Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Arbeiten der Mannesjahre

Meine unsichere Gesundheit, die sich nach 1848 in der Stadtluft von Leipzig nicht kräftigen wollte, hatte den Arzt veranlaßt, für den Sommer Landaufenthalt zu empfehlen. Im Jahre 1851 erwarb ich deshalb ein Landhaus mit Garten zu Sieblehen bei Gotha. Das altfränkische Haus, gerade für einen bescheidenen Haushalt ausreichend, war im Anfange des Jahrhunderts von dem Minister Gothas, Sylvius von Frankenberg, eingerichtet worden; es hatte damals oft die Gäste von Weimar: Karl August, Goethe und Voigt auf ihren Fahrten nach Eisenach beherbergt und war in ihrem Kreise unter dem Namen »die gute Schmiede« wohlbeleumdet gewesen. Jetzt stand der kleine alte Bau, nach manchem Wechsel der Besitzer, als ein Zeugnis, wie enge, anspruchslos und doch behaglich ein früheres Geschlecht gehaust hatte. Ich fühlte mich in dem Besitz sehr wohl und siedelte jedes Frühjahr gern dorthin über. Die heitere Ruhe förderte mir auch die literarische Tätigkeit, dort ist bei weitem der größte Teil meiner größeren Arbeiten ausgesonnen.

Seitdem verlief mein Leben wie das unserer alten Heidengötter, zweigeteilt zwischen Sommer und Winter; so oft der Frühling kam, die Obstbäume blühten, Fink und Star ihre Stimmchen erhoben, zog ich hinaus ins freie Land, dort pflanzte ich Blumen, beobachtete meine alten Lieblinge, die Kürbisse, sprach mit meinen Dorfleuten kluge Worte und schrieb an meinen Büchern; genoß den Zuspruch werter Männer aus der Nähe und Ferne, verkehrte auch artig nach Hofbrauch mit Fürsten und hohen Herren. Wenn aber der Wintersturm über die kahlen Felder fegte, fuhr ich mit der Heldenschar meiner Phantasiegestalten nach der Stadt zurück, wurde Journalist und hauste, von meinen Artikeln, den Raben, umflattert, im Schatten der Bücherschränke. Dort freute ich mich an dem Hausverkehr mit vertrauten Männern der Stadt, die auf den Bänken der Wissenschaft lagerten oder im Ratstuhle und im Kontor saßen. Im Winter sammelte ich ein, was ich im Sommer ausgab.

In der Stille des Dorfes, unter dem Blätterdach alter Linden, kam im Jahre 1852 wieder die Freude an eigener Erfindung. Ich war unter das Völklein der Journalisten geraten und trug im Herzen die Bilder vieler närrischer Käuze, die ich kennengelernt. Da machte es sich wie von selbst, daß ich dies Stück Welt, in welchem ich mit Behagen verkehrte, für mein altes Handwerk in Anspruch nahm. Die Vorbilder für die kleinen Typen der Charaktere fand ich überall in meiner Umgebung, auch die Handlung: Wahl eines Abgeordneten, an welcher meine Journalisten sich zu beteiligen hatten, lag sehr nahe. Ich schrieb das Lustspiel »Die Journalisten« in den drei Sommermonaten nieder. Nie ist mir ein Plan so schnell fertig geworden als dieser, auch bei der Arbeit empfand ich mit Befriedigung, daß die vor Jahren erworbene Sicherheit im szenischen Ausdruck unvermindert war. Als ich das fertige Stück im Herbst nach Leipzig brachte, meinte ich, mein Genosse Schmidt müßte, nächst meiner Hausfrau, der erste sein, welcher ein Urteil darüber auszusprechen hatte; ich trug es dem Ueberraschten zu und hatte die Genugtuung, daß er damit einverstanden war.

Alsbald besorgte ich Bühnendruck und Versendung und sah mich auf einmal wieder im Verkehr mit den deutschen Theatern. Zu den wohlwollenden Freunden, welche das Lustspiel gewann, gehörte Eduard Devrient, derzeit Leiter des Hoftheaters zu Karlsruhe. Ich beschloß also das Einstudieren und die Aufführung seiner Bühne zu einer Probe für mich selbst zu machen, um durch eigene Anschauung des Bühnenbildes über das Gelungene und Mangelhafte sicher zu werden. Als ich zu Karlsruhe eine gute Aufführung erlebt hatte, mußte das Stück in der Hauptsache für mich abgetan sein. Noch bei wenigen Aufführungen anderer Bühnen, die mir nahe lagen, war ich in den nächsten Monaten zugegen, später hielt ich mich fern. Jeder Schaffende hat darauf zu achten, daß ein beendetes Werk ihm selbst sobald als möglich in den Hintergrund gerückt werde, damit ihm während einer neuen Arbeit nicht frühere Gestalten in der Phantasie umhergaukeln und die Frische des neuen Bildes beschränken. Doch noch aus anderem Grunde sehe ich meine eigenen Stücke ungern auf den Brettern. Denn die Zurichtung, welche die deutschen Theaterstücke auf den verschiedenen Bühnen erhalten, nicht nur durch die Regisseure, sondern noch mehr durch beliebte Darsteller der einzelnen Rollen, wird dem Autor oft peinlich und unleidlich. Der Mangel an Pietät gegen den geschriebenen Text ist bei uns eine alte wohlbegründete Klage, er wird selbst von dem Publikum zuweilen als Uebelstand empfunden. Selten widersteht der deutsche Schauspieler der Versuchung, Stellen, die seinem Talent unbequem sind, wegzulassen, wohl auch an den Worten zu ändern und, was das Schlimmste ist, einige kleine Erfindungen, von denen er sich eine Wirkung verspricht, dazwischen einzutragen.

Solche Veränderungen in den Rollen und Textbüchern gehen an den Theatern von einer Generation der Schauspieler auf die andere über. In früherer Zeit fuhr ich zuweilen dazwischen; ich mußte es aufgeben, weil eine Ueberwachung von hundert Textbüchern auf die Länge unmöglich ist und weil diese Unart aufs engste mit dem Hauptleiden unserer Bühnen, Schwäche und Ohnmacht der Regie, zusammenhängt.

Das Stück fand bei den deutschen Theatern schnelle und wohlwollende Aufnahme und die Gunst der Zuschauer ist ihm geblieben. In Berlin stand die Königliche Bühne an, dasselbe in Szene zu setzen, weil damals bei Hof und Regierung alles, was irgend liberal erschien, verpönt war. Unverkennbar aber hatten die in dem Stück bevorzugten Journalisten der Union einen gewissen liberalen Strich. So erschien das Lustspiel zuerst auf einem andern Theater Berlins; die Intendanz nahm es aber auf, sobald sie es vermochte, und hat es seitdem dem Publikum der Hauptstadt häufig zugeteilt.

So war ich wieder mit einem Erfolg über die Bretter gewandelt und es hätte nahe gelegen, in derselben Dichtungsform fortzufahren. Aber ich selbst war in diesen Jahren ein anderer geworden, die großen geschichtlichen Verhältnisse, in denen ich als Schriftsteller mich tummelte, manches, was ich erlebt und angeschaut hatte, die volle und starke Strömung des Lebens, welche mir jetzt durch die Seele zog, wollte sich in den Rahmen eines Theaterabends, in die knappe Form des Dialogs und in die kurzen Szenenwirkungen nicht einpassen. Mich überkam der Wunsch, mein Verständnis der Zeit und was ich etwa von guter Laune besaß, mit der Fülle und Reichlichkeit auszusprechen, welche in einer poetischen Erzählung möglich wird. Im Sommer 1853 trat ich darüber mit den kleinen geflügelten Kollegen, den Lyrikern meines Gartens in Beratung und begann meinen ersten Roman, welcher mich auch noch im nächsten Jahre beschäftigte. Im Winter schrieb ich wieder Artikel und redigierte die grünen Blätter.

Nach den Tagen von Olmütz und Bronzell war Preußen einer trübseligen Reaktion verfallen und die Wochenschrift hatte keinen leichten Stand, wenn sie zu gleicher Zeit die Gegner Preußens verurteilte und die Zustände in Preußen unzufrieden besprach. Die argwöhnische Gehässigkeit, mit welcher man damals zu Berlin jede selbständige Aeußerung in der Presse betrachtete, hatte bewirkt, daß auch gemäßigte Blätter keine von der Regierung unabhängigen Berichte über die Landtagsverhandlungen erhielten; jeder Korrespondent, welcher in den Verdacht solcher Tätigkeit kam, wurde aus Berlin ausgewiesen, und doch verhielt sich die Opposition in jenen Jahren durchaus nicht unpatriotisch, ihr stärkster Vorkämpfer war Georg Vincke. Um diesem unleidlichen Notstand in der Presse abzuhelfen, kamen im Winter 1853 einige Gesinnungsgenossen überein, durch kleine Beiträge eine autographierte Korrespondenz zu erhalten, welche unentgeltlich an Zeitungen und an Parteigenossen in der Kammer versandt werden sollte. Ich übernahm es, dieselbe einzurichten, ein junger Gelehrter in Berlin – es war Karl Neumann, der Geschichtsforscher – wurde bestimmt, regelmäßig Kammerberichte nach Leipzig zu senden, dort war ein passender Redakteur für das Autographieren und den Versand an die Adressen geworben. Das kleine Unternehmen trat, bei den sächsischen Behörden angemeldet, ins Leben und erwies sich als nützlich. Die Zusendungen von Berlin, außer den Berichten Neumanns noch gelegentliche kleine Briefe von Parteigenossen, wurden in der Regel an mich adressiert, durch mich dem Redakteur und Verleger zugestellt. Nun kam einmal unter den Eingängen eine kurze Mitteilung, in welcher berichtet wurde, daß der preußische Mobilmachungsplan dem Kaiser von Rußland verraten worden sei; der Verrat war mit scharfen Worten verurteilt. Die Tatsache war unleugbar, die Mitteilung derselben in der Presse aber erregte zu Berlin den höchsten Unwillen. Es wurde deshalb die ganze Meute der Polizei, v. Hinkeldey, v. Nörner, Stieber nach Leipzig geschickt, dort mit Hilfe der sächsischen Behörde nach dem Verbreiter der Nachricht zu forschen. Der geforderte Redakteur der Korrespondenz nannte mich als Uebersender. Darauf wurde von mir verlangt, daß ich den Urheber der Notiz nennen solle, und weil diese Forderung in Sachsen nicht gesetzlich zu begründen war, unter dem Vormunde, daß man dadurch dem Verräter des Mobilmachungsplans auf die Spur kommen wollte. Solch törichter Zumutung gegenüber war dasjenige Verhalten geboten, welches man das aufschiebende nennt, zumal man annehmen konnte, daß zu Berlin mit der Zeit ruhigere Betrachtung eintreten würde. Da nun auch die sächsische Behörde nicht allzu willig war, sich von den übelbeleumdeten Spürern aus Berlin in dieser Angelegenheit benutzen zu lassen, kam über den Rechtseinwendungen das Frühjahr heran und ich zog wieder nach Siebleben. Jetzt aber leitete man von Berlin aus bei dem Gothaer Gericht ein gerichtliches Verfahren ein, das voraussichtlich ebenfalls keinen Erfolg haben konnte, und erließ noch nebenbei einen geheimen Haftbefehl gegen mich. Dies seltsame Schriftstück wurde mir anonym von Frankfurt a. M. zugesandt. Die preußischen Behörden wurden darin aufgefordert, den Verfasser von den und den Werken, an dessen Ergreifung viel gelegen sei, bei dem Betreten von preußischem Gebiet zu verhaften und nach der Hausvogtei zu Berlin abzuliefern. Das war übermäßig abgeschmackt. Doch, da ich preußischer Staatsbürger war, bereitete mir dieser jähe Eifer die sichere Aussicht, demnächst auf Grund bestehender Auslieferungsverträge aus Siebleben abgefordert zu werden. Da auf dem gewöhnlichen Wege eine Entlassung aus dem preußischen Untertanenverband nicht zu bewirken war und ich nicht Lust hatte, den Winter über in der Hausvogtei zu wohnen, so gab es nur ein Mittel, mich in Gotha sicher festzusetzen. Dies war ein kleines Hofamt, da die Anstellung am Hofe von selbst die Landeszugehörigkeit verleiht. Der Fall wurde dem Herzog von Gotha vorgetragen, und dieser half gütig aus der Verlegenheit, indem er mich zu seinem Vorleser ernannte. Seitdem war ich Hofrat, nicht parceque sondern quoique. Aber das gewalttätige Vorgehen wurde dadurch gehemmt. Den Winter brachte ich wie gewöhnlich in Leipzig zu, nachdem ich durch einen Freund aus Dresden die Nachricht erhalten, daß man in Sachsen zwar einer Anforderung von Berlin nicht entgegentreten könne, mich aber rechtzeitig benachrichtigen werde. Doch zu Berlin gab man die Verfolgung in aller Stille auf, nachdem der Haftbefehl etwa ein Jahr bestanden hatte. Daß er aufgehoben sei, wurde mir wieder durch anonyme Zuschrift mitgeteilt.

Als der Roman »Soll und Haben« zu Ostern 1855 in drei hübschen Bänden gedruckt auf meinem Tische lag, packte ich das erste Exemplar für meine Mutter ein, und erhielt an demselben Tage die Nachricht von ihrem Tode. Mein Bruder hatte mir ihre letzte Krankheit aus Sorge für meine Sicherheit verschwiegen.

Um den Erfolg des Romans machte ich mir geringen Kummer. Man war damals ärmer als jetzt, es wurden weniger Bücher gekauft und ich hatte das Zutrauen, daß die Arbeit meinem Verleger nicht gerade zum Schaden gereichen würde. Doch war der Erfolg besser als wir annahmen, und es konnten noch in demselben Jahre einige kleine Auflagen gedruckt werden. Wichtiger war mir die Zufriedenheit meiner nächsten Freunde, auch sie wurde dieser Arbeit reichlich zuteil. Im ganzen hatte ich die Stimmung: ich habe es ungefähr so gut gemacht, als ich konnte, nun mögen die anderen sehen, wie sie damit fertig werden.

Der Aufbau der Handlung wird in jedem Roman, in welchem der Stoff künstlerisch durchgearbeitet ist, mit dem Bau des Dramas große Aehnlichkeit haben. Vor allem eine poetische Idee, welche schon in der Einleitung sichtbar wird und den ganzen Verlauf der Ereignisse bestimmt. Für »Soll und Haben« ist diese Idee in dem leitenden Kapitel auf Seite 13 in Worte gefaßt, der Mensch soll sich hüten, daß Gedanken und Wünsche, welche durch die Phantasie in ihm aufgeregt werden, nicht allzu große Herrschaft über sein Leben erhalten. Anton und Itzig, der Freiherr und Ehrenthal, und in geringerem Maße auch die andern Gestalten haben mit solcher Befangenheit zu kämpfen, sie unterliegen oder werden Sieger. Auch die Teile der Handlung sind in der Hauptsache dieselben wie im Drama: Einleitung, Aufsteigen, Höhepunkt, Umkehr und Katastrophe. In »Soll und Haben« sind die gelungene Schurkerei Itzigs, der Ruin des Freiherrn und Ehrenthals und die Trennung Antons aus dem Geschäft der Höhepunkt des Romans, und die Rückkehr Antons in das Geschäft mit allem, was daraus erfolgt, die Katastrophe. Bei der Beschaffenheit des Stoffes, welcher eine breite Ausführung der zweiten Hälfte notwendig machte, nahm der Verfasser sich die Freiheit, die Umkehr in zwei Bücher zu scheiden, dadurch hat die Erzählung sechs Teile erhalten, notwendig wäre nur die Fünfzahl. Es hat Jahrhunderte gedauert, bevor die Handlung der Romane zu künstlerischer Durchbildung gelangt ist, und es ist das hohe Verdienst Walter Scotts, daß er mit der Sicherheit eines Genies gelehrt hat, die Handlung in einem Höhepunkt und in großer Schlußwirkung zusammenzuschließen.

Auch meine Weise der Arbeit war bei dem Roman dieselbe wie bei den Theaterstücken; ich erdachte mir zuerst die ganze Handlung im Kopfe fertig, dabei suchte ich sogleich für alle wichtigeren Gestalten die Namen, welche nach meiner Empfindung zu ihrem Wesen stimmten – keine ganz leichte und keine unwichtige Arbeit –, endlich schrieb ich auf ein Blatt den kurzen Inhalt der sechs Bücher und ihrer sämtlichen Abschnitte. Nach solcher Vorbereitung begann ich zu schreiben, nicht von Anfang in der Reihenfolge, sondern wie mir einzelne Abschnitte zufällig lieb und deutlich wurden. Zumeist solche aus der ersten Hälfte. Alles was durch die Schrift befestigt war, half natürlich der schaffenden Seele die neue Erfindung für noch nicht Geschriebenes anregen. In dem, was ich wollte, war ich ganz sicher, nicht ebenso schnell kam mir für einzelne Abschnitte die Wärme, die zur Ausarbeitung nötig ist, und ich habe manchmal längere Zeit warten müssen, bevor eine Situation von der Phantasie fertig zugerichtet war, was diese freundliche Helferin, wie ich überzeugt bin, dem Dichter auch besorgt, während er gar nicht über dem Werke ist, wohl gar während er schläft. Zuweilen aber blieb sie störrig und manche kleine Uebergänge wollten nicht herauskommen, z. B. nicht im letzten Buche die Rückkehr Antons zu Sabine und das Wiedersehen. Dies ist auch dürftig geblieben.

Die Niederschrift habe ich, wie bei allen späteren Prosaarbeiten, nicht selbst besorgt, sondern diktiert. Das war mir wegen meines kurzen Gesichts und der gebückten Haltung am Schreibtisch nach meiner Krankheit geraten worden und ich hatte mich bei Tagesarbeiten für die Grenzboten daran gewöhnt. Ich erhielt dadurch den Vorteil, daß ich Wortlaut und Satzfügung, während ich schuf, zugleich hörte, und dies kam dem Klang und Ausdruck oft zugute. Ein Uebelstand aber war, daß die arbeitende Seele durch die Gegenwart des Schreibers zu einem ununterbrochenen und gleichförmigen Ausspinnen des Fadens veranlaßt wurde und in Gefahr kam, sich an Stellen, wo sie träge zauderte oder wo die innere Arbeit noch nicht fertig war, durch ungenügenden Ausdruck über die Schwierigkeit wegzuhelfen. Deshalb vermochte diese Art der Niederschrift meine eigene Anspannung nicht zu mindern, denn was der Schreiber auf das Papier gebracht, arbeitete und besserte ich noch einmal gründlich durch.

Es lohnt kaum, die Frage zu stellen, wie der erfindende Schriftsteller die Stoffbilder seiner Dichtung gesammelt hat. Wo wächst das Farnkraut, wo liegt der Stein und auf welcher Hausschwelle sitzt das Kind, deren Formen der Maler in das Skizzenbuch aufnimmt, um sie für sein Bild zu verwenden? Ist die Erfindung des Schriftstellers in der Tat Poesie und nicht schlechte Nachschrift der Wirklichkeit, so wird auch, was er etwa nach Vorlagen des wirklichen Lebens in ein Werk aufgenommen hat, so umgebildet sein, daß es etwas ganz anderes, in der Tat ein Neues geworden ist. Das ist selbstverständlich. Deshalb bereiten die Ausnahmefälle, wo der Dichter sich mit größerer Treue der Wirklichkeit anschließen muß, z. B. wo er eine wohlbekannte historische Person in seine Dichtung setzt, ihm und seinem Werk besondere Schwierigkeiten. Denn leicht empfindet der Leser vor solchen Abbildern eine Besonderheit in Farbe, Ton und Schilderung, welche erkältet und die Wirkung des gesamten Kunstwerks nicht mehrt, sondern mindert.

Wenn es den Personen in »Soll und Haben« gelungen ist, als wahrhafte und wirksame Darstellungen von Menschennatur zu erscheinen, so kommt das gerade daher, weil sie sämtlich frei und behaglich erfunden sind, und weder der Kaufmann noch Fink, noch selbst Ehrenthal und Veitel haben jemals ein anderes Leben gehabt als das in der Dichtung, sie sind nur unter dem Zwange der erfundenen Handlung geschaffen und scheinen gerade deshalb hundert wirklichen Menschen zu gleichen, welche unter ähnlichen Verhältnissen lehen und handeln müßten.

Will man sich aber die Mühe geben, die geschilderten Menschen gegeneinander zu stellen, so kann man finden, daß sie unter einem eigentümlichen Zwange gebildet sind, dem des Gegensatzes: Anton und Fink, der Kaufmann und Rothsattel, Leonore und Sabine, Pix und Specht haben einander veranlaßt. Denn wie in dem menschlichen Auge jede Farbe ihre besondere Ergänzungsfarbe hervorlockt, so treibt auch in dem erfindenden Gemüt ein lieb gewordener Charakter seinen kontrastierenden hervor. Auch Charaktere, welche dieselbe Grundfarbe erhalten, wie Ehrenthal und Itzig, werden durch die Zumischung der beiden Gegenfarben voneinander abgehoben. Dieses Schaffen in Gegensätzen geschieht nicht als Folge verständiger Erwägung, sondern mit einer gewissen Naturnotwendigkeit ganz von selbst, es beruht auf dem Bestreben der schöpferischen Kraft, in der nach den Bedürfnissen des menschlichen Gemütes zugerichteten Begebenheit ein Abbild der gesamten Menschenwelt im kleinen zu geben.

Für die Handlung des Romans fehlte es mir nicht an Erfahrungen, die ich hier und da gemacht hatte. Den Geschäftsverkehr in der Handlung kannte ich aus meiner Breslauer Zeit, das alte Patrizierhaus der Molinari bot der Phantasie gute Anregungen, ich selbst bin mit meinem Freunde Theodor beim Ausbruch der polnischen Revolution in die Nähe von Krakau gereist. Und vollends die Wuchergeschäfte jüdischer Händler habe ich gründlich kennengelernt, da ich als Bevollmächtigter eines lieben Verwandten jahrelang vor Gericht gegen einige von ihnen zu streiten hatte. Auch die Bilder aus dem polnischen Aufstande haben zum Teil Grundlagen. Ein Kampf, wie der in der Stadt Rosmin, und das Herauswerfen der polnischen Insurgenten hat im Jahre 1848 zu Strzelno wirklich stattgefunden. Die mutigen Männer, welche dort die deutschen Kräfte sammelten und wochenlang den Polen widerstanden, waren der Oberamtmann Kühne, ein Schüler Koppes, und seine Inspektoren Lachmann und v. Kleist. Und die weichenden Polen haben dort wirklich die blauen Kartoffelwagen und die Feuertonne für Artillerie gehalten. Dem Verfasser waren alle solche Eindrücke und Beobachtungen vom höchsten Wert, weil sie ihm Kenntnis der zu schildernden Verhältnisse zuteilten oder weil sie ihm Phantasie und gute Laune anregten, und ohne sie hätte er seine Geschichte gar nicht schreiben können. Aber für den Leser sind auch sie ganz unwesentlich und zufällig geworden.

Der Roman erschien mit einer Widmung an Herzog Ernst II. von Koburg-Gotha. Gern möchte ich, daß diese Zuschrift zugleich mit dem Roman erhalten bliebe, sie erscheint mir wie eine gedruckte Urkunde über mein gutes Verhältnis zu zwei ungewöhnlichen Menschen, welches von jenen Jahren ab durch mein ganzes späteres Leben bestanden hat. Auch die Verbindung mit dem Herzoge hat für mich eine kleine Geschichte. Als die Zuneigung noch jung war, verkehrte ich gern am Hofe und freute mich über die vielen merkwürdigen und bedeutenden Persönlichkeiten, welche dort aus- und einzogen. Durch Herzog und Herzogin lernte ich ihre hohen Verwandten kennen: die Höfe von Baden und Darmstadt, die englischen Herrschaften, den Kronprinzen und die Kronprinzessin. Die fröhlichsten Stunden aber habe ich mit ihnen allein verlebt, beide haben die Eigenschaft, welche an Fürsten besonders anmutig ist, daß sie jede Menschennatur unbefangen und mit freudiger Anerkennung gewähren lassen und im Austausch auch sich selbst reichlich mitzuteilen wissen. Während sonst vornehme Herren gewohnt sind, unter gefälligen Formen und bei vertraulichem Verkehr andere für ihre Zwecke zu gebrauchen, hat mein Herzog mit einem Zartgefühl, das ich oft dankbar anerkannt habe, nie den Wunsch geäußert, meine Feder in Anspruch zu nehmen, und nie ein Ansinnen gestellt, dem ich mich hätte versagen müssen. Seinem Vertrauen, soweit es mir zuteil werden konnte, glaube ich durch offene Ehrlichkeit entsprochen zu haben. Nicht immer vermochte ich den Flug dieses rastlosen Geistes zu begleiten, aber ich war sicher, daß ich in den Tagen großer Entscheidung seinen Entschlüssen mit innigem Einverständnis folgen durfte. Als im Jahre 1866 die deutschen Fürsten vor der Wahl standen, welchem der beiden Großmächte sie ihr und ihres Landes Schicksal anvertrauen wollten, hatte ich Gelegenheit, meinem Landesherrn in die Seele zu sehen. Während mancher andere zauderte und des Erfolges harrte, stellte er sich zu Preußen, schnell, feurig, in der gehobenen Stimmung eines Mannes, der weiß, daß die Stunde großer Pflichterfüllung für ihn gekommen ist. Und doch drohte gerade ihm und seinem Lande damals der Einbruch der Hannoveraner. Ich denke, die Deutschen sollen ihm das nicht vergessen. In späteren Jahren, wo ich durch Krankheit in meiner Familie veranlaßt wurde, mich still auf meine Häuslichkeit zurückzuziehen, bewährte sich noch besser die treue Gesinnung der vornehmen Freunde, und ein mildes Wort meiner Fürstin: »Ich bin als Freundin brauchbarer für Unglückliche als für Glückliche«, ist an meinem Leben reichlich wahr geworden. Schweres, was ich im geheimen durchzukämpfen hatte, durfte ich dort vertrauend in die Seelen legen, und die wahrhafte Teilnahme, welche ich in jeder Lage fand, wurde mir oft ein Trost. Bis zur Gegenwart hat dies feste Einvernehmen bestanden. Es vergeht zuweilen längere Zeit, bevor mir zuteil wird, beide wieder zu sehen, sooft ich aber auf der Terrasse des Kallenbergs stehe und über den Gartenschmuck des Herrensitzes in die lachende Landschaft hinabsehe, öffnen sich die Herzen im alten Vertrauen und ich fühle, daß diese alte gute Verbindung nicht nur ein Schmuck, auch Bereicherung meines Erdenlebens geworden ist.

Wenn ich nach dem Druck von »Soll und Haben« in die Winterwohnung zu Leipzig kam, fand ich einen Kreis vertrauter Männer, zunächst solcher, welche mit den drei gelehrten Freunden verkehrt hatten. Einer von ihnen, mein Verleger Hirzel, dessen Geschäft ich seit dem Druck der »Journalisten« verbunden war, empfing mich heiter mit dem Bericht, wie artig die deutschen Leser sich gegen den Roman verhielten. Salomon Hirzel stammte aus einem alten Patriziergeschlecht Zürichs, welches seit der Jugend Klopstocks seinen Namen auch in unsere Literatur eingezeichnet hat, er war ein kluger, vornehmer Geschäftsmann von reicher Bildung; überlegenes Urteil und seine sarkastische Laune machten ihn jedem, der sich eine Blöße gegeben hatte, gefährlich. Meine Verbindung mit ihm wurde eine so innige, wie sie nur irgend zwischen Schriftsteller und Verleger bestehen kann. Daß wir nebeneinander wohnten, kam dem Tagesverkehr zugute. Er war der aufmerksamste, zartsinnigste Freund, der meisterhaft verstand, durch kleine Ueberraschungen und literarische Gaben wohl zu tun, seine schöne Büchersammlung wurde eine Fundgrabe für meine Arbeiten. Bald gab auch ich mich dem Bücherkauf hin und wurde ein geschätzter Kunde der Antiquare.

Das Behagen an irdischer Existenz betätigt sich in dem Ansammeln von allerlei Dingen, welche lieb und begehrungswert erscheinen; der Zufall, die Mode leiten die Phantasie; ist erst ein kleiner Besitz gewonnen, so wird der Wunsch, ihn zu vergrößern, stärker, zuletzt wohl gar eine Leidenschaft, die der Mensch sorglich behüten mag, damit ihm nicht Pflichten verletzt, das Gleichgewicht gestört werde. Der Trieb regt sich früh im Kinde, er dauert bis ins höchste Lebensalter, er wechselt nach Zeit, Mode, Bildung, und wer eine Geschichte des Sammelns schreiben wollte, von den Schatzhäusern germanischer Könige herab über die Handschriften des Mittelalters, die Münzen, Bilder und Statuen der Renaissance, die Kunstkammern, geschnittenen Kirschkerne und das Porzellan des siebzehnten Jahrhunderts, die Tulpenzwiebeln und Conchylien der Holländer, bis zu den zahllosen Gegenständen des modernen Sammeleifers – der könnte manches Traurige und vieles Heitere aus dem Gemütsleben der Menschheit zur Anschauung bringen.

Auch von den Leipziger Freunden wurde eifrig und mit Einsicht gesammelt, wohl die Mehrzahl hegte eine stille Liebhaberei, nicht weniges davon ist der Literatur und Kunstgeschichte zugute gekommen. Zwar Mommsen hatte für seine Wissenschaft das Zusammentragen einer so unermeßlichen Menge alter Inschriften übernommen, daß ihm zu häuslichen Liebhabereien weder Zeit noch Raum blieb, und Haupt sah ohne jede Achtung auf den Sammeleifer der andern; er behauptete, daß ein solch begehrliches Einheimsen keine gute Wirkung auf den Charakter ausübe. Die übrigen ließen sich dadurch nicht stören. Otto Jahn sammelte Bücher, Briefe, Musikalien für die Lebensgeschichten von Mozart und Beethoven, Dr. Härtel, Chef der großen Handlung Breitkopf & Härtel, eine feinbesaitete Künstlernatur, der in seinem schön gebauten Hause viele Wandervögel der bildenden Kunst und Musik aufnahm, sammelte Stiche nach Raffael, der Buchhändler Georg Wigand Holzschnitte Ludwig Richters, von der befreundeten Familie der Cichorius wenigstens der eine, Eduard, ebenfalls Kupferstiche und Holzschnitte. Vor allen andern war Hirzel auch als Sammler großartig, in seiner Bibliothek stand eine Menge der seltensten Drucke aus früheren Jahrhunderten versammelt. Seine größte Freude aber war das Zusammentragen aller literarischen Erzeugnisse, welche irgendwie mit Goethe zusammenhingen: Ausgaben seiner Werke, Handschriften, Briefe und Bildnisse. Es war ihm gelungen, in seiner Goethe-Bibliothek wohl den größten Schatz zu vereinen, welchen ein Verehrer Goethes gewonnen hat, und seine Sammlung hat auch in unserer Literaturgeschichte die verdiente Würdigung gefunden. Ihm konnte man kein größeres Vergnügen bereiten, als wenn man ihm einen Brief des großen Dichters spendete, und seine Augen strahlten vor Freude, wenn er ein neu erworbenes Stück, das noch ungedruckt war und einigen Inhalt hatte, den Vertrauten vorzeigen konnte. Ich fürchte, daß er meine Teilnahme daran bisweilen für lau hielt.

Einer der entschlossensten Sammler war Haupts alter Freund, der Jurist Böcking aus Bonn; er trug bald für Hutten, bald für andere Lieblinge zusammen, kam wohl jedes Jahr einmal zu uns und den Leipziger Antiquaren, und hatte immer etwas Seltenes in der Tasche oder in Aussicht; er war ungewöhnlich gewandt im Entdecken verborgener Schätze und sorgte zuweilen auch für die Liebhabereien seiner Freunde. In diesem großen Gelehrten war eine seltsame Mischung von rücksichtsloser Derbheit und sentimentaler Weichheit, er wechselte leicht mit Gunst und Abneigung, strich sich die Menschen gern weiß oder schwarz an und wollte nicht leiden, daß die, welche für ihn gerade weiß waren, mit den schwarzen irgendwie Gemeinschaft pflogen. So oft einer von uns nach Bonn kam, übte er seine Tyrannei. Mit Hirzel stand er in alter Bundesgenossenschaft, dieser aber war mit dem anspruchsvollen und launischen Wesen des Freundes in der Stille gar nicht einverstanden, und Böcking, der große Zuneigung zu ihm hatte, merkte das wohl auch. Als er nun einmal nach Leipzig gekommen war, zog er bei Hirzel eine dicke Rolle aus der Tasche und knotete sie bedächtig auf; es war eine Sammlung kostbarer ungedruckter Briefe von Goethe, die er im Elsaß aus dem Briongschen Nachlaß erworben hatte. Hirzel blickte starr auf den Schatz und Böcking weidete sich an der aufsteigenden Sehnsucht, die er wohl erkannte. Als er dem Freunde eine Ahnung von dem unschätzbaren Werte dieses Besitzes gegeben hatte, packte er die Briefe wieder zusammen, steckte sie ein und sagte nachdrücklich: »Diese Sammlung ist für Sie bestimmt, Sie haben mich aber in der letzten Zeit schlecht behandelt, und ich muß die Zuteilung von Ihrem Verhalten gegen mich abhängig machen. Bin ich einmal mit Ihnen zufrieden, so bekommen Sie einen Brief.« Nun waren der Briefe sehr viele und Böckings Zufriedenheit mit einem Mitmenschen unberechenbar. Vergebens bäumte Hirzel gegen diese grausame Verheißung auf, Böcking hielt die Seele des Sammlers schadenfroh an den Flügeln fest. Von da an sandte er dem Freunde zuweilen am Geburtstag und zur Weihnacht einen einzelnen Brief aus dem Bündel, den Hirzel jedesmal mit gemischten Gefühlen aufnahm. Als aber einige Jahre darauf Hirzel nach Bonn kam und gegen die Forderung Böckings, bei ihm zu wohnen, mannhaft im Gasthofe einkehrte, erschien Böcking mit einer Droschke vor dem Gasthof, ließ Hirzels Gepäck, trotz aller Einwendungen, gebieterisch durch den Hausknecht aufladen und entführte den Gast in seine Wohnung. Dort lud er ihm einige Bekannte zum Essen; als Hirzel seine Serviette auseinanderschlug, fand er das Bündel Briefe als Angebinde darunter.

In dieser Gemeinschaft mit sammelfrohen Männern begann auch ich, alter Neigung folgend, in der Stille zusammenzutragen. Zunächst für meine geschichtlichen Liebhabereien. Immer hatte mich das Leben des Volkes, welches unter seiner politischen Geschichte in dunkler unablässiger Strömung dahinflutet, besonders angezogen, die Zustände, Leiden und Freuden der Millionen kleiner Leute. Dafür hatte ich schon in Breslau allerlei aus den Chronisten des Mittelalters eingesammelt. Für die ersten Jahrhunderte seit Erfindung des Bücherdrucks entdeckte ich viel in den Flugschriften, welche dem Bedürfnisse des Volkes zu dienen bemüht waren. Aber das Auffinden kleiner Drucke in den großen Bibliotheken war umständlich; was dort vorhanden war, stand häufig in Mischbänden unbequem gebunden, nicht ohne Mühe zu ermitteln. Deshalb legte ich eine Sammlung alter Flugschriften an, die Literatur der fliegenden Blätter und dünnen Quartbüchlein, alles was einst in Reimen und Prosa der Erheiterung und Belehrung und den Tagesinteressen des Volkes gedient hatte, von den Gedichten der Humanisten und den Reformationsschriften über den Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der neuen Literatur. Ich verdanke diesen Büchlein allerlei Kenntnis von Zuständen im Volk, Sitte und Brauch, die man in größeren Werken der vornehmen Literatur vergebens sucht.

Nun hatte ich für die Grenzboten eine Anzahl Bilder geschrieben, in denen Aufzeichnungen vergangener Menschen benutzt wurden, um von dem Gemütsleben und den Verhältnissen alter Zeit zu erzählen. Jetzt, wo ich von einer größeren Arbeit ausruhte, kam mir der Gedanke, diese Schilderungen zu erweitern und in geschichtlicher Reihenfolge zusammenzustellen. Wenn man bei den Schicksalen der einzelnen das für ihre Zeit Gemeingültige heraushob, so konnte eine Folge solcher Schilderungen auch von geschichtlichen Wandlungen in Sitte, Brauch, Lebensverhältnissen der Nation eine Vorstellung gehen. Ich griff zuerst in die Jahrhunderte der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges hinein. Hier war Gelegenheit geboten, die große Gestalt Luthers im Zusammenhange mit seiner Zeit zu behandeln; auch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren die Verwüstung, die Leiden des Volkes und das gesamte Heerwesen, trotz einer massenhaften Literatur, noch wenig bekannt. Das Buch wurde unter dem Titel »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« 1859 gedruckt und meinem Verleger Hirzel zugeschrieben.

Es war keine schwere und es war eine behagliche Arbeit, der ich mich unterzogen hatte, sie sollte auch für den Leser so leicht und anmutend werden, daß sie ein Hausbuch gebildeter Familien abgeben konnte. Doch leichtsinnig wurde sie nicht gemacht, es sind dafür zu anderem einige Tausend kleiner Flugschriften durchgesehen worden. Alle kulturgeschichtlichen Werke, welche die ungeheure Masse des Stoffes in systematischer Einteilung zu bewältigen versuchen, entgehen schwer dem Uebelstand, langweilig zu werden, und gleichen in ihrer Schilderung alter Sitten, Gebräuche, Lebensgewohnheiten zuweilen großen Trödelläden mit alten Kleidern, zu denen die Menschen fehlen, die einst damit bekleidet waren. In den Bildern ist die entgegengesetzte Methode gewählt. Es sind, wo es immer möglich war, einzelne Menschen als alter Zeit heraufgeholt, welche sich selbst dem Leser wert zu machen suchen, und der Verfasser beschränkt sich darauf, bescheiden von der Seite auf ihre Tracht, ihr Gebaren und Wesen hinweisen. Vielleicht lernt der Leser auf diesem Wege am meisten von dem Charakter der alten Zeit kennen, obgleich nicht selten dem Zufall überlassen bleibt, was gerade aus der Fülle des Stoffes hervorgehoben wird.

Die freundliche Aufnahme, welche das Buch fand, bestärkte mich in der Ansicht, daß es einem Bedürfnis entgegenkomme, und ich schrieb deshalb in den folgenden Jahren eine Fortsetzung unter dem Titel »Neue Bilder aus der deutschen Vergangenheit«, welche 1862 gedruckt wurde. Darin behandelte ich in ähnlicher Weise die Neuzeit bis in unser Jahrhundert. Für diesen Band wurde Friedrich der Große und sein Staat der Mittelpunkt, Ausführungen und eigene Zutat durften hier reichlicher sein.

In diesen Jahren gaben meine drei Gelehrten viel zu tun. Namentlich Mommsen schuf Not. Denn kaum hatte man eines seiner Werke in sich aufgenommen, so war eine andere große Arbeit da, welche wieder zwang ihm nachzugehen. Durch seine römische Geschichte und noch mehr durch kleinere Abhandlungen kam ich dazu, mich mit der ältesten Zeit Italiens und den Schicksalen der Tiberlandschaft zu beschäftigen. Rom erschien schon in seiner ersten politischen Einrichtung als ein Kunstbau, in welchem frühere Bundesgenossenschaften von Bauern und deren Häuptlinge durch Königsgewalt zu einem kleinen Staat mit einer zweckvoll zugerichteten Staatsreligion geformt waren; und ich suchte mir die Zustände solcher alten Clane deutlich zu machen, aus denen das römische Wesen zusammenwuchs. Dabei stieg das Bild eines römischen Verbandes auf, dessen Ueberlieferungen noch in die Urzeit reichen und der mit seinen Ansprüchen im Kampf gegen die Bedürfnisse des neugebildeten Staatswesens untergeht. Das Geschlecht der Fabier wurde Mittelpunkt eines Trauerspiels.

Nun waren aber unser Theater und unsere Schauspieler, welche einem breiten, immer zunehmenden Tagesbedürfnis zu dienen haben, für die tragischen Aufgaben der Kunst nicht mehr recht geeignet; die Heldenväter waren im Aussterben, jüngere namhafte Talente gehörten vorzugsweise dem sogenannten Charakterfach an. Der Aufführung älterer Trauerspiele, welche auf unserer Bühne Bürgerrecht gewonnen haben, kamen noch die Erfindungen früherer Schauspieler zugute; denn die Auffassung derselben und zahlreiche Einzelheiten ihres Spieles gingen auf die späteren über, und man konnte bei jüngeren Künstlern oft die Vorbilder erkennen, denen sie ihre Kunstwirkungen in tragischen Rollen abgelernt hatten. Am besten gediehen den Schauspielern die Helden Schillers; aber sein prachtvoller Vers und die langen Wellen, in denen seine pathetische Empfindung ausströmt, waren einem scharfen Charakterisieren gar nicht günstig und verlockten zu schwungvollem Vortrag. Das machte die Aufführung neuer Trauerspiele zu einer mißlichen Aufgabe für Dichter und Bühnenleiter. Vollends die römische Welt war durch Shakespeares Coriolan und Julius Cäsar und durch zahlreiche Nachahmungen in derselben Schablone den Zuschauern sattsam bekannt, und gegenüber der stillen Sehnsucht jeder Zeit, neue Verhältnisse in neuer Behandlung zu sehen, ein wenig verbraucht. Deshalb gedachte ich diesmal gerade ein Stück zu schreiben, welches den Darstellern der Hauptrollen die schwersten Aufgaben stellte und das Höchste zumutete, und zwar in einer Verssprache, welche so schmucklos sein sollte, daß sie ihnen den Mangel an eigenem Schaffen nicht deckte, sondern in jedem Augenblicke zwang, selbst zu erfinden, um die angedeuteten Wirkungen der Rolle herauszubringen. Ich wußte wohl, daß ein solches Drama, selbst wenn es glückte, keinen Bühnenerfolg haben konnte wie die früheren, und ich wollte es auch nicht auf diesen Weg treiben; es konnte warten, bis einmal Darsteller kamen, welche die Aufgabe zu bewältigen wußten. Dabei suchte ich noch einige stille Wünsche zu befriedigen. In der szenischen Einrichtung sollte dem Uebelstand, daß aus unserer tiefen Bühne die Gruppen einander zu sehr decken, durch einen Treppenbau abgeholfen werden. Auf diesem stellte sich der einzelne beim Kommen und Gehen besser dar, und jede größere Menschenzahl wurde leichter und wirksamer verteilt. Endlich lag mir auch am Herzen, das Zusammenspiel der Hauptdarsteller und der Menge anders einzurichten, als seither Brauch war. Die schönen Volksszenen bei Shakespeare, denen die späteren in der Regel nachgemacht sind, werden durch die eintretende Prosa im Tone zu stark von den Versen des übrigen Textes abgesetzt. Dagegen liegt in dem Zusammensprechen derselben Worte durch mehrere Personen, wenn dasselbe geschickt eingerichtet und nach den Stimmlagen der einzelnen sorgfältig einstudiert wird, eine Reihe guter Wirkungen, welche zurzeit auf unserm Theater noch kaum benutzt sind. Auch diese Neuerung wollte ich dem Stück zuteilen.

Unter solchen Erwägungen entstand im Sommer 1858 zu Siebleben das Trauerspiel »Die Fabier«. Dem Verfasser wurde dabei der volle Genuß zuteil, welcher mit dem Erfinden tragischer Momente verbunden ist. Es ist der höchste, den der Dichter erhalten kann; man meint während des begeisterten Schaffens bei einzelnen Stellen zu empfinden, wie sich das eigene Haar auf dem Haupte sträubt. Dieser eigentümliche Genuß des Furchtbaren ist dem Dichter weit mehr und wohltuender als dem Zuschauer beschieden. – Bis zum Frühjahr 1859 beendigte ich das Werk in Leipzig und ließ es in Abweichung von früherem Brauch sogleich im Buchhandel erscheinen. Das Buch sandte ich an die Gefährten: Laube in Wien, Devrient in Karlsruhe, sonst nur noch nach Berlin, Dresden und zwei bis drei Theater. Auf diesen Bühnen wurde es in den nächsten Wintern aufgeführt. Bei den Vorstellungen, welche ich sah, ging es ungefähr wie ich erwartet hatte: Die Schauspieler gaben sich redlich Mühe, und vieles gelang recht wohl, aber die Hauptsache, die tragische Wucht, welche für die Hauptrolle und für das Stück unentbehrlich ist, fehlte überall. Die Zuschauer nahmen – außer in Dresden, wo der Erfolg gering war – das fremdartige Stück mit guter Teilnahme auf, aber es hat sich nirgends auf dem Repertoir erhalten.

Die Freude an meiner Arbeit wurde mir noch vor der Beendigung durch den Tod meines Bruders Reinhold verkümmert. Er hatte durch einige Jahre als Staatsanwalt zu Gleiwitz in angestrengter Tätigkeit gelebt, hatte im Sommer 1858 als Landwehroffizier die Uebung mitgemacht und die tödliche Krankheit, welche damals in den Dorfquartieren Oberschlesiens herrschte, heimgebracht. Als er nach kurzem Leiden im blühenden Mannesalter starb, verlor der Staat an ihm einen guten Beamten, ich meinen ältesten Freund. Ein reines und schönes Familienglück war zerstört. Er hinterließ der geliebten Frau die Sorge für fünf Waisen, die zum Teil noch im zarten Kindesalter waren. Meine Schwägerin zog kurz darauf mit den Kindern nach Thüringen in meine Nähe. Von den Geliebten des Elternhauses war ich jetzt allein übrig.

Die Beobachtungen, die ich über das eigene Trauerspiel gemacht, legten nahe, die Lebensbedingungen des dramatischen Schaffens an Stücken hohen Stils wieder genau einmal ins Auge zu fassen. Ich hatte dazu noch eine andere Veranlassung: die häufige Zusendung von Bühnenwerken jüngerer Dichter, welche ein Urteil über ihr Stück und wohl gar über die Stärke eines Talentes, welches sich noch gar nicht erwiesen hatte, von mir forderten. Nicht immer war es leicht, solches Vertrauen abzulehnen, und doch konnte an dem fertigen Stück auch eingehende Kritik vielleicht einzelne Uebelstände entfernen, in den Hauptsachen nichts bessern. Eine Darstellung der Lebensbedingungen des Dramas vom technischen Standpunkt aus mochte für andere nicht unnütz sein und mir eine zeitraubende und in den meisten Fällen unfruchtbare Arbeit ersparen. Nun hatte ich bereits einzelnes darüber in Aufsätzen der Grenzboten veröffentlicht, jetzt arbeitete ich alles, was ich etwa zu geben hatte, in ein Buch zusammen: »Die Technik des Dramas«, welches ich im Winter 1863 drucken ließ. Einzelnen Abschnitten der Arbeit sah man wohl an, daß sie aus schnell geschriebenen Aufsätzen einer Zeitschrift entstanden waren; in späteren Auflagen suchte ich diese Mängel zu beseitigen. Das Werk hatte äußerlich besseren Erfolg als ich angenommen, und es fand in den Abschnitten über die antike Tragödie auch wohlwollende Beachtung der Philologen, aber die gute Wirkung, welche ich für die Schaffenden davon gehofft hatte, und vollends die Entlastung meines eigenen Briefschreibens, traten nicht ein. Im Gegenteil, die Zusendungen wurden überreichlich. Meine jungen Genossen pflegten ihr Vertrauen seitdem fast regelmäßig durch die Versicherung zu begründen, daß sie die »Technik« gründlich durchgenommen hätten und daß alles, was ich gefordert, in ihrer Arbeit zu finden sei. Ich aber vermochte nur selten dieselbe Meinung zu gewinnen.

Das Buch schrieb ich dem Grafen Wolf Baudissin, dem Uebersetzer Shakespeares, zu. Wenn ein himmlischer Bädeker, einer der wohlbewanderten Engel, welche dort oben die Merkwürdigkeiten der Erde verzeichnen, sich herablassen wollte, ein Menschenkind durch die Straßen deutscher Städte und Landschaften zu führen, so würde ihm der Arm wehe tun von vielem Hinzeigen auf die Häuser, in denen bei uns gute und tüchtige Menschen wohnen; es sind ihrer so viele im Lande, daß es nur einem Unsterblichen möglich ist, sie alle zu kennen. Das ist die beste Habe und der wohlberechtigte Stolz der Deutschen. In Dresden aber war das letzte Haus der Pirnaischen Straße, welches nach dem Großen Garten zu liegt, eine solche Stelle, nach welcher der erwähnte Führer mit besonderen Nachdruck und mit zwei Sternen in seinem Buch hingewiesen hätte. Dort war die Winterwohnung Wolf Baudissins, der in höherem Alter mit der geliebten Gattin ein Stilleben führte, das durch die Gunst guter Mächte wie geweiht erschien. Die hohen Jahre, in denen sonst dem Menschen die Teilnahme an den Kämpfen eines jüngeren Geschlechts vermindert wird, waren fast spurlos über sein Haupt hingezogen und es herrschte bei ihm wie unzerstörbar Frieden, Ruhe und ein heiteres Licht, welches aus zwei warmen Menschenherzen ausstrahlte. Eine Lebensskizze des Freundes wird in einem späteren Bande der »Gesammelten Werke« zu finden sein, hier darf ich nur erwähnen, wie wert er und seine Gattin auch mir wurden. So oft ich dort als Gast einzog, verlebte ich gute Tage im regen Austausch der Ansichten und im Mitgenuß des Schönen, womit die lieben Menschen ihr Leben und Dichten erfüllt hatten. Baudissin war von einer rührenden Bescheidenheit, er verstand wundervoll, den Inhalt des anderen zur Geltung zu bringen, ohne doch die eigene Selbständigkeit aufzugehen; seine Freude an allem, was dem Freunde etwa gelang, war warm und sein Verständnis fein; man fühlte sich bei ihm wie in reiner Luft, immer in behaglich gehobener Stimmung, und die Stunden, in denen er die sorgfältig abgeknipte Zigarre herantrug und neben dem Teekessel zurechtlegte, gehören zu den glücklichsten, die ich bei diesen dampfenden Symbolen geselligen Behagens verlebt habe. Die Freunde erwiesen sich auch als gute Briefschreiber, welche alles, was sie gerade anregte und beschäftigte, anmutig mitzuteilen wußten. Dieser besondere Vorzug eines älteren Geschlechtes, der uns jetzt kleiner wird, erhielt das Zusammenleben für die Zeit, in welcher der persönliche Verkehr fehlte. Und das innige Bundesverhältnis zu dem stillen Hause ist dem Verfasser auch nach dem Tode des Freundes geblieben. Oft hatten wir miteinander über die Gesetze des künstlerischen Schaffens gesprochen, und als ich ihm die Technik zusandte, geschah dies mit dem Bewußtsein, daß er in den Dingen, die darin behandelt wurden, schon längst mein Vertrauter war.

Während mich das Buch beschäftigte, wurde ich in die Kommission zur Erteilung des Berliner Schillerpreises für neue dramatische Werke berufen. Diesen Preis hatte König Wilhelm als Prinzregent eingesetzt, der Befehl war eine seiner ersten öffentlichen Kundgebungen, und die Absicht der Stiftung, in königlicher Weise der deutschen Poesie wohlzutun, war auch allgemein dankbar erkannt worden. Als eine erwählte Kommission zum erstenmal über die Preiserteilung zu entscheiden hatte, waren gerade »Die Fabier« erschienen und in Frage gekommen. Die Kommission, meist aus großen Gelehrten der Universität Berlin: Ranke, Boeckh usw. zusammengesetzt, hatte sich nicht entschließen können, eines der fraglichen Stücke für den Preis vorzuschlagen. Nun wäre es richtig gewesen, gerade das erstemal den Preis zu geben, zumal außer den »Fabiern« noch andere Stücke vorlagen, welche Beachtung beanspruchen durften. Wollte aber die Kommission keines der Stücke wählen, so mußte sie doch ihre Abschätzung des Vorhandenen geheimhalten. Da ihr dies nicht gelang, und da die Zeitungen von den Urteilen der Kommission und von ihrem Vorsatz plauderten, die »Fabier« vielleicht für die bestimmte Geldsumme, nicht aber für die Ehre des Preises vorzuschlagen, so sah ich mich veranlaßt, den Kultusminister – damals noch Bethmann Hollweg – anzugehen, er möge im Interesse der Stiftung bei der ersten Preisverteilung eine solche halbe Maßregel abhalten, jedenfalls bewirken, daß man von mir gänzlich absehe, da nach den bereits öffentlich besprochenen Ansichten der Kommission für mich irgendwelche Zuwendung mehr Kränkung als Ehre sein müsse. Der Minister antwortete zustimmend, der Preis wurde nicht erteilt. Aber für die nächste Wahl wurde ich selbst zu einem Mitglied der Kommission bestimmt. Ich ging also nach Berlin mit der Absicht, dort womöglich die Stiftung wirksam zu machen. Bei den würdigen Herren von der Universität fand sich aber nicht viel guter Wille, einer und der andere von ihnen hatte vielleicht seit langen Jahren kein Theater besucht, und sie waren, um alles zu sagen, als Preisrichter über ein neues Drama so übel daran, wie ein kleiner Trupp Elefanten, welchem zugemutet wird, Hackenschottisch zu tanzen; fast jeder trottete seinen eigenen Weg und sie trompeteten wohl auch einmal gegeneinander. Einer von den Größten, welchem bei einem Besuch vorgestellt wurde, daß die ganze Idee der Stiftung und die Rücksicht auf die gute Meinung des Königs dazu dränge, den Preis zu erteilen, gab sehr bereitwillig zu, daß auch er die Notwendigkeit einsehe, aber dem fraglichen Stück – es waren Hebbels Nibelungen – könne er nicht zustimmen. Nun sei ja ein anderes Stück vorhanden, das ihm die Frauen des Abends vorgelesen hätten, dem würde er den Preis gehen. Obgleich dies Stück von keiner anderen Seite Anerkennung gefunden hatte, mußte man doch antworten: »Also schlagen Sie es nur vor.« Er aber versetzte: »Ich werde mich wohl hüten, andere Herren würden doch nicht zustimmen.« »Dann also bleiben nur die Nibelungen.« »Kann ich nicht.« Gegen solche Logik war schwer anzukämpfen. Auch einer der nächsten Genossen zeigte wenig guten Willen; vergebens trank ich ihm bis lange nach Mitternacht seinen Wein aus, und vergebens ließ ich das schwarze Eichhörnchen seiner Kinder immer wieder innerhalb der Rockärmel hinauflaufen, damit ihm das nächtliche Erscheinen und Verschwinden in der Tarnkappe eine freundlichere Ansicht über gewagte dramatische Wirkungen in den »Nibelungen« nahe lege, er blieb strotzig. Zuletzt gelang es der gebelustigen Partei doch, in der Sitzung die nötige Stimmenzahl für Erteilung des Preises zu gewinnen.

Mir aber kam diese Begegnung mit akademischen Charakteren und die heiteren Eindrücke derselben gerade recht, denn ich war eben dabei, die Art deutscher Professoren in Betracht zu nehmen und einem poetischen Gericht zu unterziehen. Ich schrieb in dieser Zeit über dem Roman »Die verlorene Handschrift«.

In dieser Erzählung schilderte ich Lebenskreise, welche mir seit meiner eigenen akademischen Zeit vertraut waren: die Wirtschaft auf dem Lande und die Universität. Möchte man den Schilderungen ansehen, daß ich hier recht mühelos und froh aus dem Vollen geschöpft habe. Bei den Gestalten der akademischen Welt würde man vergebens nach bestimmten Vorbildern suchen, denn Herr und Frau Struvelius, Raschke und andere sind Typen, denen wohl auf jeder deutschen Universität einzelne Persönlichkeiten entsprechen. In dem Charakter des Professors Werner hat man meinen Freund Haupt erkennen wollen. Es ist aber darin nur so viel von Haupts Art und Weise zu finden, als ein Dichter von dem Wesen eines wirklichen Menschen aufnehmen darf, ohne sich die Freiheit des Schaffens zu beeinträchtigen und ohne den andern durch Unzartheit zu verletzen. Eine gewisse, immerhin entfernte, Aehnlichkeit empfand Haupt selbst mit Behagen und dieser Zugehörigkeit zu dem Roman gab er in seiner Weise dadurch Ausdruck, daß er sich einigemal bei Sendung seiner Berliner Programme oder den lateinischen Geschichtschreiber Ammianus auf diesen in guter Laune als »Magister Knips« verzeichnete, der in dem Roman eine traurige Rolle zu spielen hat und zuletzt nur durch den Gedanken an seine gelehrten Arbeiten über Ammianus davor bewahrt wird, sich selbst aufzuhängen.

Schon einige Jahre vor dem Erscheinen von »Soll und Haben« hatte Haupt mich plötzlich aufgefordert, einen Roman zu schreiben. Dies stimmte damals mit stillen Plänen und ich hatte ihm zugesagt. Zu der verlorenen Handschrift aber steuerte er in ganz anderer Weise bei. Denn als wir einmal zu Leipzig, noch vor seiner Berufung nach Berlin, allein beieinander saßen, offenbarte er mir im höchsten Vertrauen, daß in irgendeiner westfälischen kleinen Stadt auf dem Boden eines alten Hauses die Reste einer Klosterbibliothek lägen. Es sei wohl möglich, daß darunter noch eine Handschrift verlorener Dekaden des Livius stecke. Der Herr dieser Schätze aber sei, wie er in Erfahrung gebracht, ein knurriger, ganz unzugänglicher Mann. Darauf machte ich ihm den Vorschlag, daß wir zusammen nach dem geheimnisvollen Hause reisen und den alten Herrn rühren, verführen, im Notfall unter den Tisch trinken wollten, um den Schatz zu heben. Weil er nun zu meiner Verführungskunst bei gutem Getränk einiges Zutrauen hatte, so erklärte er sich damit einverstanden, und wir kosteten das Vergnügen, den Livius für die Nachwelt noch dicker zu machen, als er ohnedies schon ist, recht gewissenhaft und ausführlich durch. Aus der Reise wurde nichts, aber die Erinnerung an jene beabsichtigte Fahrt hat der Handlung des Romans geholfen.

In Leipzig hatte ich kurze Zeit auf der letzten Straße am Rosental bei einem Hutmacher gewohnt, der in seiner Fabrik Strohhüte verfertigte; neben ihm war zufällig ein anderes wohlbekanntes Geschäft, welches den Bedürfnissen des männlichen Geschlechts durch Filzhüte entgegenkam. Dieser Zufall veranlaßte die Erfindung der Familien Hummel und Hahn, doch auch hier sind weder die Charaktere noch die Familienfeindschaft der Wirklichkeit nachgeschrieben. Nur die Tatsache ist benützt, daß mein Hauswirt besondere Freude daran fand, seinen Hausgarten durch immer neue Erfindungen auszuschmücken: die weiße Muse, die Hängelampen und das Sommerhaus am Wege habe ich dem Gärtchen entnommen. Außerdem sind zwei Charaktere seines Haushalts, gerade die, welche wegen ihres mythischen Charakters Anstoß erregt haben, genaue Kopien der Wirklichkeit: die Hunde Bräuhahn und Speihahn. Diese hatte mein Hauswirt irgendwoher als Wächter seines Besitzes erstanden, sie erregten durch ihr köterhaftes Verhalten den Unwillen der ganzen Straße, bis sie einmal von einem erzürnten Nachbar vergiftet wurden; Bräuhahn starb, Speihahn blieb am Leben und wurde seit der Zeit ganz so struppig und menschenfeindlich, wie er im Roman geschildert ist, so daß ihn nach zahllosen Missetaten, die er verübt, sein Besitzer wieder auf das Land geben mußte.

Der Roman erschien im Herbst 1864 in drei Bänden, die beiden ersten zusammen, der dritte, wegen Erkrankung des Verfassers, einige Wochen später. Die Teilung war für diesen Fall besonders unbequem, weil der dritte Band den Bedürfnissen der Handlung gemäß ernste Konflikte und deshalb im ganzen eine etwas dunklere Farbe zeigte. Aber auch davon abgesehen war die Trennung ein Uebelstand. Denn der Roman, welcher den Anspruch erhebt, ein Dichterwerk zu sein, soll nur als ein Ganzes das Gemüt des Lesers beschäftigen. Vollends das Zerreißen in kleine Teile, wie es bei einem Abdruck in periodischen Blättern Brauch geworden ist, halte ich für ein Unrecht gegen die Kunst. Die kleinen Wirkungen werden die Hauptsache, und das Größte im Werke, die dichterische Bildung der gesamten Handlung, geht dem Leser fast verloren. Auch neuere Romandichter der Engländer, vor allen Boz, sind durch die bruchstückweise erfolgten Veröffentlichungen ihrer Geschichten zum Schaden ihrer Kunst beeinflußt worden. Was würde man von dem Maler oder dem Musiker denken, welche eine große Komposition in einzelnen Stücken nach und nach dem Publikum zuwenden wollten?

Die verlorene Handschrift fand bei meinen vertrauten Kritikern Widerspruch; die dunklere Färbung des letzten Bandes gab Anstoß, dann der Umstand, daß die religiösen Konflikte und die geistige Entwicklung der Heldin Ilse nicht in den Vordergrund gestellt waren, endlich, daß Felix Werner für die Pflichtverletzung gegen seine Gattin nicht härter gestraft wurde. Vor allem befremdete der Cäsarenwahn des Fürsten, und dem Verfasser wurde entgegengehalten, daß solche Gestalt in unserer Zeit nicht mehr möglich sei. Meine Freunde hatten in diesen Ausstellungen unrecht. Auch der Fürst und sein Sohn, der Erbprinz, sollen Typen sein; der erste zeigt Vorbildungen eines älteren Geschlechts, welches aus dem Verderb der napoleonischen Zeit herausgekommen war, der jüngere den Druck und die Enge des kleinstaatlichen Lebens der damaligen Zeit.

Wer die Idee des Romans wohlwollend erwägt, kann finden, daß sie große Aehnlichkeit mit der von »Soll und Haben« hat. Doch ist die Behandlung eine verschiedene, und die Aehnlichkeit wird dem Leser kaum auffällig werden. In die unsträfliche Seele eines deutschen Gelehrten werden durch den Wunsch, Wertvolles für die Wissenschaft zu entdecken, gaukelnde Schatten geworfen, welche ihm, ähnlich wie Mondlicht, die Formen in der Landschaft verzieht, die Ordnung seines Lebens stören, zuletzt durch schmerzliche Erfahrungen überwunden werden. Ebenso bestimmen übermächtige Eindrücke die junge Seele Anton Wohlfarts in »Soll und Haben«, bis er sich von ihnen befreit. Da bei dem neuen Roman die Voraussetzungen: Tacitus, eine verlorene Handschrift des Mittelalters, und das Interesse des Gelehrten am Wiederfinden des versteckten Schatzes nicht leicht verständlich waren, entschloß ich mich kurz, dem Leser nichts von den Beschwerden der ersten Aufnahme zu ersparen, sondern ihm gleich im Anfange etwas zuzumuten; das mochte manchen abschrecken, es gab aber der ganzen Erzählung einen sicheren Hintergrund. Meine lieben Landsleute ließen sich die Ansprüche, welche die Erzählung stellt, nachsichtig gefallen, auch der Verleger war nicht unzufrieden. Der Roman hat sich einen Leserkreis bewahrt, der ungefähr halb so groß ist als der von »Soll und Haben«.

Dem Verfasser aber sei hier noch gestattet, zu seiner und seiner Berufsgenossen Ehre die frei erfundenen Erzählungen in Prosa zu loben.

Der Roman, viel gescholten und viel begehrt, ist die gebotene Kunstform für epische Behandlung menschlicher Schicksale in einer Zeit, in welcher tausendjährige Denkprozesse die Sprache für die Prosadarstellung gebildet haben. Er ist als Kunstform erst möglich, wenn die Dichtung und das Nationalleben durch zahllose geschichtliche Erlebnisse und durch die Geistes- und Kulturarbeit vieler Jahrhunderte mächtig entwickelt sind. Wenn wir aus solcher späten Zeit auf die Vergangenheit eines Volkstums zurücksehen, in welcher jede erhöhte Stimmung in gebundener Rede austönte, so erscheint uns, was damals unter anderen Kulturverhältnissen der notwendige Ausdruck des Erzählenden war, als besonders vornehm und ehrwürdig. In Wahrheit aber ist die Arbeit des modernen epischen Dichters, dessen Sprachmaterial die Prosa ist, genau in demselben Grade reicher und machtvoller geworden, wie die Fähigkeiten seiner Nation, das innere Leben des Menschen durch die Sprache zu schildern. Denn die Geschichte der Poesie ist im höchsten Sinne nichts anderes als die historische Darstellung der Befähigung jeder Zeit, dem, was die Seele kräftig bewegt, Ausdruck durch die Sprache zu geben.

Bei einem Volke von aufsteigender Lebenskraft ist dieser Ausdruck des innern Lebens, das Gebiet der Stoffe und was von dem Wesen des Menschen darstellbar ist, in jeder früheren Zeit enger und ärmer als in der späteren. Alle Fortschritte in der Bildung zeigen zunächst in der vermehrten Fähigkeit der Sprache, Gedanken und Empfindungen in Worte zu fassen, und demnach in der Fähigkeit der Poesie, Geheimes von Gefühlen und Charakteristisches der Menschennatur wirkungsvoll auszudrücken. Wenn uns das reizvolle Volkslied, die epische Erzählung, ja auch die dramatische Poesie irgendeiner vergangenen Zeit in ihrer Eigentümlichkeit schön, groß, gewaltig erscheinen, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß in jeder Zeit die Zahl der Stimmungen, der Charaktere und Situationen, deren Darstellung den alten Dichtern lockend und möglich war, nicht nur im ganzen sehr viel geringer war als in der Gegenwart, sondern daß diese größere Befangenheit und Enge auch an dem einzelnen, selbst dem schönsten Kunstwerk fühlbar wird.

Das Mehr der modernen Erfindung ist nach allen Richtungen erkennbar in der Mannigfaltigkeit und Genauigkeit der Schilderungen, in Stil und Färbung, vor allem aber in dem freien Ersinnen einer Handlung, welche menschliches Schicksal nach dem Verständnis und den Bedürfnissen des gebildeten Bewußtseins zusammengefügt und nach den Gesetzen schöner Wirkung ordnet. Es versteht sich, daß diese Tätigkeit des Dichters keiner Zeit und keinem Volke gänzlich fehlt. Auch die alten Sänger, welche die Odyssee schufen, fügten bewußt und um eine Wirkung hervorzubringen die Schiffersagen des Mittelmeeres aneinander und erfanden dazu die breiter ausgeführte Erzählung von den Ereignissen in Ithaka bei der Rückkehr des Odysseus. Und auch für uns ist nach 2500 Jahren ein Unterschied in Ton und Farbe zwischen dem ersten und zweiten Teil erkennbar. Aber wenn nicht geleugnet werden soll, daß der erste Teil, die Seeabenteuer, im ganzen den hohen epischen Stil fester bewahrt, so wird doch immer die zweite Hälfte, in der wir hie und da Schwäche in Einzelheiten der Komposition und vielleicht eine gewisse Begrenzung der dichterischen Begabung wahrnehmen, unvergleichlich stärkere Wirkung hervorbringen, und zwar deshalb, weil wir die eigene Arbeit des Dichters in der größeren Ausführung und den freier erfundenen Situationen deutlich erkennen, das heißt, weil dieser Teil der modernen Weise des Schaffens näher steht. Doch wir haben gar nicht nötig, bis zur Odyssee zurückzugehen, auch in unserer deutschen Vergangenheit finden wir, seit der Prosaroman auftritt, in jedem Zeitabschnitt der Vergangenheit, daß die eigene Arbeit des Dichters im Zusammenfügen der Handlung weniger frei und in Schilderung der Charaktere weniger sicher und reich ist, als wir von einem Roman der Gegenwart verlangen. Das gilt für Deutsche selbst noch von Goethes Romanen.

Nun enthalten auch der moderne Roman und seine kleine Schwester, die Novelle, immer wiederkehrende Situationen, welche allen gemeinsam sind. Denn wie in alter Zeit der Gegensatz und Kampf zweier Helden, so ist in unserem Roman das Verhältnis zweier Liebenden die leitende Idee. Aber die Mitte, dies Gemeinsame durch Farbe und Schilderung immer wieder neu, eigentümlich und fesselnd zu machen, sind unermeßlich größer als in der Zeit des alten Epos.

Und die Sprache? Die hohe Schönheit des rhythmischen Klanges bei Homer und den Nibelungen, ja auch noch bei Dante und Ariost, entgeht doch der Erzählung des modernen Dichters. Auch hier gilt der Vergleich, daß die Formen des Kindes eigenartige Schönheit haben, welche der Leib des Erwachsenen nicht besitzt. Dagegen reichlich andere, welche im ganzen bedeutender und mannigfaltiger sind. Jene alten Dichter schufen in Versen, weil es zu ihrer Zeit noch keine Prosa gab, die zu reichem Ausdruck seelischer Stimmungen und zu gehobener Schilderung befähigt war. Was uns als besondere Schönheit der Alten erscheint, ist im letzten Grunde der größte Mangel. Auch unsere erzählenden Dichter vermögen einmal ihre Erfindung mit rhythmischem, hohem Klang zu umkleiden, und eine Literatur, welche Hermann und Dorothea unter ihrer wertvollsten Habe besitzt, wird die Bedeutung des Verses nicht gering achten dürfen. Aber der moderne Dichter weiß auch, daß er gegen die vornehme Schönheit, welche der Vers für unsere Empfindung hat, vieles andere, was nicht weniger schön, reizvoll, fesselnd ist, in Kauf geben muß: Die behagliche Fülle der Schilderungen, den scharf charakterisierenden Ausdruck, das meiste von seiner guten Laune und dem Humor, mit welchem er menschliches Dasein zu betrachten vermag, das geistreiche Scherzwort, die scharf bestimmte Ausprägung eines Gedankens, nicht zuletzt die Mannigfaltigkeit und Biegsamkeit des sprachlichen Ausdrucks, welcher sich in Prosa bei jedem Charakter, bei jeder Schilderung anders und eigenartig äußern kann. Die ungebundene Rede ist in unserem wirklichen Leben ein wundervoll starkes und reiches Instrument geworden, durch welches die Seele alles auszutönen vermag, was sie erhebt und bewegt. Deshalb dürfen wir auch ihre Herrschaft in der erzählenden Dichtung nicht für eine Minderung, sondern für eine Verstärkung des poetischen Schaffens halten.

Der Roman ist auch von allen Gattungen der Poesie die, welche sich als Kunstform am spätesten entwickelt, später noch als das Drama; die Würdigung darf uns nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß schwaches und schlechtes Schaffen sich darin in übergroßer Reichlichkeit kundgibt. Welcher Gattung der Poesie hat, wenn sie gerade nach dem Zuge der Zeit obenauf war, die Masse des Schlechten gefehlt? Wären alle die epischen Gedichte des alten Hellas, welche schon den späteren Griechen sagenhaft waren, bis in unsere Zeit erhalten, wir würden bei dem Durchstudieren die allergrößte Langeweile empfinden, die Armut der Dichter im Ausdruck der inneren Gemütsprozesse, die unablässige, ewige Wiederkehr derselben Beschreibung und der Kämpfe ohne inneres Leben wäre gar nicht auszuhalten. Der Umstand, daß der schnell bereitete Bücherdruck und die hochgestiegene Leselust das unberufene Schreiben so sehr begünstigen, ist ein Uebelstand, aber ein unvermeidlicher.

Unsere gesamte Bildung wird durch geschichtliches Wissen geleitet. Alles was in irgendeiner Vergangenheit des Menschengeschlechts für groß, gut, schön und begehrenswert galt, dringt, soweit es erhalten ist, in unsere Seelen und trägt dazu bei, uns die Ansichten und den Geschmack zu richten. Solch unermeßlicher Reichtum an bildendem Stoff ist unsere Stärke, aber auch unsere Schwäche, er verleiht uns dem Neuen gegenüber oft eine Tiefe der Einsicht und eine Größe des Urteils, wie sie in keiner der vergangenen Perioden möglich waren. Ebensooft macht er uns einseitig und verhindert unbefangene Schätzung dessen, was aus den Bedürfnissen unseres eigenen Lebens heraufwächst, ja er mindert uns zuweilen auch die Fähigkeit, frisch nach dem Zuge unserer Zeit zu gestalten. Nirgend wird dies auffallender als bei den Urteilen über den Wert einer künstlerischen Erfindung. Zur Zeit Shakespeares galt das dramatische Schaffen durchaus nicht für vornehm, kaum für eine ernsthafte Dichterarbeit, ebenso wie in der Gegenwart das Romanschreiben. Und doch ist wohl möglich, daß man in irgendeiner Zukunft für den größten und eigentümlichsten Fortschritt in der Poesie des neunzehnten Jahrhunderts gerade den Prosaroman betrachten wird, wie er sich seit Walter Scott bei den Kulturvölkern Europas entwickelt hat. Deshalb wollen auch wir deutschen Romanschriftsteller uns nicht darum kümmern, wie man jedem von uns in der Folge das Maß seiner dichterischen Begabung abschätzen wird, sondern wir wollen das Selbstgefühl bewahren, daß wir gerade in der Richtung tätig sind, in welcher sich die moderne Gestaltungskraft am vollsten und reichsten ausprägt.

 


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