Nummer 8 ein, wo er zwei Beamte fand, die seiner schon zu warten schienen und von denen der Eine unruhig im Zimmer hin und her ging, der Andere mit der Feder in der Hand an einem Seitentisch vor mehreren weißen Bogen halbgebrochenen Papiers saß.

»Ich bin um Punct fünf Uhr auf das Zimmer Nummer 8 beschieden,« begann Paul seine Anrede, »und stelle mich Ihnen vor, wenn Sie mich erwarten sollten. Ich bin der Baumeister Paul van der Bosch aus der Bremerstraße.«

Der unruhig hin und hergehende Beamte, der eben so wenig wie der Schreiber eine Uniform trug, blieb bei diesen Worten wie angewurzelt vor dem Berufenen stehen und schaute ihn mit einem lange prüfenden Blick vom Kopf bis zu den Füßen an. Die hohe männliche und kräftige Gestalt, das edle von dunklem Haar umwallte Gesicht und der feste Blick dieses blitzenden furchtlosen Auges schien ihm zu imponiren, und ohne daß er es wußte, prägte sich auf seinem eigenen Gesicht ein merkliches Wohlgefallen an dem zu Vernehmenden aus.

»Mein Herr,« sagte er endlich, »wenn Sie der Baumeister van der Bosch sind, so ersuche ich Sie vor allen Dingen, mir Ihre Papiere – nur zur Ansicht – zu überreichen.«

Paul zog seine Brieftasche hervor und überreichte die geforderten Papiere mit einer höflichen Verbeugung.

Der Beamte las ruhig ein Papier nach dem andern durch, dann legte er sie neben sich auf den Tisch, an welchem er Platz nahm und mit einer kaum merklichen Handbewegung auf einen Stuhl deutete, als ob er Paul auffordere, auf denselben sich niederzulassen. Dieser regte sich nicht von der Stelle und blieb, ohne eine nochmalige Aufforderung zum Sitzen zu erhalten, bis an das Ende der Verhandlung stehen.

»Also Sie sind ein geborener Hamburger?« fragte der Herr von seinem Sitze aus, ohne die Augen gegen Paul zu erheben, dessen Persönlichkeit ihm von Minute zu Minute bedeutsamer erschien.

»Ja, mein Herr!«

Hier begann der Protokollführer zu kritzeln und der Beamte sprach langsam, damit die Feder desselben der mündlichen Verhandlung folgen konnte.

»Sie sind auch in Hamburg auf der Schule gewesen?«

»Ja, mein Herr – das Alles aber steht in meinen Papieren.«

»Ich weiß, ich weiß, muß es aber doch noch einmal aus Ihrem Munde hören, Sie sind dann hier Eleve der Bauakademie gewesen und haben hier Ihre Prüfungen als Baumeister abgelegt, um sich einstweilen in dieser Stadt mit der Erlaubniß der zuständigen Behörde als Privatbaumeister niederzulassen?«

»Ja, mein Herr.«

»So – das wäre der Eingang und nun wollen wir rasch zum Zweck kommen. Nennen Sie mir also gefälligst die Leute, mit denen Sie hier am Orte zumeist verkehrt haben und noch verkehren.«

Paul nannte die hervorragendsten seiner Bekannten: Künstler, Gelehrte, Baumeister und zuletzt den Banquier Ebeling, seinen Nachbar. Den Buchhändler aber nannte er nicht.

»So, das wäre das Zweite!« sagte der Beamte mit sich allmälig aufheiterndem Gesicht, da er so rasch zu den klarsten Antworten kam. »Sie sind der Besitzer dieser Papiere gewesen?« fuhr er dann fort, auf einen umfangreichen Stoß Briefschaften, Handschriften und Drucksachen deutend, die neben ihm lagen und die Paul schon lange als sein Eigenthum erkannt hatte.

Jetzt nach jener Frage sah er die Papiere genauer eins nach dem andern an, sonderte dann das bewußte Manuscript des Buchhändlers davon ab und sagte: »Ja, diese Papiere gehören mir, dies eine aber gehört mir nicht.«

»Sind Sie vielleicht auch der ungenannte Verfasser dieser Brochüren?« fragte der Beamte mit einem lauernden Blick, da er nun das erste Nein erwarten zu können glaubte.

Aber er irrte sich. Paul sah sie einzeln durch und sprach dann ein lautes und festes »Ja!«

»So, das ist gut, das verkürzt Ihr Verhör sehr. Also Sie bekennen sich als Verfasser aller dieser Schriften?«

»Ja, mein Herr!«

»Ihre Aufrichtigkeit erfreut mich, Sie erleichtern mir mein Amt außerordentlich. Aber nun kommen wir zur Hauptsache, zu diesem Manuscript. Wem gehört dasselbe?«

»Das ist mir nicht bekannt, mein Herr. Es wurde gestern während meiner Abwesenheit in mein Haus gebracht und dort fand ich es Nachmittags um zwei Uhr vor.«

Der Beamte warf einen hastigen Blick nach dem Gesicht des Sprechenden. »So,« sagte er. »Haben Sie auch keine Ahnung, wer es Ihnen gesandt haben kann?«

»Eine Ahnung? O ja – aber eine Ahnung ist noch lange keine Gewißheit.«

»Nein, aber vielleicht wäre es gut – für Sie gut – wenn Sie dieser Ahnung einen Ausdruck geben wollten.«

»Das ist mir unmöglich. Meine Ahnungen gehören mir und darüber hat kein Mensch, auch kein Untersuchungsrichter, zu verfügen.«

Der Beamte zuckte, leicht erröthend, die Achseln. »Also Sie verweigern standhaft jede Auskunft, wer der Verfasser dieser Schrift ist –?«

»Den kenne ich ganz gewiß nicht!« sagte Paul mit dem unzweifelhaften Ausdruck wahrheitsvoller Betheuerung.

»Auch nicht den, der sie Ihnen gesandt hat?«

Paul stockte einen Augenblick, dann sagte er fest: »Nein, ich will ihn nicht kennen –«

»Aha, so steht die Sache! Mein Herr, ich erlaube mir Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie – zu Ihrem eigenen Besten – wohlthun werden, wenn Sie mir den Mann oder die Person nennen, die Ihnen diese Schrift gesandt hat. Es ist wichtig, sehr wichtig und es hängt Viel davon ab, ob Sie hier auch der Wahrheit die Ehre geben, wie bisher.«

»Ich bedaure, Ihnen nicht damit dienen zu können,« lautete die ruhig und fest gesprochene Antwort.

Es entstand eine Pause. Der Beamte sah nach dem Schreiber hin, bis dieser den Kopf erhob und ihm zunickte.

»Ich frage zum dritten Mal,« begann der Beamte wieder – »können und wollen Sie mir jene Person nicht nennen?«

»Nein, ich kann und will nicht, mein Herr!«

»Gut. Nun noch eine beiläufige Frage. Wovon leben Sie hier? Haben Sie über pecuniäre Mittel zu verfügen?«

»Ich habe mein gutes Brod hier, mein Herr. Ich baue gegenwärtig, nachdem ich schon ein Haus, das für den Banquier Ebeling vor dem Braunschweiger Thor vollendet, noch fünf andere. Außerdem habe ich bis vor ungefähr einem Jahre eine Zulage von einem Onkel bezogen, die sich auf zweihundert Thaler belief. Sie sehen also, ich bin hinreichend mit Mitteln zu meinem Lebensunterhalt ausgerüstet.«

»Das freut mich, ja, das freut mich. Hm! – Ist das Protokoll fertig?« wandte er sich zum Schreiber.

»Ja, Herr Polizeirath!«

»So lesen Sie es vor. Geben Sie Acht, mein Herr.«

Der Schreiber las sein Protokoll und als er damit fertig war, fragte der Polizeirath den Verhörten: »Können Sie dies Protokoll unterschreiben?«

»Ganz gewiß, geben Sie es her!«

Es war bald geschehen.

»Sie sind fertig – für heute, mein Herr!« sagte der Polizeirath, »und – und das Uebrige – nun, das wird sich finden

Paul mußte unwillkürlich lächeln, als er diesen Ausspruch zum zweiten Male vernahm. Er ergriff seinen Hut, verbeugte sich und wenige Minuten später stand er auf der Straße – ohne zu ahnen, daß ihn von diesem Augenblick an, auf Schritt und Tritt, ein vorsichtiger Beobachter begleitete – um endlich an seine Geschäfte zu gehen und zuletzt bei dem Banquier Ebeling einzutreten, der ihn schon den ganzen Tag voller Spannung erwartet hatte.

Bald wußte dieser, was er wissen konnte, aber er war still geworden, als er von Paul gehört, daß er den Namen des Buchhändlers verschwiegen habe. Später sagte Jener auch noch Frau Ebeling einen guten Abend und entfernte sich dann wieder, um in sein Geschäftsbureau zu gehen und die Arbeiten seiner Zöglinge zu besichtigen, die bei der Abwesenheit des Meisters in der Regel in's Stocken zu gerathen pflegen.

 

Zwei entsetzlich lang sich ausdehnende Tage waren es, die Alle, welche um's das Vorgehende wußten, in großer Unruhe und Sorge zubrachten, und Frau Ebeling vermochte sich gar nicht zu erklären, warum ihr Mann so schweigsam und ernst und Fritz so trübe gestimmt war; nur Paul van der Bosch allein schien diese Unruhe und Sorge nicht zu empfinden, trotzdem ihm Frau Zeisig, die ihre Augen und Ohren überall hatte, berichtet, daß ein Mann, der wahrscheinlich ein verkappter Polizeibeamter sei, unablässig vor dem Hause auf und ab wandle und nicht nur die Fenster des Herrn Baumeisters, sondern auch die Hausthür im Auge behalte und alle Ein- und Ausgehenden beobachte.

»Lassen Sie ihn ungestört sein Werk verrichten und sprechen Sie gegen Niemand darüber,« erwiderte Paul diesen Bericht. »Der Mann ist zu beklagen und versieht einen traurigen Dienst, denn er muß über alle Begriffe langweilig sein.«

»Aber was will man denn nur von Ihnen?« fragte die gutmüthige Frau weiter. »Sie leben ja so harmlos wie ein Kind in Ihrem Hause und draußen haben Sie ja den ganzen Tag Ihre Arbeit?«

Paul lächelte sie freundlich an. »Das ist den Leuten noch nicht genug,« sagte er. »Man soll nur arbeiten, wie sie es wollen, und nur die Wege betreten, die sie für die Menschen gebahnt haben.«

»Aber das ist ja schrecklich, Herr Baumeister! Wenn ich nun nicht waschen dürfte, wie ich es gelernt habe, oder waschen sollte, wie ich es nicht verstehe, dann könnte ich ja meine Arbeit selbst beim besten Willen nicht verrichten – nicht wahr?«

Paul lächelte noch freundlicher. »Es liegt etwas Wahres in Dem, was Sie sagen, liebe Zeisig, aber nur etwas. Waschen Sie dreist weiter, wie Sie es gelernt haben, denn darum bekümmert sich die Polizei nicht.«

»Aber sie sollte sich doch darum bekümmern, Herr Baumeister, und lieber große Waschhäuser errichten. Das wäre wahrhaftig sehr nöthig, denn es ist eine Schande, wie jetzt so viele schöne Wäsche in den Maschinen verdorben wird, namentlich wenn sie so schmutzig ist, wie heutzutage an vielen Orten.«

Paul entließ seine Aufwärterin und setzte zwei Tage ununterbrochen seine Geschäfte fort. Am Ende des zweiten Tages aber sollte die Stunde schlagen, die ihn belehrte, was das Uebrige sei, welches sich finden würde.

Er hatte seine Geschäfte beendet und, einigermaßen ermüdet von den ihn von allen Seiten bedrängenden Gedanken, die aber seine geistige Klarheit und Regsamkeit in keiner Weise beeinträchtigten, sich um acht Uhr zu seinen Freunden begeben, um einmal den ganzen Abend bei ihnen zuzubringen. Es war schönes Frühlingswetter eingetreten, die Bäume knospeten, der Rasen grünte und der ganze Himmel zeigte sich in heiterer, ermunternder Bläue.

Solche Tage im werdenden Frühling wirken immer günstig auf das menschliche Gemüth; auch Paul fühlte sich dadurch erhoben und erfrischt, und mit leichterem Herzen trat er bei den Freunden ein, welche wußten, daß er heute kam und ihn mit Freuden schon einige Zeit erwarteten.

Kaum aber hatte er ihre Schwelle überschritten, als Frau Zeisig schon wieder athemlos erschien und einen uniformirten und bewaffneten Beamten von der Polizei mit dem Bemerken ankündigte, daß derselbe draußen mit einem amtlichen Briefe stehe und eine Quittung verlange, daß er denselben dem Herrn Baumeister zu eigenen Händen übergeben habe.

Paul ging hinaus und Fritz folgte ihm. Der Polizeibeamte schien Ersteren zu kennen, denn er ging sogleich auf ihn zu und händigte ihm das Schreiben im Namen seines Chefs ein, mit der höflich vorgebrachten Bitte, die Quittung über den Empfang sofort auszustellen. Fritz öffnete seinem Freunde das Comptoir und hier schrieb Paul sogleich die verlangte Quittung.

»Nun,« sagte Fritz, nachdem der Beamte sich entfernt hatte und Paul den Brief uneröffnet in der Hand behielt – »willst Du ihn nicht lesen?« »Gewiß, aber komm erst zu Deinen Eltern, denn nun werde ich endlich auch Deiner Mutter das Vorgehende mittheilen müssen.« Man trat in Frau Ebeling's Zimmer und die beiden jungen Leute sahen schon von Weitem das Antlitz des Banquiers voller Spannung auf Paul gerichtet. »Nun,« fragte er hastig, »was ist es für ein Schreiben?« »Er hat es noch nicht gelesen,« rief Fritz. »Ihr solltet dabei sein. Aber jetzt öffne es.« »Hier ist eine Scheere,« sagte Frau Ebeling beklommen, indem sie sie hinreichte, »denn ich weiß schon, Sie zerstören nicht gern ein Siegel.« Paul stand mitten im Zimmer, den Kopf etwas vornüber gebeugt, damit das Licht der bereits angezündeten Lampen besser auf das Papier falle, um ihn herum, mit gespannt forschenden Mienen jede seiner Bewegungen verfolgend, standen die Uebrigen.

Kaum aber hatte Paul die ersten Zeilen des amtlichen Schreibens überflogen, so zuckte er schmerzlich zusammen und beinahe wäre der Brief seiner einen Augenblick bebenden Hand entfallen.

»Um Gottes willen!« rief Frau Ebeling, »was hat das zu bedeuten? Was steht in dem Briefe?«

Paul, zwar ganz bleich geworden, hatte sich aber schon wieder erhoben und stand nun fest und ungebrochen vor seinen Freunden. Sie alle überflog sein Auge mit einem seltsam funkelnden Glanz, und auf allen blieb es eine Weile liebevoll und doch voll bitteren Wehes hängen. »Was hier steht?« fragte er, ein mattes Lächeln versuchend – »o, o, hören Sie es an und staunen Sie wie ich, aber vor allen Dingen fassen Sie sich und lassen Sie keine Klage hören – hier steht, daß ich – die Gründe dafür anzugeben, hat man nicht für nöthig befunden – daß ich in achtundvierzig Stunden diese Stadt und in zweiundsiebzig das ganze Land zu verlassen habe, also, mit einem Wort, ich bin – von hier ausgewiesen, ohne mich gegen die Gesetze des Landes vergangen zu haben, – ausgewiesen, weil ich zufällig ein Ausländer bin und gedacht habe, wie ich meiner Organisation und Natur gemäß denken mußte, – ausgewiesen, weil ich so ehrlich und mitleidig war, den Mann nicht zu nennen, der mir eine Schrift zugesandt, deren Inhalt ich noch gar nicht kenne und wofür ich, da man den ›hochstehenden Verfasser‹ nicht ergründen kann, an dessen Statt gestraft werden soll. O!« –

Ja, ausgewiesen! In achtundvierzig Stunden ausgewiesen! Wer jemals einen solchen unwiderstehlichen Machtspruch, wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel kommend, hat über sich ergehen lassen müssen oder erfahren hat, wie einem so vom jähen Blitzstrahl Getroffenen zu Muthe ist, der weiß, was ein solcher Machtspruch bedeutet. Er bedeutet Vernichtung der ganzen gegenwärtigen Existenz, Loslösung von allen Banden der Neigung und Gewohnheit, Verstoßung in ein neues unbekanntes Leben, und alles dies für ewige Zeiten mit dem unauslöschlichen Brandmal verbunden, das bei empfindsamen Naturen wie ein traurig quälendes Selbstbewußtsein, gleichsam ein ewig nagender Gewissensbiß, die Seele umklammert, das Herz zerdrückt und sich als ein qualvoller, aufgedrungener Begleiter auf dem ganzen ferneren Lebensgange erweist!

Aber diesen nagenden Gewissensbiß hatte der eben gelesene Machtspruch diesmal nicht zur Folge. Paul van der Bosch fühlte sich vollkommen frei von quälenden Selbstvorwürfen; er hatte nichts Unrechtes gethan, er hatte kein Gesetz verletzt, er hatte keinen Menschen gekränkt, keinem irgend ein Uebel angethan, und seine Natur war zu stolz, seine Männlichkeit zu fest begründet, als daß ein so ungerechtfertigter Machtspruch sie hätte beugen oder gar brechen können. Darum stand er auch jetzt aufrecht und fest bei dem unerwarteten Schlage; nur die Farbe seines Antlitzes wurde bleich und um seine Lippen spielte ein wehmüthiger Zug, der nur die augenblickliche Erschütterung seiner Seele verrieth.

Nicht so seine Freunde! Sie wurden durch diesen, den langjährigen Freund und Gefährten betreffenden Machtspruch fast buchstäblich zu Boden geschmettert und konnten im ersten Augenblick, nachdem Herr Ebeling den Befehl mit bebender Stimme noch einmal laut vorgelesen, nicht begreifen, wie die göttliche Gerechtigkeit eine solche menschliche Ungerechtigkeit zulassen könne. Frau Ebeling war auf einen Stuhl gesunken und weinte laut; Fritz warf sich seinem Freunde an die Brust und schluchzte wie ein Kind; der Banquier ging mit wankenden Schritten im Zimmer auf und nieder, murmelte unverständliche Worte vor sich hin und beugte den grauen Kopf, als habe der Schlag ihn selbst getroffen, den die junge starke Eiche neben ihm kaum zu fühlen schien. Ja, Paul, als er diesen Schmerz seiner so geliebten Freunde sah, fühlte seine ganze männliche Kraft in seine Brust, in seinen Geist zurückkehren, und zu Frau Ebeling tretend und ihre Hände fassend, rief er:

»Meine lieben, lieben Freunde! Fassen Sie sich und machen Sie mir das Herz nicht noch schwerer, als es an sich schon ist. Der Schlag ist einmal gefallen und wir müssen ihn ertragen. Ich, ich bin kein Schuldiger, Sie wissen es ja, und doch hat er mich zumeist getroffen. Aehnliches ist schon Besseren begegnet, und wohl mir, daß ich noch Kräfte habe, daß ich noch jung bin und daß die Welt groß und weit ist, in der ich mich wieder mit Ehren emporarbeiten kann. Ja, und das werde ich, verlassen Sie sich darauf. Nur daß wir uns so schnell trennen müssen, ist schmerzlich, für mich das Schmerzlichste. Aber auch dafür wird es, muß es einen Trost geben und – wie Gott ihn mir geben wird, so wird er ihn auch Ihnen geben.«

»Oho!« rief hier der Banquier, in dem sich so eben ein neuer Entschluß entwickelt hatte. »So weit ist es noch lange nicht. Ich denke noch nicht an diese Trennung. Wir haben noch zwei Tage vor uns. Es giebt noch eine Gerechtigkeit im Lande. Ja, ja, und ich weiß schon, was ich thun muß, – Fritz, laß sogleich meinen Wagen anspannen – glücklicherweise ist es noch Zeit, heute Abend zu handeln, und wir dürfen keine Minute ungenützt verstreichen lassen.«

»Was wollen Sie thun?« fragte ihn Paul mit seiner vollen beständigen Ruhe, während Fritz schon hinausgesprungen war, um seines Vaters Befehl so schnell wie möglich erfüllen zu lassen.

»Was ich thun will, fragen Sie? Nun, das liegt doch auf der Hand. Ich fahre sogleich zum Minister des Innern. Ich bin ihm genau bekannt, ich habe seit Jahren seine Geldgeschäfte betrieben –« er, er wird mir Gerechtigkeit widerfahren lassen – und dann, wenn das nichts hilft, fahre ich zum hanseatischen Residenten – auch den kenne ich – und er wird nicht zugeben, daß ein Kind seines Landes so ohne Weiteres und ohne etwas Straffälliges begangen zu haben, wie ein Strauchdieb aus dem Lande gejagt wird.«

Als er diese Worte mehr ausgestoßen als gesprochen, verließ er das Zimmer, um sich im Fluge anzukleiden; und kaum kam er im schwarzen Anzuge wieder zum Vorschein, so meldete auch Fritz schon, daß der Wagen vorgefahren sei und daß er augenblicklich einsteigen könne.

Ohne ein Wort des Abschieds zu sprechen, denn sein Herz war zu voll dazu, verließ der brave Mann in sichtbarer Aufregung sein Haus und gleich darauf führten die raschen Pferde ihn von dannen, seinem Ziele zu. Unterwegs aber hatte er Zeit genug, sich einigermaßen zu beruhigen und auf die Worte vorzubereiten, die er den unfehlbaren Gewalthabern gegenüber sprechen wollte. –

Seine Excellenz der Minister des Innern pflegte Abends um neun Uhr zu soupiren und es fehlten noch fünfzehn Minuten an dieser Stunde, als der Banquier Ebeling sich bei ihm melden ließ. Einen namhaften Geldmann nimmt man immer an, auch wenn man schon Appetit hat, da man ja nie weiß, was sein Besuch zu bedeuten hat. Daher wurde denn auch ›dem alten Bekannten‹ der Zutritt freundlichst gestattet und dieser folgte der Erlaubniß auf dem Fuße. Als nun aber der Minister den immer noch aufgeregten Mann, der sonst so ruhig und würdig einherzuschreiten pflegte, so hastig bei sich eintreten sah, stutzte er, ging ihm entgegen und reichte ihm leutselig die Hand. »Mann!« rief er, »Ebeling! Wie sehen Sie aus – Sie haben doch nicht Bankerott gemacht?«

»Nein, Excellenz, ich gewiß nicht, aber man will einen Anderen schonungslos bankerott machen.«

»Man will? Schonungslos? Wie soll ich das verstehen?«

Der Banquier trug den Fall vor, der ihn hergeführt, und bat wenigstens um Aufschub des strengen Befehls. Allein schon während er sprach, hatte sich das leutselige Gesicht Seiner Excellenz auffallend verändert, indem es sich um einige Zolle verlängerte und wie von dem Hauch einer empfindlichen Kälte überflogen wurde. Und als der Banquier nun mit seinem Vortrage fertig war, sagte er, die Augen in die ferne Leere richtend:

»So, so ist es, aha! Also der Baumeister ist einer Ihrer Bekannten?«

»Nein, Excellenz, er ist mein bester Freund, und der ehrenwertheste und fleißigste aller Männer.«

»Das mag wohl sein, hm! Aber Sie thun mir leid – Ihre Bitte, die Ihnen so gerecht erscheint, kann ich leider nicht erfüllen.«

»Warum nicht?«

Der Minister lächelte kopfschüttelnd, vielleicht über den dreisten Frager. »Warum?« fragte er. »Ei, das ist nicht so bald beantwortet wie gefragt. Doch Sie werden gleich einsehen, daß ich und warum ich Ihnen nicht helfen kann. Das Ministerium hat gestern einen Plenarbeschluß gefaßt, gegen alle Unruhstifter ohne Ausnahme energisch und consequent vorzugehen. Und dieser Mann, für den Sie bitten, ist ein Unruhstifter. In seinen Schriften, gedruckten und ungedruckten, die ich vor Augen gehabt, liegt nicht das Böse, wohl aber der Keim des Bösen, und den müssen wir vor der Geburt ersticken, da es den Umsturz vorbereitet. Das ist unsere Pflicht und dieser kann ich mich nicht entziehen.«

»Nein, nein, Sie irren sich, Excellenz,« rief der Banquier Ebeling und trat dem ›alten Bekannten‹ einen Schritt näher, »Paul van der Bosch ist kein Unruhstifter, in ihm liegt nichts Böses, nicht einmal der Keim dazu. Ich kenne ihn besser, meinen eigenen Sohn kann ich nicht besser kennen als ihn. Er hat nie und nimmer an irgend eine Art Umsturz gedacht –«

Der Minister streckte mit einer olympischen Miene die Hand abwehrend gegen den warm Redenden aus. »Mein Lieber,« sagte er mit diplomatischem Lächeln, »wo fängt der Umsturz an und wo hört er auf – wissen Sie das?«

»Ja, in diesem Falle weiß ich es,« sagte der Banquier mit Würde und Zuversicht. »In Paul van der Bosch fängt er nicht an und hört er auch nicht auf, und ich bürge für ihn mit meinem ganzen Vermögen, wenn es sein muß.«

Der Minister schüttelte erwägend den Kopf. »Hm!« sagte er, »das ist edel von Ihnen und der Mann muß Ihnen sehr theuer sein – aber halt! nein, es geht nicht, es geht wahrhaftig nicht. Ich erinnere mich zu rechter Zeit – er ist ein Ausländer, wie?« »Ja, ein Hanseate, aus Hamburg.« »Den Teufel auch – das ist gerade das Schlimmste! Da oben gährt es stärker als anderswo, und gerade mit den Ausländern soll nach unserm Beschluß ein schneller Proceß gemacht werden. Mit einem Wort also – ich kann Ihnen nicht dienen – auf meine Ehre nicht!«

Das war genug gesagt. Der Banquier beugte hoffnungslos seinen grauen Kopf. »Also ich habe eine völlige Fehlbitte gethan, Excellenz?« fragte er mit einer Miene und Stimme, die von Wehmuth überflossen.

Der Minister ergriff seine Hand. »Ja, Ebeling, ja, ich kann nicht anders handeln, und in wenigen Tagen werden noch viele Ausländer über die Gränze wandern müssen.«

»So habe ich die Ehre, Ew. Excellenz mich zu empfehlen und ich bitte, mir meine Störung zu verzeihen.«

»O, gern, gern, alter Freund. Leben Sie wohl und Gott behüte Sie!« –

Der Banquier Ebeling sprang die Treppen des Hotels hinunter wie ein Jüngling. »Zum Hamburger Residenten, in der Schloßstraße Nummer 7!« rief er dem Kutscher zu.

Die Pferde flogen davon und in vier Minuten stieg der Banquier wieder aus und nahm immer zwei Stufen mit einem Mal, als er die Treppe erklomm. Oben angekommen, ließ er sich von dem einfach gekleideten Diener als Banquier Ebeling melden. Auch hier ward er angenommen und von einem schönen, würdigen Mann empfangen, der sein edles, ächt norddeutsches Gesicht ihm fragend entgegenkehrte.

»Wie komme ich so spät zu der Ehre, Sie bei mir zu sehen, mein lieber Herr Ebeling?« fragte der Resident.

Der Banquier trug ruhiger als vorher seinen Fall vor, aber auch hier erkannte er sogleich an der Miene des Gesandten, daß seine Bitte eine vergebliche sein würde.«

»Mein lieber Ebeling,« sprach der Hanseate mit weicher Stimme, »ich will Ihnen etwas sagen. Ich kann als Bevollmächtigter meines kleinen Landes viel für meine Staatsangehörigen thun, aber in diesem Falle bin ich leider ganz ohnmächtig. Es betrifft diesmal nicht mein Land, sondern das, in welchem wir Beide eben stehen. Es ist eine rein innerliche, polizeilichpolitische Angelegenheit, und in die Verwaltung des Auslandes darf ich – kann ich mich nicht mischen. Der arme Kerl dauert mich, seine Existenz am hiesigen Orte ist natürlich für alle Zeiten untergraben, aber – lassen Sie ihn doch nach Hamburg, seiner Vaterstadt gehen. Wenn er so brav und tüchtig ist, wie Sie sagen, wird er auch dort sein Fortkommen finden. Wir sind nicht so ängstlich in Betreff einer Schrift, die ein unbekannter Verfasser geschrieben hat, denn dadurch verliert unser Bestes – unser Credit nichts. Wie heißt er – ich habe den Namen nicht recht gehört –«

»Paul van der Bosch heißt er,« erwiderte der Banquier, schon halb verzweifelnd.

»Van der Bosch? Ei, das ist ja merkwürdig. Ist er etwa mit dem vor einem Jahre verstorbenen van der Bosch, dem alten Holländer aus Batavia, auf Betty's Ruh bei Ritzebüttel verwandt?«

»Er ist sein Neffe, Herr Senator.«

»Wie – und um den bangen Sie?«

»Warum sollte ich denn nicht, er ist ja mein bester Freund –«

»Nun, dann kann ich Ihnen wenigstens einen Trost geben. Der junge van der Bosch wird nirgends verhungern. Sein Onkel, der vor Kurzem gestorben, hat wenigstens drei Millionen hinterlassen.«

Der Banquier Ebeling starrte den Sprechenden mit weit aufgerissenen Augen an. »Sprechen Sie wahr?« fragte er mit ganz heiser gewordener Stimme.

»Ich spreche stets nur das, was ich weiß, und das eben Gesagte weiß ich bestimmt. Ha! und diesen Mann weist man hier aus? O, schicken Sie ihn rasch nach Hamburg, dort kann man Millionaire gebrauchen.«

»So wünsche ich Ihnen eine gute Nacht und danke für Ihre gütige Auskunft.«

In ein neues Staunen ganz anderer Art verfallen, fuhr der Banquier nach Hause. Als er aber an seine Lieben darin dachte und die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen ihm vor Augen trat, wich das letzte Gespräch mit dem Senator rasch in den Hintergrund und die allgemeine Trostlosigkeit der Seinen tauchte wieder wie ein dunkles Gewölk vor ihm auf. Verloren für ihn, für seine Familie war Paul van der Bosch ein wie alle Mal, ihn erhielt er niemals wieder und das steigerte seinen Kummer bis zu einem hohen Grade, denn nun erst, da er ihn für immer verlieren sollte, sah er ein, wie innig und fest der ehemalige ›arme Student‹ mit seinem ganzen Hause verwachsen war. Aber die Millionen? Ha! da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Wenn nun der Senator, der nur das sprach, was er wußte, sich dennoch irrte? Wenn die Millionen nur in seinem Kopfe vorhanden waren? Warum hätte denn, wenn sie wirklich vorhanden, der alte Professor nicht geschrieben und seinem geliebten Neffen das große ihn erwartende Glück nicht verkündet? Nein, nein, der Senator war im Irrthum, das stand bei ihm fest, und – er gab sich das Wort darauf – weder seine Frau noch Paul sollten für jetzt – diesen Irrthum des Hamburger Residenten erfahren, damit er ihnen nicht mit neuen Hoffnungen schmeichele, die, wenn sie sich nicht erfüllten, nur neue Bitterkeit und Unruhe erzeugen mußten.

Einige Minuten nach zehn Uhr trat der Banquier Ebeling wieder in das Zimmer seiner Frau und fand die drei darin Anwesenden auf dem Sopha sitzend und ihn schon sehnlichst erwartend. Paul saß in der Mitte und Jedes der beiden Anderen hatte eine seiner Hände gefaßt. Als der Banquier aber sichtbar wurde, sprangen sie lebhaft auf und eilten ihm entgegen. Paul lächelte matt, als er das Gesicht des älteren Freundes studirte, denn er hatte sehr bald erkannt, daß seine Bemühung eine vergebliche gewesen sei.

»Ebeling, ich bitte Dich,« rief seine Frau ihm entgegen, »sprich, was bringst Du? O, dürfen wir hoffen, oder nicht?«

»Beruhige Dich,« sagte der Kommende, seinen Hut dem Sohne überlassend, »das wird das Nothwendigste für den Augenblick sein. Und was Ihr hoffen könnt? O Charlotte, hoffet auf Alles, auf Gottes ewige Vatergüte und eine glückliche, ja, gewiß eine glückliche Zukunft – aber auf jene Menschen, auf Einsicht und Milde hoffet nicht, denn es ist Alles, mit einem Wort, Alles vergeblich gewesen. Er« – und hierbei deutete er auf Paul – »ist ein Ausländer und – seine Ausweisung ist durch einen Plenarbeschluß des Ministeriums gefaßt, kann also nicht zurückgenommen, nicht einmal aufgeschoben werden.«

Frau Ebeling sah mit thränenschwerem Blick erst Paul, dann Fritz an und blieb endlich mit einer Art Starrheit auf den bleichen Zügen ihres Mannes haften, der ihnen nun ziemlich ruhig seine Unterhaltung mit dem Minister und einen Theil der mit dem hanseatischen Residenten erzählte. »Also so steht es!« rief sie händeringend, als er ausgesprochen. – »Aber Du scheinst doch so gefaßt zu sein,« fügte sie hinzu, sich selbst zur Ruhe zwingend – »giebt es denn Etwas auf der Welt, was Dich die ganze Sache in einem helleren Lichte betrachten läßt?«

»O, o!« dachte er im Stillen, »was die Weiber für einen Blick haben! Sie hat am Ende schon die Millionen in mir gewittert. Also ruhig, ich muß ihr ihren Wahn benehmen.

– Mein liebes Kind,« sagte er dann laut, »nein, Du irrst Dich mit dem helleren Lichte. Aber daß ich gefaßter zurückkehre, als ich gegangen bin, ist wahr. Ich habe mich in Alles gefunden, und das müßt Ihr auch, da Euch nun nichts, nichts Anderes mehr übrig bleibt. Ja, ja, das ist mein einziger Trost, macht es wie ich und fasset Euch auch.«

»Wir sind es schon zum Theil,« sagte jetzt Paul, »und die es noch nicht sind, werden es hoffentlich bald werden. Ja, wir haben während Ihrer Abwesenheit schon hin und her berathen, wie ich meinen Abzug so schnell in's Werk setzen kann. Zu meinen Bauherren müssen Sie gehen, mein lieber Ebeling, dazu fehlt mir die Zeit und eigentlich auch der Muth. Ich mag den braven Männern nicht sagen, was mir begegnet ist, denn ich schäme mich, ihnen zu offenbaren, daß ihre Polizei mich für einen gemeinschädlichen Menschen hält.«

»Natürlich,« rief der Banquier sogleich, »das übernehme ich von Herzen gern. Sorgen Sie nur für einen anderen Baumeister, der ganz auf Ihre Ideen eingeht und die Arbeit da fortsetzt, wo Sie sie verlassen haben.«

»Den habe ich in Gedanken auch schon, lieber Freund. Morgen früh um sieben Uhr werde ich zu ihm gehen und er wird mit meinem Vorschlag wohl einverstanden sein.«

»Nein,« rief der Banquier, »Sie werden nicht zu ihm gehen, Sie werden fahren. Mein Wagen steht Ihnen den ganzen Tag zu Gebot, wie alles Uebrige, was ich besitze. Sie sollen sich in den letzten Tagen nicht anstrengen, damit Sie in den Stunden, die Sie übrig haben und die wir in Anspruch nehmen, nicht abgespannt und ermüdet sind.«

»Meine ganze freie Zeit habe ich Ihnen und Ihrer Familie schon im Stillen gewidmet,« erwiderte Paul warm, »und Ihren Wagen nehme ich dankbar an, da ich doch noch einige andere Dinge zu besorgen habe. Auch über meinen kleinen Besitz haben wir schon in Ihrer Abwesenheit verfügt. Meine Möbel übernimmt Fritz, zur Erinnerung an mich, bis ich sie einmal selbst wieder gebrauchen sollte; sie sind so gut wie neu und ganz modern.«

»Ja, und er will sie nicht einmal bezahlt haben,« fiel Fritz ein.

»O, o,« rief der Banquier, »nur jetzt nicht vom Geldpunct sprechen, mein Lieber. Das wird sich Alles finden.

Das verhandle ich allein mit ihm. Morgen oder übermorgen, wenn wir mit allem Uebrigen fertig sind. Ha, ja, Geld, das ist wahrhaftig jetzt nur Nebensache.«

»Auch meinen großen Koffer, der die erste schöne Reise mit uns gemacht hat, kannst Du nehmen,« fuhr Fritz fort, »und Kisten für Deine Bücher und sonstige Kleinigkeiten sind genug da.«

Paul nickte zustimmend, ohne darauf zu antworten, und der warmblütige Fritz, der seinem Freunde am liebsten Alles, was er besaß, gegeben hätte, hatte noch zahllose Vorschläge ähnlicher Art zu machen. So unterhielten sich die vier Menschen bis lange nach Mitternacht, dann aber trennten sie sich, mit Gefühlen, die wir zu beschreiben nicht versuchen wollen. –

Als Paul am nächsten Morgen, kurz nachdem er aufgestanden war, einen Blick auf die schon belebte Straße warf, überkam ihn ein seltsames Gefühl, für das er im ersten Augenblick keine Erklärung fand. Es kam ihm vor, als gehöre er schon nicht mehr hierher, als sei er fremd oder nur zum kurzen Besuche hier gewesen, und als habe weder Jemand an ihn noch er selbst an irgend Jemanden einen Anspruch zu machen.

Hatte diese letzte kurze Nacht oder irgend ein innerer, ihm verborgen gebliebener Vorgang diese Umwandlung in seinen Anschauungen bewirkt – er wußte es nicht; und je länger er das monotone Treiben auf der Straße mit ansah, über die er früher so oft mit inniger Sympathie hinübergeblickt, um so mehr widerte es ihn heute an, bis er endlich eine Art unsagbaren Ekels empfand und das Fenster schloß, um wieder mit sich und seinen Gedanken allein zu sein.

»Wie,« sagte er sich, »bin ich bisher über mich selbst oder über die Menschen und Vorgänge in dieser Stadt getäuscht worden? Wenn ich Wenige ausnehme, die mich glücklich gemacht und denen ich eine ewige Dankbarkeit und Freundschaft bewahren werde, so sind mir alle übrigen Menschen sehr gleichgültig hier. Nein, wo ein vernünftiger Mensch nicht denken, sprechen und schreiben darf, wie es ihm um's Herz ist, wo er einen unsichtbaren Maulkorb tragen muß, wie der Hund einen sichtbaren trägt, damit er nicht beißen und kaum bellen kann, da kann er sich auch nicht heimisch fühlen, und er sehnt sich fort in die weite, ferne Fremde, von der er nichts erwartet und verlangt und die ihn also auch nicht täuschen wird.«

Und seltsam, – vierundzwanzig Stunden früher hatte er noch keine Ahnung davon gehabt, und die Revolution seines Innren mußte während dieser kurzen Zeit wohl eine bedeutende gewesen sein – er wurde mit einem Mal von einer unaussprechlichen Sehnsucht nach Freiheit, Ungebundenheit und unbeschränkter Freizügigkeit erfaßt, und wo anders konnte er diese Freiheit finden, diesen Trieb nach Unabhängigkeit von aller Willkür befriedigen, als in der Natur, die, in und durch sich selbst souverain, keinen Zügel, am wenigsten den eines Tyrannen duldet, der sie in Fesseln schlägt, in der steten Natur, wo dem sich fühlenden Menschen unsichtbare Schwingen wachsen, mit denen er sich erhebt über das düstere Niveau der Alltäglichkeit und emporstrebt in lichtere Höhen, dahin, wo das Endziel aller sich freifühlenden Staubgeborenen ist und wo der beschränkte Unterthanenverstand wie die übermäßige Klugheit der weisesten Herrscher mit gleichem Maaße gemessen wird. –

Eine halbe Stunde nach obigem Selbstgespräch erschien schon der unermüdliche Fritz Ebeling, um seinem geliebten Freunde einen Guten Morgen zu bieten und sich ihm für den ganzen Tag zur Verfügung zu stellen. »Wie hast Du geschlafen nach dem gestrigen schweren Abend, Paul?« fragte er.

»Gut, mein lieber Fritz, und so fest, daß ich nicht einmal aufgewacht bin.«

»Du hast eine glückliche Natur. Wer Deine Ruhe hätte! Wir Alle haben die ganze Nacht kein Auge geschlossen.«

»Diese Ruhe hat mir Gott gegeben, mein Lieber.«

»O, so danke ihm dafür. Ich wäre aus der Haut gefahren, wenn mir begegnet, was Dir. Aber nun sprich – hast Du schon bedacht, wohin Du Dich wenden willst? Sonst hat meine Mutter einen ganz hübschen Plan für Dich zurechtgelegt –«

»Ja, bedacht habe ich es schon, aber ich habe noch keinen festen Entschluß gefaßt. Heute Abend, wenn wir mit Packen fertig sind, soll er bei Deinen Eltern festgestellt werden und Deine gute Mutter soll im Rathe gewiß eine der ersten Stimmen haben.« –

Eine Stunde später saß er im Wagen und fuhr zu verschiedenen Bekannten, denen allen er nur einige Minuten widmen konnte, und zu jenem jungen Baumeister, dem er seine Bauten übergeben wollte. Um elf Uhr schon fuhr er bei dem Banquier wieder vor und trat mit heiterem Gesicht bei der Hausfrau ein.

»Es ist Alles in Ordnung!« rief er ihr freudig entgegen, als handle es sich um ein großes Glück für ihn. »Meine Abschiedsbesuche, die ich nicht umgehen konnte, habe ich frühzeitig gemacht, ein Baumeister ist gefunden und morgen früh übernimmt er schon meine Eleven sammt allen Plänen und Entwürfen, die glücklicherweise in verschiedenen Mappen geordnet bezeichnet sind.«

Gleich darauf trat auch Herr Ebeling ein, der bereits bei seinen Freunden, den Bauherren Paul's gewesen war. Er erzählte, daß sie alle überaus betroffen gewesen wären und daß sie den Verlust ihres Baumeisters tief bedauerten.

Jetzt nahm man ein kräftiges Frühstück ein, da man erst spät zu Mittag essen wollte, und nach demselben begaben sich Paul und Fritz an die Arbeit des Packens. Der große Koffer nahm so ziemlich alle Kleider und Wäsche des Reisenden auf, aber eine Kiste reichte bei Weitem nicht hin für die Bücher und sonstigen Gegenstände, die Paul nicht im Stich lassen wollte.

»Das schadet nichts,« sagte der bei seiner hastigen Arbeit von Schweiß triefende Fritz, »und wenn es ihrer sechs werden. Ich sende sie Dir alle per Post oder Eisenbahn nach, wenn wir erst wissen, wo Du zu finden bist. Dann hindert Dich der schwere Ballast nicht auf der Reise. Laß mich nur machen, Du sollst schon mit mir zufrieden sein.«

Auch Frau Zeisig half von Zeit zu Zeit bei dieser Arbeit mit, wenn ihre Thränen ihr die Mitwirkung nicht versagten, da dieselben immer periodisch in heftigen Anfällen bei ihr hervorbrachen. Paul wollte ihr darin nicht hinderlich sein und so ließ er sie ab- und zugehen und hörte bisweilen ihre Klagen an, wobei er sie zu trösten versuchte.

»Nein, nein,« schluchzte einmal die Frau, »mögen Sie sagen, was Sie wollen, ich weiß, was ich weiß: einen solchen guten Herrn, wie Sie mir einer gewesen sind, kriege ich niemals wieder –«

»Wer weiß, ob Sie mich selbst nicht noch einmal wieder kriegen!« tröstete Paul.

»Ach Gott, ach Gott, meinen Sie, daß Sie wiederkommen? O, das wäre freilich das Beste und mir das Liebste. Aber ich glaube es leider nicht; der Mensch ist nur einmal im Leben glücklich und dann niemals wieder. Ich war es, so lange Sie bei mir wohnten, Herr Baumeister, und von morgen an werde ich es nicht mehr sein.«

»Wir werden Sie trösten, Frau Zeisig!« sagte Fritz mit einem leisen Seufzer.

»Ach Sie! Sie werden selber des Trostes bedürfen, wenn Ihr Freund aus dem Thore ist – denken Sie an mich!«

Damit ließ sie die beiden Freunde allein und entfernte sich, um ihren Thränen wieder freien Lauf zu lassen. –

Mit ihrer Arbeit so anhaltend beschäftigt, bemerkten Paul und Fritz nicht, wie schnell ihnen die Stunden schwanden. Als sie mit Allem fertig, war es beinahe vier Uhr und nun mußten sie sich zu Tisch hinüber verfügen. Da Paul an diesem Tage nichts mehr zu besorgen und verschiedene kleine Geschäfte außerhalb des Hauses auf den nächsten Morgen verschoben hatte, so blieb er bei seinen Freunden und ging, etwa um sechs Uhr, als dieselben etwas Nöthiges zu thun hatten, allein in den Gatten, um auch von der jetzt so stillen Weinlaube Abschied zu nehmen, in der er einst so glücklich gewesen war. Hier suchte ihn etwas später zuerst Herr Ebeling auf und beide Männer wandelten nun in traulichem Gespräch unter den noch unbelaubten Weingängen auf und nieder.

»Ich freue mich,« sagte da unter Anderem der Banquier, »daß Alles so ruhig abgeht und eigentlich weit ruhiger, als ich gestern für möglich gehalten habe. Meine Frau, die anfangs so übermäßig traurig war, ist wie durch eine göttliche Eingebung besänftigt und jetzt wirklich vollkommen gefaßt. Es ist ein braves Weib und mir wahrlich zur Freude und zum Troste beschieden worden.

– Doch ich habe noch einen anderen Punct mit Ihnen zu besprechen, und da wir allein sind, soll es sogleich geschehen. Es ist der unvermeidliche Geldpunct, mein Lieber.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Paul, fast heiter lächelnd.

»Nun, ich spreche im Ernst, lieber Bosch. Mit einem Wort – brauchen Sie etwas Geld? Nennen Sie mir irgend eine beliebige Summe und sie steht Ihnen augenblicklich zu Gebote.«

»Wahrhaftig, nein! Ich habe sogar noch beinahe zweihundert Thaler in Vorrath, Dank Ihrer Freigebigkeit für den unbedeutenden Bau vor dem Braunschweiger Thor.«

»Gut, ich verstehe Sie, Sie wollen von mir nichts und vielleicht brauchen Sie auch vor der Hand nichts. Darf ich aber darauf rechnen, daß Sie sich meiner erinnern wenn Sie irgend wann, wo oder wie meines Beistandes bedürfen sollten? Denn ich will wirklich nicht blos für jetzt, sondern für immer Ihr Freund sein – im ganzen Umfange des Worts.«

»Ich weiß es, ohne daß Sie es sagen,« erwiderte Paul voller Rührung, »und meine Dankbarkeit für dies und alles Uebrige erlischt nie.«

»Auch ich weiß das!« entgegnete der Banquier und beide Männer standen einen Augenblick still, sahen sich tief in die Augen und Beider Hände fielen fest in einander, so daß zur weiteren Erklärung kein Wort mehr gesprochen zu werden brauchte. –

Endlich war der Abend herangekommen. Man hatte sich in's Zimmer zurückbegeben, und nun, nachdem sich auch Fritz eingefunden, drängte Paul dazu, sobald Alle beisammen wären, zu berathen, wohin er sich zunächst begeben sollte.

»Warten Sie,« sagte der Banquier, »bis meine Frau kommt. Sie ist nur in die Küche, um nachzusehen, daß Alles nach ihrem Wunsche geschieht. Sie hat auch an ein spätes Nachtessen gedacht und möchte Ihnen in den letzten Stunden noch etwas Gutes vorsetzen.«

»Ah, sie richtet mir die Henkersmahlzeit zu?« sagte Paul mit einem leisen Beben der Lippen.

»Ja, aber diesmal bereitet sie ein Engel von Weib. – Doch wo bleibt sie denn und wer schlägt denn die Hausthür wieder so heftig zu? Ich weiß nicht, woher es kommt, jedes überlaute Geräusch regt mich heute so auf. Fritz, sieh doch einmal nach, wer so ungeschickt war, und dann schau Dich nach der Mutter um. Wir warten auf sie, sage ihr.«

Fritz befolgte auf der Stelle des Vaters Wunsch. Die beiden Zurückbleibenden saßen auf dem Sopha und hatten sich eben auf den Vorschlag des Banquiers eine Cigarre angebrannt. Letzterer hielt die Ohren immer nach der Thür gerichtet, um seine Frau und den nach ihr gesandten Sohn zu erwarten. Aber weder Frau Ebeling noch Fritz ließ sich sehen.

Da fing der Banquier, nachdem einige Zeit vergangen, mit leichtem Kopfschütteln an zu lächeln. »Ist es doch beinahe,« sagte er scherzend, »als hätte ich den Jochem hinausgeschickt, um den Hafer zu schneiden. Der Jochem schneidet den Hafer nicht und kommt auch nicht nach Hause. Aber mit dem Hund und dem Knüppel kann ich es leider nicht versuchen, die habe ich beide nicht zur Hand.«

Es entstand wieder eine Pause, und jetzt horchte auch Paul nach dem Flur hinaus, wo er zwei Stimmen mit einander flüstern zu hören glaubte. Endlich wurde Herr Ebeling ungeduldig. »Na,« sagte er, »da muß ich den Vers doch vollständig zur Wahrheit machen und nun will der Herr selber gehen und sehen, wo die Seinigen bleiben.«

Er stand etwas hastig auf und schritt eben der Thür zu, als diese sich rasch öffnete und Frau Ebeling und Fritz schnell hinter einander in das Zimmer traten, Beide aber mit Gesichtern, auf denen sich offenbar eine eben so große Ueberraschung wie Freude aussprach.

»Nun,« rief der Banquier ihnen entgegen, »was ist denn eigentlich los? Ihr sehet ja Beide ganz verklärt aus!«

Da traf ihn ein rascher Wink seiner Frau, der ihn sogleich zum Schweigen brachte.

»Ich habe draußen etwas mehr zu thun gefunden, als ich dachte,« sagte Frau Ebeling mit etwas kurzem Athem, »und muß die Herren um Entschuldigung bitten. Nun aber bin ich da und setze mich sogleich. Nehmt Ihr mich mit auf das Sopha? Ja? So, dann nehmen Sie wieder die Mitte ein, lieber Bosch. So ist es recht.«

So saßen denn die Drei und Fritz hatte ihnen gegenüber am Tische auf einem Stuhle Platz genommen. Dabei sah man dem jungen Mann eine Hast und Unruhe an, die er kaum länger zu unterdrücken vermochte, aber nur der Vater gewahrte dieselbe, während Paul ruhig vor sich niederblickte und mit seiner Nachbarin Erlaubniß die fein duftende Cigarre vorsichtig weiter rauchte.

»Na,« rief Fritz mit einem Mal, »nun sind wir beisammen und jetzt kann die Berathung beginnen.«

»Ja,« nahm Frau Ebeling sogleich das Wort auf, »es ist dies leider der letzte Abend, den Sie bei uns verleben, lieber Bosch, denn morgen Abend um sechs Uhr müssen Sie mit dem Schnellzuge fort.«

»Mit dem Schnellzuge?« fragte Paul erstaunt. »Ich weiß ja noch gar nicht, wohin ich reise und ob überhaupt ein Schnellzug dahin abgeht –«

Nun konnte sich Frau Ebeling nicht länger halten. »Aber ich weiß es!« rief sie. »Wohin wollen Sie denn eigentlich?«

»Das ist ja eben die Frage!« warf Paul ruhig hin.

»Mein Lieber, das ist keine Frage mehr,« rief sie frohlockend, »denn Ihr Ziel ist – wahrscheinlich und hoffentlich – gefunden.«

»Mein Ziel wäre gefunden?« fragte Paul verwundert. »Von Wem und welches ist es denn?«

»Das!« sagte Frau Ebeling mit starkem Nachdruck, zog dabei rasch einen Brief aus der Tasche und deutete mit ihrem rechten Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle der Adresse desselben. »Und wie heißt Ihr Ziel?« fuhr sie fort. »Können Sie es nicht lesen? Cuxhafen heißt es.«

»Was?« rief Paul, von seinem Sitze aufspringend. »Vom Onkel – ein Brief?«

»Ja, vom Onkel Casimir!« rief Frau Ebeling frohlockend, »und Frau Zeisig hat ihn so eben in's Haus gebracht. Vom Onkel Casimir, der in Betty's Ruh ist, kommt dieser Brief und er ist in Cuxhafen auf die Post gegeben und dort gestempelt.«

Unter den vier Personen entstand eine große Aufregung, die, um sich zu legen, einiger Zeit bedurfte. Endlich aber rief der Banquier, der seine Cigarre irgend wohin geschleudert hatte und einige Mal im Zimmer hin und hergelaufen war:

»Das ist ja merkwürdig! Eben, in der letzten Stunde, sitzen wir sorgenvoll beisammen und überlegen, wohin Sie gehen sollen, und da schreibt der Mann! Bei Gott, das ist wunderbar!«

»Nein, mein Lieber,« rief Frau Ebeling mit strahlenden Augen, »sage vielmehr: Das ist Gottes Fügung. Er, er allein hat Ihren Onkel erleuchtet, daß er gerade jetzt schrieb, und der – ja, der ruft Sie an seine Seite. So denke ich es mir wenigstens, denn ich kenne den Inhalt des Briefes ja so wenig wie Sie.«

Paul nahm den so bedeutsamen und zur rechten Zeit anlangenden Brief in die Hand und besah ihn von allen Seiten. »Ja,« sagte er, »das scheint wirklich Gottes Fügung zu sein; aber ich zage, ihn zu öffnen, denn wenn er mich nicht riefe, was dann?«

»Nun,« sagte Frau Ebeling, »dann sind wir ja berathend zusammen und stellen einen anderen Plan fest – öffnen Sie dreist – hier ist wieder die Scheere, aber diesmal ist es gewiß keine böse Parze, die Ihren Lebensfaden bei uns abschneidet.«

Paul trennte das Couvert, ohne das Siegel zu verletzen, und zog einen Bogen köstlichen englischen Papiers heraus, wie sein Onkel es früher nie in Besitz gehabt hatte. Es waren, wie man jetzt sah, sogar zwei Bogen und beide bis an den äußersten Rand mit kleiner Schrift ganz voll geschrieben.

»Na, darin kann Viel stehen,« sagte der Banquier mit funkelnden Augen, »ich bin so gespannt, daß mir die Hände beben!« Und die drei Millionen des hanseatischen Residenten kamen ihm plötzlich und unwillkürlich wieder in's Gedächtniß.

»Ich lese ihn gleich laut vor,« versetzte Paul, der im Stillen die beiden ersten Reihen überflogen; »Geheimnisse giebt es nicht mehr zwischen uns.« Und er begann zu lesen, aber ach! wo blieben da die drei Millionen des Senators? Und wiederholt dankte der Banquier Gott im Stillen, daß er verschwiegen, was ihm der gute Mann, in einem Irrthum ohne Gleichen befangen, über den Reichthum des alten Holländers aus Batavia gesagt hatte.

Der Brief des Onkels Casimir aber lautete wie folgt:

»Mein lieber, theurer Paul, Neffe und Freund!

Endlich, endlich, wirst Du sagen, ein Brief vom alten Professor, dem Onkel Casimir, dem Erben von Betty's Ruh, und wie alle meine Titel lauten mögen, – und endlich! sage auch ich – aber es ist wahrhaftig nicht meine Schuld, mein trauter Junge, wenn ich so lange nicht geschrieben und Deine Neugierde etwas über die Gebühr in der Schwebe gelassen habe.

Wahrlich, Du wirst verzeihen, wenn ich Dir sage: ich mußte so lange schweigen, wenn ich Dich nicht in Unruhe und Sorge stürzen wollte, denn ich hatte Dir wahrhaftig nichts Angenehmes mitzutheilen.«

»Na,« unterbrach der Banquier den dies langsam und mit lächelnder Miene Lesenden, »das fängt gerade nicht sehr erbaulich an!« Und im Stillen setzte er hinzu: »O, der kluge Senator, der Millionenvererber! Da glaube Einer noch, was die Menschen faseln!«

»Wenn ich Dir Alles erzählen wollte,« fuhr Paul im Lesen fort, »was ich habe erleben und durchmachen müssen, so könnte ich ein ganzes Buch Papier verschreiben, aber das wäre doch schade, obgleich hier, wie in allen möglichen Dingen, auch davon ein sündhafter Vorrath vorhanden ist, und darum stehe ich davon ab und begnüge mich mit einzelnen Andeutungen, wobei ich Dich nur um Entschuldigung bitte, wenn ich Dir Manches zwei- oder dreimal sage, wenn ich Dir überhaupt nicht so logisch wie sonst erscheine und das mathematisch richtige Maaß außer Acht lasse, womit ich einst meine Vorderund Nachsätze zu messen und meine Gedanken zu ordnen pflegte. Ach, lieber Gott, wo ist meine Logik und Mathematik geblieben! Der brausende Wind, der hier ganz anders pfeift als bei uns, hat sie mir wahrscheinlich fortgeweht und eine Art Wirbel in meinem Hirne erzeugt, wie ich ihn nie empfunden und auch nie geglaubt habe, daß er in eines Menschen Hirn existiren könne, ohne es zu vernichten.

Doch halt – bis hierher und nicht weiter in der Klage, sonst kommst Du am Ende gar nicht zu mir und das ist doch der Hauptgrund, warum ich heute schreibe, die Hauptbitte, die ich Dir an's Herz lege, denn kommen mußt Du, ich flehe so lange, bis Du mich erhörst und mir mein jetziges Dasein wie ein mitleidiger Samariter ertragen hilfst.«

»Das wird immer besser,« unterbrach der Banquier den Lesenden wieder. »Aber was hat denn der Mann so Wunderbares zu klagen?«

»Du wirst es ja gleich hören: lieber Emil,« sagte seine Frau, die ihre hohen Erwartungen ebenfalls etwas sinken fühlte, obgleich sie einen stillen Triumph darüber empfand, daß sie in der Hauptsache des Inhalts sich nicht geirrt hatte.

»Es wird wohl nicht ganz so schlimm sein, wie er es macht,« warf Fritz lächelnd hin.

»Das scheint mir auch fast so,« bemerkte Paul. »Der gute Onkel ist durch einen plötzlichen Machtspruch – nur kam er von einer anderen Seite als bei mir – aus seiner glatten Bahn gerückt und nun tappt er überall im Dunkeln und sieht Gespenster auf allen Seiten. Doch hören wir weiter, er wird sich ja wohl näher erklären.«

Und er las:

»Ja, ich hätte Dich schon längst zu mir gerufen, mein guter Junge, wenn mein Gewissen es mir erlaubt hätte, nur zu meiner eigenen Erleichterung und zu meinem Troste einen Anderen seiner Gewohnheit und seinen Geschäften zu entziehen – und nun gar Dich, den ich so liebe und dem ich eher Ruhe als Unruhe gönne, mit welcher letzteren ich Dir in Betty's Ruh, das sonst so schön ist, doch nur hätte dienen können. Nein, ich durfte Dich um meines eigenen Vortheils willen nicht Deinem Berufe, Deinen Arbeiten, Deinen großstädtischen Freuden und Genüssen entziehen, und so trug ich lieber meine Last im Stillen, so lange es ging. Jetzt aber, mein Junge, jetzt geht es wahrhaftig nicht länger, jetzt muß ich Dich stören und Dich wenigstens auf ein paar Wochen zu mir rufen, damit ich Dir meine Lage vorstelle, damit Du mir Deinen Rath geben und vielleicht helfen kannst.

Ich würde mich vielleicht auch jetzt noch nicht entschlossen haben, Dir diese Bitte vorzutragen, wenn ich nicht augenblicklich von meinem bisherigen Berather und Helfer, dem Rentmeister Hummer verlassen wäre. Der gute Kerl, der mir schon manche schwere Last abgenommen und unausgesetzt für mich thätig ist, obgleich er wahrhaftig mit seiner jetzigen Pachtung meiner Ländereien – womit er einen abermaligen Beweis seiner Hingebung geliefert – für sich selbst genug zu thun hat, ist nämlich auf einige Wochen zu seinen Verwandten in Ostfriesland gereist, die er, glaube ich, nicht gesehen hat, seitdem er mit meinem Bruder aus Ostindien zurückgekommen ist; und nun, da er fort ist, fällt es mir erst mit einem Male so recht auf, ohne daß die alte Dralling mich dazu alle Tage zu stacheln braucht, daß ich eigentlich auf mich allein angewiesen und ohne jede werkthätige Hülfe bin. Nun, so habe ich denn also endlich mein Gewissen zur Ruhe gebracht, habe mich niedergesetzt und trage Dir meine Bitte schulgerecht vor, die, noch einmal sei es gesagt, dahin lautet: Dich auf einige Wochen von Deinen Geschäften und Freunden loszureißen und mir in meiner traurigen Einsamkeit Gesellschaft zu leisten, wo sich denn alles Uebrige von selbst finden wird.«

Frau Ebeling und ihr Mann hatten diese Worte mit großer Verwunderung angehört und sich gegenseitig schon oft fragend angeblickt. »Na, mein Gott,« rief Letzterer jetzt, da Paul eine kleine Pause eintreten ließ, »der Mann wird mir immer räthselhafter. Er stirbt ja beinahe vor Sehnsucht nach Ihnen. Aber das ist wahr, er konnte sein zartes Gewissen zu keiner passenderen Stunde beruhigen.«

»O, das ist nicht das Seltsamste,« rief Frau Ebeling. »Die Verhältnisse, in denen er lebt, die sind es, auf die ich am meisten gespannt bin, denn, ich kann mir nicht denken, daß Ihr Onkel so schrecklich trostlos, verlassen und unglücklich ist, wie er schreibt. Bitte, lesen Sie doch weiter – mir ist immer, als müßte in diesem Briefe noch etwas Anderes als die ewige Klage kommen,« fügte nur Fritz noch hinzu, »was für eine Freude wird der alte Mann haben, wenn er hört, daß sein lieber Junge einen unbeschränkten Urlaub und nichts Anderes zu thun hat, als sich allein seiner Unterhaltung und seinem Troste zu widmen! Doch nun weiter, ha! es kommt richtig etwas Anderes – er belächelt schon, was er im Stillen gelesen hat.«

Paul hatte allerdings einige Zeilen weiter gelesen und dabei lächeln müssen. Jetzt aber las er laut:

»Mir ist es seltsam ergangen von dem Augenblick an, wo ich mein Haus verließ und wie ein irrender Pilgrim eine ganz neue Sphäre betrat, aber das wußte ich vorher, mir sagte es ein gewisses Ahnungsvermögen und ich habe mich nicht getäuscht, wenn ich auch Alles ganz anders gefunden, als ich vermuthet hatte. Ach, wenn ich einmal hier zum ruhigen Nachdenken komme, was mir freilich nur selten begegnet, da mir eben die gemüthliche Ruhe dazu fehlt, dann sage ich mir selbst, daß ich in eine neue Welt versetzt bin und daß ich wie ein Kind in derselben von vorn zu lernen anfangen muß, was mir mitunter recht schwer fällt, obgleich ich doch sonst von gesundem Begriffsvermögen bin. In dieser neuen Welt fand ich, wie schon gesagt, Alles ganz anders, als ich erwartet, was mich umgab, war glänzender, wunderbarer, als ich je etwas geträumt, aber auch viel verworrener, mir unverständlicher, unbegreiflicher. In den ersten Wochen schwindelten mir fast die Sinne, ich wußte nicht aus und ein, ich tastete wie ein Halbblinder, oder richtiger gesagt, wie ein von zu strahlendem Glanze Geblendeter, aus meinem mir zugewiesenen Pfade dahin. Allmälig erst sammelte ich mich, fand mich zurecht in meinen Umgebungen, sah und hörte mit langsam erwachendem Bewußtsein, was um mich vorging, und nun bemühte ich mich, mir das ganze vor mir liegende Bild klar und mich mit meinem neuen Besitz vertraut zu machen. Aber ach, das war eine sehr schwere Aufgabe für mich alten Mann, mein Lieber; denn Alles, was ich vor mir sah, war mir neu und fremd, die Menschen, das Land, ihre Sprache und ihre Sitten, ihr Leben und Weben, ihr Denken und Trachten, ihr Arbeiten und ihr Genießen. Doch, was schwatze ich so Vieles, Du wirst mich doch nicht verstehen und ich besitze leider diesmal nicht die Gabe, mich Dir klarer zu machen. Zum ersten Mal in meinem Leben rufe ich hier die Wissenschaft vergebens zu meinem Beistand an, sie läßt mich treulos im Stich und ich taumele wie ein Schiff ohne Mast und Steuer auf einem unbekannten Meere voller Klippen und Untiefen herum. Nein, Du mußt Alles selbst sehen, es mit Deinen Sinnen auffassen, und ich bin überzeugt, Dir bei Deiner frischen, jugendlichen Fassungskraft wird Alles nach vierundzwanzig Stunden klarer als mir in einem ganzen Jahre sein.

Alles in Allem genommen, habe ich eine seltsame Erbschaft gemacht und es wäre mir lieber gewesen, wenn sie nicht an mich herangetreten wäre, aber Du hast sie mit mir gemacht – hier hast Du den Kern meines ganzen heutigen Schreibens – denn ich will, ich kann sie nicht allein behalten und genießen, mag sie sein wie sie will, mag zuletzt das Plus oder das Minus überwiegen, ich muß nothgedrungen einen Theilnehmer, einen herzlich Verbündeten an meiner Seite haben, der mir in allen Dingen beisteht, wo ich schwach und gebrechlich bin, und ach! ich, mein Lieber, bin, wie ich jetzt sehe, an vielen Stellen schwach und gebrechlich, da ich ja mein ganzes Leben lang meine Kräfte für diese Art von Existenz gar nicht geübt und sie nur nach einer einzigen Richtung angestrengt habe, was, wie mir scheint, doch auch seine Schattenseiten hat, da die erlangte Weisheit mir hier gar nichts nützen kann.

In dieser neuen Welt nun, in die ich wie aus den Wolken hineingefallen bin, habe ich ganz unverhofft einen wahren Berg mir ganz unbekannter Arbeit und Mühseligkeit vorgefunden. Um Dir nur eine kleine Musterkarte meiner Thätigkeit vor Augen zu führen, will ich Dir sagen, daß ich zuerst mit den Gerichten zu verkehren hatte, und allerdings kamen mir die Personen, die sie vertraten, mit großer Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegen. Als ich aber nach vielen, vielen Wochen mit den Gerichten fertig geworden, als Untersuchungen, Verhöre und wie dergleichen Zeug heißt, stattgefunden, nach denen ich gar nicht verlangt, die ich nicht veranlaßt habe, hatte ich mit einem Haufen Menschen zu thun, die eben so verwundert schienen, mich als ihren Herrn zu sehen, wie ich verwundert war, was ich mit so vielen überflüssigen Handlangern menschlichen Unverstandes anfangen sollte.

Und da mußte ich denn nothwendig eine strenge Sichtung vornehmen, mußte die Einen entlassen, die Anderen wo anders unterzubringen suchen, und o, wie viele unbeschrittene Wege mußte ich deshalb betreten, wie viele Bogen Papier besudeln, wie viele Reisen und Fahrten hierhin und dorthin unternehmen! Das betraf aber nur erst die Menschen, und nun kamen auch Thiere und Dinge aller Art hinzu. Ja, Thiere, denn auch Pferde, Rindvieh und Schaafe mußte ich verhandeln, Wagen verkaufen, wovon ich hier einen Ueberfluß vorfand, der mir ganz gottlos erschien. Doch ich sehe schon, ich werde nicht fertig mit der Aufzählung aller Schwierigkeiten, die ich fand, und ich will lieber davon abbrechen. Aber nun sage selbst: kannst Du Dir Deinen alten Onkel, den Bücherwurm, den Zahlenmenschen, der früher seine schwierigsten Gleichungen immer richtig aufgehen sah, kannst Du ihn Dir vorstellen, wie er sich unter allen diesen Dingen ausnahm, was für eine traurige Figur er spielte, was für eine klägliche Miene er machte? Nein, das kannst Du nicht, aber Du kannst Dir gewiß vorstellen, wie es in mir wirrt und schwirrt, wie Alles in meinem Kopfe herum wirbelt und quirlt, nicht wahr?«

Paul hielt einen Augenblick inne und lachte herzlich, wobei ihn die Anderen weidlich unterstützten. »Ja,« sagte er, »ich stelle mir in der That vor, was für eine Figur er spielte und welche Miene er machte, o ja! Der alte Mann muß drollig genug dabei anzuschauen gewesen sein und er schildert bei alledem seinen Zustand ganz gut und verständlich, wenn er uns auch bei allen seinen Wiederholungen kein Wort sagt, was ihn denn eigentlich so confus gemacht hat.«

»Nein, nein,« versetzte der Banquier, »er macht uns nichts klar, eben so wenig wie ihm selbst seine Verhältnisse klar zu sein scheinen. Es wird wahrhaftig die höchste Zeit, daß Sie an seine Seite kommen, und dann werden wir ja wohl von Ihnen ein richtiges Bild von der Sachlage erhalten.«

»Nun, Paul,« scherzte Fritz, »was sagst Du denn nun zu dem Schnellzug morgen um sechs Uhr, he?«

»Ich sage nichts, lieber Junge, und bewundere nur den Scharfsinn und Fernblick Deiner Mutter. Doch davon nachher, erst laß mich den Brief zu Ende lesen, ich habe noch zwei fabelhaft eng beschriebene Folioseiten vor mir.«

»Deine Reise hierher – Gott sei Dank, daß ich so weit gekommen bin! – wird Dir allerdings einige Unbequemlichkeit, doch im Ganzen keine Schwierigkeit bereiten, wie es mir geschah, der ich in den letzten zwanzig Jahren nie weiter als von meiner Universitätsstadt einmal nach Hamburg zu Deiner Mutter und zurückgereist bin, wo es ja, wie Du weißt, keinen hohen Berg zu übersteigen oder ein breites Wasser zu durchschwimmen gab. Du fährst also zuerst auf der Eisenbahn nach Hamburg. Dort besteigst Du den ersten besten Dampfer, der nach Helgoland oder England geht, und lässest Dich in Cuxhafen bei ›der alten Liebe‹, dem dortigen Halteplatze, aussetzen. Die Verbindung zwischen Hamburg und Cuxhafen ist in jetziger Jahreszeit schlecht und unterliegt in Vielem dem Zufall. Hoffentlich ist Dir das Glück hold wie mir, ich brauchte in Hamburg nur zwei Tage auf eine Reisegelegenheit zu warten.

Von Cuxhafen an aber kann ich Dir guten Rath ertheilen und den magst Du befolgen. In diesem hübsch gelegenen Hafenorte giebt es zwei Gasthöfe, der eine heißt Belvedere, der andere Bellevue. Der erste mag der beste und besuchteste sein. Indessen kehre Du nicht darin ein, so sehr man Dich auch an der Landestelle dazu einladen mag, sondern begieb Dich sofort auf den Weg zu mir, und das fange so an. An ›der alten Liebe‹ dinge Dir einen Jungen mit einer Karre, der Dir Deinen Koffer fortschafft. Ihm sage, Du wollest nach der Kugelbaake zum Vierländer. Dies ist ein reizendes kleines Strandhaus, in welchem der Bewohner desselben Nachts das allbekannte Baakfeuer unterhält. Es liegt hart an der See, innerhalb fester Deiche, in der Nähe zweier Bauernhäuser und dicht an der Kugelbaake. Dies Haus: ›zum Vierländer‹ genannt, ist eigentlich kein Wirthshaus, aber die trefflichen Leute darin nehmen jeden Fremden gastlich und herzlich auf. Es ist dies das Ziel meiner liebsten Spaziergänge, denn auch hier setze ich, wie zu Hause, wenn es irgend möglich ist, meine meilenweiten Gänge Nachmittags fort. Du brauchst daselbst nur meinen Namen zu nennen und man wird Dich freundlich willkommen heißen, da man mich schon lange kennt. Ich sitze da gar zu gern auf dem Deich und schaue über das unermeßliche Meer fort, und an dieser Stelle habe ich bisher meine schönsten und traulichsten Stunden verlebt. Ich pflege nämlich hier recht hübsche Studien zu machen, habe schon oft die Höhe und Kraft der Wellen, die seltsamen Abweichungen der Ebbe und Fluth, die Winddrehungen und dergleichen mehr beobachtet und berechnet und bin bei den guten Leuten vom ersten Tage an wie zu Hause gewesen.

In dieses Haus also begiebst Du Dich. Es liegt etwa eine halbe Stunde von Cuxhafen entfernt und der Weg, der auf dem schmalen Deich dahin führt, ist reizend und Du hast zur Linken immer Cuxhafen, Ritzebüttel und die ganze hübsche Umgegend, und zur Rechten das große brausende Meer vor Dir, welches einem Menschen, der es noch nicht kennt, ganz erstaunliche Genüsse bietet, wie es auch mir geschah. Von dem Baakfeuerwärter Whistrup – so heißt der Mann – lässest Du Dir den Weg nach Betty's Ruh beschreiben. Es geht anfangs immer auf Deichen quer durch das grüne Land fort, bis Du an eine kleine, auf Hügeln sich ausbreitende Waldung gelangst, hinter der, eine gute Stunde von der Kugelbaake entfernt, Betty's Ruh schon deutlich genug zu sehen ist. Deinen Koffer gieb Whistrup zur Aufbewahrung, ich lasse ihn später holen. Willst Du aber fahren, so bekommst Du in dem benachbarten Bauerngehöft einen Wagen, der Dich fast auf demselben Wege hierher führt wie der Fußsteig, nur verdecken Dir die Deiche dann, innerhalb deren Du fahren mußt, die ganze schöne Aussicht auf See und Land.

O, wie froh wollte ich sein, wenn Du erst auf diesen Deichen gingest oder auf diesem Wagen säßest! Ich sehne mich unaufhörlich nach Dir; denn mich hat mit einem Mal das bestimmte Gefühl erfaßt, Du allein wärest im Stande, mich aus meinem Dilemma zu erlösen und mir Ruhe und Freude zu geben. Und sieh, mein Junge, bist Du erst hier und nimmst Dich meiner Gutsherrnangelegenheiten an, dann fallen für mich wieder einige Stunden für meine Rechnungen und Gleichungen ab und ich kann wieder mit meinen lieben Büchern liebäugeln, die ich schon lange habe kommen lassen, aber die ich noch nicht viel habe benutzen können. Apropos, Professor an der Universität ... bin ich auch nicht mehr! Ach, das war nicht mehr möglich, die Wonne liegt hinter mit, und ich habe auch das Opfer gebracht und meinen Abschied genommen. O! Doch still davon! Eile nur, so sehr Du kannst, und laß mich Dein gutes Gesicht bald wiedersehen; meine Weisheit ist zu Ende und ich dürste nach Deiner frischen Kraft und Deinem jugendlichen Muth, denn ach! ich bin trotz meiner großen Erbschaft – denn groß ist sie bei alledem – doch nur ein armer beklagenswerther Mann und eine Stunde bei meinen Büchern ist mir mehr werth, als das jahrelange Anschauen aller der Kostbarkeiten, die ich hier um mich versammelt sehe. Ja, lieber, guter Paul, eile, so sehr Du kannst, ich zähle die Stunden, bis Du hier sein kannst, und die alte Dralling, die sich natürlich hier fühlt und Dich auch mit Freuden erwartet, wird bis dahin, wo Du in unsre Nähe trittst, Dir ein weiches Bett, mit Damast und Seide überzogen, bereitet haben, denn dergleichen Tand ist hier in einer fabelhaften und in Wahrheit gottlosen Fülle vorhanden. Je eher Du Dich aber von Deinen Verhältnissen losreißen und zu mir eilen wirst, um so glücklicher machst Du Deinen alten, durch seine nicht ersehnte Erbschaft zugleich reich und arm gewordenen

Onkel Casimir.«

Als Paul diesen Brief zu Ende gelesen hatte, verharrten die um ihn Sitzenden eine Weile in Stillschweigen, denn offenbar hatte sein Inhalt auf Alle einen tiefen Eindruck gemacht und Jeder mochte wohl mit sich zu Rathe gehen, was er darüber sagen solle.

»Nun,« begann Paul endlich zu sprechen, indem er seine Freunde der Reihe nach forschend anblickte, »was sagen Sie zu diesem Brief?«

Der Banquier erhob seinen Kopf zuerst und sagte: »Ja, es ist ein höchst merkwürdiges Schreiben und in der That voller Widersprüche, die sich kein Mensch auf der Stelle wird entziffern können. Ihr Onkel ist reich und arm geworden, hat Alles viel großartiger und glänzender gefunden, als er erwartet, und doch befindet er sich in einer trostlosen Lage, aus der er sich nicht allein retten kann. Ha – versteht Ihr das?«

Da hob Frau Ebeling nach langem Sinnen ihr mildes Gesicht empor und sagte mit eigenthümlichem Lächeln: »Allerdings ist das Schreiben merkwürdig, aber eine Erklärung scheint es mir doch dafür zu geben, und sie ist sogar sehr einfach, lieber Freund. Ich wundere mich, daß Du das nicht auch findest, Ebeling. Ich glaube nämlich, der alte Mann, aus seinen bisher so einfachen Lebensgewohnheiten gerückt, kann sich nicht sogleich in sein Glück finden, und darum hat ihn der Glanz, den er gewiß vorgefunden, wirklich geblendet und verworren gemacht, wie er auch selbst sagt. Jedenfalls steht es mit ihm nicht so schlimm, wie er es macht, denn sonst – sonst –«

»Nun, was sonst?« fragte Paul, da Frau Ebeling plötzlich im Sprechen stockte, als hätte sie sich darauf ertappt, etwas zu sagen, was Niemand vor der Hand zu wissen brauchte. Von Paul aber so direct bedrängt, erröthete sie, faßte sich jedoch schnell und ergänzte ihre unterbrochene Rede mit den Worten: – »Sonst hätte er gewiß früher geschrieben und sich nicht erst nach einem vollen Jahre nach seinem Neffen und dessen jugendlicher Kraft umgesehen.«

»Ja,« nahm der Banquier rasch das Wort, »das scheint mir auch so und ich stimme Dir darin vollkommen bei. Irgend ein Räthsel liegt allerdings in Betty's Ruh und in dieser seltsamen Erbschaft begraben, aber es wird ja wohl noch zu lösen sein. Man weist Ihnen also eine hübsche Aufgabe zu, lieber Bosch, und Sie haben glücklicherweise Zeit genug, an diese Lösung mit aller Ihrer Kraft zu gehen. Sehen Sie da, wie die Vorsehung doch wieder so weise hier gewaltet hat. Was uns gestern noch so traurig, so ungerecht, so bitter erschien, erhält heute schon eine ganz andere Bedeutung – es liegt eine Art Geschick, die Alten nannten es Fatum darin – und dergleichen begegnet uns im langen Leben gar oft. Man muß also über kein Unglück, wie groß es auch sei, gleich den Kopf hängen lassen. Nein, hinauf mit der Stirn, mit den Augen, mit dem Geist, da oben über den Sternen wohnt ein guter Gott und er knüpft die Schicksalsfäden der Menschen auf eine ganz andere Weise zusammen, wie wir sie oft zusammengefügt haben möchten. So gehen Sie denn getrost auch an dieses Ihnen ohne Zweifel von höherer Hand übertragene Geschäft. Sehen Sie sich die Dinge da oben an und denken Sie darüber nach. Sollten Sie Ihren eigenen Augen noch nicht genug vertrauen, so schreiben Sie mir, und diesmal, ja, diesmal, Charlotte, folge ich dem Rufe, und Dein lange genährter Wunsch wird erfüllt. Du gehst nach Wollkendorf und ich – ich gehe zu Paul und seinem Onkel nach Betty's Ruh, und da beide Orte nur wenige Stunden von einander entfernt liegen, können wir zusammentreffen, so bald uns die Neigung dazu auffordert.«

Durch diese letzte Wendung war das Gespräch in eine ganz andere und gewiß Niemanden unangenehme Richtung geleitet worden, und in dieser wurde es fortgesetzt, bis die Stunde des Nachtessens gekommen war. Man ging diesmal viel ruhiger und sogar heiterer zu Tisch, als man es kurz vorher für möglich gehalten, und Frau Ebeling verstand es, diese heitere Stimmung bis zum Ende zu bewahren, worin sie ihr Mann und ihr Sohn, ein Jeder auf seine Weise, nach Kräften unterstützte. Dennoch fühlte sich Paul, als er abermals spät seine Wohnung aufsuchte, außerordentlich ernst und sogar feierlich gestimmt. Gerade die eben bei Tisch geführte heitere Unterhaltung ließ ihn empfinden, wie schwer ihm der Abschied von einer solchen Familie auf's Herz fallen würde. O ja, er verließ eine ihm lieb und theuer gewordene Heimat, in der er nicht nur eine geregelte Thätigkeit, Erfüllung eines edlen Berufs, sondern auch so viele Ermunterung, Freundschaft und Liebe gefunden, wie sie ihm wohl nie mehr an einem anderen Orte geboten werden konnten. Außerdem aber regte ihn von Neuem die Art und Weise auf, wie er von dieser Heimat gerissen wurde, und zuletzt trat ihm die neue Lage, in der er sich bald an der Seite des Onkels befinden sollte, doch auch in sehr ernster Bedeutung vor Augen. In Wahrheit, dies Alles zusammen bot ihm Stoff genug zum Nachdenken und er blieb wohl noch eine Stunde in seinem Zimmer wach, um schon im gegenwärtigen Augenblick über die ihn erwartenden Verhältnisse mit sich zu Rathe zu gehen. »O wie wunderbar spielt das Leben mit dem Menschen!« sagte er sich. »Oft und lange fließt es in eintöniger, fast langweiliger Ruhe und Gleichmäßigkeit fort, die uns keinen frohen Hoffnungsblick in die Zukunft gestatten und uns die ganze Gegenwart als etwas sehr Oedes und Gleichgültiges betrachten lassen, und dann wieder giebt es Stunden und Tage, in denen es gleichsam in donnerndem Gebrause dahinstürzt und wichtige und ergreifende Ereignisse in solcher Fülle zusammendrängt, daß wir in kurzer Zeit Jahre zu verleben glauben und plötzlich, fast ruckweise in eine ganz neue Lage geschleudert werden. Wir werden dann zu Handlungen und Entschlüssen hingerissen, die wir vorher nie bedacht und kaum für möglich gehalten haben, aber Gott sei Dank, wenn wir nicht selbst wissen, was wir thun, wohin wir uns wenden sollen, dann reifen diese Entschlüsse wie durch göttliche Eingebung oder Offenbarung in uns und es bauen sich Pläne im Umsehen auf, zu deren Entwickelung wir im gewöhnlichen Laufe der Dinge lange Zeit gebraucht hätten, und nun schreiten wir mit einer Art Siebenmeilenstiefelschritt in der Erkenntniß der Dinge, Verhältnisse und Menschen fort. Ja, eine solche Zeit, einen solchen Tag habe ich auch jetzt erlebt und er hat mich gewiß gefördert, obgleich er mich für den Augenblick schwer genug betrübt hat. Aber gerade die Betrübniß – und das habe ich schon selbst gefunden – ist oft der kürzeste und beste Weg zum Glück, und so will ich ihn auch diesmal getrost wandeln und meiner Zukunft, mag sie sein, wie sie will, mit offenen Sinnen und mit unwandelbarem Vertrauen entgegengehen.« –

Mit solchen Gedanken begab er sich endlich zur Ruhe, um die letzte Nacht – vielleicht in seinem Leben – in der stolzen Residenz zu schlafen, die ihn seit seinen Studentenjahren in ihren Mauern beherbergt und deren Bewohnern er in Freundschaft und Liebe so nahe getreten war. Aber auch in dieser Nacht schlief er ruhig und fest und wachte am nächsten Morgen sogar viel später als gewöhnlich auf.

Geschäfte hatte er nur noch wenige abzuwickeln und diese wurden rasch in einigen Stunden des Vormittags abgemacht, da ihm ja auch heute der Wagen des Banquiers zu Gebote stand. Fritz Ebeling, der sich an diesem Tage keine Minute mehr von ihm trennen wollte, saß neben ihm im Wagen, stieg mit ihm aus, wo seine Gegenwart zulässig war, und erwartete geduldig seine Rückkehr, wenn Paul sich allein entfernt hatte.

Gegen Mittag betrat dieser seine Wohnung zum letzten Mal und nahm Abschied von Frau Zeisig.

Das war eine thränenreiche Viertelstunde von Seiten der guten Wäscherin und es schien ihr unendlich schwer zu werden, sich von ihrem lieben Herrn zu trennen. Es mußte aber doch geschehen und Paul verließ sie, um sich zum letzten Mal in das Ebeling'sche Haus zu begeben und daselbst nun wirklich die ›Henkersmahlzeit‹ einzunehmen. Um fünf Uhr endlich hatte auch hier die Abschiedsstunde geschlagen, wenigstens für Frau Ebeling, denn ihr Mann und Sohn wollten bis zum letzten Moment in der Nähe des geliebten Freundes bleiben, und ihn zu diesem Ende bis zum Bahnhof geleiten.

Frau Ebeling hatte sich aus dem Speisezimmer, wo man bis kurz vor dem Aufbruch verweilt, in ihr stilles Cabinet zurückgezogen, um in möglichster Ruhe den Augenblick herankommen zu sehen, der ihr nun nicht länger erspart werden konnte. Kaum hatte sie das trauliche Gemach erreicht, das so oft Zeuge so wichtiger und bedeutungsvoller Unterhaltungen gewesen war, so trat auch schon Paul hinter ihr ein und, indem er rasch auf sie zuschritt, faßte er ihre beiden Hände und sagte mit weicher und doch männlich fester Stimme:

»Meine liebe Frau Ebeling! Lassen Sie mich die letzten Worte rasch sprechen, denn es thut weh, von Menschen scheiden zu müssen, die wir so lieben, wie ich Sie liebe. Wohlan denn, so hören Sie nur das Eine. Sie, gerade Sie, haben mir durch Wort, That und Mitgefühl unzähliche Wohlthaten erwiesen und, glauben Sie mir, ich bin Ihnen bis an mein Lebensende dankbar dafür. Das war es, was ich Ihnen sagen wollte, sagen mußte, alles Uebrige denken und – schreiben wir uns, nicht wahr?«

»Ja, ja, wir schreiben uns, und recht bald, recht oft – und recht viel. O, daß Sie einmal fort mußten von uns, wußte ich lange und ich habe mich darauf gefaßt gemacht, daß es aber auf diese Weise und so rasch kommen würde, habe ich nicht gedacht und das macht mein Herz beben und erfüllt es mit größern Schmerz. Doch ich will nicht klagen, Sie klagen ja auch nicht, und tragen Ihr Schicksal männlich und standhaft. Das bin ich von Ihnen gewohnt und deshalb bin ich doppelt stolz auf Sie. Gehen Sie mit Gott! Die drei ersten Verse des schönen Spruches Ihrer Mutter haben Sie oft genug in Anwendung bringen können, nun geht mein Wunsch dahin, daß der letzte sich erfülle und das Glück Ihnen jeden Tag komme – und dann – und dann –«

Sie konnte nicht weiter sprechen, Thränen erstickten ihre Stimme. Sie fiel Paul um den Hals und küßte ihn herzlich, lange, wie nur eine Mutter ihren geliebten Sohn küssen kann.

Da traten Herr Ebeling und Fritz herein, Letzterer geknickt wie ein schwaches Rohr und vom tiefsten Schmerz so gepreßt, daß er nicht einmal eine Thräne vergießen konnte. Aber dafür seufzte er um so mehr, und auch jetzt wieder, wie den ganzen Tag vorher, so oft es nur ging, hielt er sich dicht bei seinem geliebten Freunde, um wenigstens seine Kleider zu berühren, wenn er nicht immer seine Hand halten konnte.

»Kommen Sie,« sagte Herr Ebeling mit männlicher Fassung, »der Wagen ist vorgefahren und wir haben einen weiten Weg.«

Paul warf noch einen Blick auf Frau Ebeling, einen zweiten im Zimmer umher und dann verließ er es, und wenige Augenblicke später war er in den Wagen gestiegen, von vielen Augen im Hause verfolgt und bis zum letzten Schritt darauf begleitet, denn alle im Hause Beschäftigten liebten den Freund ihres Herrn und sahen ihn nur mit Schmerzen aus demselben scheiden.

Als der Wagen mit den drei Männern rasch dahin rollte, fing es an in Strömen zu regnen und die Nacht schien sich zeitiger als sonst auf die große Stadt herabsenken zu wollen. Als man aber das entfernt liegende Thor erreichte, hatte der Himmel sich schnell wieder aufgeklärt und ein großes Stück heiterer Bläue spannte sich weit über die Gegend aus, wohin der rasselnde Dampfwagen den Reisenden entführen sollte.

Stark und muthig wie immer, weder die hinter ihm grollende Nacht fürchtend, noch von dem vor ihm aufdämmernden Tage zu Großes hoffend, saß er neben den beiden schweigsamen Freunden, von denen bald der Eine bald der Andere ihm im Stillen die Hand drückte.

So kam man auf dem Bahnhof an und der Zug ging glücklicherweise bald ab. Noch ein Druck der Hand, noch eine innige Umarmung und dahin brauste der feurige Wagen, der den treuen bewährten Freund des Ebeling'schen Hauses in die weite unbekannte Fremde führte, während die beiden Zurückgebliebenen unbeweglich auf dem Perron standen und den abjagenden Zug so lange mit den Augen verfolgten, als er zu erreichen war.

Wir aber wollen diesmal den Reisenden begleiten und mit ihm in die Fremde ziehen, um endlich das einförmige Leben in der großen volkreichen Stadt zu verlassen und hinaus in eine neue, viel größere Welt, in die freie Natur, an die wogende See zu gelangen, durch Wald und Flur zu eilen und dort den frischen Athem der göttlichen Schöpfung zu trinken, vor allen Dingen aber an der Lösung des inhaltreichen Räthsels Theil zu nehmen, das auch für uns noch auf Betty's Ruh lastet und welches zu errathen der gute Professor der Mathematik, Casimir van der Bosch, trotz aller seiner Gelehrsamkeit und seiner ewig stimmenden Gleichungen, bisher nicht im Stande gewesen war.


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