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Viertes Kapitel.
Wie ein gelehrter Professor sich als Erbe ausnimmt

Hatte der Winter sich in seinen letzten Anstrengungen gegen das nahende Frühjahr gewaltsam und tyrannisch gezeigt, so mußte er bald darauf umso schneller in seine kalten Regionen flüchten, denn der Lenz kam mit eiligen Schritten und starken Schaaren heran und siegte mit Sturmesgewalt über den hartnäckigen und hinterlistigen Feind. Blau und rein war der Himmel geworden, südliche Lüfte zogen schmeichelnd über das Land, aus dem eben noch erstarrten Boden keimte das frische duftige Leben und Flur und Wald hüllten sich in ihr liebliches, jungfräulich grünes Frühlingsgewand.

»Ja, nun kommt der Sommer mit Macht!« sagte am ersten Mai der Banquier Ebeling, als er den jungen Baumeister draußen in seinem nun bald fertigen Gartenhause traf, »und nun kann Ihr Onkel bald nach dem Gute seines Bruders aufbrechen und seine künftige Heimat in Augenschein nehmen. Gott sei Dank! mir wird es wie ein Stein vom Herzen fallen, wenn ich erst höre, daß er in den Wagen gestiegen ist.«

»Er ist noch nicht fort!« entgegnete Paul lächelnd.

»Nun, er wird doch aber seinen Vorsatz ausführen, wie? Es wäre ja unverantwortlich, wenn er sich durch seine mathematischen Aufgaben von einer so wichtigen Reise abhalten ließe! Aber freilich, ehe ein so gelehrter Herr sich zu einer Ortsveränderung entschließt, muß er erst mit spitzigen Stacheln von seinem Sitze aufgetrieben werden.«

Paul lächelte noch stärker als vorher. »Sie scheinen mir auch ziemlich fest zu sitzen, lieber Herr Ebeling,« sagte er dann.

»Ei, bei Gott, das ist ein Unterschied, lieber Bosch. Ich bin ein wohlhabender Mann, habe mein unangefochtenes Reich wohlgeordnet an Ort und Stelle und muß es regelrecht zu beherrschen und zu verwalten suchen – Ihr Onkel Casimir aber soll sich erst eins erobern, ehe er auf seinen Lorbeeren ruht. Finden Sie den Unterschied nicht heraus?«

»O gewiß. Aber ich glaube auch bestimmt, daß mein Onkel bald seinen Koffer packen wird –«

»Begnügen Sie sich nicht mit dem bloßen Glauben – schreiben Sie, schreiben Sie ihm und wenden Sie dabei einen kleinen Stachel an – mit einem Wort: stellen Sie Ihr Interesse in den Vordergrund –«

»Nein, das thue ich gewiß nicht – nun und nimmer!« sagte Paul entschieden. »Mein Interesse ist für den Augenblick nur ein untergeordnetes dabei und ich dränge mich eben so wenig zu einer Erbschaft, wie mein alter Onkel.«

»Na, das muß ich sagen, Sie sind ein seltsamer Mensch, Bosch, und haben alle Anlage – das scheint in der Familie zu stecken – auch so eine Art Sonderling zu werden, wie die beiden Brüder Ihres Vaters. Wir Leute vom Geschäft denken darüber anders. Na, nehmen Sie es nicht übel, und nun Gott befohlen! Kommen Sie heute ein paar Augenblicke zu Charlotte? Sie sind jetzt wahrhaftig selten zu haben und Ihre Besuche werden immer kürzer.«

»Freuen Sie sich doch lieber darüber,« scherzte Paul, der sich heute in überaus guter Laune befand; »es ist ein Zeichen, daß auch meine Geschäfte gut gehen.«

Die beiden Männer drückten einander die Hände und trennten sich. Als Paul zwei Stunden später nach Hause kam, um eine Viertelstunde zu ruhen, sah er einen ziemlich dicken Brief auf dem Tisch liegen. Rasch ergriff er ihn – die Adresse war von des Professors Hand – und als er ihn umdrehte, sah er das wohlbekannte Petschaft desselben, ein Dreieck mit einem Auge darin – in schwarzen Siegellack abgedrückt.«

Paul erschrak. Was war das? War Onkel Quentin etwa todt? Mit bebender Hand erbrach er den Brief, setzte sich an's Fenster und las folgende Schreiben, die allerdings von sehr großer Bedeutung waren und ihm klar machten, wie recht der Banquier Ebeling gehabt, wenn erwünschte, daß Onkel Casimir rasch in den Wagen steige.

Das erste Schreiben war von der Hand des Professors, und dieses las er zuerst, da ihm die Handschrift des zweiten fremd war. Der Brief des Onkels aber, der mit etwas bebender Hand geschrieben war, lautete folgendermaßen:

»Mein guter, lieber Paul! Gott hat es in seiner Allweisheit so gefügt und wir müssen es dankbar von ihm annehmen, wenn unser Herz auch darüber tief bekümmert ist. Ja, mein guter Junge, mein Bruder Quentin ist, was ich jetzt in der Nähe des Sommers am wenigsten befürchtete, plötzlich in einem Anfall seines alten Uebels gestorben und ich – ich bin der letzte Lebende der drei Brüder, die einst Amsterdam verließen, um in der Fremde ihrem Schicksal entgegenzugehen. O wie betrübt bin ich über diesen unerwarteten Hintritt meines ältesten Bruders! Ich habe ihn nicht mehr im Leben gesehen, es sollte nicht sein, obwohl ich es so lebhaft wünschte. Ach, er war ein Knabe von zwölf Jahren, als ich zum letzten Mal seine Hand faßte, und nun liegt er im Sarge und das lange Leben zwischen Damals und Heute hat Jeder von uns auf seine eigene Weise durchmessen! Weite Meere und Länder haben zwischen uns gelegen und doch sind wir nie so weit von einander entfernt gewesen wie jetzt, da Einer von uns noch auf der Erde wandelt, der Andere aber schon im Himmel ruht und selig ist. Friede seiner Asche und Gott wolle ihm ein gnädiger Richter sein! – – –

Nun aber, mein Lieber soll ich von anderen und irdischen Dingen sprechen, und das wird mir sehr schwer. Du magst es mir glauben. Ja, mein Bruder hat mich, wie er verheißen, zu seinem Universalerben eingesetzt und ich muß nun die ganze Last übernehmen, die ihm, dem Erfahreneren, schon so drückend auf den Schultern gelegen hat. O, das wäre nicht nöthig gewesen, das habe ich nie verlangt, nie gewünscht, denn ich war ja mit meinem Erdenglück zufrieden und habe keine Minute lang Mangel gelitten.

Ja, ja, mein Lieber, der Kelch ist nun an meine Lippen gehalten und ich muß ihn trinken. O, wie bitter schmeckt mir das! Ich bin genöthigt, mein stilles Asyl, das so lange meine Freude, meine Zuflucht gewesen, zu verlassen und mich in einen Strudel mir ganz unbekannter Verhältnisse zu stürzen. Ich liebte so sehr das Alte, Gewohnte Ruhige, und nun muß ich auf meine alten Tage noch mit dem Neuen, Ungewohnten, Unruhigen mich vertraut machen. Ich muß liebgewonnene Menschen verlassen und mich unter fremde begeben, was mir immer und überall so überaus lästig gewesen ist. Meine stille Wirksamkeit wird unterbrochen und ich muß noch einmal von vorn an ein ganz neues Element zu lernen beginnen. O, und meine liebe Wissenschaft, der soll ich Lebewohl sagen? Nein, nein, das kann ich nicht – ich nehme sie also mit mir und sie soll mir auch an einem fremden Orte meine Stunden, meine Tage, meine Jahre versüßen, wenn Gott in seiner Gnade mir noch Jahre geben will.

Doch nun genug der Klage! Man muß ja einmal sein, wozu Einen die Vorsehung gemacht hat, also ein Mann, und als solcher auch das sogenannte Glück ertragen lernen, wie Andere das Unglück ertragen müssen. Also zur Sache. Der Rentmeister Hummer, der mir beifolgenden Brief geschrieben, den Du lesen magst, da er so recht zu Gunsten des braven Mannes spricht, verlangt, daß ich schnell nach Betty's Ruh komme, um wo möglich noch der Schließung des Sarges meines Bruders beiwohnen zu können, denn in sein Grabmal beigesetzt ist er schon, wie er es wiederholt vor seinem Tode angeordnet hat. Deshalb schreibt er mir auch auf einem Beiblatt, welches ich aber leider verlegt habe und in meiner jetzigen Unruhe nicht gleich finden kann, wo Betty's Ruh liegt und wie ich reisen muß, um es auf dem kürzesten Wege zu erreichen. Aber mein Gott, das geht ja doch so rasch nicht, wenn ich es auch selber wollte. Ich muß mich ja erst von meinen hiesigen Verhältnissen und Verbindlichkeiten lösen, und das ist bei mir nicht in zwei Stunden abgemacht. Für's Erste werde ich ein Vierteljahr Urlaub nehmen und bin schon darum eingekommen. O, meine armen Studenten, wer wird ihnen, wenn ich fort bin, ihre Lectionen vortragen! Ich habe zwar nur drei, denn die kluge, logische Welt, wie sie jetzt einmal ist, will leider nur noch sehr wenig von der Mathematik und Arithmetik wissen. Gott erbarme sich und erleuchte die irre gehenden Menschen zu ihrem eigenen Besten! – Doch, ich wollte ja von meinem Reiseplan sprechen. Nimm es nicht übel, wenn dieser Brief etwas confus ist, aber mir wirbelt bald das Eine, bald das Andere im Kopfe herum. Doch das wird sich geben, wenn ich nur erst von hier fort bin und meine Bücher mich nicht mehr mit ihren herausfordernden Augen ansehen. Also: meine Wohnung behalte ich einstweilen bei, denn wer kann wissen, ob ich es in der Fremde ertrage. Meine verführerischen Bücher aber packe ich ein, damit sie mir mein Wirth, sobald ich sie gebrauche, nachsenden kann, Meine gute Dralling – o das ist noch ein Trost – nehme ich gleich mit, denn sie sorgt für mich wie eine Mutter und ohne sie wäre ich wie ein Kind, das nur mit den Armen und Beinen zappeln, aber sich nicht selbstständig bewegen kann. Doch, nimm das nicht wörtlich, mein Lieber. Ich wollte damit nur ihre Sorgfalt für mich ausdrücken, denn ich bin doch immer ich und weiß, was ich zu thun und zu lassen habe, auch ohne den alten Dragoner.

Wenn Du diesen Brief erhältst – er ist leider schon vor sechs Tagen begonnen, aber damals nur bis zu den drei Gedankenstrichen fertig geworden und so lange ist mein Bruder bereits todt – bin ich wahrscheinlich schon auf dem Wege nach dem Norden. Schreibe nicht eher an mich, als bis ich Dir meine genaue Adresse sende. Ob das bald geschieht, will ich nicht versprechen, denn wer weiß, wie viel Zeit ich gebrauche, um mich in mein neues Dasein zu finden und die Gemüthsruhe zu erreichen, die zum Briefschreiben stets erforderlich ist. Jedenfalls erhältst Du Nachricht von mir, wenn ich etwas Wichtiges zu melden habe, und falls ich so schnell sterben sollte wie mein Bruder – wer kann es wissen, das Beispiel steht vor unsern Augen! – so sorge nicht um Deine Erbschaft. Ich habe schon eine Schrift aufgesetzt, die ich, sobald ich an Ort und Stelle bin, den Gerichten übergebe, und darin bist Du als mein einziger Erbe bezeichnet.

Jetzt bin ich am Ende und nun will ich wieder, an das Einpacken meiner Bücher gehen. So lebe denn also wohl; mein, Junge, bis auf Wiedersehen! Bleibe Deinem alten Onkel treu wie er Dir – aber fasse Dich in Geduld, wenn ich nicht gleich in den nächsten acht Tagen schreibe. Ich kenne mich darin und darum beuge ich vor. Das ist eine Eigenschaft der Weisen und ich möchte in meiner Art auch zu ihnen gehören. Also noch einmal, lebe wohl und behalte lieb

Deinen Onkel Casimir.«

»Der gute Mann!« sagte Paul zu sich, als er den Brief weglegte und sich in seinen Stuhl nachdenklich zurücklehnte. »Er denkt fast nur an mich, und ich – ich sehe ihm darin etwas ähnlich, daß ich mich auch nicht nach dieser Erbschaft abjage, denn, mag sie so groß sein wie sie will – kann sie mir das Glück zurückbringen, welches ich verloren?«

Paul starrte in tiefe Gedanken versunken vor sich hin und es dauerte lange, ehe er das zweite Schreiben auseinander schlug. Als er aber sein Auge darauf gerichtet hatte, wurde er wieder aufmerksam, kehrte in die Gegenwart zurück und sagte, ehe er den rasch, aber deutlich und sogar schön geschriebenen Brief zu lesen begann:

»Ah, also jetzt soll ich auch die Bekanntschaft von Uscan Hummer machen! Nun, was schreibt denn dieses Non plus ultra von treuem Freund und Diener? Vorwärts, lesen wir seine Trauerkunde, denn die ist es ja, das habe ich schon aus den ersten Zeilen errathen.«

Und er setzte sich bequem auf seinem Stuhl zurecht und las folgende Worte:

 

»Betty's Ruh, den 24. April 185 ..

Morgens vier Uhr.

Sehr geehrter Herr Professor!

Entschuldigen Sie gütigst die Hast, mit der ich diese Zeilen auf das Papier werfe, allein mir beben die Hände wie das Herz, indem ich mich, nur der drängenden Nothwendigkeit folgend, dazu anschicke. Ich bin diese ganze Nacht nicht im Bette gewesen und mein Kopf brennt mir wie Feuer, denn alle meine Gedanken sind von dem großen Unglück, welches uns so plötzlich betroffen, dermaßen in Anspruch genommen, daß ich sie nur mit Mühe auf einen bestimmten Punct richten kann. Und doch muß ich gerade in meinem an Sie abgehenden Bericht ganz bestimmte Puncte im Auge haben.

O, Sie errathen gewiß schon aus diesen Zeilen, was ich Ihnen zu melden leider in der traurigen Lage bin. Ja, mein guter alter Herr, gestern noch so glücklich und zufrieden ist diese Nacht, oder vielmehr gestern Abend gegen neun Uhr unerwartet von einem Herzschlage betroffen und – in meinen Armen verschieden.

Doch erlauben Sie mir gütigst, daß ich die bei diesem Todesfall stattgefundenen Vorgänge etwas näher erwähne. Der gestrige Tag, der dreiundzwanzigste April, war ein Sonntag, und mein guter Herr sah es gern, wenn die Dienerschaft sich an Sonntagen außerhalb des Hauses bei Bekannten auf ihre Weise vergnügte. So geschah es auch gestern und nur wenige Diener hielten sich im Hause oder in der Nähe desselben auf, während viele Andere, so viel ich weiß, benachbarte Ortschaften aufgesucht hatten. Selbst das Personal der Küche war theilweise abwesend.

Gegen Abend erhob sich ein sturmartiger Wind von der See her und mein Herr ließ sich, wie dies immer bei schlechtem Weiter geschah, wärmer kleiden. Um acht Uhr, nachdem er gespeist und seinen Xeres getrunken, saßen wir, das heißt, mein Herr und ich, an seinem Schreibtisch und brachten, wie jeden Abend, die laufenden Rechnungen in Ordnung. Ich hatte auch einige Aufträge an einen unserer Banquiers entwerfen müssen und diese ging mein Herr mit mir genau durch, wie es seit Jahren seine Gewohnheit ist. Das große Geschäftsbuch, in welches täglich die Ausgaben eingetragen werden, lag vor ihm und er gab seine Zufriedenheit mit meinen Berichten und Schriften kund.

Ein Viertel nach acht Uhr stand er plötzlich ungewöhnlich hastig auf, that ein paar Schritte vor dem lodernden Kamin hin und her und äußerte dann den Wunsch, eine Partie Billard mit mir zu spielen. Das Billard steht in dem Saal, welchen er bewohnt, und so waren wir bald mit dem Spiel beschäftigt, da die Kerzen, wie jeden Abend, im ganzen Saale brannten. Die ersten Stöße seinerseits fielen sehr günstig aus und ich freute mich über seinen kräftigen Arm. Dabei sprach er Mancherlei in scherzhafter Weise mit mir und ließ namentlich seine Freude über den nun bald nahenden Sommer laut werden. Plötzlich hielt er mitten im Spiel inne, warf das Queue auf das Billard und stützte sich mit beiden Händen gegen den Rand desselben. Ein starker anhaltender Husten erschütterte seine Brust und alles Blut stieg ihm dabei in den Kopf. Ich sprang sogleich zu ihm hin und führte ihn nach einer Chaiselongue. Kaum hielt er sich noch auf den Füßen und fiel beinahe ohnmächtig auf den weichen Sitz. ›Hummer!‹ rief er schon mit röchelnder Stimme, ›ich sterbe, ich fühle es – es ist Alles vorbei und ich sehe meinen Bruder nicht mehr!‹

Das waren seine letzten Worte. Einen Augenblick darauf sank er zusammen und – war todt. Ich war dermaßen erschrocken über Alles, was ich so rasch sich vor meinen Augen entwickeln sah, daß ich kaum wußte, was ich zuerst thun sollte. Aber ich sammelte mich schnell, brachte meinen guten Herrn in eine liegende Lage und nun zog ich die Glocke mit solcher Gewalt, daß zu gleicher Zeit mehrere der im Schlosse anwesenden Diener hereinstürzten. Den einen ließ ich sogleich ein Pferd satteln und den Arzt aus dem nächsten Orte holen. Ich selbst aber begab mich daran, die aufgeschlagenen Rechnungsbücher einzuschließen und meine Briefschaften in einen Kasten des Schreibtisches zu legen. Allmälig kamen nun auch die andern Diener herbei und alle wollten den entschlafenen Herrn sehen. Dies gestattete ich ihnen, bis um elf oder zwölf Uhr der gerufene Arzt erschien und Herrn van der Bosch für todt erklärte, indem er sagte, er sei an einem Herzschlage gestorben, was er längst erwartet habe.

Jetzt erinnerte ich mich der Befehle, die mir mein Herr schon lange vorher für diesen Fall gegeben hatte. Er wollte auf der Stelle in den Kleidern, in welchen er gestorben war und ohne daß ein Mensch seinen Körper genauer besichtigte, in den Sarg gelegt werden, der schon seit Jahren für ihn in dem Grabgewölbe des Parks bereit stand. Hier, in dem Gewölbe, wollte er drei Tage lang mit offenem Sargdeckel liegen bleiben und nur ich allein sollte täglich zu vier verschiedenen Malen mich nach ihm umschauen, kein Anderer aber sollte das Gewölbe betreten, nachdem man ihn daselbst niedergelegt.

Ich wollte diesen Befehl sogleich ausführen, allein ich stieß auf unerwarteten Widerstand. Keiner der anwesenden Diener verstand sich dazu, zur Nachtzeit und bei dem stürmischen Regenwetter mit mir nach dem Gruftgewölbe zu gehen und den leicht tragbaren Einsatzsarg der innerhalb eines größeren von Zinn stand, zu holen, denn Sie müssen wissen, Herr Professor, daß die dummen Leute sich vor diesem Gewölbe fürchten, es auf alle Weise selbst bei Tage zu vermeiden suchen und der Meinung sind, daß ein bedenklicher Spuk darin umgehe. Nur der alte Gärtner, der die Blumen des Denkmals besorgt, theilt diesen Aberglauben nicht, er aber und ich, wir waren nicht stark genug, den Sarg zu holen und noch weniger, den gestorbenen Herrn durch den Park nach dem Gewölbe zu tragen.

So muß denn die Leiche in der von mir angeordneten Lage im Saale liegen bleiben, bis der Tag anbricht, und sobald dies geschehen, werde ich die Befehle meines verstorbenen Herrn ausführen und ihn an die Seite der im Gewölbe bereits ruhenden Jugendgeliebten betten.

Bis vor einer Stunde blieb ich allein als Wache bei der Leiche, der ich nur die kostbare Uhr und den Brillantring entnahm, die mein Herr trug, und in den Schreibtisch legte, wo Sie sie finden werden. In dieser langen Zeit hatte ich Muße genug, über meine jetzige Lage und die Pflichten nachzudenken, die ich zunächst erfüllen mußte. Und da faßte ich einen Entschluß, der allerdings von dem Wunsche, ja, von dem Befehle meines entschlafenen Herren abweicht, aber Sie, mein Herr Professor, werden gewiß den Schritt billigen, den ich zu meiner eigenen Beruhigung zu thun beschloß und wozu ich in der letzten Stunde, bevor ich diesen Brief zu schreiben begann, mich niedersetzte. Mein Herr hatte nämlich gewünscht, daß keine amtliche Versiegelung seiner Besitzthümer, das heißt der wichtigsten Zimmer, seines Geldschrankes und Schreibtisches stattfinden und daß ich allein dieselben unversehrt erhalten und über ihren Inhalt wachen sollte. Allein die Verantwortung, die ich damit auf mich nahm, erschien mir jetzt, da die wichtige Stunde gekommen war, zu groß zu sein, und so beschloß ich, um auch in diesem Fall ganz sicher zu gehen, an die nächste Behörde zu schreiben und sie in meinem Namen und zu meiner eigenen Beruhigung um die Versiegelung jener Zimmer, der beiden Schränke und verschiedener anderer Gegenstände zu ersuchen. Diesen Brief habe ich eben geschrieben und werde ihn mit Tagesanbruch an den Herrn Amtmann senden, damit er das Weitere veranlasse. Ich habe dazu schon alle Vorbereitungen getroffen, damit das traurige Geschäft bald abgemacht werde. Sämmtliche Schlüssel von allen inhaltreichen Schränken, Consolen und Truhen habe ich, nachdem ich sie fest verschlossen, gesammelt und in ein Fach des großen Schreibtisches gelegt. Das Inventarium des sämmtlichen Besitzes aber liegt, wie immer schon, im eisernen Schrank und eben so die verschiedenen Geschäftsbücher. Den Schlüssel zum Schreibtisch werde ich getreulich aufbewahren, da ja das Pult selbst versiegelt wird. Alles Uebrige lasse ich in demselben Zustande, in welchem es im Augenblick des Todes meines guten Herrn gewesen ist, und Sie werden also Alles so vorfinden, wie er es verlassen hat.

Wie mir mein Herr vor einigen Tagen noch im Vertrauen gesagt, so hat derselbe Ihnen, Herr Professor, noch vor ganz kurzer Zeit sehr genaue schriftliche Mittheilung über den Umfang seines Vermögens gemacht. Ich selbst brauche Ihnen also nichts mehr darüber zu sagen.«

Hier hatte der Professor an den Rand des Briefes geschrieben: »Das ist ein Irrthum. Mein Bruder hat mir keine Mittheilungen über sein Vermögen gemacht und ich weiß darüber nichts, als was mir zuerst der Rentmeister gesagt und später mein Bruder in dem Dir bekannten Briefe geschrieben hat.«

»Seinen letzten Willen,« lautete der Brief des Rentmeisters weiter, »hat er schon lange aufgesetzt und mich zum Vollstrecker desselben ernannt. Ich kenne die mir darin übertragene Pflicht ganz genau und werde Ihnen diesen seinen letzten Willen vorlegen, sobald Sie selbst den eisernen Schrank geöffnet haben werden, in welchem er aufbewahrt wird. Um aber auch in dieser Sache sicher zu gehen, habe ich den Verstorbenen gebeten, eine Abschrift desselben bei seinem Hauptbanquier, dem Hause Baring und Sohn im Hamburg, niederzulegen, und dort werden Sie, sobald Sie sich Herrn Baring als Erbe vorstellen, das Schriftstück erhalten, um es später mit dem im Schranke liegenden vergleichen zu können.

Ob Sie in dem Augenblick schon hier sein werden, wo nach genauer Bestimmung des Verstorbenen sein Sarg geschlossen werden soll, weiß ich nicht und glaube es kaum, da die Reise hierher nicht so schnell von Statten geht. Mein innigster Wunsch und meine herzlichste Bitte aber gehen dahin, daß Sie sich so viel wie möglich beeilen, um recht bald hier einzutreffen, mich aus meiner Art Gefangenschaft zu erlösen und mir die Verantwortung abzunehmen, die trotz der Versiegelung noch immer sehr schwer auf meinen Schultern liegt. Denn außer den genannten zu versiegelnden Stücken ist noch Vielerlei in anderen Zimmern vorhanden, was mir nicht allein werthvoll, sondern sogar kostbar erscheint, und ich werde nicht eher Ruhe haben, als bis Sie gekommen sind und mich aus der peinlichen und ungewohnten Lage befreit haben, in der ich mich bis zu Ihrer Ankunft befinde. Denn nur mit dem Augenblick Ihres persönlichen Erscheinens hierselbst tritt Alles wieder in die gehörige alte Ordnung. Sorgen Sie aber ja für Sie hinreichend legitimirende Papiere, die Ihre Abstammung von Jan van der Bosch in Amsterdam und Ihre nahe Verwandtschaft mit meinem verstorbenen Herrn beweisen, damit die Behörden, die in diesem Punct sehr gewissenhaft zu Werke gehen müssen, Ihnen keine Unbequemlichkeiten bereiten.

In allem Uebrigen verlassen Sie sich auf mich. Ich werde dafür sorgen, daß Alles in dem Zustand verbleibe, wie es bisher war, im Hause und im Garten, im Park und in dem, meinem guten Herrn so theuren Grabgewölbe, und ich werde mich dieser meiner Pflicht mit demselben Eifer und derselben Hingebung unterziehen, wie ich es bis heute gethan habe.

Wie schmerzlich ich betroffen bin, einen so guten Herrn verloren zu haben, der mir so viele Beweise seiner Güte und Achtung, seiner Neigung und seines Vertrauens gegeben, brauche ich Ihnen wohl nicht mehr anzudeuten; nichtsdestoweniger aber wünsche ich Ihnen von Herzen Glück zum Antritt eines Besitzes, der eigenthümlich und reich genug in seiner Art ist, um selbst einen hoch- und weitstrebenden Sinn befriedigen zu können. Ob das baare Vermögen des Verstorbenen indessen seinem übrigen Besitz entspricht, bin ich nicht im Stande zu ermessen, da mir davon alle genauere Kunde abgeht, wie ich Ihnen ja schon mündlich gesagt habe, als ich die Ehre hatte, als Abgesandter Ihres Herrn Bruders vor Ihre Person zu treten. Augenblicklich aber bleibt mir nichts übrig, als Ihnen mich gehorsamst und dienstergebenst zu empfehlen und Ihnen noch einmal die dringende Bitte an's Herz zu legen, recht sehr zu eilen, um bald möglichst an Ort und Stelle zu sein. Und somit habe ich die Ehre, mit der größten Hochachtung und Ergebenheit mich zu unterzeichnen als

Ihr gehorsamster Diener Uscan Hummer.«

Auch an dieser Stelle hatte der Professor eine Randbemerkung hinzugefügt, welche lautete:

»Ich habe dem guten Mann auf der Stelle geschrieben, daß er mich nicht schon in den nächsten Tagen, am wenigsten zur Beerdigung meines Bruders zu erwarten habe. Ich werde eilen, so viel ich kann, aber selbst die Unruhe muß man mit möglichster Ruhe beginnen und so habe ich ihm Geduld empfohlen.«

Aus der Ruhe, der Paul sich an diesem Tage auf kurze Zeit hatte hingeben wollen, wurde nach Lesung dieser bedeutsamen Briefe natürlich nichts; seine augenblickliche Müdigkeit war vollständig geschwunden und sein Geist so lebhaft beschäftigt, wie lange nicht. Er saß noch einige Zeit auf demselben Platz am Fenster, las einige ihm besonders aufgefallene Stellen des letzten Briefes wiederholt und dachte eifrig über die neuen Verhältnisse nach, in welche sein guter Onkel durch das so plötzliche Ableben seines älteren Bruders gerathen war. Das Vermögen des Verstorbenen schien nach einigen Andeutungen in dem Schreiben des Rentmeisters größer, viel größer zu sein, als er es sich bisher vorgestellt, aber in den nur oberflächlich geschilderten Verhältnissen war ihm noch Manches dunkel geblieben und das vermochte er sich für jetzt auf keine Weise zu lichten. Freude, große Freude, wie sie wohl die meisten Menschen empfunden haben würden, nachdem ihnen eine so schöne Erbschaft in Aussicht getreten, empfand er bis zu diesem Augenblick noch nicht, denn es war irgend ein unbekanntes Hemmniß in ihm vorhanden, welches diese Freude noch nicht zum Durchbruch kommen ließ, und selbst wenn einmal auf kurze Zeit ein froheres Gefühl in ihm aufflammen wollte, so fiel immer wieder gleich ein kalter Schatten, wie von einem unsichtbaren Gegenstande geworfen, darüber hin und das kleine Licht, das in ihm aufgegangen, war auf der Stelle wieder erloschen.

Endlich jedoch glaubte er sich genug mit sich beschäftigt zu haben, und begierig, zu erfahren, was seine vertrauten Freunde zu diesen Briefen sagen würden, zu denen ihn ja schon seit langer Zeit in den Crisen seines Lebens eine liebgewordene Gewohnheit, ein stiller Herzenszug trieb, ging er zu der Stunde nach dem Hause des Banquiers hinüber, wo, wie er wußte, die Familie eben vom Tisch ausgestanden sein mußte.

Er hatte gerade den richtigen Augenblick getroffen; die drei Familienglieder wollten sich jedes in sein Zimmer begeben, um ebenfalls ein wenig zu ruhen, als Paul mit der Meldung des Geschehenen unter sie trat. Da war denn auch hier die Ruhe vergessen und alsobald verfügte man sich nach Frau Ebeling's Zimmer, wo ja von jeher die wichtigsten Familienberathungen stattgefunden hatten.

Hier las nun Paul zuerst den Brief seines Onkels Casimir vor und er hatte ganz richtig vermuthet, daß derselbe mit Verwunderung, ja, mit Staunen angehört werden würde.

»Mein Gott,« sagte der Banquier, als Paul geendet, »man sollte wahrhaftig meinen, den Professor habe ein großes Unglück betroffen, so kläglich geberdet sich der Mann. Das ist der erste Erbe, der mir in meinem Leben begegnet, der ein solches ihm zu Theil gewordenes Glück mit so lauten Klagen begrüßt. Aber es war ja kaum anders zu erwarten. Für einen Gelehrten, wie dieser Mann es nach Allem ist, was ich von ihm erfahren, existirt die äußere Weit nicht wie für uns, in seinem Gehirn allein wickeln sich die wichtigsten Ereignisse derselben ab. Nun, ich will ihm nicht verdenken, daß er in seiner Art glücklich ist und dies Glück sich bewahren möchte, wir aber, wir wollen Ihnen wenigstens jetzt unsere Glückwünsche zum Antritt einer so schönen Erbschaft darbringen –«

»Bitte, mein lieber Freund,« unterbrach ihn Paul, »Sie haben das schon so oft gethan, daß ich ganz bestimmt weiß, wie gut Sie es mit mir meinen und wie Sie sich freuen, wenn mir etwas Angenehmes begegnet; allein, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen erst den Brief des Rentmeisters vorlese, der meinem Onkel das Ableben seines Herrn anzeigt.«

»Ja, da haben Sie Recht und nun lesen Sie geschwind.«

Paul begann den zweiten Brief vorzulesen und Alle hörten ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu. Als er aber damit fertig war, blieben sie sämmtlich in tiefes Schweigen versunken sitzen und erst nach Paul's Aufforderung, ihre Meinung darüber auszusprechen, sagte der Banquier:

»Nein, fürwahr, das ist kein übles Schreiben und ich wüßte nicht, was ich daran auszusetzen haben sollte. Auch daß der Mann in allen Dingen sicher gehen will, kann ich ihm nicht verdenken. Er trägt wirklich eine große Verantwortung auf seinen Schultern, das muß man ihm zugestehen. Die Vorgänge bei und nach dem Tode schildert er übrigens kurz und geschickt und ich glaube ganz bestimmt, daß Alles sich wirklich so zugetragen hat.«

»Es ist mir sehr lieb, daß Sie das sagen,« erwiderte Paul mit einem kaum merkbaren Lächeln. »An der Wahrheit des Gesagten habe auch ich noch keinen Augenblick gezweifelt. Und doch liegt für mich irgend etwas Dunkles, Geheimnißvolles zwischen den Zeilen, was ich nicht verstehe und nicht ergründen kann.«

»Ah, das mag wohl sein, lieber Freund, das ist die Seltsamkeit, die in dem Hause und den Gewohnheiten des Verstorbenen bis zu seinem Ende an der Tagesordnung gewesen ist. In der That, der selige Herr muß ein großer Sonderling gewesen sein. Die Hast, die ihn trieb, an die Seite seiner Jugendgeliebten zu kommen, ist höchst merkwürdig und characteristisch, aber sie weckt meine Theilnahme für ihn im höchsten Grade. Das ist wirklich eine Liebe bis über das Grab hinaus, wie man ihr nur selten auf dieser Erde begegnet. Uebrigens scheint mir sein Vermögen, nach seinen Gewohnheiten und seinem Haushalt zu schließen, noch bedeutender als früher. Aber halt – wie mag es mit dem bewußten ›Büchelchen‹ stehen? Davon sagt der Brief kein Wort und Ihr Onkel weiß auch nichts davon, wie?«

»Nein, wie sollte er etwas wissen? Es liegt gewiß auch in dem eisernen Schrank, wie die anderen wichtigen Papiere, und wenn es nicht darin liegt –«

Hier lachte Fritz laut auf, so daß ihn Alle verwundert ansahen. »Nun, was lachst Du denn?« fragte ihn seine Mutter.

»Ich muß über Paul's Scharfsinn lachen und Ihr dürft mir das nicht übel nehmen,« sagte Fritz mit noch immer heiterer Miene. »Nein, wenn das bewußte Büchelchen nicht im Geldschrank liegt – dann liegt es sicher wo anders – das ist gewiß – haha!«

»Hm!« sagte der Banquier nachdenklich, »Das ist allerdings der wichtigste Punct. Doch wir können ja jetzt noch nicht darüber urtheilen. Der Professor muß erst an Ort und Stelle sein und die Erbschaft übernommen haben. Freilich wäre es mir lieber, wenn er sofort abgereist wäre, aber er hat auch wieder Recht, wenn er seine Obliegenheiten erst zu Hause abwickeln will. Stacheln kann man ihn leider nicht mehr, da er ohne Zweifel schon unterwegs ist. Eigentlich sollten Sie Ihren Onkel auf dieser Reise begleiten, lieber Bosch. Das wäre das Beste und Sicherste, – meint Ihr nicht auch?« wandte er sich zu seiner Frau und Fritz, die Beide schwiegen, da sie in dem Augenblick den Gedanken nicht fassen konnten, sich so schnell von Paul trennen zu müssen.

»Um Entschuldigung,« nahm nun dieser das Wort, »das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein? Ich bin ja von meinem Onkel nicht dazu aufgefordert worden und es würde aufdringlich und habgierig erscheinen wenn ich mich zum Reisebegleiter anbieten wollte. Nein, dagegen sträubt sich mein ganzes Gefühl. Wenn er meiner zu bedürfen glaubt, wird er es mich schon wissen lassen und dann allerdings würde die Pflicht mich zu ihm führen. Ueberdies, mein lieber Freund, wäre es auch für mich nicht leicht, mich jetzt von diesem Orte zu trennen. Bedenken Sie meine Lage und was für Pflichten und Arbeiten ich auf mich genommen habe. Ich bin eben erst in eine neue Laufbahn eingetreten – sie verheißt mir den besten Erfolg für meine ganze Zukunft – und ich sollte sie sogleich wieder aufgeben, ohne dazu genöthigt zu sein?«

»Sie haben Recht,« sagte Frau Ebeling, »ja, Sie haben sehr Recht. Nein, Sie müssen noch hier bleiben, bis der Onkel nach Ihnen verlangt.«

»Das ist freilich wahr,« fuhr ihr Mann fort, »und ich habe vielleicht bei jenem Vorschlage nur an Ihre Zukunft gedacht, während Sie doch auch in der Gegenwart leben – nun, was sinnst Du, Fritz?«

Fritz war während dieses Gesprächs nachdenklich im Zimmer auf und abgegangen. »Was ich sinne?« fragte er, wieder näher tretend. »O, ich ärgere mich über den Professor! Daß der gute Mann auch so zerstreut ist, sogar den Zettel zu verlegen, der ihm das Ziel seiner Reise und den nächsten Weg dahin angiebt! Betty's Ruh, Betty's Ruh! O über die miserablen Karten! Aber wie« – rief er plötzlich, indem er sich an seinen Vater wandte, »wäre es jetzt nicht endlich rathsam, an Baring und Sohn zu schreiben, um von dorther zu erfahren, wo das Gut des verstorbenen Quentin van der Bosch liegt?«

»Ha, ja! Der Gedanke ist gut,« sagte der Vater. »Darüber giebt Baring uns jetzt gewiß Auskunft. Aber halt, diesmal werde ich selbst an ihn schreiben und ihm meinen Wunsch so eindringlich an's Herz legen, daß er mir antworten muß, wenn ihm der Mund nicht noch immer gebunden ist.« –

Man trennte sich. Paul ging an seine Arbeiten auf verschiedenen Bauplätzen und der Banquier und Fritz verfügten sich in's Comptoir, wo Ersterer sogleich Platz nahm, um seinem alten Freund die Bitte vorzutragen, ihm, wenn er es jetzt dürfe, umgehend mitzutheilen, wo das Gut Betty's Ruh liege, da er an dem Erben des verstorbenen alten Holländers Quentin van der Bosch den wärmsten Antheil nähme.

Die Antwort des pünctlichen Geschäftsfreundes in Hamburg ließ kaum drei Tage auf sich warten und kam eines Morgens so früh an, daß Paul noch zu Hause war und, ehe noch der Brief erbrochen, zu dem Banquier beschieden werden konnte. Auch Frau Ebeling, durch ihren Mann sogleich in Kenntniß gesetzt, daß man wieder etwas Neues erfahren würde, hatte sich schon bereit gemacht, Paul van der Bosch bei sich zu empfangen, und so sah dieser, als er eilfertig in's Zimmer trat, sich wieder den drei Personen gegenüber, denen er treulich die beiden Briefe vorgetragen hatte.

»Na,« begann der Banquier Ebeling, »da sind wir ja wieder beisammen. Gut. Sehen Sie, lieber Bosch, ich habe meine Neugierde bezwingen können und den Brief bis jetzt noch nicht erbrochen. Nun soll es aber geschehen, und da – hören wir jetzt, was der alte Knabe schreibt, denn er selbst hat den Brief verfaßt, das sehe ich schon an der Adresse. Heda, Fritz, hast Du Deine neue Specialkarte vom Hamburger Gebiet bei der Hand?«

»Nein, aber ich werde sie sogleich holen.«

In zwei Minuten war er wieder da und nun begann der Vater ohne Weiteres den Brief laut vorzulesen, von dem er die ersten Zeilen schon neugierig überflogen hatte.

Herr Baring der Aeltere hatte sich diesmal nicht eben kurz gefaßt, obgleich der bei Weitem größere Theil des langen Schreibens sich auf ganz andere Dinge als die von Herrn Ebeling angeregten bezog. Er ging darin bis auf die ersten Zeiten ihrer Bekanntschaft zurück und bedauerte dabei von ganzem Herzen, daß die beiden Männer sich so lange nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hätten. Endlich, als ob das nur Nebensache wäre, kam er auf die Bitte seines Freundes, und da lautete denn der Schluß seines Briefes folgendermaßen:

»Also der alte Quentin van der Bosch hat mir das Vergnügen verschafft, einmal wieder Deine liebe Handschrift zu sehen? Nun ja, ich erinnere mich, daß Du schon vor Jahren Deinen schlauen Jungen beauftragt hattest, nach dem sonderbaren Alten bei mir zu forschen. Haha! Aber er brachte nicht viel aus mir heraus, denke ich, he? Nun ja, ich durfte ja damals noch nicht über diese Verhältnisse reden und Du wirst mir das gewiß nicht verdacht haben. Es handelte sich ja dabei um das Geschäft und, bei Gott! dies Geschäft war kein übles. Heute aber bin ich nicht mehr genöthigt zu schweigen, der Tod hat mir das Siegel von den Lippen genommen und ich bin meines Versprechens, welches ich dem alten van der Bosch mit Hand und Mund geloben mußte, entbunden. Uebrigens kann ich Dir mittheilen, daß gestern erst sein Erbe, der Professor van der Bosch, bei mir gewesen ist und sich auch meinen ferneren Rath und Beistand in Geldangelegenheiten ausgebeten hat. Nun natürlich, den soll er haben wie sein Bruder. Dieser van der Bosch aber gefällt mir ungleich besser als der verstorbene griesgrämige und gelb wie eine Quitte aussehende Batavier. Er ist ein prächtiger und würdiger alter Herr, spricht so klar und rein wie ein Buch und ich habe eine wahrhafte Freude an seiner Unterhaltung gehabt und nur bedauert, daß sein Besuch so kurz sein konnte, da er sich beeilte, nach Betty's Ruh zu kommen. Indessen will er mich bald auf längere Zeit besuchen und er soll mir jederzeit willkommen sein.«

»Ah,« sagte der Banquier Ebeling, von dem Brief aufsehend und Paul zunickend, »es ist gut, daß wir das beiläufig erfahren. Nun ist mir wahrhaftig ein Stein vom Herzen genommen. Also Ihr Onkel ist bereits in seinem neuen Besitz und er hat meinen alten Baring besucht. So, nun ist er in guten Händen und wir brauchen keine Sorge mehr um ihn zu haben. Baring wird ihm schon die rechten Wege weisen und ich werde ihm bei Gelegenheit wieder schreiben, daß er sich des Mannes wie eines alten Freundes von mir annehmen soll, obgleich ich ihn ja nie mit Augen gesehen habe.«

Paul sprach seinen Dank für diese Freundlichkeit aus, der Banquier aber hörte kaum auf ihn und hatte seine Augen schon wieder auf den Brief gerichtet. »Aha!« sagte er, »nun kommt's, gebet Acht!«

»Was nun die Lage des Gutes betrifft,« las er weiter, »die Du von mir bezeichnet haben willst, so liegt Betty's Ruh im Amte Ritzebüttel, eine gute Stunde von Cuxhafen entfernt, hart an der hannoverschen Gränze –«

»Ritzebüttel!« rief Fritz voller Erstaunen, »wer hat an das Amt Ritzebüttel gedacht, welches freilich zum Hamburger Gebiet gehört! Da hätte ich lange in der Umgegend der Seestadt suchen können, das weit davon entfernte Amt ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Wartet nur einen Augenblick – hier habe ich es schon!« rief er, die neuste Specialkarte auf einem Tisch am Fenster ausbreitend. »Ah, wahrhaftig, die Karte ist doch gut – da liegt es ja – Betty's Ruh, dicht an der Gränze von Hannover und – bei Gott! – aber das ist seltsam – und hier liegt Wollkendorf. Beide können kaum zwei Stunden von einander entfernt sein. Nun, bei meiner Seele, wenn das Schicksal hier keine Rolle spielt, so weiß ich es nicht. Was sagst Du nun, Paul, steigt das Erbe Deines Onkels nicht mit einem Male etwas in Deinen Augen, da er ein so naher Nachbar von unsrer guten Betty geworden ist?«

Er und sein Vater sahen Paul bei dieser unvermutheten Aufklärung lächelnd an und vergaßen ganz und gar Frau Ebeling dabei, die nicht am wenigsten betroffen schien. Paul selbst jedoch war, ganz gegen seine Gewohnheit, dunkelroth geworden und, trotzdem er sich die größte Mühe gab, seine Ueberraschung zu verbergen, las man doch auf seinen sprechenden Zügen, wie tief er von der wunderbaren Fügung dieser Verhältnisse ergriffen war.

»Allerdings,« brachte er endlich mühsam hervor, »das ist seltsam. Zeigt mir doch einmal die Karte her – ja, da liegt Betty's Ruh und –«

»Hier Wollkendorf!« ergänzte Fritz die fehlende Rede seines Freundes, indem er die Spitze seines Taschenmessers auf den betreffenden Punkt in Hannover setzte.

Paul starrte in stummer Verwirrung auf die beiden Puncte, als könnte er noch etwas ganz Anderes darauf wahrnehmen, als zu sehen war. Frau Ebeling aber war unterdessen lautlos aus dem Zimmer entwichen und als sie nach einigen Minuten wieder hereinkam, nahm Paul eben seinen Hut, um sich zu empfehlen.

Die edle Frau schaute ihm freundlich und vorsichtig forschend in das wieder ruhiger gewordene Gesicht und reichte ihm die Hand. »Nun wissen wir ja schon wieder mehr als wir gestern wußten,« sagte sie. »Sehen Sie, man muß nur Geduld haben.« Und sich ihm vertraulich nähernd, flüsterte sie ihm so leise zu, daß die Andern es nicht hören konnten: »Wie heißt doch der letzte Vers des schönen Spruches, den Ihre gute Mutter Ihnen als Erbstück hinterlassen hat, wie?«

Paul lächelte und legte einen Finger auf den Mund. »Den habe ich schon lange vergessen,« sagte er halblaut, »und nur die drei anderen habe ich auswendig behalten.«

Sie nickte ihm herzlich lächelnd zu und rief ihm nach, als er schon unter der Thür stand: »So frischen Sie Ihr Gedächtniß auf oder fangen Sie den vierten noch einmal von Neuem zu lernen an. Möglicherweise kommt doch noch die Zeit, wo Sie die drei anderen vergessen und nur den letzten behalten haben.«

Paul schüttelte den lockigen Kopf mit einem wehmüthigen Blick und einem Wink, der ihr Schweigen auferlegte. »Nein, nein,« sagte er, indem er sich schon zum Gehen wandte, » die Zeit kommt nicht mehr für mich. Aber Ihnen zu Gefallen will ich den Vers von Neuem zu lernen versuchen, damit ich ihn weiß, wenn Sie mich wieder überhören wollen.« –


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