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Erstes Kapitel.
Der verschollene Onkel tritt wieder auf

»Ja, ja, das Glück kann alle Tage kommen, und hiermit bringe ich Dir es vielleicht schon! Da hast Du einen Brief aus ... , also kommt er gewiß von Deinem Onkel Casimir!«

Mit diesen Worten trat Fritz Ebeling einige Tage nach der im letzten Kapitel erzählten Scene voller Hast bei seinem Freunde ein, indem er ihm einen Brief triumphirend entgegenhielt.

Paul hob erstaunt sein Auge gegen ihn auf und sagte: »Wie kommst Du zu diesem Brief, Fritz?«

»Ei, das ist eine sehr einfache Geschichte. Der Briefträger gab so eben in unserm Comptoir seine Briefe ab und da hielt er zufällig auch diesen in der Hand. Da er weiß, wie befreundet wir sind, überließ er ihn mir auf meine Bitte, denn ich glaubte, Du würdest ihn von mir lieber annehmen und mir die Freude gönnen, Dir einmal eine glückliche Nachricht zu bringen. Wir haben lange genug trübes Wetter gehabt, nun kann es auch einmal wieder einen heiteren Himmel geben. So nimm ihn und lies, er enthält gewiß eine Nachricht, die Bezug auf die bewußte Erbschaft hat.«

Paul dankte ihm und erbrach den Brief sogleich. Als er ihn aber gelesen, lächelte er auf seine alte stille Weise und sagte zu dem ihn aufmerksam betrachtenden Freunde:

»Diesmal ist das Glück noch nicht gekommen, wie Du hofftest, und ich erwarte es auch nicht so rasch. Das Glück wird bisweilen leicht müde und ruht sich dann eine Weile aus, ehe es wieder in Thätigkeit geräth. Das meine ist augenblicklich sehr müde und wird viel Zeit gebrauchen, um wieder zu Kräften zu kommen. Es hat sich bei mir überarbeitet, denn ich war – o Du weißt es nur zu gut – fast zu glücklich, und das soll der Mensch einmal nicht sein, wenigstens lehrt die Erfahrung, daß es selten heilsam ist.«

Jetzt lächelte Fritz schalkhaft und entgegnete: »Ich danke Dir für Deinen philosophischen Vortrag, aber ein Bischen ›Mathematik‹ wäre mir jetzt lieber. Laß mich sie hören. Was schreibt denn der hochgelehrte Herr, darf ich es nicht wissen?«

Paul reichte ihm den Brief hin und Fritz las folgende Zeilen:

»Mein lieber Junge! Du wirst Dich über mein langes Schweigen gewundert haben, aber ich wollte Dir für Deine Aufmerksamkeit, mir die so zufällig gefundene ›Wiederholte Aufforderung‹ so rasch zu übermitteln, erst meinen Dank abstatten, wenn ich von Hamburg aus irgend eine Antwort auf meine dahin abgesandte Erklärung erhalten hätte. Allein bis jetzt ist keine weitere Nachricht von dorther eingetroffen und nun kann ich Dich nicht länger ohne eine Mittheilung meinerseits lassen.

Was meine Meinung über die fragliche ›Aufforderung‹ betrifft, so glaubte auch ich im ersten Augenblick – und glaube es eigentlich noch – daß mein verschollener Bruder dahintersteckt, allein, wie gesagt, bis jetzt hat sich derselbe noch nicht weiter vernehmen lassen. Obgleich Quentin mir durchaus fremd geworden ist, da wir uns schon als kleine Jungen getrennt haben, so wäre es mir in jedem Falle doch sehr angenehm, von ihm etwas Näheres zu erfahren, selbst wenn es nur die Nachricht wäre, daß er lebt und meiner gedenkt. Weiter gehen auch meine Erwartungen, geschweige denn Hoffnungen nicht. Auf die wichtigen Folgen, die jene Aufforderung andeutet, bin ich allerdings etwas neugierig, da ich nicht wüßte, was auf der Welt solche Folgen für mich haben könnten. Mir ist im Leben Nichts wichtiger, als meine Wissenschaft, und wenn ich mich ihr nur mit ganzem Herzen und ungestört hingeben kann, so verlange ich nichts Anderes. Gegen irgend einen Angriff meiner beschaulichen Ruhe – mag er kommen woher er will – kann ich nur mit Archimedes gegen jenen rohen römischen Krieger rufen: ›Bringe mir meine Kreise nicht in Unordnung!‹ und das möchte ich selbst meinem Bruder zurufen, wenn er meine Einsamkeit unterbrechen und mich in meinen Arbeiten stören sollte.

Da ich eben von Archimedes spreche, so will ich Dir auch mittheilen, daß ich zur Zeit dessen dunkle Schrift über die Spiralen studire und mich bemühe, sie in einer verständlicheren Form dem wissenschaftlichen Publicum vorzuführen. Außerdem aber bin ich neben vielen anderen Berechnungen mit einer neuen Ausgabe meiner vor Jahren erschienenen Schulbücher beschäftigt und das wird mich das ganze nächste Jahr in Anspruch nehmen. Du siehst also, Arbeit habe ich genug, und es freut mich, daß es auch Dir nicht daran fehlt. Wie Du mir sagst, gehst Du jetzt mit starken Schritten Deinem Hauptziele entgegen. Glück auf zum baldigen Baumeister! Mögest Du recht viele Bauherren finden, wie jener freundliche Kaufmann einer ist, mit dessen Familie Du so vertraut lebst, dann wird es Dir an einer günstigen Gestaltung Deiner Zukunft nicht fehlen. Vermelde dem Herrn meinen tiefsten Respect, auch ich fühle mich ihm zu herzlichem Danke verpflichtet.

Im Uebrigen, um noch einmal auf Deine vermeintliche Erbschaft zurückzukommen, bist Du derselben so nahe wie ich oder, richtiger gesagt, wir Beide sind von ihr nur gleich weit entfernt. Denn ich bedarf deren gar nicht und sollte sie mir dennoch zufallen, so bist Du, falls mein Bruder keine anderweitigen Erben hat, mein einziger Erbe, und das ist die hauptsächlichste Freude, die mir die Nachricht verursacht hat, mit welcher Du mein Stillleben zu unterbrechen Dich verpflichtet gefühlt hast.

Schließlich nimm noch einen guten Rath von mir an, obgleich Du jetzt ein Mann geworden bist, der des Rathes seines alten wunderlichen Onkels füglich entbehren kann: arbeite ruhig und ungestört fort und laß Dir um Gottes willen keine Minute durch die Illusionen rauben, die eine in der Luft schwebende Erbschaft stets mit sich zu bringen pflegt. Die Zeit ist edel und kostbar, ja, für einen arbeitsamen Menschen das Edelste und Kostbarste auf der Welt nach seiner Gesundheit. Benutze also die Zeit, indem Du strebsam den Kreislauf vollendest, den Dir die Natur vorgezeichnet hat, und springe weder rechts noch links ab, denn ein Kreis mit Ecken ist kein Kreis und ein Leben voll getäuschter Hoffnungen ist kein glückliches und zufriedenes Leben mehr. Dieses allein aber wünscht Dir von Herzen Dein

Dir ewig treugesinnter Onkel
Casimir van der Bosch.«

Als Fritz den Brief zu Ende gelesen, lachte er, nahm dann aber bald wieder eine ernstere Miene an, da er auch seinen Freund ernst bleiben sah. »Etwas Mathematik ist doch wieder darin,« sagte er, »na, ich habe sie mir ja gewünscht. Aber die Erbschaft, das sehe ich, ist Dir mit diesem Brief um keinen Strohhalm näher gerückt obgleich auch eben so wenig dadurch bewiesen, daß sie nicht existirt. Geduld, mein Freund, ein neues wohnliches Haus wird nicht in vier Wochen erbaut, das hat mein Vater schon oft meiner Mutter gesagt, wenn sie fragte, wann wir in das neue Gartenhaus einziehen könnten. Doch, da ich gerade von meinem Vater spreche – darf ich ihm diesen Brief zeigen? Er interessirt sich einmal für alle Geldangelegenheiten, und für diese, da sie Dich betrifft, doppelt.«

»O, so nimm ihm doch den Brief mit!« rief Paul schnell. »Aber mir däucht, Du faselst ein wenig, mein Lieber. Wo liegt denn hier eine Geldangelegenheit?«

»Lieber Junge, nimm es mir nicht übel: das verstehst Du nicht recht. Du bist kein Geldmensch, wie wir es sind, Du hast kein Witterungsorgan, um Schätze zu entdecken, die noch Verborgen liegen. Arbeite nur ein Jahr bei uns drüben auf dem Comptoir und das Organ wird sich entwickeln, ich stehe Dir dafür. Ich rieche das Geld jetzt auch schon von Weitem, wie ein gutes Gericht und, weiß es der Himmel, der Duft davon wird Einem alle Tage angenehmer. Du lächelst, weil ich, wie Du jetzt wahrscheinlich denkst, so materiell geworden bin; allein, mein Junge, diese Materie ist wirklich wichtig. Wenn mein Onkel sie im Besitz gehabt, so hätte er sie nicht in dem Baron von Wollkendorf zu suchen brauchen, nicht wahr?«

Paul nickte, aber er antwortete nicht gleich. Endlich aber sagte er: »Ich habe auch nichts gegen diese Materie, aber das ewige Suchen und Jagen danach gefällt mir nicht.«

»Ei, mein Gott, in diesem Falle suchen wir ja nicht für uns, also aus Egoismus, sondern wir suchen für Dich, also aus Liebe zu unserm Freunde. Und das wirst Du doch nicht verdammen?«

Paul lächelte. »Ich danke Dir sogar,« sagte er. »Suche getrost weiter, aber ich bin überzeugt, es wird noch lange dauern, bis Ihr etwas findet.« –

Fritz hatte seinen Freund wieder verlassen und dieser setzte seine Arbeit, des Onkels Rath genau aus eigenem Antriebe befolgend, wie alle Tage fort. In ununterbrochener Thätigkeit verstrichen ihm Wochen auf Wochen. Seine Prüfungsarbeiten, die er nach und nach erhalten, wurden reiflich überlegt und dann mit rüstigster Kraft begonnen, während die noch vorliegenden theoretischen Studien keineswegs vernachlässigt wurden. So kam allmälig das Weihnachtsfest heran. Wieder war die Familie des Banquiers, diesmal aber nur in kleinerem Kreise versammelt, denn der Oberforstmeister fehlte mit den Seinigen, er grollte dem Schwager noch immer mit gleich beharrlichem Eigensinn und auch seine Frau mußte sich auf seine Anordnung von allen Festlichkeiten des Ebeling'schen Hauses fern halten, obgleich es ihr gestattet war, ihre Schwester von Zeit zu Zeit zu besuchen, da diese ihre Wohnung nur selten in Abwesenheit des Herrn von Hayden betrat.

Natürlich befand sich auch Paul wieder inmitten seiner Freunde an diesem Weihnachtsfeste, welches unter den obwaltenden Umständen einen weniger frohen Verlauf nahm, als früher. O, wer dachte an diesem Feste nicht an jenes vor einem Jahre, wo Paul dem Vater seines Freundes die große Mappe mit den schönen Entwürfen seines neuen Hauses verehrte; wem kam nicht die liebliche, allerseits Gaben spendende Fee in's Gedächtniß, die damals die Zierde und der Stolz beider Familien war, die kein Anderer bei ihnen ersetzen konnte und die jetzt, viele Meilen weit entfernt, ganz von den Ihrigen abgetrennt, ein Jedermann unbekanntes Dasein führte.

Ja, sie dachten Alle mit stiller Wehmuth daran, aber Niemand sprach darüber ein Wort, nur in ihren Augen, wenn sie sich ansahen, blitzte die innere Uebereinstimmung in einem und demselben Gefühle auf, sie erriethen, sie verstanden sich, und Einer beklagte im Stillen den Andern, daß ihm die größte Freude versagt sei und Niemand ihm helfen könne.

Als die Bescheerung zu Ende war und die Commis und Diener des Hauses den großen Festsaal verlassen hatten, kam eine junge Magd herein und berichtete der Frau vom Hause, daß so eben Frau Zeisig, die Waschfrau, gekommen sei und Herrn van der Bosch zu sprechen begehre.

»Laß sie hereinkommen,« sagte Frau Ebeling sogleich, »sie sieht vielleicht gern die Lichter brennen und ich will ihr auch eine kleine Bescheerung zu Theil werden lassen.«

Gleich darauf trat Frau Zeisig lebhaften Athems in den glanzvollen Saal und schlug, als sie die bunten Tische, die flammenden Kronleuchter und die brennenden Weihnachtsbäume sah, vor freudigem Staunen die Hände zusammen. Jetzt aber bemerkte auch Paul seine Aufwärterin, und auf sie zutretend, fragte er, was sie wünsche und ob sie eine Bestellung an ihn auszurichten habe.

»Ach, Du lieber Gott, ja, Herr Baumeister,« antwortete sie, sich immer noch bewundernd rings umschauend. »Aber das ist doch gar zu schön hier!«

Die in ihre Nähe getretenen Mitglieder der Familie lächelten über diesen naiven Ausruf, Paul aber fragte sie noch einmal, was sie ihm zu sagen habe.

»Zu sagen habe ich eigentlich nichts, Herr Baumeister, nur einen Brief habe ich zu übergeben, der schon heute gegen Abend gebracht ist. Ich glaubte, Sie würden noch einmal nach Hause kommen, ehe Sie hierher gingen, aber da Sie nicht kamen, bringe ich ihn herüber, weil man nicht wissen kann, was darin steht.«

»Da haben Sie auch sehr recht gethan, liebe Zeisig,« sagte Frau Ebeling. »Aber nun, da Sie einmal hier sind, soll Ihre Aufmerksamkeit für Ihren Herrn auch belohnt werden.«

Mit diesen Worten führte sie die gute Frau an einen Tisch und beschenkte sie reichlich mit Kuchen und Aepfeln, Nüssen und einigen anderen noch nützlicheren Dingen, worüber Frau Zeisig eine große Freude äußerte und sich endlich mit zahllosen Danksagungen und Knixen wieder entfernte.

Unterdessen waren Fritz und sein Vater in die Nähe Paul's getreten, der sich auf einen Sessel niedergelassen, den Brief erbrochen und das Couvert neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Fritz nahm es sogleich auf, betrachtete es und flüsterte seinem Vater zu:

»Er ist Vom Onkel Casimir. Der Tausend! Gerade am heiligen Abend! Na, wenn er diesmal kein schönes Weihnachtsgeschenk bringt, will ich alle meinigen wieder herausgeben!«

»Still!« raunte ihm der Vater zu und zog den lebhaften Sohn bei Seite. »Störe ihn nicht, Du siehst ja, daß es was Ernstes ist. Indessen bin ich Deiner Meinung, es muß doch endlich einmal eine Antwort von Hamburg erfolgen –«

In diesem Augenblick unterbrach Paul die Flüsternden, indem er um Entschuldigung bat, daß er so ämsig lese. Aber sie würden selbst nachher sehen, daß der Brief sehr wichtig sei, jedoch müßten sie sich gedulden, er sei sehr lang und der gute Onkel habe ganz gegen seine Gewohnheit sich diesmal vielerlei künstlichen Abkürzungen bedient.

So las er denn ungestört weiter, und schon während er las, sah man ihm bisweilen eine große Verwunderung an, wobei er jedoch auch wiederholt lächelte oder den Kopf bedeutsam schüttelte. Als er aber endlich fertig war, sprang er auf und zu der Familie gehend, die voller Erwartung abseits um einen Tisch saß, sagte er:

»Das ist allerdings ein seltsamer Brief und Sie werden Alle recht viel Neues daraus erfahren, wie ich. Der verschollene Onkel Quentin ist also wirklich gefunden und giebt nun selbst ein Lebenszeichen von sich.«

»Also er lebt, er lebt?« fragte Fritz, der die Zeit nicht erwarten konnte, bis er das Nähere erfuhr. »Aber wo, wo lebt er, das sage uns!«

»Ja, wo? Das weiß ich selber nicht, denn das steht nicht im Briefe. Und nun lesen Sie ihn zuerst, Herr Ebeling.«

»Nein, nein,« rief die Hausfrau, »lesen Sie ihn uns laut vor, dann erfahren wir Alle zugleich seinen Inhalt und können auch an Dies oder Jenes sofort unsere Bemerkungen knüpfen.«

»Ja, das ist das Beste und Vernünftigste!« bekräftigte Fritz.

Paul war auf der Stelle dazu bereit. Er setzte sich nun zu den Uebrigen und las ihnen langsam den ohne Zweifel bedeutungsvollen Brief seines Onkels vor. Dieser aber lautete:

»Mein lieber Paul! Endlich also hat sich der Schleier vor jener ›Wiederholten Aufforderung‹ gelüftet und ich bin nun im Stande, Dir einen sichtbaren Fortschritt in unsrer geheimnißvollen Geschichte zu liefern. Verzeihe aber, wenn ich Dir dieselbe nicht mit meiner alten gewohnten Umständlichkeit und Gründlichkeit mittheile, denn meine Zeit ist gemessen, ich habe unendlich viel zu thun und muß mich also kurz fassen. Wollte Ich Dir jedes Wort sagen, was ich über meinen Bruder gehört und was ich darauf erwidert habe, so könnte ich zehn Bogen mit der kleinsten Schrift füllen und das geht schon aus dem Grunde nicht, weil das Papier in meinen Augen ein so kostbarer Artikel ist, daß der Verschwender desselben mir als eins der strafbarsten Wesen der Schöpfung erscheint.«

Die Zuhörer lachten und selbst Paul stimmte ihnen bei, indem er der Eigenthümlichkeit seines Onkels in dieser Beziehung gedachte.

»Nun lesen Sie weiter,« sagte endlich Herr Ebeling.

»Diesmal wird der Brief wahrhaftig interessant und wir haben wieder eine köstliche Weihnachtsüberraschung.«

Paul nahm den Brief wieder auf und las:

»Bis vor vierzehn Tagen hatte ich noch keine Ahnung, was mir bevorstand, während doch schon im Schatten meines Daseins, id est: hinter meinem Rücken, der Faden gesponnen ward, der mich leider schon jetzt so eng umstrickt, daß ich kaum meine Hände bewegen, nicht schreiben, nicht rechnen kann – o, du göttlicher Euklides, was habe ich schon darüber für kostbare Zeit verloren! Doch zur Sache.

Wie Du weißt, liegt in der engen Straße, in welcher ich wohne, meinem Hause gegenüber ein Gasthaus, zur ›Stadt Rom‹ geheißen, eigentlich ein miserables kleines Ding, in welches nur Leute vom Lande, aber sicherlich keine Vergnügungsreisende einzukehren pflegen. In diesem Hause, gerade meiner Arbeitsstube vis-à-vis, war seit einigen Tagen ein Fremder eingekehrt, der stundenlang am Fenster stand und nach meinem Hause herübersah und mich beobachtete wenn ich ausging, wenn ich wiederkam, wenn ich bei Tage oder bei Nacht meinen Arbeiten oblag. Das heißt, versteh mich recht: ich hatte diesen Fremden nie gesehen und er hätte für mich zehn Jahre mir gegenüber wohnen und mich beobachten können, ohne daß ich auch nur das Geringste davon bemerkt hätte. Andere Augen aber waren darin schärfer als die meinigen, oder vielmehr neugieriger, und die hatten den ganzen Vorgang schon lange mit angesehen, ohne daß ich ein Wort davon erfuhr. Da kam eines Abends – ich rechnete gerade eine höchst amüsante Gleichung aus – mein alter Dragoner – Du weißt, wen ich meine – wie eine Windsbraut zu mir in die Stube gefegt und sagte zu meinem gränzenlosen Erstaunen, denn ich glaubte schon, ihrer Miene nach zu urtheilen, ein unermeßliches Staatsunglück zu vernehmen: ›Herr Professor, hören Sie einmal auf zu addiren und zu subtrahiren und machen Sie Ihre tauben Ohren auf; es wird Zeit, daß ich spreche, sonst halte ich es nicht mehr aus und die Angst drückt mir das Herz ab.‹

›Was wollen Sie, Dralling,‹ fragte ich, ›ist Ihnen meine Mehlsuppe angebrannt?‹

›Um Gottes willen, wie kommen Sie auf die Mehlsuppe?‹ rief sie rebellisch. ›Es handelt sich ja hier um ganz andere und wichtigere Dinge!‹

›Um welches wichtige Ding handelt es sich, Thusnelde Dralling?‹ fragte ich weiter. ›Reden Sie, aber machen Sie es kurz, ich habe keine Secunde Zeit!‹

›O, heute,‹ sagte sie, › müssen Sie Zeit haben, denn es handelt sich gewiß um etwas Ernstliches. Denken Sie nur, da drüben in der ›Stadt Rom‹ wohnt seit mehreren Tagen ein unverschämter Mensch, der mir wie ein ächter Galgenstrick vorkommt, und starrt ohne Unterlaß in Ihr Fenster, als wolle er jede Bewegung ausspioniren, die Sie im Zimmer hin und her thun, um Sie am Ende – zu bestehlen.‹

›Zu stehlen giebt es hier nichts,‹ sagte ich, ›also lassen Sie ihn spioniren, Thusnelde, was geht mich das Treiben eines unverschämten Menschen an. Und schon wollte ich mich wieder an meine Gleichung begeben, da nahm die selber unverschämte Person mir die Feder weg und rief mit ihrer Dragonerstimme: ›Herr Professor, ich bitte Sie mich anzuhören, denn es handelt sich um Leben und Sterben!‹

Das war mir doch zu arg. Ich stand von meinem Stuhl auf, sah sie groß an und fragte:

›Wer soll leben und wer soll sterben? Heraus mit der Sprache, damit wir zu Ende kommen.‹

›Endlich!‹ keuchte die gute Alte – denn gut ist sie wahrhaftig, wenn sie auch ein böses Maul hat – ›Nun also, hören Sie. Dieser unverschämte Mensch, Niemand kennt ihn und Niemand weiß, woher er kommt, ist fast von Haus zu Haus gegangen, zu allen unsern Nachbarn, hat irgend etwas erhandelt oder gefragt und sich dabei, ganz unter der Hand, nach Ihrem Leumund erkundigt. Ist das nicht schändlich?‹

›Schändlich?‹ fragte ich. ›Nein, das ist es nicht, das ist nur menschliche Neugier und was verschlägt das mir!‹

›Ihnen? Ja, Ihnen freilich verschlägt das nichts, aber mir ist es wahrhaftig nicht gleichgültig, wenn ein solcher hergelaufener Mensch sich nach dem Leumund meines Herrn erkundigt, der wie ein Kind lebt und die Unschuld selbst ist – was geht ihn dieser mein Herr an?‹

›Oho!‹ sagte da das alte unschuldige Kind. ›Seien Sie doch nicht ungerecht, Frau Dralling, Sie können ja gar nicht wissen, was ich ihn angehe. Der Mann scheint mir ganz in seinem Recht zu sein.‹

›Nein, das ist er nicht,‹ schrie sie, ›ich bin aber in meinem Recht, daß ich mich darüber ärgere.‹

›Aergern Sie sich meinetwegen, bis Sie schwarz werden, aber ärgern Sie mich nicht!‹ sagte ich leidlich unwirsch und wollte mich wieder an meinen Tisch begeben.

›Nein, Herr Professor,‹ rief sie, ›Sie dürfen nicht wieder rechnen, Sie müssen mich hören, ich bin noch lange nicht fertig.‹

»Noch lange nicht?« fragte ich. »Nun, dann stärke mich Gott – ich sehe wohl, daß ich heute zur schwersten Strafe für mich, zum Faullenzen, verurtheilt bin – reden Sie also!‹ sagte ich mit einem stillen Seufzer.

Und da erzählte sie mir ein Langes und Breites, wie jener Mensch überall nach mir gefragt, sich nach meinen Verhältnissen erkundigt, ob ich Kinder hätte, und dergleichen, und was man ihm darauf gesagt habe. Sie wollte es von den Leuten selbst erfahren haben und berichtete mir Alles haarklein und brühwarm.

Im Grunde genommen war mir das wirklich schrecklich gleichgültig. Alle Welt, Niemand ausgenommen, kann jeden meiner Schritte, ja, jeden meiner Gedanken erfahren, denn ich bin mir nicht bewußt, jemals etwas Unrechtes gethan oder gedacht zu haben. Nur daß die Alte solchen Werth darauf legte und mich so unverantwortlich störte, das verdroß mich.

Aber ach, Du lieber Gott, es sollte noch ärger mit der Störung kommen und nun geht die Geschichte erst recht los. Die Alte hatte ich endlich aus meiner Stube getrieben, nachdem sie ihrem Unrath witternden Polizeiherzen Luft gemacht, dafür aber kam ein Anderer herein, den ich nicht so leicht vertreiben konnte.

Ich saß eben wieder bei meiner Arbeit und Alles, was ich gerechnet, stimmte auf ein Haar, da pochte es ganz leise an meine Thür. Die Alte war eben, eines Geschäftes halber, aus dem Hause gegangen, das wußte ich, und so konnte sie es nicht sein.

Ganz verdutzt über die neue Störung, stehe ich auf und gehe nach der Thür, um sie zu öffnen, und stehe da: hereintritt ein Mann, der, wie ich nachher erfuhr, der Fremde aus der ›Stadt Rom‹ war. Ach, du lieber Gott, wie hatte sich aber die gute Wittwe des ehemaligen Polizeisergeanten geirrt! Denn dieser, ihr unverschämter Mensch war durchaus nicht unverschämt, im Gegentheil, ein sehr liebenswürdigen stiller und bescheidener Mann, kaum fünfzig Jahre alt, sehr einfach gekleidet, mit glattem, wohlhäbigem Gesicht, hellblondem schlichten Haar und einer höchst treuherzigen und lammfrommen Miene. Dabei waren alle seine Worte so bedächtig, überlegt und wurden so ruhig und mit einem so still und harmlos beobachtenden Blick vorgebracht, daß ich über seine Gefährlichkeit sogleich beruhigt war und weder einen Spion, noch weniger einen Dieb in ihm erkennen konnte, und ich schämte mich gleich in der ersten Minute in der Seele meiner Alten, daß sie ein rechtwinkliges Dreieck für ein spitzwinkliges angesehen hatte.

›Habe ich die Ehre,‹ sagte der Fremde mit etwas ausländisch klingender Sprache, ›den Herrn Professor Casimir van der Bosch vor mir zu sehen?‹

›Der bin ich allerdings,‹ lautete meine Antwort.

›Sind Sie der Herr, der im Mai dieses Jahres an das Haus Baring und Sohn in Hamburg ein Schreiben gerichtet und die ›Wiederholte Aufforderung‹ im Hamburger Correspondenten beantwortet hat?‹ fragte er weiter.

›Ja, mein Herr, der bin ich.‹

›Sie sind also in Amsterdam geboren, Ihr Herr Vater hieß Jan van der Bosch und Sie haben einen Bruder Namens Quentin gehabt?‹

›Ja, ja, so ist es,‹ versicherte ich ihm.

›Nun denn,‹ fuhr er freudig lächelnd fort, ‹ich komme von diesem Quentin van der Bosch, meinem Herrn, und bringe Ihnen einen herzlichen Gruß von ihm.‹

Da war mir's doch mit einem Mal, mein Junge, als ob eine Stimme vom Himmel mich grüßte. Eine solche Freude hatte ich lange nicht empfunden und ich vergaß sogar im ersten Augenblick meine schöne Gleichung. ›Wie?‹ rief ich, ›Sie grüßen mich von Quentin, meinem Bruder?‹

›Ja, ich grüße Sie von ihm, und habe Ihnen viel von ihm zu bestellen.‹

Ich war wirklich ganz betroffen und vergaß anfangs ganz und gar, dem Herrn einen Stuhl anzubieten. Allmälig aber sammelte ich mich und da saßen wir mit einem Mal auf meinem alten Kanapee, nachdem ich ein Dutzend Bücher davon an die Erde geworfen hatte, da mein Tisch schon übervoll war. Als wir aber so saßen, faßte ich die Hand des lieben fremden Mannes und sagte: ›Wie sehr ich mich freue, endlich von meinem Bruder zu hören, das sehen Sie. Ich wußte gar nicht mehr, daß er noch lebte, noch weniger wo und in welchen Verhältnissen.‹

Der Fremde freute sich sichtbar über meine Freude und drückte mir wiederholt die Hand. ›Das Alles und noch vieles Andere Ihnen mitzutheile, bin ich von Ihrem Herrn Bruder abgesandt,‹ sagte er, ›und ich hoffe, Sie werden nun ruhig genug sein, meine Mittheilung aufmerksam entgegenzunehmen.‹

›O, o,‹ sagte ich, ›ich bin so ruhig wie ein Kind, welches an der Mutterbrust liegt, also sprechen Sie!‹

Da erzählte er mir nun – ich berichte Dir nur das Hauptsächlichste – daß mein Bruder als ganz junger Mensch auf ein Schiff gegangen, aber schon nach einigen Jahren nach Europa und zwar nach Hamburg zurückgekehrt und Kaufmann geworden sei. Es wäre ihm auch ganz gut in dieser Stellung ergangen, bis er zu seinem Unglück oder zu seinem Glück mit der Tochter seines Principals eine verhängnißvolle Bekanntschaft gemacht und eine brennende Liebe zu ihr gefaßt habe. Denn da er nur ein armer Commis gewesen, so habe diese Liebe vor den Augen des reichen Kaufmanns keine Gnade gefunden und endlich habe mein Bruder aus Gram, nachdem das junge Mädchen sich mit einem anderen Manne verlobt, Europa wieder verlassen und sei nach Batavia gegangen. Dort habe er als kleiner Kaufmann ein unbedeutendes Geschäft angefangen, jedoch sich allmälig emporgearbeitet und endlich großen Reichthum erworben. Es habe ihm auch in Batavia gefallen, nur habe ihn fortwährend die Sehnsucht nach jenem Orte gepeinigt, wo er seine Liebe verlassen und in den Besitz eines Anderen übergehen sehen mußte. Da habe ihn vor zehn Jahren die Nachricht erreicht, seine Jugendliebe – ich meine die Tochter seines ehemaligen Principals – sei schon lange, lange todt und auf dem Landgute, wo er sie einst kennen gelernt, begraben. Ihr Vater aber habe vor Kurzem fallirt und das etwas abgelegene Landgut stehe nun zum Verkauf aus.

In Folge dieser Trauernachricht sei mein Bruder nicht länger mehr in Batavia zu halten gewesen. Er habe Alles zu Gelde gemacht, was er besessen, und sei so rasch wie möglich nach Europa zurückgekehrt. Hier habe ihm das Glück wohlgewollt und er habe das Gut, auf welchem seine Liebe begraben zu einem angemessenen Preise erwerben können. Dort habe er aus alter Anhänglichkeit an die so früh verlorene Liebe sich angesiedelt und ihr ein schönes Denkmal gesetzt, indem er sich ein Haus nach seinem Geschmack auf der für ihn geheiligten Stätte erbaut.

›Wie heißt das Gut und wo liegt es?‹ unterbrach ich den erzählenden Mann, der, während er sprach, immer weicher und wehmüthiger geworden war.

›Erlauben Sie,‹ sagte er, ›daß ich Ihnen das noch verschweige. Bis jetzt ist mir kein Befehl geworden, es Ihnen zu verrathen und ich darf nur verkünden, was mir aufgetragen ist. Was mich selbst betrifft, so war ich früher in Batavia – ich bin ein in Ostfriesland geborener Deutscher – der Secretair Ihres Herrn Bruders und jetzt bin ich sein Rentmeister, Geschäftsführer und – bis auf einen gewissen Grad, das dürfen Sie nicht vergessen – sein vertrautester Freund.‹

›So, so,‹ sagte ich und besann mich schon, wie ich es möglich machen könnte, zu meinem so lange nicht gesehenen Bruder zu reisen und ihn zu besuchen. Aber das hatte seine Schwierigkeit – ich konnte mich ja so leicht nicht loslösen – und dieser Gedanke belastete meine Seele so schwer, daß ich ihn aussprach. Aber da sagte der Herr Rentmeister zu meinem unaussprechlichen Troste:

›Nein, Herr Professor, daß Sie Ihren Herrn Bruder jetzt schon besuchen, ist seine Absicht durchaus nicht –‹

Ah, ich seufzte erleichtert aus voller Seele auf und drückte dem guten Manne noch einmal so warm die Hand. ›Was hat er aber sonst für eine Absicht mit mir?‹ fragte ich nun voll banger Zweifel.

Der gute Mann lächelte auf eine höchst liebevolle Weise und fuhr dann fort: ›Für's Erste schickte er mich nur ab, um Sie aufzusuchen, mich nach Ihrer Person und Ihren Verhältnissen in allen Richtungen zu erkundigen und ihm dann Meldung über das Vorgefundene abzustatten. Ich glaube aber – und dies wenigstens anzudeuten, ist mir der Auftrag geworden – daß Ihr Herr Bruder, der schon viele Jahr sehr kränklich, jetzt sogar fast gebrechlich ist und keine Familie oder sonstige Erben besitzt, sich in Ihnen seinen zukünftigen Erben sichern will, nachdem er sich überzeugt hat, daß Sie der Mann sind, wie er sich ihn als seinen Erben wünscht. Denn Sie müssen wissen‹ – hier nahm der gute Mann eine etwas ängstliche Miene an und sprach das Folgende viel leiser als vorher – ›und hier rede ich ganz im Vertrauen zu Ihnen, da ich es Ihnen, dem wahrscheinlichen Erben gegenüber nicht verschweigen zu dürfen glaube – Sie müssen wissen, sage ich, daß mein guter Herr in mancher Beziehung ein höchst seltsamer und vorsichtiger Mann ist, der nicht nur ganz eigenthümliche Ansichten und Gewohnheiten angenommen, sondern sogar das hat, was man Schrullen zu nennen pflegt. So will er zum Beispiel Alles, was er thut, auf seine eigene Weise thun und allerdings hat er bis jetzt immer einen guten Erfolg damit erzielt.‹

›Das kann man ihm auch nicht verdenken,‹ warf ich ein; ›wenn er ein so reicher und unabhängiger Mann ist, wie Sie sagen, so kann er ja ganz nach eigenem Gefallen leben, nicht wahr?‹

Da sah mich der Herr Rentmeister eine Weile zweifelhaft an, als wage er noch nicht ganz mit der Sprache heraus zu treten, endlich aber sagte er: ›Sie dürfen mich nicht falsch verstehen und vielleicht habe ich Ihnen über den Reichthum Ihres Herrn Bruders schon etwas zu viel gesagt. Von seinen wirklichen Vermögensverhältnissen ist eigentlich kein Mensch vollständig unterrichtet, obgleich man nach Allem, was er treibt, wie er lebt und wie er sich angebaut, annehmen muß, daß seine Verhältnisse von bester und befriedigendster Art sind.‹

›Aber Sie sind ja sein Rentmeister und Geschäftsführer,‹ unterbrach ich ihn, ›und müssen also auch seine Vermögensverhältnisse kennen?‹

›Ja, freilich, ich kenne sie auch im Allgemeinen,‹ erwiderte er, ›aber Herr Quentin van der Bosch ist ein so eigener und in Geldangelegenheiten so äußerst vorsichtiger Mann, daß er trotz seiner Freundschaft zu mir mich nie ganz auf den Grund seines Vermögens blicken ließ. Vor allen Dingen liebt er die Verschwiegenheit und ist selbst über die Maaßen verschwiegen, so daß er Niemanden sagt, was dieser nicht unumgänglich nothwendig zu wissen braucht. So hält er es auch mit den Banquiers, die ihm in Geldangelegenheiten zur Seite stehen. Nie giebt er einem derselben über sein ganzes Vermögen völligen Aufschluß, und erführe er, daß irgend einer seinem Vertrauen nicht entspräche oder etwas ausplauderte, was er geheim gehalten wissen will, so entzöge er ihm auf der Stelle die ganze Kundschaft.‹«

»Aha!« unterbrach hier den Lesenden der Banquier Ebeling, der, wie auch die Uebrigen, voller Spannung der Vorlesung zugehört hatte – »hier haben wir ja den Schlüssel zu Baring's Geheimthun. Na, das begreife ich, der Rentmeister hat seinen Herrn mit wenigen Strichen vortrefflich gezeichnet. Wir müssen also auch discret in unseren Nachforschungen sein und Baring nicht wieder bedrängen, die Sache hat ihre Richtigkeit. – Doch nun fahren Sie fort, lieber Bosch,« dieser Brief hat ein wunderbares Interesse für mich.«

»Nach dieser Mittheilung des Rentmeisters,« fuhr Paul im Lesen fort, »fragte ich ihn nach verschiedenen Verhältnissen meines Bruders, aber ich bekam selten genügende, häufig sogar ausweichende Antworten. Was ich jedoch erfuhr, lief darauf hinaus, daß mein Bruder niemals verheirathet gewesen sei, einen großen Hausrath und namentlich viele Diener unterhalte, wie er es in Ostindien gewohnt gewesen, daß er mit der Außenwelt in gar keiner geselligen Beziehung stehe und eigentlich, nur von seinem zahlreichen Gesinde umgeben, als Einsiedler auf seinem stillen Gute lebe.

Als der Rentmeister mir auch dies erzählt, machte er eine Pause, sah vor sich nieder und ich glaubte zu bemerken, daß er einen bisher noch nicht ausgesprochenen Gedanken hin und her überlege.

Endlich blickte er mich freundlich an und fragte mit seiner leisen, angenehmen Stimme: ›Haben Sie keine Kinder, Herr Professor?‹ ›Nein,‹ erwiderte ich, ›auch ich bin, wie mein Bruder, nie verheirathet gewesen, lebe, wie er, fast wie ein Einsiedler, studire und arbeite und habe in der Welt sehr wenig Anhang, da ich auch nicht die geringste Neigung oder gar ein Bedürfniß nach größerem Verkehr hege.‹

Das schien den Herrn Rentmeister sehr zu befriedigen und er rieb sich vergnügt die Hände.

›Kehren Sie jetzt direct zu meinem Bruder zurück?‹ fragte ich weiter.

›Ja, das muß ich sogar, denn er ist sehr begierig, zu erfahren, wie meine Forschungen bei Ihnen ausgefallen sind.‹«

»Halt!« unterbrach hier den Lesenden der Banquier Ebeling noch einmal, der auf die letzten Mittheilungen besonders aufmerksam gewesen war. »Halt, lieber Freund – hierbei ist mir etwas aufgefallen. Also Ihr Onkel hat dem Rentmeister gesagt, daß er keinen Anhang in der Welt habe? Das ist merkwürdig und der gute Mann muß sehr befangen oder von den Mittheilungen des Rentmeisters bezaubert gewesen sein, daß er gar nicht an Sie gedacht hat. Warum mag er seinem Bruder nicht die Meldung gemacht haben, daß noch ein Neffe von seinem jüngeren Bruder existirt?«

Paul schlug gegen den also Sprechenden ruhig sein großes Auge auf und sagte: »Man kann ja nicht wissen, ob er ihm das nicht gesagt hat. Hier in dem Briefe steht freilich nichts davon. Indessen hat er sich ja schon im Anfang dahin geäußert, daß er mir nur das Hauptsächlichste mittheile, um Papier zu sparen.«

»Vielleicht hat der gute Onkel auch wieder irgend ein Exempel im Kopfe gerechnet, als er sich mit dem Rentmeister unterhielt,« warf Fritz hin.

Alle lachten über diesen Einwurf und begnügten sich mit Paul's Ansicht, die auch viel Wahrscheinliches für sich zu haben schien, dieser aber nahm sogleich den Brief wieder auf und las weiter, wie folgt:

»So, das war der erste Besuch des Herrn Rentmeisters bei mir, denn als wir in unsrer Unterhaltung so weit gekommen waren, stand er auf und sagte, indem er sich gemüthlich im Zimmer umsah: ›Ich darf Sie nicht länger stören, Herr Professor, Sie sind bei wichtiger Arbeit, sehe ich. Darf ich Sie aber morgen bei Tage noch einmal besuchen?‹

›Ei gewiß und warum nicht?‹ antwortete ich. ›Essen Sie um zwölf Uhr bei mir eine Suppe und dabei wollen wir uns noch ein Stündchen unterhalten, Stoff wird sich ja wohl gering finden.‹

Diesen Vorschlag nahm er dankbar an und entfernte sich, nachdem er mir zehnmal die Hand geschüttelt und mit allen möglichen Worten seine Freude über die neue Bekanntschaft ausgedrückt hatte. Ach, aber nun bekam ich einen schweren Strauß mit meiner Alten auszufechten, als sie nach Hause kam, von mir den Besuch erfuhr und die Nachricht erhielt, daß der gefürchtete Spion am nächsten Mittag sogar eine Suppe bei mir essen würde. Die einfältige Creatur gerieth fast außer sich und ich mußte ihr schließlich – was ich noch nie gethan – erklären, daß es mein Wille und Entschluß sei, diesen Mann bei Tische zu haben. Endlich, nachdem ich ihr gesagt, wer er sei und was er mir für Nachrichten gebracht, fand sie sich darein. Er war dadurch offenbar in ihren Augen gewachsen; aber am andern Tage, als er nun wirklich kam und bei mir aß, war sie wieder launenhaft, sprach weder mit ihm noch mit mir ein Wort und wartete bei Tische mit einer Art trotziger Miene auf, um die ich mich freilich nicht kümmerte, da ich schon daran gewöhnt bin, wenn sie ihren Willen einmal nicht durchsetzen kann.

Nun, der Rentmeister kam also zu Tisch und sogar noch eine Viertelstunde früher, als ich festgesetzt. Da sah er sich denn meine Studirstube noch einmal recht genau in allen Winkeln und Ecken an und nahm von Allem und Jedem Kenntniß, um, wie er sagte, meinem Bruder gewissenhaft Rechenschaft ablegen zu können. Und das muß ich sagen, der Mann gefiel mir an diesem Tage noch besser, als am Abend vorher, und ich bekam sogar von seinem vielseitigen Wissen eine gute Meinung. Es war merkwürdig, wie er sich gleich in mein Wesen und Treiben fand und sich gleichsam in jeder Falte meiner Lebensart zu orientiren wußte. Sogar meine kleinen Liebhabereien und Wunderlichkeiten schien er sogleich begriffen zu haben und sich ganz richtig zu deuten. Dadurch wurde ich sehr bald mit ihm näher bekannt und zuletzt sogar fast vertraut, denn er hatte etwas ungemein Gewinnendes, Verständiges in seinem Wesen. Namentlich drückte er sich stets sehr kurz und immer logisch aus, was ich so sehr liebe, man konnte nie an dem zweifeln, was er sagte, er war mit Allem und sich selber im Klaren und so habe ich wirklich eine Stunde lang Genuß von ihm gehabt, denn länger hielt er sich kaum bei mir auf, was mir auch unter uns gesagt – sehr lieb war, denn es brannte mir in den Fingerspitzen, wieder an meine Arbeit zu kommen. Ich trug ihm natürlich die herzlichsten Grüße an meinen Bruder auf und sprach den Wunsch aus, recht bald mehr von ihm zu hören. So schieden wir als die besten Freunde – und hier, mein Lieber, habe ich Dir meine Erlebnisse mitgetheilt. Du wirst mit meiner Ausführlichkeit zufrieden sein, denn, o mein Gott, jetzt sehe ich es erst, ich habe dennoch vier ganz weiße schöne Bogen – der Vernichtung überliefert, obgleich ich nicht den geringsten Rand gelassen habe, um sparsam zu sein. Lebe wohl und erhalte Dich frisch. Sobald ich mehr von meinem Bruder erfahre, wirst Du Nachricht erhalten. Es grüßt Dich herzlich

Dein treuer Onkel Casimir.«

Paul faltete den Brief zusammen und lächelte seinen Zuhörern wohlgefällig zu, die bis zum letzten Worte mit der größten Theilnahme aufgemerkt hatten. Da ergriff der Lebhafteste von ihnen, Fritz, zuerst das Wort und sagte: »Hübsch ist der Brief, von Anfang bis zu Ende, das ist wahr, und große Hoffnungen erregt er gewiß. Vor allen Dingen gefällt mir die Pietät, die der alte Batavier für seine verlorene Liebe bewahrt und die ihn am Schluß seines Lebens wieder auf die Stätte zurückgeführt hat, von der er so hoffnungslos in die weite Welt gezogen ist.«

Frau Ebeling schien diese Wendung des Gesprächs nicht ganz angenehm zu sein und sie stand eben im Begriff, es auf ein anderes Feld hinüberzuspielen, als ihr Mann ihr zuvor kam und sagte:

»Allerdings ist diese Pietät sehr hübsch und sie nimmt auch mich von vornherein für den alten Mann ein, indessen scheint mir der Geldpunct hier doch das Wichtigste zu sein. Nun, mein lieber Bosch, nehmen Sie jetzt meine Gratulation an? Ich denke, Sie können es mit gutem Gewissen thun. Der Schritt, der jetzt vorwärts gethan ist, kann auf keine Weise wieder rückwärts führen: die Erbschaft steht fest und Sie haben es schriftlich in Händen, daß Sie der Erbe eines Erben, das heißt, der Ihres Onkels Casimir sind. Der alte Quentin hat, als vorsichtiger Mann, seinen jüngeren Bruder erst sondiren lassen, das finde ich in der Ordnung, und darum schickte er ihm einen gescheidten und umsichtigen Verbündeten, dem er vertraut und der auch ihm ganz ergeben ist. Mit einem Wort – die Sache ist richtig und Sie brauchen nur Geduld zu haben, bis eine höhere Hand aus den Wolken greift und – ihr Füllhorn über Sie ausschüttet.«

»Man sollte es denken,« nahm nun Frau Ebeling nach längerer Ueberlegung das Wort, »aber noch ist mir nicht Alles sonnenklar, wie es sein muß. Wenn ich aufrichtig sein soll, so muß ich gestehen, daß ich nicht vollkommen im Stande bin, mich über ein gewisses Mißtrauen zu erheben und hinwegzusetzen.«

»Mißtrauen? Gegen Wen?« fragte ihr Mann voller Eifer. »Etwa gegen den alten Batavier, wie Fritz ihn nennt?«

»Nein, gegen seinen gescheidten und umsichtigen Abgesandten, wie Du ihn nennst. Aber vielleicht hat mich Frau Dralling mit ihrer Abneigung gegen den Mann angesteckt. Ihr seltsamer Widerwille scheint mir hier nicht ganz ohne Bedeutung zu sein. Frauen werden in dieser Beziehung oft von einer Art Instinct geleitet.«

»Ja wohl, gebildete Frauen, meine Liebe, aber diese ist doch wohl nur eine untergeordnete Persönlichkeit und ihr Gefallen oder Mißfallen hat in meinen Augen sehr wenig zu bedeuten.«

»Da irrst Du vielleicht, lieber Mann,« sagte Frau Ebeling sehr ruhig. »Nicht allein gebildete Frauen besitzen diese Eigenschaft, sie liegt vielmehr in der weiblichen Natur begründet, und Frau Dralling ist, mag sie sonst sein, was sie will, immer eine Frau.«

»Sie mag jedenfalls etwas vorschnell mit ihrem Urtheil gewesen sein,« sagte nun Paul, »und nachher hat sie sich ja auch zu einer milderen Auffassung des Characters und Wesens dieses Rentmeisters geneigt.«

»Freilich, aber erst, als sie von der muthmaßlichen Erbschaft gehört hatte, also gewissermaßen bestochen und von ihren ersten Gefühlen abgeleitet war. Doch darüber läßt sich nicht streiten. Das Eine aber steht auch bei mir fest: die Erbschaft schwebt nicht mehr in der Luft, sondern sie hat festen Fuß auf der Erde gefaßt. Und so, mein lieber Freund, gratulire auch ich Ihnen von ganzem Herzen. Ihre Zukunft hellt sich sichtbar auf und Ihr Horizont wird klar.«

Paul seufzte ganz leise und nickte der mütterlichen Freundin verständlich zu. »Ich nehme es dankbar an, was auch geschehen möge,« sagte er, »aber eine große Freude kann ich noch nicht empfinden, dazu scheint mir die Zeit noch nicht gekommen zu sein.«

»Nun, dann kommt sie vielleicht bald!« sagte der Banquier. »Und daß sie bald komme, darauf laßt uns jetzt ein Glas leeren, denn da erscheint eben Auguste in der Thür und meldet, daß der Tisch uns erwartet.«

Alle erhoben sich und schritten in das Nebenzimmer, in welchem heute das festliche Mal eingenommen werden sollte.


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