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Zweites Kapitel.
Ein kurzer Sonnenblick, dann – dunkle Nacht

Paul van der Bosch hatte an jenem Abend die Wahrheit gesprochen, als er gesagt, daß er die Zeit noch nicht für gekommen erachte, in welcher er eine große Freude empfinden könne. Er empfand sie in der That noch lange nicht. Die Erwartung eines einstigen sicheren und reichen Besitzes, an sich immer beruhigend und erfreulich, bestach ihn keineswegs, noch weniger schläferte sie seinen regsamen, thatkräftigen Geist an, wie es bei so vielen Menschen in ähnlicher Lage geschieht, einmal, weil der Kummer seines Herzens noch zu frisch und lebendig war, sodann aber, weil er, eine Seltenheit unter den Menschen heutiger Zeit, nicht zu Denjenigen gehörte, für die der materielle Reichthum etwas Verlockendes, Verführerisches besitzt, mit einem Wort, weil er den Reichthum höchstens nur als Mittel zum Zweck, niemals aber für den einzigen Lebenszweck selber hielt. Ein Character von solcher Gediegenheit und strebsamer Männlichkeit, wie er ihn theils von der Natur empfangen, theils durch seine eigenthümliche Anschauungsweise menschlichen Lebens und Treibens in sich entwickelt hatte, unterlag nicht dem einschläfernden Einfluß sybaritischen Wohllebens, er mußte seine Kräfte anspannen, seine Stärke offenbaren, wenn er sich glücklich fühlen wollte, und nur im geistigen Schaffen, im sichtbaren Fortschritt inneren und äußeren Gedeihens erkannte er die Aufgabe des menschlichen Strebens, und allein dieser zu genügen und sich zu weihen, war er fortan bis an sein Lebensende entschlossen.

»Ach ja,« sagte er sich oft, wenn er allein war und von seiner stäten Arbeit gedankenvoll ausruhte, »es wäre das Alles recht gut und schön, wenn mir nur meine Sonne nicht so frühzeitig und für ewig untergegangen wäre! Die Welt um mich her und in mir – o ja, auch in mir – ist öde und kalt geworden, ich fühle die fröstelnde Einsamkeit meiner verwundeten Seele und mir blüht keine Hoffnung, keine, daß es jemals auf dieser Erde besser für mich werden könne, daß die Last von meinem Herzen weiche, die schwer darauf drückt. Und selbst wenn Onkel Casimir einst seine Erbschaft antritt und mich dann zu seinem Erben wählt, was habe ich davon, daß ich der Erbe dieser Güter bin, da mir das höchste Gut fehlt, was mir das Leben süß und köstlich gemacht hätte. Doch nicht verzagt, Paul, denke an den Spruch Deiner Mutter:

»Leide, meide, schweige und ertrage!
»Deine Noth Niemand klage!
»An Gott, Deinem Schöpfer, nicht verzage,
»Denn das Glück – kann kommen alle Tage! – –«

Einen Einfluß, und zwar einen recht großen und vielleicht nicht sowohl für ihn selbst wie für Andere sehr fühlbaren Einfluß hatte jene Aussicht in eine von materiellen Sorgen weniger bedrängte Zukunft denn doch gehabt. Seine Gedanken waren freier und kühner geworden, sein Blick haftete nicht mehr so tief am Boden, sondern hob sich leichter beschwingt in reinere und höhere Sphären empor. Namentlich machte sich diese Freiheit und Kühnheit in seinen bisher in aller Stille betriebenen geistigen Beschäftigungen bemerklich, und seine literarischen Unternehmungen fingen an, nicht allein an innerem Gehalt zu gewinnen, sondern sich auch in bestimmterer Form aus seinem Geiste heraus zu gestalten und zu ergießen.

Zu diesen Bestrebungen führte ihn gewissermaßen von selbst sein Verkehr mit einigen Männern allmälig hinüber, mit denen er schon früher dann und wann Umgang gepflogen und denen er in jetziger Zeit viel näher zu treten begann. Er hatte zahlreiche Bekanntschaften unter Künstlern aller Art, Gelehrten und Literaten gemacht, die unläugbar geistig auf ihn einwirkten und die schlummernde Kraft der Production in ihm weckten. Er war einem geselligen Verein dieser Männer beigetreten und allmälig aus einem aufmerksamen ein thätiges Mitglied desselben geworden. Wie es unter Männern solcher Art immer sein wird und nicht anders sein kann, da sie ja aus innerer Naturnothwendigkeit selbst Kinder und Väter des geistigen Fortschrittes sind, gehörten die Mitglieder dieses Vereins ohne besonderen Namen auch in Sachen der äußeren Weltverhältnisse einer freieren, der sogenannten liberalen Richtung an, ohne daß sie sich zu einer wirklichen Partei gestaltet oder öffentlich bekannt hätten. Sie alle wirkten für jetzt nur belebend und anfeuernd auf einander ein, sie sahen in der höchsten Blüthe der Kunst und Wissenschaft, mochten diese einen Namen und eine Richtung haben, welche sie wollten, sie erkannten in dem Gedeihen gelehrter Forschung, in der allseitigen Entwicklung menschlichen Lebens überhaupt ihr Ziel, und diesem Ziele strebten sie mit allen Kräften zu, ohne sich von irgend einer Seite her darin beirren zu lassen. Am wenigsten fürchteten sie, ihres edlen Zweckes sich bewußt, den drohenden Blick jenes hader- und herrschsüchtigen Parteigeistes, der, sobald er einmal auf schaukelnder Woge des Zeitmeers emporgehoben wird, sich gleich zum Richter und Rächer über Gerechte und Ungerechte aufwirft und dann mit schonungsloser Ruthe Andersdenkende und Andersgläubige zu züchtigen sich unterfängt. Nein, sie fürchteten ihn nicht, vielmehr gönnten sie ihm seine augenblickliche Herrscherseligkeit, die ja niemals in heutiger Zeit von Dauer sein kann; sie ließen ihn, so laut er mochte, mit seinen Ketten rasseln, seinen Ketten, die, wenn sie auch hart und schwer sind und oft schmerzlich in das ohnmächtig zuckende Fleisch schneiden, doch noch niemals den wirklich wahren und ächten Geist gebändigt haben und ihn niemals – niemals bändigen werden. Denn der Geist ist ja frei, an und durch sich selbst, durch Geburt und Bestimmung, er hat Schwingen, starke, unzerbrechliche, unsichtbare Schwingen, die ihm immer wieder von Neuem wachsen, wenn sie auch hundert Mal mit scharfer Scheere beschnitten werden.

Diesen Geist mit der unverwüstlichen Kraft und den unsichtbar zum Aether aufstrebenden Schwingen besaß auch Paul van der Bosch, und ihm huldigte er mit ganzer Seele, ihm gab er sich zu eigen, seinen Einflüsterungen gehorchte er, seine urewigen und unumstößlich in der männlichen Brust vorhandenen Gesetze befolgte er mit jener stählernen, loyalen Consequenz, welche die edelste Tochter und wiederum die Mutter dieses Geistes selber ist.

In stillen Abendstunden, wenn seine Berufsarbeit abgethan war, saß er jetzt oft bis spät nach Mitternacht und schrieb in einer vorher genau erwogenen Form seine Gedanken nieder, indem er sich selbst ein Thema aufgab und dasselbe mit der pünctlichen Gewissenhaftigkeit künstlerischer Erwägung bis zur möglichsten Vollendung abrundete. Als er erst einige solcher Aufsätze beendigt hatte, unterwarf er sie einer strengen Selbstkritik, und nachdem er sie dann noch in Einzelnem gefeilt und gebessert, schrieb er sie ab und legte sie dem ihm immer noch befreundeten Buchhändler vor, von dem er gewiß sein konnte, daß er den Autor Niemanden verrathen würde.

Der Buchhändler, jenem Verein ausgezeichneter Männer ebenfalls angehörend, las diese Aufsätze mit stiller Verwunderung, indem er erkannte, daß sie nicht allein zeitgemäß waren, sondern auch jenes läuternde Feuer enthielten, welches von jeher dem trägen Zeitgeist das stockende Blut warm, klar und flüssig gemacht hat. Auf seinen Wunsch, sie allmälig nach einander drucken zu lassen, ging Paul bereitwillig ein, und nun war er mit einem Mal Corrector seiner eigenen Arbeiten geworden, wie er früher nur der fremder gewesen war.

Als die erste Schrift unter dem Titel: ›Wo waren wir, wo sind wir, wohin wollen wir?‹ ohne Nennung des Autors erschienen war, steckte er sie zu sich und ging eines Abends – es war im Monat März nach dem letzten Weihnachtsfeste – zum Banquier Ebeling hinüber. Er fand ihn bei seiner Frau sitzen und sie plauderten eine Weile gemüthlich mit einander. Da zog Paul die kleine Brochüre hervor und reichte sie dem Freunde mit der Bitte hin, gelegentlich einen Blick hinein zu werfen.

Kaum aber hatte der Banquier den Titel gelesen, so setzte er sich bei Seite und fing auf der Stelle eifrig zu studiren an, und für diesen Abend war auf seine Mitwirkung bei der mündlichen Unterhaltung wenig zu rechnen. Am nächsten Mittag aber schon kam er, was er selten that, selber zu Paul herüber und indem er sich niederließ, legte er die Brochüre auf den Tisch und sagte:

»Da haben Sie das kleine Werk wieder, was Sie mir gestern gaben, und ich danke Ihnen herzlich dafür.«

»Wie hat es Ihnen behagt?« fragte Paul mit seiner gewöhnlichen Ruhe.

»O, das bedarf ja gar keiner Frage,« antwortete der ältere Freund. »Die Abhandlung ist vortrefflich. Eigentlich aber habe ich mich darüber gewundert.«

»Wieso?«

Der Banquier lächelte. »Nun, bei Gott, sollte Ihnen das nicht aufgefallen sein? Es sind in diesen scharf durchdachten und streng erwogenen Zeilen nicht allein unsere eigenen Ansichten ausgesprochen, sondern die ganze Art und Weise des Vortrags, die Diction, kommt mir so bekannt vor, als wäre das Ganze von einem Belauscher unserer früheren Abendunterhaltungen bearbeitet, der ihm nur eine glänzendere Ausstattung und eine logischere Form gegeben hat. Es ist ein klarer Kopf, der dies kleine Werk gedacht, und ein edles Herz, das es empfunden hat. Solche Männer können wir in jetziger hüstelnder und engbrüstiger Zeit gebrauchen, denn sie sind kerngesund und übertragen ihre Gesundheit auf Andere. Ich wünschte, es träten Tausende solcher Männer auf, dann würde die Welt bald ganz anders beschaffen sein und keine zuckenden Krebsgänge mehr unternehmen. – Warum werden Sie mit einem Male so roth?«

Paul war in der That roth geworden, das Lob des verehrten Mannes hatte sein Blut in Wallung gesetzt. »Wenn ich roth geworden bin,« erwiderte er, »so geschah es nur in Folge der Freude, welche mich ergriff, daß Sie wieder vollkommen mit mir übereinstimmen. Auch ich finde manches Wahre in dieser Schrift niedergelegt.«

»Manches Wahre? O, wie können Sie so ungerecht urtheilen! Denn ein halbes Lob ist ein ungerechtes Urtheil, wenn man ein ganzes sprechen muß. In dieser Schrift ist jedes Wort, jeder Gedanke wahr und ich erkläre mich freudig mit dem Verfasser von ganzer Seele einverstanden.«

Mit diesem ersten Urtheilsspruch war Paul zufrieden und er setzte nun seine literarischen Versuche eifrig fort, so viel Zeit ihm dazu von seinen übrigen Studien und Unternehmungen übrig blieb. Diese Zeit wurde gegenwärtig von allen Seiten sehr stark in Anspruch genommen, denn die letzte Prüfung rückte näher und näher, der Frühling war verstrichen, der Sommer kam und ging, und endlich war wieder der Herbst vor der Thür, der ihnen Allen im vorigen Jahr so viel Trübsal gebracht hatte.

Wohl tauchte diese Trübsal auch jetzt noch oft in unsres Freundes Brust auf, aber er zwang sie immer wieder durch seine Arbeit und festen Willen nieder. Da nahte die Zeit der Prüfungen. Auch sie kam und verging und Paul trat eines Tages bei seinen Freunden ein und stellte sich als Baumeister vor, was er nun wirklich geworden war.

Da war denn die Freude groß im Hause des Banquiers. Das Ziel war erreicht, das lange ersehnte und erstrebte, und nun begann erst das ächte, wahre Mannesleben und Wirken.

»So,« sagte Herr Ebeling, als er Paul's Meldung empfing, mit freudestrahlendem Gesicht, »also das ist fertig! Nun, dann gratulire ich abermals, und damit Sie sogleich Beschäftigung in Ihrem neuen Wirkungskreise haben, so ernenne ich Sie heute – da Sie doch nicht in den Staatsdienst treten – vor der Hand zu meinem Baumeister. Wohlan denn, jetzt begeben Sie sich an die Arbeit und machen Sie zuerst mein Haus im Innern fertig, damit wir es im nächsten Sommer bewohnen können. Doch warten Sie, ich bin noch nicht zu Ende. Ich habe noch andere Aufträge in der Tasche, mit denen ich nur gewartet habe, bis die rechte Zeit gekommen wäre. Einige meiner Freunde, die Sie schon kennen, wünschen ähnliche Sommerhäuser zu haben, wie das meinige – darf ich sie morgen zu Ihnen senden, damit sie mit Ihnen Rücksprache nehmen?«

»Herr Ebeling,« sagte Paul gerührt, »Sie sorgen wirklich für mich, wie ein Vater. Ich sage nur, ich danke Ihnen, mehr kann ich nicht thun, denn Ihnen und Ihrer Familie noch mehr Liebe zuzuwenden, als ich jetzt schon thue, wäre mir nicht möglich. Ja, ja, ja, senden Sie Ihre Freunde; und je mehr ihrer sind, um so willkommener sollen sie mir sein.«

Die Besuche fanden auch wirklich am nächsten Morgen und den darauf folgenden Tagen statt und der neue Baumeister bekam so viel zu entwerfen, zu zeichnen, zu berechnen, zu ordnen, daß er sich von Frau Zeisig wieder die Dachkammer miethen mußte, um einige Gehülfen darin unterzubringen, welche die von ihm angegebenen Entwürfe nach seiner Vorschrift ausführten. Zugleich wurde mit der Arbeit am Gartenhause vor dem Braunschweiger Thor rüstig begonnen, und da das Meiste schon lange vorgearbeitet war und fertig bei den verschiedenen Meistern lag, so schritt der innere Ausbau rasch vorwärts; und alle Tage fast, wie früher, trafen sich wieder draußen der Bauherr und der Baumeister, um sich auch an diesem Fortschritt in ihrer kleinen Welt zu erfreuen.

An den Onkel Casimir hatte Paul gleich nach Neujahr geschrieben und ihm seinen Glückwunsch zur Auffindung seines so lange verschollenen Bruders, und dann seinen Dank für die wiederholte Versicherung seiner Liebe ausgesprochen. Auf diesen Brief aber hatte er auffallender Weise bis zum nächsten October keine Antwort erhalten. Fritz scherzte oft über diese lange Schweigsamkeit, wenn das Gespräch bei seinen Eltern darauf kam, indem er sagte: der Herr Professor brauche ein volles Jahr, um nachzuholen, was er an einem Tage durch den Besuch des Rentmeisters versäumt habe. Im Allgemeinen aber wunderte man sich über dies Schweigen nicht, einmal, da man wußte, wie der gelehrte Herr gar oft solche lange Pausen in seinen Mittheilungen eintreten ließ, und sodann, weil dies Schweigen in jetziger Zeit die sicherste Kunde gab, daß der Bruder Quentin noch kein Wort weiter habe von sich hören lassen.

Paul selbst gab sich in der ersten Zeit keinen Grübeleien darüber hin, denn seine angespannte Thätigkeit leitete seine Gedanken auf andere Felder; als aber endlich die Hartnäckigkeit dieses Schweigens auch ihm auffallend zu werden anfing, zumal er dem Onkel den Ausfall seiner letzten Prüfung sogleich berichtet hatte, da trat von anderer Seite her ein unerwartetes Ereigniß ein, welches für ihn so wichtig – und bedeutungsvoll war, daß selbst die Neuigkeiten, die er vom Onkel Casimir erwartete, dagegen in den tiefsten Schatten zurücktraten.

Es war nun ungefähr gerade ein Jahr verstrichen, seitdem Betty von Hayden als Baronin von Wollkendorf das Haus ihrer Eltern verlassen hatte und mit einem kaum gekannten Mann, den ihr der Vater zum Gatten ausgesucht, in die ihr ebenfalls fremde Welt gewandert war. In der ersten Zeit ihrer Verheirathung, die das neuvermählte Paar auf weiten Reisen im südlichen Europa zubrachte, trafen nur selten und dann sehr dürftig ausgestattete Schreiben von Betty ein, und diese waren allein an ihre Mutter gerichtet. Alle diese Schreiben, es waren nur zwei, höchstens drei, gaben nichts weniger als ein klares Bild von den Empfindungen der jungen Frau, und ihre Tante, als sie dieselben las, erschrak sogar darüber mehr als sie erfreut war, und doch konnte sie nach Lage der Sache nichts Anderes von ihrer Nichte erwartet haben. Diese kurzen und mit fast sich überstürzender Hast hingeworfenen Briefe athmeten keine Freude und kein Glück aus, sie beschrieben ganz einfach oder bezeichneten vielmehr nur die Orte, die sie gesehen oder an denen sie, um genauer zu sprechen, nur wie eine halb Träumende vorübergekommen war, ohne ihre Augen, geschweige denn ihre Seele, dabei in Wirksamkeit zu setzen. Von dem Baron sprach sie darin sehr selten und führte nur das an, was unumgänglich nöthig war oder auf seinen ausdrücklichen Wunsch geschrieben ward, da er selbst nie eine Feder in die Hand nahm und von dieser schweren Arbeit schon seit langer Zeit entwöhnt war, indem zu Hause sein Secretair dieselbe ganz allein besorgte. An alle ihre Lieben sandte Betty am Ende ihrer Briefe jedesmal Grüße, aber sie nannte Keinen besonders, nicht einmal ihre Tante, der sie doch von jeher von ganzem Herzen ergeben war. Diese Grüße waren auch von ihrer Mutter stets an Ebelings bestellt worden, und sowohl Fritz wie seine Mutter hatten dafür gesorgt, daß deren in Paul's Gegenwart Erwähnung geschah, da man auch ihn mit in den allgemeinen Gruß eingeschlossen glauben konnte. An ihre Tante und Fritz selbst schrieb Betty gar nicht, und obwohl diese sich anfangs darüber höchlichst wunderten, so fand doch der Scharfsinn Frau Ebeling's bald heraus, daß ihre theure Nichte wohl triftigen Grund haben möge, gegen sie zu schweigen.

 

Nachdem nun der Winter vergangen, waren die Neuvermählten, die denselben in Italien verbracht, nach ihrer nördlichen Heimat zurückgereist und endlich im Mai langte auch der erste Brief von dorther bei Frau von Hayden an. Auch dieser und die nun alle Monate regelmäßig folgenden Briefe waren nur kurz und sprachen sich über Nichts ausführlich aus. Niemals wurde eine Empfindung, ein Wunsch, eine Bitte darin laut, das Herz der Schreiberin schien völlig erkaltet, ja erstarrt zu sein. Sie beschrieb das Gut Wollkendorf zwar als ein ziemlich großes, aber auch sehr einsames und abgelegenes. Im Innern sei das alte Schloß leidlich behaglich eingerichtet, doch durchaus nicht so, wie ihr Vater es einst erwartet oder geschildert hatte. Indessen sei sie damit wie mit Allem zufrieden, auch der geringe Verkehr mit einigen ihrer Nachbarn sei ihr ganz recht. Sie ginge viel im Park und auf den grünen Feldern spazieren, müsse auch ihren Mann zu Pferde auf weiteren Ausflügen zu einigen vornehmen Familien begleiten, die übrige Zeit bringe sie mit Lesen hin, denn das sei eine Beschäftigung, die ihr theuer geworden und von der sie unter keinen Umständen mehr lassen möge.

Ueber alle diese Briefe empfand der Oberforstmeister eine große Freude und er war der Einzige, der kein Leben, keine Seele, kein Herz darin vermißte, wie alle übrigen seiner Verwandten. Nur über Eins wunderte sich der egoistische Mann. Er hatte bestimmt darauf gerechnet, daß sein Schwiegersohn und seine Tochter ihn gleich nach ihrer Rückkehr auf das Gut auffordern würden, sie daselbst zu besuchen, aber kein Wort davon stand in den anlangenden Briefen und der Herr Baron ließ sogar gar nichts von sich hören. Daß Herr von Hayden durch diesen Fehlschlag seiner lebhaftesten Wünsche unangenehm berührt war, ja daß er sich sogar dadurch gekränkt fühlte, war offenbar, allein er gab seine Gedanken darüber durch kein Wort kund und nur an seinem mürrischen Wesen merkte seine Frau, daß er unzufrieden mit sich und Anderen sei.

Im August war der letzte Brief von Betty gekommen und hatte die Nachricht gebracht, daß sie Ende September ihrem Mann nach Bremen folgen werde, wo derselbe auch früher schon alljährlich einige Wintermonate zugebracht hatte, da er in dieser schönen Stadt ein Haus besaß. Der September war gekommen, aber der von Bremen her erwartete Brief war ausgeblieben und schon hatte man die Mitte Octobers erreicht und immer noch wartete man vergeblich auf den papierenen Boten aus der großen Handelsstadt.

Da sollte er endlich kommen – aber was brachte er? War es eine freudige oder traurige Nachricht?

Wer möchte das im ersten Augenblick entscheiden wollen? Für die Einen war sie gewiß traurig genug, für Andere minder traurig, wie es das Leben denn oft so wunderbar mit sich bringt, daß ein und dasselbe Ereigniß auf der Welt bei verschiedenen Menschen die verschiedenartigsten Empfindungen hervorruft. –

Als Paul eines Morgens von seinem Dachstübchen aus, wo er sich jetzt wieder bisweilen aufhielt, um seinen Gehülfen die nöthigen Instructionen zu geben, zufällig nach dem Nachbarhause hinübersah, gewahrte er zu seinem Erstaunen, daß die Fenstervorhänge in der Wohnung des Oberforstmeisters, obgleich es schon beinahe neun Uhr war, noch sämmtlich geschlossen waren. Was mochte das zu bedeuten haben?

Von einem dunklen Ahnungsgefühl aufgeregt, wie es Menschen von großer Gefühlswärme bisweilen überkommt, stieg er in seine Wohnung hinunter und traf daselbst schon Fritz Ebeling an, der ihn bereits seit einer Viertelstunde voller Spannung erwartete.

»Paul,« rief dieser ihm mit einer seltsam aufgeregten Miene entgegen – »ich bringe Dir eine bedeutungsvolle Nachricht.«

Jetzt wußte Paul, daß seine Ahnung ihn nicht belogen habe. »Sie betrifft die Familie Deines Onkels?« fragte er, indem sein Gesicht eine bleichere Farbe annahm.

»Ja, Du kannst merkwürdig gut rathen, aber vielleicht haben die verschlossenen Fenster drüben Dich schon auf den richtigen Weg geführt.«

»Sprich,« sagte Paul, sich mühsam fassend, »und laß mich nicht so lange in der Schwebe.«

»Nun denn, mit einem Wort, diese Nacht ist eine telegraphische Depesche aus Bremen angekommen, der heute Morgen auch ein Brief von Betty gefolgt ist –«

»Gott sei Dank!« brach es bei Paul mit tiefer Empfindung hervor, »also Betty hat selbst geschrieben?«

»Ja, sie selbst, und zwar, daß ihre Eltern so rasch wie möglich nach Bremen kommen möchten; ihr Mann sei ernstlich erkrankt und sie sei in der großen Stadt so fremd, daß sie Niemanden habe, der ihr Beistand leisten könne. Da sind denn mein Onkel und meine Tante heute Morgen um sieben Uhr schon mit dem Schnellzuge nach Bremen abgereist und so ist der Wunsch des Ersteren, seine Tochter besuchen zu können, auf eine eigene und gewiß nicht erwartete Weise erfüllt worden.«

Paul versank in tiefes Nachdenken und an diesem Morgen, ja den ganzen Tag über, war er sehr zerstreut und selbst Frau Ebeling vermochte ihn nicht aus seinen Gedanken zu wecken, als er gegen Mittag hinüberging und diese ihm Betty's Brief zeigte, der an ihre Mutter gerichtet, aber in deren Abwesenheit von der Tante erbrochen war. Der Brief enthielt nur wenige Worte, war mit sichtbarer Hast geschrieben und sprach, wenn auch keine große Besorgniß, doch eine tiefe Rathlosigkeit aus.

»Meine Schwester will uns sogleich Nachricht geben,« sagte Frau Ebeling zu Paul, als er diesen Brief mit bedeutungsvollem Kopfschütteln gelesen, »und uns wissen lassen, wie es steht. Ich habe sie dringend darum gebeten und bin überzeugt, sie wird ihr Versprechen in keinem Fall vergessen.«

Paul schwieg noch immer, endlich aber sagte er: »Es ist mir lieb, daß sie jetzt ihre Mutter bei sich hat. In dieser Stunde muß Ihre Frau Schwester schon in Bremen sein. Der Zustand der armen Frau ist gewiß ein beklagenswerther.«

»Das ist er ohne allen Zweifel schon lange, mein Freund,« lautete die leise Antwort. »Sollten Sie das noch nicht gemerkt haben?«

Paul warf ihr einen Blick zu, der Alles sagte, was er hätte sprechen können, und Frau Ebeling verstand ihn, wie sie ihn immer verstand. –

Zwei Tage später kam der erste mit Sehnsucht erwartete Brief Frau von Hayden's an ihre Schwester. Er brachte einige nähere Aufklärung über den gefährlichen Krankheitsfall, aber noch keine Entscheidung. »Der Baron ist schon längere Zeit kränklich gewesen,« schrieb sie, »und hat, seitdem er von seiner großen Reise zurückgekehrt ist, an einer nervösen Verstimmung gelitten, die oft eine beängstigende Höhe erreichte. Dabei ist er mit sich und der ganzen Welt in Zwiespalt gerathen, hat an nichts mehr Freude gefunden, sich über viele Menschen, unter andern auch über meinen Mann beklagt, ohne daß dieser ihm doch Grund dazu gegeben, und hat überhaupt eine bittere Laune gegen Jedermann an den Tag gelegt. Betty ist natürlich nicht sehr glücklich dabei gewesen. Da, eines Tages, sobald er nach Bremen gekommen, hat er einen Advocaten rufen lassen und sein Testament gemacht. Was in demselben enthalten, weiß kein Mensch, und mein Mann ist darüber in großer Sorge. Gleich nach der Unterzeichnung des Testaments hat er sich gelegt und bald die Besinnung verloren. Die Aerzte erklären seine Krankheit für ein Nervenfieber und halten seinen Zustand für höchst bedenklich. Ich schreibe Dir wieder, sobald etwas Wichtiges vorfällt. Gott schütze unsere arme Betty, die ich von ganzem Herzen beklage, denn jetzt erst sehe ich ein, wie unglücklich das liebe Wesen ist.« –

Als Paul diesen Brief von Frau Ebeling vorlesen hörte, ging er mit gesenktem Kopfe im Zimmer vor ihr auf und ab. Ohne Zweifel sprach er mit sich selber, aber Frau Ebeling vernahm kein Wort. Endlich sagte sie: »Es ist wunderbar, die Menschen kommen immer erst zur Einsicht, wenn sie ihnen nichts mehr helfen kann. Meine Schwester hat diese Einsicht schon lange, das kann ich Ihnen vertrauen, aber nun tritt sie vielleicht auch an meinen Schwager heran, der sich ihr bisher eigensinnig verschloß. Das so hastig abgefaßte Testament spukt gewiß wie ein drohendes Gespenst vor seinem Auge.«

»Wenn es ihm nur das Herz öffnen wollte!« fuhr Paul beinahe auf. »Aber das glaube ich nicht. Dieser Mann, Ihr Herr Schwager, hat den dreifach eisernen Panzer der Ueberhebung, der Selbstsucht und der privilegirten Erbweisheit, den nur die vornehme Welt sich zu fabriciren versteht, um seine Brust gelegt und sich damit gegen alle Schläge des Schicksals zu schützen geglaubt. Jetzt kann er es erproben, ob dieser Panzer ihn gegen den Kummer und die Gewissensbisse schützt, die ich schon gegen ihn sich erheben sehe.«

»Sie haben Recht, leider haben Sie Recht. Doch nun stehen wir dicht vor einer Crise – lassen Sie sie uns mit fester Stirn und reinem Herzen erwarten, wir tragen wahrhaftig keine Schuld.«

»Nein, wir nicht!« erwiderte Paul, nahm seinen Hut und reichte der edlen Freundin die Hand, um sein heißes Blut in der frischen Luft draußen abzukühlen. –

Zwei Tage später kam der zweite Brief. »Kinder!« schrieb Frau von Hayden mit flüchtiger Hand, »bereitet Euch auf Alles vor; die Krankheit des Barons entwickelt sich mehr und mehr und wahrscheinlich nicht zum Guten. Die Aerzte schütteln den Kopf und mein Mann ist in Verzweiflung. Betty ist so gefaßt wie immer vor großen Entscheidungen ihres Schicksals und sie stützt uns mehr, als wir sie stützen können.«

»Ja, ja,« sagte Frau Ebeling zu Paul; als er auch diesen Brief angehört hatte, »wir sind vorbereitet – nicht wahr?«

»Ja,« erwiderte Paul ernst, »an Alles, und ich bin es schon lange!«

Da, einen Tag später, kam der verhängnißvolle schwarz gesiegelte Brief. Nur wenige Worte brachten die Entscheidung. »Der Baron ist todt. Er kam noch einmal zur Besinnung, und da er Betty an seinem Lager stehen sah, sagte er zu ihr mit fast schluchzender Stimme:

›Du bist ein beklagenswerthes Weib und gewiß nicht in die rechten Hände gefallen. Verzeih mir, daß ich Dich nicht glücklich machen konnte. Aber einigen Ersatz habe ich Dir vielleicht doch für das verlorene Lebensjahr bieten können.‹

Bald nach diesen Worten stieß er seinen letzten Seufzer aus und – unsere Betty ist Wittwe. Wir bleiben natürlich bei ihr, das ist unsere Schuldigkeit. Hayden fällt sichtbar ab, er hat zwei Tage lang kein Wort gesprochen, keinen Bissen genossen und eigentlich nur von Wein gelebt. So tief hat ihn noch nie ein Todesfall erschüttert. Doch ich muß schließen. Lebt wohl, lebt wohl, Kinder, und mögt Ihr an Eurem Fritz einst mehr Freude erleben.«

Frau Ebeling sah Paul fragend an, als sie ihm diesen letzten Brief vorlas, und dachte, er würde etwas sprechen, aber er sprach Nichts. Er setzte sich ruhig neben sie, faßte ihre Hand, küßte sie und seufzte laut.

»Sprechen Sie doch ein Wort!« ermuthigte ihn die mütterliche Freundin.

»Ich kann nicht. Und das ist ja natürlich. Betty ist Wittwe, und darin ist Alles enthalten, was man denken, also auch sagen kann.«

»Ja,« erwiderte die kluge Frau, »Betty ist Wittwe und Gott hat sie dazu gemacht. Es ist doch ein weiser und guter Herr da oben über den Wolken, und es giebt Menschen, die dankbar zu ihm aufblicken müssen –«

»Menschen? Einige?« fragte Paul verwundert. »Ich dächte, Alle wären dazu verpflichtet.«

»Also Sie auch!«

»Ich bin ihm dankbar für Alles, was er mir von meiner Geburt an gethan hat, und jetzt mehr als sonst – ich habe ja Sie und Ihre Familie gefunden.«

Sie reichte ihm die Hand. Er aber verließ sie schnell, um einen weiten Weg nach seinen Bauten anzutreten und vielleicht Gott im Stillen noch einmal zu danken, daß er ihm – Frau Ebeling und ihre Familie gegeben hatte. –

Acht Tage waren nach diesem letzten Gespräch vergangen, da schickte Herr Ebeling eines Morgens um acht Uhr schon einen Diener an Paul, mit der Bitte, doch sogleich zu ihm hinüberzukommen. Paul kleidete sich rasch an und schritt mit dem Gedanken über die Straße: »Was mag denn nun schon wieder geschehen sein?«

Er fand die ganze Familie in Frau Ebeling's Zimmer versammelt und Alle sahen ihm, als er hastig unter sie trat, mit nur schwach verhehlter Bestürzung entgegen. Der Banquier kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand, mit einem Gesicht, daß Paul erschrak, so traurig und fast zerrüttet sah es aus.

»Nun,« fragte er, »was ist denn wieder Neues vorgefallen?«

Der Banquier zeigte auf einen Brief, der geöffnet auf dem Tisch lag.

»Ich kann nicht sprechen,« sagte er matt, »sage es ihm, Charlotte.«

Frau Ebeling versuchte ein Lächeln zu erzwingen, aber es wurde nur sein schmerzliches Zucken daraus. »Sehen Sie hier,« sagte sie, »da schreibt meine Schwester noch einmal. Der Baron ist beerdigt, aber er steigt zum zweiten Mal aus seinem Grabe hervor und droht mit seiner kalten Hand gegen unsere warmen Herzen hin.«

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte Paul unwillkürlich schaudernd.

»Nun denn, mit einem Wort: Sein Testament ist eröffnet und meine Schwester sendet uns eine Abschrift davon. Es ist sehr kurz, lesen Sie es!«

Paul wehrte den dargereichten Brief mit der Hand ab und sagte: »Lesen Sie, mir flimmert es vor den Augen.«

»Ach, was da!« rief der Banquier, sich ermannend. »Lese es Niemand mehr, ich weiß es auswendig, und nun hören Sie. So ein verrücktes Testament ist mir noch nie in meinem Leben vorgekommen. Der Mensch muß wahnsinnig oder wüthend gewesen sein, als er es ausgesonnen und niedergeschrieben hat. Also hören Sie: er hat Betty, seine Frau, zu seiner Universalerbin eingesetzt, das heißt, ihr sein Gut Wollkendorf, sein Haus in Bremen und zehntausend Thaler Rente vermacht – ist das nicht hübsch? O ja, aber der gute Mann hat auch zugleich einige ganz bestimmt lautende Bedingungen aufgestellt, wenn sie die Erbschaft antreten will, und dieser Nachsatz lautet nicht so hübsch wie jener Vordersatz.«

»Bedingungen?« fragte Paul mit schwerer Zunge. »Welche denn?«

»Erstens: sie darf sich nie wieder verheirathen oder nur einem Manne ihre Hand reichen, der über sechszig Jahre zählt.«

Paul wurde bleich wie der Tod. Aber er faßte sich. »Diese Bedingung ist hinreichend, um der hinterlassenen Wittwe seine Liebe zu beweisen,« sagte er kalt.

»Zweitens,« fuhr Herr Ebeling fort: »sie darf ihr Gut Wollkendorf nie länger als acht Tage verlassen und das Haus in Bremen hat sie zu vermiethen oder zu verkaufen. Sonst kann sie machen was sie will. Heirathet sie aber einen Mann unter sechszig Jahren, so verliert sie jeden Anspruch auf ihre Erbschaft – und Gut und Alles geht an einen Vetter des Barons über, der, glaube ich, noch lange nicht die Sechszig erreicht hat und den der Testator also wahrscheinlich bei jener ersten Bestimmung im Auge gehabt hat. So denke ich es mir wenigstens. Nun, wie gefällt Ihnen dies Testament?«

Paul bedeckte sich die Augen mit der Hand und von seiner bleichen Stirn fielen heiße Tropfen zur Erde. Ihm war zu Muthe, als ob die Sonne, die ihn einen Augenblick freundlich aus den Wolken angeblickt, plötzlich ganz und gar verschwunden und es völlige Nacht auf der Erde geworden wäre.

»Ja, ja,« murmelte er zwischen den Zähnen, »ich sagte es ja, die Welt ist kalt um mich her und unsere armen Herzen müssen sich an diese Kälte gewöhnen.«

»Nein!« rief Fritz aufbrausend und von seinem Stuhle aufspringend, » mein Herz gewöhnt sich nicht an diese Kälte. Es will warm bleiben, warm, Paul, und – und wir wollen doch sehen, ob solch ein dummes Testament seine Gültigkeit hat!«

Zum ersten Mal lächelte Paul an diesem Tage. »Mein guter Junge,« sagte er, »es ist gültig vor je dem irdischen Gerichtshof, verlaß Dich darauf, wenn es nicht Einer, der Einzige, der es kann, umstößt, und der wird es nicht thun.«

»Wer ist dieser Eine?« fragte Fritz mit funkelnden Augen.

»Das sage Dir selber!« erwiderte Paul und nahm schon seinen Hut. »Nun aber, meine lieben Freunde,« fuhr er mit bebender Stimme fort, »habe ich über dieses Testament genug gehört und gesprochen. Es ist einmal gemacht und wird vollstreckt werden. Leben Sie wohl – ich habe heute noch viel zu thun.«

 

Erst vierzehn Tage nach dem Tode des Barons, nachdem die junge Wittwe mit ihren Eltern schon längst von Bremen nach Wollkendorf zurückgekehrt war, schrieb diese endlich selbst an Frau Ebeling. Es war ein langer inhaltreicher Brief, ein inniger herzlicher Erguß ihrer so schwer geprüften Seele an ihre mütterliche Freundin, der sie im Geiste viel näher stand als der eigenen Mutter. Aber dieser Brief enthielt für die gute Frau Ebeling so manches Neue und Unerwartete und war so ganz und gar geeignet, einen Blick in das innerste Wesen der armen Betty thun zu lassen, daß sie ihn für sich allein behielt und von seinem Inhalt sogar ihrem Manne nur sehr Weniges mittheilte. O, was mußte das junge, bisher so zart behandelte Weib gelitten haben, als es so ganz und gar der rohen und gewaltthätigen Hand eines, aller feineren Bildung entbehrenden Mannes hingegeben war, dem es in seiner geistigen und physischen Erschlaffung wahrhaftig nicht darum zu thun gewesen, ein edles und liebenswürdiges Weib zu besitzen, nein, der es nur an seine Seite genommen, um ein neues, ihn anregendes Spielzeug zu gewinnen, das ihm die so traurig langweilige Zeit zu vertreiben geeignet schien, an dessen eigenem Glück ihm also eben so wenig gelegen war, wie das ganze Leben für ihn selbst schon lange keinen Reiz mehr besessen hatte und nur als ein leidiger Gewohnheitszustand betrachtet wurde, den man ertragen müsse, so lange die frühzeitig untergrabenen und verschleuderten Körperkräfte es eben gestatten mochten.

Auch Fritz erhielt jetzt einen langen und die alte Herzlichkeit zwischen seiner Cousine und ihm frisch abspiegelnden Brief. Hierin wurde auch zum ersten Mal wieder Paul's Name genannt und er selbst mit vielen freundlichen Grüßen bedacht. In diesem Brief sprach Betty sich ganz natürlich und vertraulich über ihre gegenwärtige Lage aus, ohne jedoch eigentlich zu klagen, aber freilich auch ohne ihren guten Cousin so tief wie dessen Mutter in ihr Herz blicken zu lassen.

So hieß es unter Anderm in diesem Schreiben. »Was ist nun dadurch erreicht, daß ich ein Jahr von Euch entfernt habe leben müssen, mein lieber Fritz? Man verheirathete mich, angeblich um mein Glück zu befördern, und nun bin ich eine Wittwe, mit dreiundzwanzig Jahren, wo eine Frau sonst erst anfängt, in die Welt zu treten, das Leben zu genießen und die sie umgebenden Menschen und Dinge auf ihr Herz und ihren Geist heilsam wirken zu lassen. Und nun bin ich gar auch als Wittwe – deren Stand im gewöhnlichen Leben ein so wenig beschränkter und verhältnißmäßig freier ist – von Neuem gefesselt, durch willkürliche Bestimmungen, die ich nicht vorhersehen konnte und die Niemand von den Meinigen vorhergesehen hat. Ich habe nun Vermögen, viel mehr sogar, als ich verbrauchen kann, und auch ein leidlich hübsches Gut, wie wir es uns in früheren Tagen – weißt Du es noch? – so oft gewünscht, wenn wir einmal in der grünen Weinlaube oder am traulichen Wintertisch die Geschicke der Menschen gegen einander abwogen und für uns selbst ein bescheidenes Loos in Anspruch nahmen. Ja, das habe ich Alles, aber was ist mir damit geholfen? So recht eigentlich bin ich doch nur eine Gefangene mitten in meinen Schätzen, und kann nicht einmal zu Euch fliegen, Euch an mein übervolles Herz drücken und trauliche Worte mit Euch tauschen, was ich schon so lange unter unbeschreiblichen Schmerzen entbehrt habe.

Eins nur, mein lieber Fritz, habe ich bei alledem gewonnen: meine persönliche Freiheit im Denken und Empfinden, und meine Selbstbestimmung – letztere freilich in einem nur sehr engen Kreise. Jetzt darf mir Niemand – Niemand wieder etwas anhaben, wenn ich die mir gestellten Bedingungen erfülle; kein Zwang, kein Befehl – mag er ausgehen von Wem er will – greift in meinen Willen, mein Bedürfniß; ich kann jetzt Jedermann in's Gesicht sagen: Ich will, das ist mein Recht, und Niemand darf mir dies schwer erkaufte Recht im Geringsten trüben. Freilich, wirst Du sagen, dieser Wille reicht nicht weit und mein ganzes Leben hindurch werde ich die Fesseln fühlen, die mir der Baron von Wollkendorf in seinem unberechenbaren Egoismus um die Füße – ach, nicht um die Füße allein – gelegt hat, und Du hast auch Rechte, wenn Du so sagst, allein, mein Lieber, ich bin schon zufrieden, daß ich unabhängig bin, denn wenn ich das vor einem Jahre gewesen wäre, so würde ich mich niemals von Euch entfernt haben.

Nun habe ich aber noch eine Bitte an Euch zu richten, und diese richte ich an Euch Alle und Du magst sie also den Deinigen mittheilen. Sprecht von heute an kein Wort mehr mit mir über meine letzte Vergangenheit, richtet keine Frage deshalb an mich, ich würde sie Euch doch nicht beantworten können, wenn ich mein Herz nicht immer von Neuem bluten lassen will. Nein, laßt diese Vergangenheit vergangen sein, vergeßt sie, wie auch ich sie zu vergessen suchen werde, und fangt lieber ein ganz neues Leben mit mir an, wie es mir – wenn ich Alles in Allem betrachte – der liebe Gott jetzt in seiner Gnade gegeben hat. Eins hat mir der strenge Erblasser nicht verboten: ich darf Freunde bei mir sehen, so viel und so oft ich will. Nun denn, so werde ich auch Euch bei mir sehen und Ihr werdet ja wohl Alle bisweilen gern das kleine Opfer bringen und mich in meiner Einsamkeit besuchen.

Das erste Jahr will ich jedoch mit meinen Eltern – hier hast Du schon den ersten Willen – ganz ruhig und abgeschieden auf Wollkendorf zubringen und in dieser für mich so gewichtigen Zeit überlegen, wie ich mir meine Zukunft gestalten will und kann. Davon werde ich noch häufiger mit Dir reden und ich hoffe auch Deines Rathes eben so wenig wie dessen Deiner guten Eltern dabei zu entbehren.

Unsern gemeinsamen Freund- o ich darf ja jetzt wieder an ihn denken und von ihm sprechen – grüße herzlich, herzlich von mir. Du glaubst nicht, lieber Fritz, wie sehr ich mich über seine Erfolge gefreut habe, die Du mir in Deinem letzten ausführlichen Schreiben – o, es war ja das erste seit langer Zeit – mitgetheilt. Ich hoffe, Du wirst auch ferner in Deinen Mittheilungen über ihn nicht schweigsam sein und mir nichts vorenthalten, was seine Lebenslage, seine Aussichten, sein geistiges und leibliches Befinden betrifft.

Meine Eltern bleiben bis auf Weiteres bei mir und mein Vater hat so eben nach reiflicher Ueberlegung seine Pensionirung beantragt, die nun wohl ohne weitere Umstände erfolgen wird.« –

»Nun,« sagte Fritz, als er seinem Freunde dieses Schreiben mittheilte, »daß mein Onkel bei ihr auf Wollkendorf bleibt, will mir nicht recht gefallen. Der ganze Zwang, unter dem sie gelitten, ist allein von ihm ausgegangen, und wenn Betty nicht stark, muthig und aufmerksam ist, wird ihr Vater diesen Zwang auf andere Weise fortzusetzen suchen, denn gewisse Menschen lassen nie von ihrer Art, weil sie den Herrscherstab als eine ihnen von Gott gegebene Gnade, als ein ihrer Machtvollkommenheit verliehenes Privilegium betrachten und rücksichtslos über alle Häupter zu schwingen lieben, die in ihre Hände gegeben sind.«

»Das befürchte ich diesmal nicht,« erwiderte Paul. »Der vernünftige Mensch lernt in der ernsten Schule des Lebens viel und rasch und Deine Cousine faßt schnell und begreift leicht, was deren weiser Lehrmeister ihr vor die Augen hält – ihr ganzer Brief giebt davon Kunde,«

»O ja, und ich wünsche auch, daß Du darin Recht haben mögest. Auch werde ich nicht ermangeln, ihr in dieser Beziehung die Augen zu öffnen und ihr dabei sagen: auch Du erwartest, daß sie die Augen offen hält. Darf ich das?«

Paul lächelte matt. »Sage es ihr, wenn es nur hilft.«

»Es hilft gewiß, ich versichere es Dir.« –

Auch in Bezug auf Betty's Wunsch, Alles zu erfahren, was den gemeinsamen Freund betraf, können wir erwarten, daß Fritz eben so offenherzig wie mittheilsam war, und in der That meldete er mit der fortschreitenden Zeit alle Vorkommnisse nach Wollkendorf, die Paul van der Bosch berührten und die wir jetzt in ihrer natürlichen Reihenfolge, aber in etwas rascherer Weise dem Leser mittheilen wollen, als sie sich in Wirklichkeit nach und nach abwickelten.


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