Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Die Ahnen

In der letzten Hälfte des Juli 1870 empfing ich die unerwartete Aufforderung, nach dem Hauptquartier des Kronprinzen zu kommen und bei der dritten Armee während des Feldzuges gegen Frankreich zu verweilen. Dankbar für das hohe Wohlwollen, welches diesen Antrag veranlaßt hatte, traf ich kurz vor dem Einmarsch zu Speier bei der Armee ein. Mit dem Hauptquartier zog ich in der Wetterwolke, welche durch Frankreich dahinfuhr, über Weißenburg, Wörth und über die Vogesen nach Sedan, von da bis nach Reims. So verlebte ich den ersten Abschnitt des Krieges unter den denkbar günstigsten Verhältnissen, um selbst zu sehen und durchzufühlen, was in jenen Wochen für Deutschland erkämpft wurde. Als die Heere sich zur Belagerung von Paris südwärts wandten, die Soldaten immer noch in der Hoffnung auf baldige Heimkehr, erbat ich meine Entlassung, weil es mir unrecht schien, in einer Zeit, wo die Kraft der andern in höchster Anspannung war, ein müßiger Zuschauer zu bleiben, und weil auch die Tätigkeit eines Berichterstatters durch persönliche Beziehungen, welche Zurückhaltung auferlegten, verhindert wurde. Mit dem Feldjäger reiste ich von Reims Tag und Nacht durch das feindliche Land nach der Heimat zurück. – Was ich in dieser Zeit gesehen und erlebt, davon wird einiges an anderer Stelle gedruckt werden. Es fehlt nicht an guten Schilderungen, und das Wenige, was ich etwa vor anderen erfuhr, gehört noch nicht in die Oeffentlichkeit. Aber die mächtigen Eindrücke jener Wochen arbeiteten in der Seele fort; schon während ich auf den Landstraßen Frankreichs im Gedränge der Männer, Rosse und Fuhrwerke einherzog, waren mir immer wieder die Einbrüche unserer germanischen Vorfahren in das römische Gallien eingefallen, ich sah sie auf Flößen und Holzschilden über die Ströme schwimmen, hörte hinter dem Hurra meiner Landsleute vom fünften und elften Korps das Harageschrei der alten Franken und Alemannen, ich verglich die deutsche Weise mit der fremden und überdachte, wie die deutschen Kriegsherren und ihre Heere sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben bis zu der nationalen Einrichtung unseres Kriegswesens, dem größten und eigentümlichsten Gebilde des modernen Staates. – Aus solchen Träumen und aus einem gewissen historischen Stil, welcher meiner Erfindung durch die Erlebnisse von 1870 gekommen war, entstand allmählich die Idee zu dem Roman »Die Ahnen«. Der erste, dem ich, gegen Gewohnheit, von der Absicht erzählte, einen solchen Roman zu schreiben, war unser Kronprinz, als er zu Ligny leidend auf dem Feldbette lag und in seiner rührenden Weise von der Sehnsucht nach den Lieben daheim gesprochen hatte.

Die Erzählungen, in denen ich nach der Heimkehr das Leben desselben Geschlechtes von der Heidenzeit bis in unser Jahrhundert zu behandeln unternahm, sind: 1. Ingo, 2. Ingraban (zusammen gedruckt 1872), 3. Das Nest der Zaunkönige (gedr. 1873), 4. Die Brüder vom deutschen Hause (gedr. 1874), 5. Marcus König (gedr. 1876), 6. Der Rittmeister von Alt-Rosen, 7. Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht (beide zusammen unter dem Titel »Die Geschwister« gedr. 1878), 8. Aus einer kleinen Stadt und Schluß (gedr. 1880). So verteilte sich mir die Arbeit auf acht Jahre, und es mag sich wohl Ebbe und Flut der Gestaltungskraft in diesem unbillig langen Zeitraum erkennen lassen, welcher durch ein Werk in Anspruch genommen wurde. Denn ich selbst bin in dieser Zeit nicht derselbe geblieben und auch durch Krankheit im Hause und durch eigenes Leiden beeinflußt worden. Doch darf ich sagen, daß mir in den Stunden des Schaffens die Freude an der Arbeit unvermindert bestand. Viel half dazu die dauerhafte Freundschaft, welche die Leser dem Unternehmen bewahrten. Die Ahnen haben seit dem Erscheinen der ersten Bände den größten Erfolg gehabt, welchen der Verleger an meinen Büchern zu verzeichnen hatte, und dies gute Zutrauen ist ihnen bis zur Gegenwart geblieben.

Der Zusatz »Roman« hinter dem Gesamttitel »Die Ahnen« bedarf vorab einer kleinen Entschuldigung. Er wurde nur gewählt, um den Buchhändlern und Lesern die Gattung zu bezeichnen, welcher das Werk angehört; er steht in der Einzahl, weil die Mehrzahl »Romane« dem Verfasser vor dem ersten Band nicht gefiel. Die einzelnen Geschichten aber sind, auch wenn ihr Umfang mäßig ist, nach Inhalt und Farbe keine Novellen.

Durch wohlwollende Freunde des Werkes wurde dem Verfasser schon nach Erscheinen des ersten Bandes der Wunsch ausgesprochen, daß er in einem erklärenden Kommentar über die Gegend, in welcher die Geschichte abspielt, über Fremdartiges in Sitten und Gebräuchen berichten möchte. Mit zureichendem Grunde widerstand er diesem Begehren.

Bei einem Werk, welches freie und moderne Dichtung sein soll, sind geographische, historische und antiquarische Erklärungen, die aus dem Reiche freier Erfindung in Zustände des wirklichen Lebens hinüberführen, immer vom Uebel. Die Wißbegierde des Lesers wird in diesem Falle zur Neugierde herabgedrückt, das Hinweisen auf Gebiete unseres gelehrten Wissens beeinträchtigt die gehobene Stimmung, welche hervorgerufen werden soll. Deshalb bin ich dem Grundsatz treu geblieben, jede solche Art von Empfehlung und Entschuldigung zu vermeiden und die Kritik ihr Amt üben zu lassen, wenn sie auch nach den ersten Bänden die Besorgnis nicht fern hielt, daß es bei diesen Erzählungen zuletzt auf Verherrlichung eines noch lebenden Fürstengeschlechtes abgesehen sei, nach dem letzten Bande sich sogar zur Ansicht neigte, daß ich mir selbst eine Ahnengeschichte erdichtet habe.

Jetzt aber, nach Jahr und Tag, wo die Urteile über die ganze Arbeit gesprochen und sämtliche Erzählungen zur Genüge bekannt sind, werden einige Mitteilungen über den Plan wenigstens nicht den Eindruck machen, daß ich eine Rechtfertigung und Empfehlung meines Unternehmens beabsichtige. Sie vermögen freilich wenig anderes zu bringen, als was ein Leser, der die ganze Reihe der Geschichten bewältigt hat, sich selbst sagen kann.

Die historische Bildung, welche seit der Herrschaft der lateinischen Schule dem Deutschen zu seinem Segen und Verlust wohl reichlicher zuteil geworden ist, als den übrigen Kulturvölkern, hat ihm nahegelegt, das Verhältnis des einzelnen Menschen zu seinem Volke, die Einwirkungen der Gesamtheit auf den einzelnen und das, was jeder einzelne durch seine Lebensarbeit der Gesamtheit abgibt, mit einer gewissen Vorliebe ins Auge zu fassen. Wir sind gewöhnt, das Eigentümliche jeder Zeit in Tracht, Lebensgewohnheit und Sitte, in der Tätigkeit, ja in dem gesamten Schicksal vergangener Menschen zu suchen, und wir verlangen bei allen frei erfundenen Darstellungen eine reichliche Zugabe von dem, was uns als Besonderheit der Zeit erscheint. Solchen Anforderungen zu entsprechen, war ich durch den ganzen Zug meiner geistigen Entwicklung einigermaßen vorbereitet und hatte nicht nötig, durch weitschichtige Vorarbeiten das Fremdartige mir deutlich zu machen.

Aber der Plan, Lebensschicksale vergangener Menschen dichterisch zu behandeln, erhielt dem Verfasser der »Bilder aus deutscher Vergangenheit« sofort einen besonderen, immerhin gewagten Zusatz.

Der Zusammenhang des Menschen, nicht nur mit seinen Zeitgenossen, auch mit seinen Vorfahren, und die geheimnisvolle Einwirkung derselben auf seine Seele und seinen Leib auf alle Aeußerungen seiner Lebenskraft und auf sein Schicksal waren mir seit meiner Jugend besonders bedeutsam erschienen. Daß solche Abhängigkeit besteht, sehen wir überall, wenn wir in den Kindern die Gesichtszüge, Gemütsanlagen, Vorzüge und Schwächen der Eltern und Großeltern erkennen. Allerdings vermag die Wissenschaft mit diesen unaufhörlichen zahllosen Variationen früheren Lebens nicht viel zu machen. In Ehrfurcht vor dem Unberechenbaren muß sie sich versagen, dies Rätsel des irdischen Werdens zu lösen. Aber was sich der Einsicht des Gelehrten entzieht, darf vielleicht der Dichter anrühren, auch er mit Scheu und Vorsicht. Und wenn er lebhafter empfindet als andere, wie jeder Mensch in dem Zusammenwirken seiner Ahnen und seines Volkes und wieder des Erwerbes, den ihm das eigene Leben gibt, etwas Neues darstellt, das ebenso noch nicht da war, so mag er auch Entschuldigung finden, wenn er trotz alledem zu dem Glauben neigt, daß im letzten Grunde der Vorfahr in dem Enkel wieder lebendig wird.

Solche Betrachtungen legten den Gedanken nahe, eine Reihe Erzählungen aus der Geschichte eines und desselben Geschlechts zu schreiben. Dies war allerdings nur in der Weise möglich, daß eine sehr beschränkte Anzahl von Individuen aus verschiedenen Zeiten vorgeführt wurde, in denen gewisse gemeinsame Charakterzüge und eine zum Teil dadurch bedingte Gleichförmigkeit des Schicksals erkennbar waren. Da aber die Kunst der Poesie nur vermag, einzelne Menschen darzustellen, in dem beständigen Gegenspiel ihres eigenen Willens und des Einflusses ihrer Umgebung und Zeit, so verstand sich von selbst, daß jeder Held seine eigene Erzählung erhalten mußte und daß innerhalb dieser Erzählung jener geheimnisvolle Zusammenhang mit der Vergangenheit keine andere, als eine menschlicher Erkenntnis leicht verständliche Berücksichtigung finden durfte.

Wer freilich in zwei oder drei Erzählungen das Geschick weniger, aufeinander folgender Geschlechter, etwa vom Großvater bis zum Enkel, berichten wollte, dem wird leichter möglich, die Einwirkung einer Generation auf die folgenden, die Aehnlichkeit in den Charakteren und die Besonderheit, welche jede Zeit ihren Angehörigen mitteilt, verständlich und mit dichterischer Anschaulichkeit zu schildern, er vermag Licht und Schatten, Segen und Fluch, welche durch Leben und Charakter der Vorfahren in das Schicksal der Nachkommen gebracht werden, höchst wirkungsvoll und mit poetischer Schönheit vorzuführen. Denn wir alle sind gewöhnt, in der Wirklichkeit neben dem eignen Erwerb des Menschen solche Abhängigkeit von der nächsten Vergangenheit anzunehmen. Der größte Teil dieses Vorteils geht dem Schreibenden verloren, wenn er Individuen desselben Geschlechtes, welche durch Jahrhunderte voneinander getrennt sind, zum Gegenstand der Erzählung macht.

Dennoch ist dem Dichter auch hier einiges erlaubt. Mit kluger Zurückhaltung darf er immer noch auf einen geheimnisvollen Zusammenhang des Mannes mit seinen Vorfahren hindeuten und auf gemeinsame Grundzüge des Charakters, welche, wie wir einzugestehen bereit sind, auch nach größeren Zeiträumen in Kindern desselben Geschlechts erkennbar werden. Er darf noch weiter gehen und auf diese Aehnlichkeit einen gewissen Parallelismus der Handlung aufbauen. Fügt er dann die Nebengestalten und die Situationen so zusammen, daß auch in diesen eine entfernte Aehnlichkeit mit früherem erkennbar ist, so wird vielleicht gerade die Verschiedenheit, welche durch jede Zeit in die Menschen und ihre Beziehungen gebracht wird, einen größeren Reiz gewinnen, und der Leser wird zuletzt die Reihe der Helden ähnlich betrachten, wie einen guten Bekannten, der seine Persönlichkeit in verschiedenen Lebenskreisen und in immer neuer Umgebung geltend macht.

Da sich die Erzählungen auf geschichtlichem Hintergrunde aufbauen sollten, um eine gewisse epische Größe zu erhalten, so mußten auch in jeder Erzählung die jeder Zeit besonders eigentümlichen Zustände dargestellt werden. Also das Königtum in der Bedeutung, welche es gerade hatte, die verschiedenen Stände, das Heerwesen, die Art der Kriegsführung und der Regierung. Im »Ingo« herrscht deshalb König Bisino mit seinen Leibwächtern, ihm gegenüber die edlen Volkshäupter, Fürst Answald, und andere, daneben die freien Bauern.

Aehnliche Würden und Verhältnisse kehren in den spätern Geschichten wieder. Im »Ingraban« stehen an Stelle des Königs ein Graf der Karolinger und mächtiger als Gründer der christlichen Kirche Bonifazius, daneben aber der slawische Häuptling Ratiz. Im »Nest der Zaunkönige« König Heinrich und als Vertreter der Kirche der Erzbischof. In den »Brüdern vom deutschen Hause« Kaiser Friedrich II. und der Papst und daneben der Landgraf von Thüringen. In »Marcus König« Hochmeister Albrecht und der König von Polen. Im »Rittmeister von Alt-Rosen« Herzog Ernst von Gotha und als Vertreter der fremden Eroberer Graf Königsmark. Im »Freikorporal« Friedrich Wilhelm I. von Preußen und in der letzten Erzählung, weiter in den Hintergrund gerückt, das preußische Königtum.

Ebenso folgt dem Volksheer der ersten Geschichte in den späteren der Reihe nach das Aufgebot der Grafen, die Reiterschar der Dienstmannen und Vasallen, das Rittertum, die Landsknechthaufen, die Söldner des Dreißigjährigen Krieges, das gedrillte Heer des fürstlichen Staates, zuletzt das Volksheer aus allgemeiner Wehrpflicht.

Auch die Männer, welche die Kunde von Taten und Schicksalen im Volke verbreiten und späteren Geschlechtern überliefern, forderten ihr Recht. Im »Ingo« vertritt sie der Sänger Volkmar. In den späteren Geschichten nach der Reihe der Spielmann, der lateinische Schüler, der Buchhändler, der Pasquillenschreiber, zuletzt der Journalist. Das Geschlecht des freien Bauern Bero setzt sich fort in demselben Dorfe durch die Freunde Ingrabans und die Familie des Brunico bis zu dem Richter Bernhard in den »Brüdern vom deutschen Hause«.

Es war selbstverständlich, daß für jede Erzählung auch solche geschichtliche Ereignisse gewählt wurden, welche aus in der geschilderten Zeit als besonders wichtig erscheinen: im »Ingo« der Kampf gegen die Römerherrschaft, die Abenteuer eines heimatlosen Helden, die Ansiedelung auf neuen Landgewinn, der Hausbrand. In der nächsten Erzählung der Zusammenstoß mit den vordringenden Slawen und die Einführung des Christentums; im »Nest« die lateinische Klosterschule und das Walten der sächsischen Königsherrschaft; in den »Brüdern vom deutschen Hause« die Kreuzzüge und das ritterliche Treiben; in »Marcus König« das städtische Bürgertum und die Reformation; in den folgenden Erzählungen zuerst die Soldatenherrschaft im Dreißigjährigen Kriege, dann die Staatsraison der Fürsten, zuletzt die Herrschaft Napoleons und die Anfänge der deutschen Volkserhebung. Ebenso wurde für jede Erzählung benutzt, was in den Dichtungen, die etwa aus der geschilderten Zeit erhalten sind, als Inhalt und leitendes Motiv am liebsten verwendet wird. Für die erste Erzählung: Der Gesang beim Mahle, das Höhnen der Gegner, die Jagd, der Zweikampf und andere Züge der deutschen Heldensage, für das »Nest der Zaunkönige«: volkstümliche kleine Geschichten aus der Tiersage und der Kauf von Weisheitsregeln. Für die »Brüder vom deutschen Hause«: Frauendienst und Ritterfahrt und die Abenteuer des Morgenlandes. Für »Marcus König«: das Leben in den Straßen der Stadt und das Treiben der Landsknechte. Für den »Rittmeister«: die prophezeienden Mädchen und die Hexenprozesse, für den »Freikorporal«: das gewaltsame Werben von Rekruten und das Schätzesuchen, letzteres in Verbindung mit der Katastrophe in Thorn. Für die letzte Erzählung endlich in vorsichtiger Weise: die Doppelgänger der Romantik.

Nicht ebenso groß durfte die Aehnlichkeit in der Handlung sein, die Wiederholung wäre in der Aufeinanderfolge von acht Erzählungen unleidlich geworden. Doch machte es dem Verfasser auch hier Freude, einige gemeinsame Grundzüge festzuhalten. Die Männer des Geschlechtes kämpfen gegen eine stärkere Gewalt, mit der sie sich versöhnen oder durch die sie untergehen. So Ingo, Ingraban, Immo, Marcus und Georg, auch der Rittmeister und Fritz im Freikorporal. Die Katastrophe wird durch Kampf herbeigeführt. Der Hausbrand im »Ingo« wiederholt sich im Streit unter der Glocke in »Ingraban« und in der Belagerung Ivos durch die Ketzerrichter, zuletzt im Tode des Rittmeisters von Alt-Rosen. Neben die Beendigung durch Gewalttat tritt aber die Entscheidung durch ein Königsgericht, wie im Urteil König Heinrichs, in dem Richterspruch Luthers, in der Entscheidung Friedrich Wilhelms. Auch der Streit zweier Frauen um den Helden, der den Lauf der ersten Erzählung bestimmt, wiederholt sich im Nest der Zaunkönige durch den Gegensatz zwischen Edith und Hildegard und ebenso in den Brüdern vom deutschen Hause.

Wenn der Verfasser hier den Lesern zumutet, Vertraute seiner Arbeit zu werden, so möchte er doch zugleich bitten, sich dadurch die Unbefangenheit in der Aufnahme der Erzählungen nicht vermindern zu lassen. Jede einzelne Geschichte soll ein einheitliches und geschlossenes Werk bilden, das von Anfang bis zu Ende nur aus sich selber erklärt wird und dessen poetischer Wert oder Unwert nur in seinem eigenen Inhalt gefunden werden darf. Der Zusammenhang, in welchem jede spätere Geschichte mit der früheren steht, darf nur eine bescheidene Zutat sein, welche beim Lesen hier und da als förderlich für die Wirkung empfunden werden kann und, wenn sie nicht bemerkt wird, den Anteil des Lesers an der einzelnen Geschichte nicht mindert. Der Verfasser hatte während des Schreibens allerdings lebhafte Vorstellungen von dem Zusammenhange und es war für ihn besonders reizvoll, sich zu den geschilderten Menschen und Situationen die Parallelen aus späteren und früheren Zeiten zu denken.

Zum Schauplatz der Erzählungen wählte ich Thüringen, wo ich selbst zu wohnen pflegte, und das östliche Deutschland, welches mir, dem Preußen und Schlesier, vertraut war.

In den ersten Erzählungen möge man nicht zu genau einzelne Quertäler des Thüringer Waldes zwischen Inselberg und Donnershang wiedererkennen wollen, mit Absicht ist eine Schilderung von Einzelheiten vermieden. Den Herrenhof des Answald kann man sich am Ausgange des Reinhardsbrunner Tales denken. Das Dorf des alten Bauerngeschlechts ist Friemar, der Name des Idisbachs (Feenbach) ist jetzt in »Itz« zusammengezogen, und an Stelle der Idisburg erhebt sich die Feste Koburg.

Für die zweite Erzählung »Ingraban« ist der Hof des Helden nahe an der Stelle gedacht, wo jetzt das Bonifaziusdenkmal steht, die Höhle, in welcher der Gebannte hauste, ist nicht gerade die flimmernde Gipshöhle bei Friedrichroda, sondern eine ähnliche, größere und schönere in demselben Gestein; sie mag seitdem durch die Naturgewalten wieder verschüttet worden sein.

Im »Nest der Zaunkönige« liegt der Hauptteil des Herrenbesitzes um die Drei Gleichen, Vorberge des Thüringer Waldes bis in die Nähe von Erfurt, in einem Landstrich, wo die Dorfnamen, welche auf »leben« endigen, vorherrschen. Dies sind wahrscheinlich alte Niederlassungen der Angeln, welche sich beim Niedergang des thüringischen Königreiches zwischen die alten Thüringe gedrängt hatten. Der Besitz wird durch Ingrabans Mutter der Familie zugefallen sein, welche aus dem Geschlecht der Angeln war. Den kleinen Sohn Ingos und Irmgards hatte Frida, die Tochter Beros aus Friemar gerettet; seitdem bestand der Zusammenhang des edlen Geschlechtes mit den freien Bauern, welcher ihm eine eigentümliche Stellung zu dem jüngeren Landesadel gab und noch zur Hohenstaufenzeit Einfluß auf das Geschick des Helden Ivo ausübte, denn wie ehemals der Ahnherr durch die Tochter Beros vor dem Feuertode gerettet wurde, so schützte wieder Ritter Ivo die Friderun und ihren Vater vor den Flammen des Scheiterhaufens.

Es würde nicht der Mühe lohnen und die Geduld des Lesers übermäßig in Anspruch nehmen, wenn der Verfasser auf die Stellen weisen wollte, denen er kleine Körnchen des Inhalts, Schattierungen der Farbe, durch Verwertung seiner antiquarischen Weisheit zugeteilt hat. Helfen diese Kleinigkeiten dazu, den Eindruck der Lebenswahrheit zu verstärken, so haben sie ihre Pflicht getan. Wenn König Heinrich den Helden Immo mit dem geheimen Gruße anredet, den die lateinischen Schüler füreinander hatten, wie die wandernden Sänger, die Spielleute, die Mönche, die Handwerker und sogar die Ränder, und wenn er dabei zwei Finger über Kreuz legt und die Frage stellt: »es tu scolaris«, so ist für den Leser kaum von Interesse, daß die lateinischen Worte der Anrede deshalb gewählt sind, weil sie seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts eine häufige Ueberschrift solcher gedruckten Büchlein waren, in denen den Schülern die Anfänge der lateinischen Sprache gelehrt wurden. Die ungewöhnliche Frage auf einem Titel läßt eine alte gebräuchliche Formel erkennen.

Der Verfasser hofft, daß alle solche antiquarische Liebhabereien den Leser nirgends stören werden, sie sind in sorglosem Behagen als eine stille Freude des Schreibenden in den Text gesetzt.

Was nun den geschichtlichen Hintergrund betrifft, die dargestellten Zustände, Sitten und Gebräuche, so erhebt der Autor selbstverständlich nicht den Anspruch, da, wo er frei erdichten durfte oder wo er in Nachbildung alter Ueberlieferungen das Zweckentsprechende fand, immer das Richtige getroffen zu haben. Doch haben ihn von einzelnen Ausstellungen, welche bis jetzt gemacht wurden, nur wenige eines Besseren belehrt.

Zu dem kunstvollen Keulenwurfe des Ingo, welcher als eine sehr auffallende Sache von spätrömischen Schriftstellern berichtet wird, hat Theodor Mommsen die vorhandenen Stellen verglichen und dem Verfasser die Ansicht ausgesprochen, daß der Rückschwung dieser Waffen doch wohl in ähnlicher Weise durch Riemen oder Schnur bewirkt worden sei, wie bei andern Wurfwaffen derselben Zeit, an denen die Schnur erwähnt wird.

Daß der Schüler Immo einigemal Scholastikus genannt wird, ist kein Versehen, sondern nach dem Latein des zehnten und elften Jahrhunderts richtig. Moritz Haupt war mit dem Namen des Fechters Sladekop nicht zufrieden, weil das Wort »Kopf« um das Jahr 1000 noch nicht die Bedeutung »Haupt« gehabt hatte, sondern nur die ursprüngliche eines gehöhlten Trinkgefäßes. Aber der Name war dem Fechter deswegen beigelegt worden, weil dieser einmal mit seiner ungeheuren Faust einen geraubten Silberbecher zu einer platten Scheibe geschlagen hatte, und soll ein Beiname sein, wie ähnlich überlieferte Namen von Fahrenden, Reitern und dergleichen Volk. Dennoch hatte Haupt Grund, sich an dem Namen zu stoßen, und mir selbst war es während des Schreibens nicht ganz recht, denn diese Beinamen der Imperativform, welche seit dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts so häufig sind, werden wohl erst im zwölften gebräuchlich.

Die Sprache, in welcher die Personen der ersten Erzählungen miteinander reden, ist als fremdartig aufgefallen und hat hier und da Anstoß erregt. Zu ihrer Entschuldigung soll nur bemerkt werden, daß der Verfasser sie nicht gesucht hat, sie wurde ihm ganz von selbst, und wenn etwas in diesem Werke voll und natürlich aus seiner Seele gekommen ist, so ist es gerade die Farbe der Sprache, in welcher ihm das Charakteristische der verschiedenen Zeiten lebendig wurde. Diese Farbe ist selbstverständlich die bescheidene Wiedergabe der Klangfarbe, welche die etwa erhaltenen Sprachdenkmale der gewählten Zeit für uns haben. Unvermeidlich ist die Sprachweise im »Ingo«, dem am weitesten abliegenden Stoffe, am fremdartigsten, sie wird schon im »Ingraban« etwas weniger auffallen, zumal in der Sprache des lateinisch gebildeten Winfried. In jeder der späteren Geschichten, auch noch in den letzten Erzählungen, dem »Freikorporal« und »Aus einer kleinen Stadt«, hatte der Verfasser genau dasselbe Bedürfnis, die Zeitfarbe in der Sprache wiederzugeben. Sollte der Schaffende darauf verzichten, so würde er ein für ihn sehr wertvolles Mittel, die Zeit zu charakterisieren, aufgeben müssen.

Ernster ist der Einwurf, welcher gegen die Darstellung der Helden in den ersten Geschichten, namentlich gegen Ingo, erhoben wurde, daß sie von dem Reckenhaften und Barbarischen jener Zeit zu wenig zeigen und moderner Erfindung allzusehr genähert seien. Es mag wohl sein, daß ein anderer Dichter mit derberem Realismus darin mehr gewagt hätte, ohne daß die Schönheit seiner Schilderung gelitten hätte; jeder Schaffende wird durch seine eigene Persönlichkeit beschränkt und daneben durch die unablässige stille Rücksicht auf das, was er seinen Lesern bieten darf, denn nicht jede Zeit hat gleiches Verständnis und gleiche Empfänglichkeit für das Fremdartige. Bei zwei Gelegenheiten handelt Ingo humaner und besser, als wir von einem heimatlosen Helden jener Zeit anzunehmen geneigt sind; in der Wirklichkeit hätte er wohl den Theodulf, als dieser unter seinem Schwerte lag, erschlagen, trotz dem Aufleuchten der Morgensonne und dem Gedanken an den Ausruf des geliebten Weibes: »Die Sonne sieht's«, und ferner würde seine Liebe zu Irmgard ihn nicht verhindert haben, der Neigung Giselas entgegenzukommen. In beiden Fällen ist die Abweichung von dem, was wir jener Zeit zutrauen dürfen, absichtlich geschehen, weil nach der Ueberzeugung des Autors solche Entsagung damals wohl ungewöhnlich, aber nicht unmöglich war. Es fehlt ohnedies dem Inhalt der Erzählung nicht an herber Strenge und Wildheit. Ferner aber sei die Bemerkung gestattet, daß die landläufigen Vorstellungen über die Barbarei der alten Germanen den Vorfahren immer noch in auffallender Weise unrecht tun. Unsere Maler bilden die alten Knaben aus der Zeit des Tacitus und sogar aus der Völkerwanderung in einer Tracht, welche damals etwa Strolche und Sauhirten trugen, und Gemüt und Wesen derselben beurteilt man nach den häßlichen Verzerrungen, welche die germanische Art da erlitt, wo sie im Genusse der römischen Kultur unterging. Oft ist in den Berichten der lateinischen Geschichtschreiber zu erkennen, daß die Germanen, wo sie noch in ihrem eigenen Volkstum standen, die Bezeichnung »Barbaren« in dem jetzt landläufigen Sinne nicht verdienen, und daß einzelne einen Hochsinn, eine stolze Ritterlichkeit und Redlichkeit erwiesen, welche wir bei ihren Gegnern aus den Kreisen der römischen Welt vergeblich suchen. Mit Grund ist die erste Erzählung in die Zeit verlegt, in welcher die Deutschen noch nicht den Geschicken der Wanderzeit verfallen waren, aber in hundertjähriger Verbindung mit antiker Kultur einen weiteren Gesichtskreis erhalten hatten. Die beiden entgegengesetzten Charaktere Ingo und Bisino kann man ohne Mühe während der ganzen Völkerwanderung unter den Führern der Germanen erkennen.

An »Marcus König« hat der Titel befremdet, denn nicht der Vater Marcus, sondern der Sohn Georg ist Held der Erzählung. Aber es ist nicht unerhört, daß auch einmal der Name der widerstrebenden Persönlichkeit für den Titel gewählt wird, wie vor Guy Mannering von Walter Scott. Mir war bei der Wahl des Titels maßgebend, daß der Name Marcus eine verdunkelte Familienerinnerung an das Marcus-Evangelium der nächst vorhergehenden Erzählung darstellt. Es ist wohl möglich, daß der Leser diese Beziehung nicht bemerkt.

In derselben Erzählung ist das späte Einführen der Persönlichkeit Luthers, auf welche so lange gespannt wurde, ein Uebelstand, der noch dadurch vergrößert wird, daß die Haltung des Reformators und der Ausgang der Verhandlung nicht ganz den Hoffnungen des Lesers entsprechen. Denn die Lösung des Konfliktes durfte nicht vorzugsweise durch den Reformator herbeigeführt werden, sie mußte sich aus den Charakteren und aus früheren Vorgängen entwickeln. Wenn aber theologische Kritik den Einwand erhoben hat, daß Luthers Urteilsspruch nicht mit den Ansichten desselben vom Wesen der Ehe übereinstimme, so möge ein wohlgeneigter Leser lieber dem Verfasser als dem Kritiker glauben. Nach der Rückkehr von der Wartburg war Luther wohl in nichts so wenig fest als in seiner Auffassung der Ehe und in Behandlung der Ehesachen. Die altbiblische und altgermanische Auffassung, die Bedürfnisse des deutschen Gemütes und die verständigen Forderungen des Staates haben sich längere Zeit in ihm gestoßen, bevor sich in der neuen Kirche eine feste Praxis herausbildete. Gerade im Jahre 1525, in welchem er selbst heiratete, sind diese Verschiedenheiten bemerkbar. Die in der Erzählung dargestellte Auffassung aber ist, wie dem Verfasser scheint, die herrschende dieses Jahres. Dem Reformator wurde sein Urteil vor dem einzelnen Falle übrigens auch durch sein feuriges Naturell und warmen menschlichen Anteil gekreuzt, wie z. B. in dem Falle mit der Schwester Hartmuts von Kronberg.

In der letzten Erzählung »Aus einer kleinen Stadt« sind Eindrücke, welche dem Schlesier in seiner Jugendzeit kamen, sorglos und reichlich benutzt. Man kann in dem einsamen Pfarrhofe mit seiner alten Holzkirche, welche neben einem heidnischen Ringwall steht, das Dorf Wüstebriese bei Ohlau wiederfinden, in welchem der Vater meiner Mutter Pastor war. Auch bei Schilderung einzelner Menschen und des gesellschaftlichen Treibens in der Stadt sind Nachklänge aus der Wirklichkeit nicht vermieden. Daß der Held der Erzählung, das geradlinige und ernsthafte Kind einer engen Zeit, als Arzt auftritt, ist aber von dem Verfasser nicht in bewußter Erinnerung an den Beruf des eigenen Vaters erdacht. Da Herr König nicht Beamter sein sollte, was konnte er in jener Zeit als Honoratiore einer kleinen Stadt sonst sein. Unter allem Erdachten, was vom Jahre 1806 als Erlebnis der geschilderten Personen erzählt wird, sind zwei kleine Begebenheiten, welche der Verfasser ungern erfunden hätte. Die erste ist der Einbruch bayrischer Plünderer in eine schlesische Pfarrwohnung; dieser Zug ist – bis auf die erfundene Verlobung durch den angesteckten Ring – nach Erinnerungen in der eigenen Familie des Verfassers berichtet. Die zweite ist das unentschlossene Verhalten eines preußischen Reiterleutnants gegenüber den Feinden. Auch dies ist ein wirkliches Ereignis, welches am 15. Dezember 1806 zu Namslau stattfand und einer gleichzeitigen schriftlichen Aufzeichnung treu nacherzählt ist. Der tapfere belagerte Feind im Gasthofe war ein bayrischer Oberleutnant von Zweibrücken mit einem Unteroffizier und zwei Mann; das Kommando, welches unter dem Reiterleutnant gegen ihn aufmarschierte und abzog, bestand aus 32 Mann; von den Unterhändlern, denen der Belagerte durch das Fenster des Gasthauses Zutritt bewilligte, war der eine Hofrat Lessing, ein Neffe des Dichters.

In dieser letzten Erzählung war das Geschlecht, welches geduldige Leser durch anderthalb Jahrtausende begleitet hatten, da angelangt, wo nach der Auffassung des Dichters die besten Bürgschaften für Glück und Dauer gefunden werden, im bürgerlichen Leben des modernen Staates. Da ich aber mit einem Blick auf die Gegenwart schließen und Farbe wie Haltung des historischen Romans nicht in die neueste Zeit hereintragen konnte, so beschloß ich, das Ganze in kurzen Schlußakkorden ausklingen zu lassen, indem ich noch einmal Ereignisse, welche in den früheren Geschichten berichtet sind, umgebildet wie in leichtem Spiel vorführte. Dieser Ausklang des Romans hätte kürzer gehalten werden können, er hat zu meiner Ueberraschung die Ansicht hervorgerufen, daß ich in den Ahnen mir selbst eine Vorgeschichte habe erdichten wollen. Solche Absicht lag mir ganz fern und sie wäre mir geckenhaft erschienen. Wenn der jüngste Stammhalter der Familie König mit einem Nachkommen des alten Marschalls Henner Schriftsteller und Journalist wird, so folgt er nur dem Zuge der Zeit, und die Ahnen könnten mit demselben Recht einem jeden andern meiner schlesischen Landsleute, die nach 1848 Journalisten geworden sind, angedichtet worden sein. Auch die Einwirkung der Stadttheater auf unsere Jugend und der Zug nach literarischer Tätigkeit sind uns allen gemeinsam. Hauptsache bei der kleinen Handlung des Schlusses war für mich, die poetische Idee, welche die einzelnen Geschichten verbindet, noch einmal vorzuführen und auf derselben Stätte, auf welcher sich die Katastrophe der ersten Geschichte vollzog, das Ganze zu schließen.

Das Bedenkliche der Arbeit lag nicht vorzugsweise in dem Zurückgehen auf frühe Vergangenheit, wie wohl der freundliche Leser annimmt, sondern in dem Fortführen bis zur Gegenwart.

Für die alten Zeiten ist durch die Vergangenheit selbst der Stoff episch zugerichtet. Es ist leicht, das Schicksal eines Helden in Weltbegebenheiten einzuflechten und ihn zum Teilnehmer an großen Ereignissen zu machen. Je näher die Erzählungen der Gegenwart kommen, desto mehr engt das Privatleben den Horizont und die Tätigkeit der handelnden Personen ein. Die geschichtliche Kenntnis der Leser verstattet den frei erfundenen Gestalten nur eine untergeordnete Teilnahme an Ereignissen, welche eine historische Würde und Größe haben, und eine Erzählung, die in großen epischen Linien angelegt war, kommt, bis zur Gegenwart fortgeführt, in Gefahr, als kleine Novelle zu verlaufen.

Aber auch bei Verwertung bekannter historischer Charaktere wird der Schaffende um so unfreier, je näher sein Werk der Gegenwart tritt. Während er vor Gestalten alter Zeit berechtigt ist, die immer mangelhafte und unvollständige Kenntnis ihres Charakters zu ergänzen und die Motive ihres Handelns zu deuten und zu vertiefen, bleibt ihm gegenüber den genau bekannten Personen naher Vergangenheit nur ein bescheidenes Nachbilden einiger der zahlreichen charakteristischen Züge, welche die Geschichte selbst von ihnen überliefert hat. Für die eigentlichen Helden der Erzählung aber wird der Uebelstand, daß sie nur untergeordnete Teilnehmer an großen Begebenheiten sein dürfen, noch dadurch vermehrt, daß gerade in Deutschland, bis auf die neueste Zeit, Leben und Geschick von Privatpersonen besonders enge und dürftig waren, und daß auch starke Lebenskraft, wie sie der Held einer Erzählung nötig hat, wenn er allgemeine Teilnahme für sich gewinnen will, in kleinen und wunderlich verkrausten Verhältnissen verging.

War aber nicht durch die neueste Geschichte selbst dem weitläufig angelegten Werke ein glänzender Schluß gegeben? Die gewaltige Erhebung des geeinigten Deutschlands zum Kampf gegen das moderne Cäsarentum, der begeisterte Aufschwung und die ungeheueren Heldentaten des letzten Krieges, die Schlachtfelder von Gravelotte und le Mans, waren sie nicht der einzig würdige Abschluß? Hier war ein Heldentum zu finden, eine Größe der Taten, eine Energie der Gefühle, wie sie keine Vergangenheit gewaltiger hervorgebracht hat, und jeder einzelne vermochte Teilnehmer daran zu sein. – Aber auch der letzte aus der Reihe der Ahnen? Und in welcher Eigenschaft? Etwa als Krankenpfleger, als Freiwilliger, welcher einmal eine Schleichpatrouille führt, oder vielleicht als Leutnant König in irgendeinem Regiment, dessen Nummer der Autor sorgsam verschweigen muß? Unbekannte Heldentaten zwischen die Zeilen des Generalstabswerks hineinzudichten, konnte unmöglich die Absicht sein. Doch vielleicht war das gar nicht nötig. Es gab nie einen Kampf mit größerem idealen Inhalt, als diesen letzten; vielleicht niemals schlug die Nemesis so erschütternd die Schuldigen zu Boden; vielleicht niemals hatte ein Heer so viel Wärme, Begeisterung und so tief poetische Empfindung dafür, daß die grause Arbeit der Schlachtfelder einem hohen sittlichen Zweck diente; vielleicht nie erschien das Walten göttlicher Vorsehung in Zuteilung von Lohn und Strafen so menschlich gerecht und verständlich, als diesmal. Solche Poesie des geschichtlichen Verlaufs wurde von Hunderttausenden genossen, sie war aus zahllosen Feldbriefen einfacher Soldaten zu erkennen. Konnte der, welcher ein Dichter seines Volkes sein möchte, dafür keinen Ausdruck finden, zumal wenn er, wie der Verfasser, selbst als Augenzeuge im Heergewühl dahingezogen ist?

Und es war ja nicht nötig, den Helden, welcher der letzte in der Reihe der »Ahnen« werden sollte, unter Kanonendonner seine Taten verrichten zu lassen. Eine Zeit, welche auf Gedanken und Gemüt aller Mitlebenden so mächtig einwirkte, bot doch wohl sinniger Erfindung viele Gelegenheit, Wandlungen der Charaktere und ergreifende Situationen zu schildern. Die Darstellungen solcher Einwirkung der Zeitideen, der großen Wandlungen in der Politik und im sozialen Leben, und die Kämpfe, welche dadurch in dem Individuum aufgeregt werden, gelten ja für das Gebiet, in welchem der moderne Roman vorzugsweise seine Erfolge zu suchen hat. – Auch wer dies annimmt, wird vielleicht zugeben, daß ein solcher moderner Roman in Farbe und Ton etwas ganz anderes geworden wäre als die Geschichten, welche die früheren Bände der »Ahnen« bilden, und daß er nicht gut angefügt werden konnte, ohne die Einheit des Ganzen in Farbe, Ton und Inhalt zu verstören.

Außerdem aber legt der Verfasser das offene Bekenntnis ab, daß ihm ein Roman, in welchem die Hauptpersonen vorzugsweise unter der Einwirkung und im Kampfe mit politischen, religiösen, sozialen Ideen geschildert werden, nicht als die höchste und schönste, ja kaum als eine würdige Aufgabe des Dichters erscheint. Unvermeidlich drängt sich bei solchem Inhalt die Tendenz in den Vordergrund, und der größten Dichterkraft wird es nur schwer gelingen, mit der sonnigen Klarheit und der stolzen Unbefangenheit, welche das Kunstwerk vom Schaffenden fordert, Licht und Schatten zu verteilen. Der Leser zwar wird derlei Erfindung, im Falle sie nämlich seinem eigenen Standpunkt entspricht, mit Wärme entgegenkommen, und er wird die poetische Gestaltungskraft, welche der Dichter dabei etwa erweist, mit besonderer Freude genießen. Aber bei der Einmischung freier Erfindung in die übermächtige reale Wirklichkeit wird immer eine Beeinträchtigung des künstlerischen Gesamteindrucks unvermeidlich sein.

Die Muse der Poesie vermag ihre Schönheit nur da ganz zu enthüllen, wo sie allein als Herrin gebietet. Wird sie Dienerin und Parteigenossin in solchen Kämpfen des wirklichen Lebens, welche die Menschen einer Zeit leidenschaftlich umhertreiben, so büßt sie gerade das ein, was ihr bester Inhalt ist: die befreiende und erhebende Einwirkung auf die Gemüter. Ja sogar, wenn dem Dichter gelänge, als ein Seher die beengenden Mißbildungen und die harten Konflikte der Politik und anderer realer Interessen wie in einem Schlußbilde als überwunden und versöhnt zu zeigen, er würde den stärksten Teil des Anteils, welchen er erregt, nicht der Poesie, sondern der Unzufriedenheit seiner Zeitgenossen mit dem Bestehenden verdanken. Politische, religiöse und soziale Romane sind, wie ernst auch ihr Inhalt sein möge, nichts Besseres im Reiche der Poesie als Demimonde,

Während der Jahre, in denen ich Zustände der deutschen Vergangenheit für die Dichtung auszubeuten suchte, schuf mir das dauerhafte Wohlwollen der Leser große Freude. Dennoch hatte ich immer die Ueberzeugung, daß das reichste und in vielem Sinne das heilsamste Quellgebiet poetischer Stoffe in der Gegenwart liege. Und dies ist das letzte Bekenntnis, welches ich abzulegen habe. Wir dürfen uns unser Anrecht auf die Schilderung vergangener Zeiten nicht durch irgendwelche Theorie verkümmern lassen, aber die eigentümlichen Uebelstände und Gefahren, welche die Behandlung fremder oder unserer Kenntnis entrückter Menschen in sich birgt, sollen uns stets im Bewußtsein bleiben. Diese Schwierigkeiten gefährden sowohl da, wo wir modernes Empfinden dem alten Zeitkostüm anpassen müssen, als auch da, wo wir unserer besonderen Kenntnis alter Kulturzustände froh werden. Immer ist eine Umdeutung der Charaktere in unsere Auffassung der Menschennatur notwendig, für das Verhältnis zwischen Schuld und Strafe müssen wir viel von der Freiheit und Verantwortlichkeit des modernen Menschen annehmen, gerade bei den innigsten Beziehungen der Personen zueinander ist das Eintragen unserer Empfindungsweise bis zu einem hohen Grade unvermeidlich. Leicht erscheint dem Leser die Klarheit und Gewandtheit, mit welchen die Personen über sich reflektieren, und der humanisierte Grundzug in der Handlung als unwahr, oder der Gegensatz zwischen fremdartigen Zuständen, welche geschildert werden, und den Charakteren, welche mit einigem modernen Leben erfüllt sind, wird peinlich. Die besten Kunstleistungen Walter Scotts ruhen auf Schilderungen einer Vergangenheit, die ihm und seinen Zeitgenossen durch teure örtliche Erinnerungen und durch das Fortleben alter Zustände nahegerückt war.

Den Verfasser der »Ahnen« aber wird freuen, wenn der Leser das Werk wie eine Symphonie betrachtet, in deren acht Teilen ein melodischer Satz so gewandelt, fortgeführt und mit anderen verflochten ist, daß sämtliche Teile zusammen ein Ganzes bilden. Möge man dieser Einheit eine poetische Berechtigung zugestehen.

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Mir selbst hat das Leben seitdem vieles genommen, aber auch Großes gegeben. Und es ist mir vergönnt, auf eine lange Vergangenheit zurückzublicken, in welcher ich reichlichen Anteil an allem Gut gewann, welches eine gnadenvolle Vorsehung den Deutschen in dem letzten Menschenalter zuteil werden ließ. Mein eigenes Dasein hat mich da, wo ich irrte und fehlte, und da, wo ich mich redlich bemühte, mit tiefer Ehrfurcht vor der hohen Gestalt erfüllt, welche unser Schicksal lenkt und mir für mein Tun in Strafe und Lohn die Vergeltung immer völlig und reichlich geordnet hat. Und demütig verstehe ich, daß zu dem besten Besitz meines Lebens zuerst gehört, was ich von meinen Vorfahren als Erbe überkam: ein gesunder Leib, die Zucht des Hauses, der Heimatstaat; demnächst, was ich durch eigene ernsthafte Arbeit erworben habe: der freundliche Anteil und die Achtung meiner Zeitgenossen. Zuletzt aber darf ich, ein bejahrter und unabhängiger Mann, dem die Gunst der Mächtigen nichts Großes zuteilen kann, als höchsten Gewinn meines Lebens das Glück rühmen, welches mir, gleich Millionen meiner Zeitgenossen, gegeben worden ist durch einen, der auf die Siebzigjährigen herabsieht, wie auf ein jüngeres Geschlecht, durch unseren guten Kaiser Wilhelm und durch seine Helfer, den Kanzler und den Feldherrn.

 


 


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