Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Unter König Wilhelm

Unterdes waren über das politische Deutschland trübe Jahre hingegangen. In den Regierungen des hergestellten Bundes innere Unsicherheit und Mißtrauen gegeneinander, in der Bevölkerung Abspannung und Mangel an Wärme; dazu die Verdüsterung und Erkrankung Friedrich Wilhelms IV. In dieser Zeit blieb dem unabhängigen Mann, der sich nicht ganz auf die Familie und seine Privatarbeit zurückziehen wollte, wenig anderes übrig, als gegen gute Bekannte mündlich und in Briefen seinen Kummer auszusprechen, vielleicht in vorsichtigen Artikeln die ungenügende Gegenwart zu beurteilen. Dies geschah reichlich. Der Briefwechsel mit politischen Freunden, das Debattieren über die Zeitlage in Zusammenkünften der Gesinnungsgenossen ist bezeichnend für jene Zeit. Wurde auch nicht viel dadurch erreicht, so wurde doch ein Zusammenhang der Gleichgesinnten gefestigt. Oft fuhr ich von Leipzig nach Halle hinüber, wo Max Duncker und Haym den Mut aufrechthielten; die milde Ruhe Dunckers und das Wohltuende seiner warmen Natur übten auf einen weiten Kreis günstigen Einfluß aus. Auch in Gotha hatte ein Verein patriotischer Männer seinen Mittelpunkt gefunden, der sich zur Aufgabe stellte, durch kleine Flugschriften auf die öffentliche Meinung zu wirken, in ihm machte Karl Mathy seine letzten literarischen Feldzüge in vortrefflich geschriebenen Broschüren, und Francke erhob mit dem scharfen Eifer, der ihm eigen war, den Kampf gegen den Sundzoll. Wenn bei Beseitigung dieses mittelalterlichen Leidens, welches auf dem Welthandel lag, das Verdienst eines Kämpfenden gerühmt werden darf, so kam diese Ehre der leidenschaftlichen Tätigkeit Franckes zu, welcher bis nach Amerika und England seine Fäden zu spinnen wußte und die Frage zu einer brennenden machte, deren Lösung sich zuletzt die Regierungen nicht mehr entziehen konnten.

Das erwachte Bedürfnis vieler einzelnen, sich zu regen, führte endlich zur Bildung des Nationalvereins.

Dies Unternehmen, die Liberalen der einzelnen deutschen Staaten miteinander zu verbinden und durch den Zusammenhang auf gemeinsame Tätigkeit vorzubereiten, hielt ich für den größten Fortschritt, den das politische Leben im Volke seit den Niederlagen des letzten Jahrzehnts gemacht hatte; ich wurde mit Freuden Mitglied des Vereins und bin ihm, solange er bestand, treu geblieben. Er vereinigte Liberale verschiedener Schattierungen und hatte im Anfange bei seinen Zusammenkünften, den Redeübungen und Beschlüssen zuweilen das Aussehen einer Bewahranstalt, in welcher eigenwillige und schreilustige Kinder zu politischer Tugend und Weisheit herangezogen wurden. Aber die geduldige und ausdauernde Arbeit der Führer, welche sich um Rudolf von Bennigsen gesammelt hatten, die Fähigkeit dieses ausgezeichneten Mannes, aus dem Schwall der Debatten zuletzt den gesunden Menschenverstand herauszuziehen und in Formeln zu bringen, seine freie und großartige Auffassung unserer Verhältnisse und vor allem die hochsinnige Vaterlandsliebe erfüllten mich mit hoher Achtung. Durch mehrjährige opfervolle Tätigkeit gelang es ihm und seinen Freunden, eine Partei zu schaffen, welche, als Tag und Stunde kamen, stark genug war, eine deutsche Regierung bei der neuen Arbeit für einen deutschen Staat zu beeinflussen und zu stützen. Denn nur durch die freudige Mitwirkung der Nationalpartei wurde die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches möglich, vorzugsweise durch sie gelang es der starken Willenskraft, welche das neue Reich gegründet hatte, den Widerstand der inneren Gegner zu besiegen. Das waren glückliche Jahre für Deutschland.

Da wurde es für uns alle ein Unglück von unabsehbarer Weite, auch für mich das bitterste politische Leid meines Lebens, daß die große Partei, welche sich in der Not gebildet und im Kampfe bewährt hatte, in den Jahren nach dem Siege nicht den Zusammenhang zu bewahren wußte. Die Männer, welche in der Verstimmung des Tages den Wert ihrer Bundesgenossenschaft zu gering achteten, glichen hochfahrenden Korpsstudenten, welche sich von ihren alten Häuptern scheiden. Es gibt für ihr Verhalten hundert Entschuldigungen, keine Rechtfertigung. Die Stärke einer Partei beruht nicht allein, aber doch vor allem in ihrer Stimmenzahl. Jede Partei hat innere Konflikte durchzukämpfen, und jede hat Zeiten verhältnismäßiger Schwäche, aber in keiner darf Verschiedenheit der Ansichten über einzelne Tagesfragen so weit gehen, daß die Streitenden mitten im heftigen Kampf gegen nationale Gegner durch Selbstzerstörung der eigenen Macht die Feinde zu Herren des Kampfplatzes, zuletzt gar zu ihren Gebietern machen. Daß ein falscher Schritt auch andere nach sich zieht, haben die Ausgeschiedenen überreichlich erfahren, wohl keinem von ihnen blieb das innere Mißbehagen, die Verbitterung und die Verengung des politischen Gesichtskreises erspart, welche durch eine fortdauernde geschärfte Opposition gegen alte Freunde in die Seelen hineingetragen wird. Unser parlamentarisches Leben aber ist seitdem für Jahrzehnte verdorben, seine Bedeutung ebenso gemindert, wie der Regierung der Wert einer Rücksichtnahme auf das liberale Element im Staatsleben. Wir zahlen jetzt unsere Buße dafür, daß wir durch die Lebensbedürfnisse des preußischen Staates und durch die Energie eines einzelnen fast plötzlich auf eine Höhe hinaufgehoben wurden, welcher die politische Schulung unserer Nation nicht gleichkam.

Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, waren wir Deutsche sehr arm an Erfolgen und Ruhm, aber wir glaubten daran, daß die Vertrauensmänner des Volkes wohl einmal bessere Verhältnisse herbeiführen würden. Doch seltsam, während wir unsicher und ohne jedes Zutrauen zu den Regierungen um die Zukunft sorgten, hatte das Jahrzehnt begonnen, in welchem die Nation den größten Fortschritt machen sollte, der jemals in so kurzem Zeitabschnitt erreicht worden ist, sie war, ohne es zu ahnen, im Aufstieg zur Höhe politischer Macht und zur Bildung eines Reiches, durch welche das Machtverhältnis sämtlicher Staaten der Erde geändert und dem deutschen Wesen ein Herrenanteil an den Geschicken der Welt zugeteilt werden sollte, wie die Nation ihn nie besessen und wie ihn die kühnsten Träume eines Deutschen nicht geahnt hätten. König Wilhelm hatte seine Regierung angetreten. Diese Fürstengestalt von mildem Wesen und stetem Willen, welche in einer Notzeit des preußischen Staates herangewachsen war, besaß in einziger Weise die Regententugenden, welche der deutschen Art wohltun sollten: die Bescheidenheit und neidlose Anerkennung fremder Verdienste, die Arbeitsamkeit und besonnene Klugheit, welche das Wesen der Macht höher achtet als den Schein. Auch die ganze Anlage seines Gemütes, die Heiterkeit, die Leutseligkeit, der kameradschaftliche Sinn, die fürstliche Umsicht, welche jedem bereitwillig die gebührende Ehre zu erweisen sucht, waren genau, was unsere stolzen Fürsten und was das warmherzige Volk von dem Oberherrn eines deutschen Staates begehrten.

Selten hat ein Fürst unter so schwierigen Verhältnissen die Regierung angetreten, die Sorgen des hohen Amtes wurden ihm eher zugeteilt, als die Ehren und die volle Macht des Königtums. Er übernahm die Leitung eines Staates, der unter den großen Mächten mißachtet, im Innern durch ein parteisüchtiges Regiment verstört war. Auch ihn verletzte im Anfang der grämliche Zug, welcher das Antlitz der Deutschen leicht verzieht, wo sie nicht mit vollem Herzen sich hingeben. Daß die Möglichkeit jeder größeren Kraftentfaltung des Staates von der starken Vermehrung des stehenden Heeres und von einem Zurücktreten der Landwehr abhing, verstand der König besser als seine Preußen. Uns andern konnte man daraus keinen Vorwurf machen. Seit den Freiheitskriegen war die Landwehr, das »Volk in Waffen«, auch von militärischen Schriftstellern immer wieder als der eigentliche Kern des Heeres dargestellt worden, zahllose teure Erinnerungen aus dem früheren Geschlecht hingen an ihr, sie galt für das Gegengewicht gegen den Kastengeist und die Gefahren eines stehenden Heeres, dessen geforderte Verdoppelung nicht nur als schwere Last, sondern auch als eine Gefahr für die innere Entwicklung erschien. In allen Fällen, wo die Regierung mit höherer Einsicht neu erwachsene Bedürfnisse des Staates durch tief einschneidende Veränderungen befriedigen will, ist vor Gesetzanträgen die Belehrung der Nation und eine allmähliche Erziehung der öffentlichen Meinung durch die Presse wünschenswert, eine stille Agitation, bei welcher die Regierenden sich selbst zunächst im Hintergrund halten. Solche Einwirkung auf die öffentliche Meinung braucht freilich Zeit, und Muße war damals nicht vorhanden. Aber man verstand auch in der Regierung die vorbereitende Arbeit viel zu wenig.

Sooft ich nach Koburg kam, verbrachte ich eine Morgenstunde bei Baron Stockmar, der sich nach langjähriger Tätigkeit in großen Geschäften nach seiner Heimat zurückgezogen hatte und dort in höherem Alter mit reger Teilnahme die Weltereignisse betrachtete und zuweilen beeinflußte. Sein Sohn Ernst gehörte zu meinen näheren Bekannten und der alte Herr gönnte mir wohl deshalb freundliches Zutrauen. Er besaß eine seltene Kenntnis politischer Persönlichkeiten und der Regierungen Europas und äußerte sich darüber mit entzückendem Freimut. Immer fesselte an ihm die geradsinnige Redlichkeit, Klarheit und Größe des Urteils, dabei die patriotische Wärme und in deutschen Angelegenheiten eine hoffnungsvolle Freudigkeit, welche damals auch bei jüngeren Männern selten war. Mir kam sein mitteilsames Wesen und die Offenheit, mit welcher er die politischen Verhältnisse besprach, vielfach zugute. Er war es wohl auch, der dem Kronprinzen und der Kronprinzeß Günstiges von mir berichtete, so daß mir gestattet war, das junge Glück dieser Verbindung zuweilen als ergebener Vertrauter mit meinen Wünschen zu begleiten. Bei dem letzten Besuch, welchen die Königin von England mit dem Prinzen Albert in Koburg machte, bot sich Gelegenheit, allerlei fremde Gäste in höflicher Darstellung ihres Wesens zu beobachten. John Russell war da, welcher Versuche machte, sich über die unverständlichen deutschen Stimmungen zu unterrichten, und Graf Alexander Mensdorff, der spätere Minister, ein feinfühlender gescheiter Mann, der sich verständig über die Stellung Oesterreichs zu den deutschen Dingen ausließ. Als er nach dem Jahre 1866 wieder zu uns kam, war er krank und gebrochen; da erinnerte er an sein eigenes Urteil in früheren Jahren und daß vieles eingetroffen sei. Er war es sicher nicht, der zum Kriege geraten hat.

Im ganzen freilich hat solcher gelegentliche Verkehr an größeren Höfen mir die Ansicht gebracht, daß wir alle, die wir als Gelehrte oder Künstler dahinwandeln, zum vertrauten Verkehr mit den Großen der Erde weniger geeignet sind als andere. Uns fehlt die gleichmäßige, bescheidene Hingabe, welche dem wackern Mann des Hofes so wohl ansteht, die Vorsicht fehlt und wohl auch die Schweigsamkeit; wir sind genötigt, uns viel mit uns selbst zu beschäftigen, und geneigt, unser Licht leuchten zu lassen, während bei Hofe die Umgehung doch vorzugsweise dazu da ist, die Persönlichkeit der Herrschaften hervorzuheben. Jede der Künste bildet an nicht sehr günstig beanlagten Naturen besondere Schwächen aus, bei den Dichtern einen nicht wohltuenden Wechsel von Gefügigkeit und Hochmut, bei den Malern, welche gewohnt sind, das Weib ohne Hülle zu denken, eine burschikose Frechheit, bei den Musikern anspruchsvolle Grobheit, bei den Schauspielern das Geckenhafte. Veranlaßt der Zufall und ein gewisses Kunstbedürfnis unsrer hohen Herren einmal ein solches Verhältnis, so mögen beide Teile sich wahren, daß sie nicht ihren Preis dafür bezahlen.

Bei dem erwähnten Hofhalt der englischen Herrschaften war etwas von fremdem Brauch zu sehen, was hier erwähnt werden darf, weil es eine kleine dramatische Seltsamkeit erklärt.

Als die Königin an der Hand des Herzogs in den Saal trat, in welchem eine große geladene Gesellschaft der Fürsten harrte, ließ der Herzog nach dem Eintritt die Hand der hohen Dame los und diese glitt in einem eigentümlichen marschähnlichen Pas den ganzen Saal entlang bis zum oberen Ende, wo sie ihre Rundverbeugung mit einer vornehmen Grazie machte, um die sie jede Künstlerin beneiden konnte. Darauf begann die gewöhnliche wohltätige Arbeit des Cercles, den einzelnen Huld zu streuen, deren gute Körnlein die geladenen Vögel freudig aufpickten. Mich aber machte das Schassieren der Königin nachdenklich. Denn genau denselben Schritt, nur gröber, hatten englische Schauspieler, Phelps und Ira Aldridge bei ihren Besuchen in Deutschland ausgeführt, sooft sie in Shakespeareschen Stücken aus den Seitenkulissen kamen und in dieselben zurückgingen. Was uns seltsam erschien, war also alte Ueberlieferung, vielleicht noch aus der Zeit der Königin Elisabeth, die man bei Hofe wie auf der Bühne bewahrt hatte, und es war offenbar die alte Form des feierlichen Heldenschrittes. Es ist immer hübsch, solchen Brauch aus früherer Zeit mit Augen zu sehen. Ebenso befremdlich würde uns der deutsche Marsch des sechzehnten Jahrhunderts erscheinen, bei welchem die linke Hand auf die Hüfte gestützt die Seitenwehr hielt und der steif zurückgestaute Körper nicht nach der Marschlinie gerichtet blieb, sondern sich dem fortschreitenden Fuße nachgebend bald der rechten, bald der linken Seite herausfordernd zuwandte.

Bei einem spätern Besuche forderte Stockmar mich auf, seinen alten Freund Rückert in Neuseß zu begrüßen. Ich hatte die Bekanntschaft nicht gesucht, weil man von Rückert sagte, daß er in seiner Zurückgezogenheit ungern die Störung durch Fremde ertrüge. Durch die Hintertür trat ich in sein Haus und wurde in das Wohnzimmer des unteren Stocks geführt, das so altväterisch und einfach bürgerlich ausgestattet war, wie ich es in meiner Kinderzeit etwa bei Bekannten zu Kreuzburg gesehen hatte. Er trat ein, eine hohe, starkknochige Gestalt mit langer Pfeife in der Hand, die erste Begrüßung war sehr gemessen und die Unterhaltung wollte im Anfange nicht recht gedeihen, aus seiner Seele klang die Verstimmung über die Teilnahmlosigkeit der Deutschen an seinem Schaffen, und ich mußte mir einigemal sagen, daß es ein großer Gelehrter und ein großer Dichter war, der mir gegenüber saß. Endlich kam das Gespräch auf die Zeit der Befreiungskriege und auf seinen Anteil an der Poesie jener Jahre; da begann sein Auge zu leuchten, das Eis war gebrochen, er wurde warm und mitteilend, und ich hatte die Freude, einen wohltuenden Eindruck seines Wesens mit mir zu nehmen. Seitdem dauerten die freundlichen Beziehungen zu ihm. Als ich einige Jahre darauf in meinem Hause sein Gedicht »Nal und Damajanti« vorgelesen hatte und erfuhr, daß er erkrankt sei, schrieb ich ihm von meiner Freude über das Werk und empfing als Antwort mit zitternder Hand verfaßte Zeilen, worin er nach einem artigen Reim berichtete, daß ihm das liebste seiner erzählenden Gedichte »Sawitri« sei und wie leid ihm tue, daß dasselbe in einer wenig gelesenen Sammlung ganz versteckt liege. Hirzel, in dessen Verlag die erwähnte Sammlung übergegangen war, erklärte sich sofort bereit, das kleine Gedicht in besonderer Ausgabe drucken zu lassen. Er beschleunigte die Herstellung und sandte das zierliche Heft nach wenig Wochen an den Dichter, Antwort war eine Anzeige seines Todes. Mit ihm schied das letzte der großen Talente, in denen einzelne Farben der deutschen Lyrik ausstrahlten, welche der Genius Goethes in seinem Wesen vereinigt hatte und die gemäß einem uralten Lebensgesetz alles lyrischen Schaffens sich nach ihm sonderten, wie das weiße Licht sich in den Farben des Prismas scheidet. Von allen aber, welche farbige Strahlen ausgesendet haben, war Rückert vom Standpunkt des Handwerks die stärkste Kraft, durch seine wundergleiche Fruchtbarkeit und durch die einzige Verbindung von großer Gelehrsamkeit auf schwer zugänglichen Gebieten und von einer Schaffensfreude, die ein langes Leben unverändert dauerte, auch durch seine seltene Herrschaft über Wortklang, spielendes Wortbilden und Reim, wie sie seit Fischart kein Deutscher besessen hat. Dieser Herrschaft über den Reim und die Klangfarbe entsprach nicht ganz seine Empfindung für den lyrischen Wohllaut, wie ihn der Gesang fordert, nach dieser Richtung lassen zuweilen auch gute Gedichte zu wünschen übrig. Dem Dichter aber blieb immer der geheime Schmerz, daß gerade sein Lichtstrahl, sein Stoffgebiet und seine Behandlungsweise poetischer Empfindungen den Deutschen fremdartig war.

Als gegen Ende des Jahres 1863 der Tod des Königs von Dänemark in den politischen Streit um Holstein fiel, war es zweifellos, daß die Ansprüche, welche der Herzog von Augustenburg sofort geltend machte, das einzige und letzte Mittel waren, nicht besser das geschützte Bundesland Holstein, wohl aber Schleswig für Deutschland zu erhalten. Deshalb war eine Unterstützung seiner Forderungen durch die unabhängige Presse geboten. Zu Gotha war ich mit dem Vertrauten des Herzogs von Augustenburg, Samwer, jahrelang in freundschaftlichem Verkehr gewesen und hatte von der Proklamation und den ersten Maßnahmen des Herzogs gewußt. Bald aber stellte sich ein gewisser Gegensatz heraus zwischen der Politik, welche die Vertrauten des Herzogs für zweckmäßig hielten, und den Gesichtspunkten eines Preußen, und es blieb wenig anderes zu tun übrig, als die deutsche Bewegung in den Herzogtümern gegen die dänischen Uebergriffe zu steigern. Großes konnte dadurch nicht gewonnen werden, denn die Herzogtümer waren noch müde von dem dreijährigen Kampf früherer Jahre und fast aller politischer Führer beraubt. Aber schon im Beginn des nächsten Jahres eröffnete der Einmarsch der Preußen und Oesterreicher in Schleswig Aussichten auf eine Entscheidung durch das Schwert.

In dieser Zeit, in welcher Preußen sich für seine kriegerische Tätigkeit rüstete, machte ich an mir selbst die Erfahrung, daß ich viel zu wenig von militärischen Dingen verstand, und ich versuchte diesem Mangel abzuhelfen, soweit dies einem früheren Armeereservisten möglich war. Ich begann eifrig Militärisches zu lesen. Daraus wurde eine dauernde Neigung, die meiner Büchersammlung eine neue Abteilung zuführte. Auch im Verkehr mit gescheiten Offizieren suchte ich mich über mancherlei zu unterrichten, was dem Laien aus Büchern nicht verständlich wurde. Unter diesen Bekannten wurde mir v. Stosch, zu jener Zeit Chef des Generalstabes im vierten Korps, besonders wert. Er galt für einen Offizier, welcher zu großen Hoffnungen berechtigte. Damals hatte er das Unglück, daß ihm durch den Hufschlag eines Pferdes das Bein zerschmettert wurde. Noch war er nicht hergestellt, als der Kronprinz ihn beim Beginn des Feldzuges von 1866 zu seinem Generalquartiermeister wählte, und er ritt im Kriegszuge dahin, während Wilms für ihn einige Monate Krankenlager forderte. In Böhmen fand er beim ersten Zusammenstoß hinter Nachod Gelegenheit, durch die Wucht seines persönlichen Eingreifens das bedenkliche Zurückfluten erschreckter Vortruppen und Fuhrwerke aufzuhalten. Bald wurde er durch die scharfe Energie seines Wesens und durch sein militärisches Urteil den obersten Führern wertvoll als eine der bevorzugten Naturen, denen hohe Gefahr nicht die Geisteskräfte lähmt, sondern den Entschluß beflügelt. Beim Beginn des französischen Krieges war er zum Generalintendanten der Armee ernannt, er wußte unser Verpflegungswesen, welches in seiner Einrichtung den ungeheuren Anforderungen dieses Krieges doch nicht entsprach, nach Möglichkeit den neuen Aufgaben anzupassen und seinen Beamten von der durchgreifenden Tatkraft mitzuteilen. Vor der großen Rechtsschwenkung des Heeres zur Verfolgung Mac Mahons übernahm er entschlossen die Verantwortung für Verpflegung des Heeres, welche auf den Wegen durch unfruchtbare Gegenden kaum möglich schien. Den Soldaten mußten schwere Entbehrungen zugemutet werden, aber die Hauptsache gelang ihm. Als vor Paris Ende November das Heranrücken der großen französischen Armee bedrohlich wurde und die Ankunft des Prinzen Friedrich Karl sich verzögerte, ward er vom König in der Vertrauensstellung eines Generalstabschefs dem Großherzog von Mecklenburg zugeordnet, dessen Feldherrnkunst den schweren Anforderungen dieser Wochen nicht gewachsen schien. Dort machte er als militärischer Führer sein Probestück. Durch mehr als zwanzig Tage hielt er mit zwei schwachen preußischen Divisionen und dem zweiten bayrischen Korps, dessen Kraft in den Anstrengungen des Feldzugs fast verbraucht war, neben der zweiten Armee den Andrang des französischen Heeres auf, indem er die Feinde in täglichen Gefechten bis hinter Orleans zurückdrängte. Seiner Armeeabteilung fiel in dem ungleichen Kampfe gegen die Uebermacht der Hauptanteil und die härteste Arbeit zu, und oft hatte er Veranlassung, nach dem Stand der Wintersonne zu sehen und den Abend herbeizusehnen, weil ihm keine Reserven mehr zur Verwendung geblieben waren. Als er nach Lösung seiner Aufgabe in das Hauptquartier nach Versailles zurückkehrte, stand seine Bedeutung als Feldherr fest, nicht sowohl für die Deutschen daheim, welche kaum erfuhren daß er die treibende Kraft im harten Ringen dieser Wochen gewesen war, wohl aber bei der obersten Armeeleitung. Da er seine Begabung für militärische Verwaltung im Kriegsministerium und als Generalintendant bewährt hatte, wurde er kurze Zeit nach dem Frieden zum Leiter unserer Kriegsmarine ernannt; in dieser elfjährigen umfassenden Tätigkeit wurde er auch der Nation bekannt und wert. Er bewies auch hier seine Fähigkeit, sich schnell auf neuem Boden zurechtzufinden, Größe des Urteils und einen starken Willen, der sich nie durch Einzelheiten beirren ließ, immer die Hauptsache im Auge behielt und die einfachsten Mittel zur Lösung der Ausgabe fand. Er hat in seiner entschlossenen Weise die Kräfte, welche ihm zur Verfügung standen, auf das höchste angespannt, wohl auch einmal im einzelnen herbe Strenge gezeigt, aber er hat in wenigen Jahren nicht nur das Material unserer Flotte zeitgemäß umgestaltet, sondern, was noch wichtiger war, den Offizieren und der Bemannung viel von seiner stolzen Energie mitgeteilt. Durch ihn erst ist die Marine als gleichberechtigter Teil unserer Wehrkraft neben das Landheer getreten.

Allen diesen Erfolgen einer ungewöhnlichen Menschenkraft bin ich mit Freundesanteil gefolgt. Wir tauschten zuerst Bücher und unsere Urteile darüber aus. Daraus entstand ein regelmäßiger Briefwechsel. Dann wurde er veranlaßt, Mitglied eines Vereins von Geburtstagskindern zu werden. Dieser Verein hatte zu Gotha in dem Hause unseres gemeinsamen Freundes v. Holtzendorff sein Bundesheiligtum und war dazu gegründet, die Tyrannei des Kalenders zu brechen und die anmutigen Feste der Geburt auf die Zeiten zu verlegen, wo das Schicksal ein fröhliches Zusammensein gestattete. Für dergleichen humane Zwecke war das Holtzendorffsche Haus ausgezeichnet geeignet, es besaß alles Erforderliche: die Gastlichkeit, den herzlichen Frohsinn, einen schönen Reichtum von edler Weiblichkeit und Musik mit Schonung. Viele frohe Erinnerungen hängen an diesem Haushalt, dem auch die letzten Reime meiner lyrischen Bekenntnisse zugeschrieben sind.

Dort kehrte zwischen anderen auch Stosch jeden Sommer ein und ich war in der Nähe zu finden. Aber auch in einigen großen Stunden unseres Lebens standen wir nicht weit voneinander; während der Schlacht bei Sedan kam er vom Standpunkt des Königs zu uns herüber auf die Höhe von Donchery und wir sahen gemeinsam, wie der eherne Ring der Deutschen sich um das französische Heer schloß. Zu Reims hatten wir verabredet, die letzte Stunde meines Aufenthalts gemeinsam zu verbringen. Als ich zu ihm ging, fand ich, daß man den Generalintendanten der Armee in der fürstlich eingerichteten Wohnung von Dame Cliquot einquartiert hatte, ich traf ihn mit einigen seiner Herren beim Essen. Die Besitzer des Hauses hatten sich entfernt, ein mißvergnügter Haushofmeister am Büfett wurde beauftragt, zum Valettrunk eine Flasche Champagner aufzustellen, den die Deutschen bis dahin nicht begehrt hatten. Was der tückische Bursch heranbrachte, war das schlechteste Getränk unter silbernem Kopfe, das man sich denken kann, es war offenbar ein verunglücktes Werk, das man zurückgelassen, weil es für die Barbaren noch gut genug war. Niemand machte eine Bemerkung. Diese vornehme Gleichgültigkeit der Sieger war ein guter Abschiedsgruß, den ich nach der Heimat mitnehmen konnte. Wenn wir jetzt als treue Nachbarn am Rheine unsere Ansichten über Vergangenes und Gegenwärtiges vergleichen, habe ich noch immer den Genuß, zu merken, wie gut die Urteile zusammenklingen, welche das Leben in zwei Männern von so verschiedener Anlage und so verschiedenem Berufe zur Reife gebracht hat.

Sofort nach Beendigung der »Verlorenen Handschrift« hatte ich eine größere Arbeit für die »Bilder« aufgenommen. Die drei Bände, welche erschienen waren, umfaßten nur die vier letzten Jahrhunderte der deutschen Vergangenheit. Jetzt, wo die deutsche Art sich in Europa wieder kraftvoll rührte, lockte es mich, in alte Zeiten zurückzugehen und in ähnlicher Weise, wie in den früheren Büchern, die großen Wandlungen des Volkslebens im ganzen Mittelalter zu schildern. Was unsere Geschichtswerke über die größten Begebenheiten unserer Vorzeit, über die Völkerwanderung, die Einführung des Christentums, selbst noch über die Kreuzzüge, das Rittertum, die Schwurgenossenschaften des Adels, der Städte und einzelner berichteten, schien mir keine genügende Erklärung dieser welthistorischen Vorgänge zu geben, denn es blieb bei allem Berichten von Tatsachen unklar, welche treibende Kraft in den Zuständen und in dem Gemüt des Volkes dies Große veranlaßt hatte. Schon in meiner Jugend hatte ich mich zuweilen mit diesen Rätseln beschäftigt. Weshalb waren die Germanen ein eroberndes Kolonistenvolk geworden, wie niemals ein zweites auf Erden? Wie hatte es in den Seelen der frommen Heiden ausgesehen, als das Christentum sich Eingang verschaffte? Was hatte der neuerwachte Wandertrieb in den Zeiten der Kreuzzüge und die neue Verbindung mit dem Orient im Leben der Deutschen geändert? Wie hatte das Tagesleben in den Burgen und Dörfern sich dargestellt, damals, als unser niederer Adel entstand? Und welches waren die wirklichen Zustände des Ritterstandes, über welchen die Poesie des dreizehnten Jahrhunderts eine gewisse Verklärung verbreitet hat? Wie mußte in den Städten die deutsche Selbstwilligkeit der einzelnen dem starren Zwang der großen Schwurgenossenschaften und Verbrüderungen sich fügen? Wie endlich war das Heerwesen jeder Periode aus den Zuständen der Nation zu erklären und wie hatten die Kriegsleute gehaust und zum Volke gestanden? Auf diese und ähnliche Fragen bemühte ich mich eine Antwort zu finden. Das Ausarbeiten in ein Buch beschäftigte mich durch zwei Jahre. Da die erhaltenen Berichte von Zeitgenossen für die ersten Jahrhunderte nicht reichlich vorhanden waren, wurde die eigene Zutat umständlicher, wenn ich nur einigermaßen ein Bild geben wollte von fast zweitausendjähriger Entwicklung unserer Volksseele. Sehr bald erwies sich als notwendig, auch das bereits Gedruckte neu zu ordnen und zu vertiefen, um die junge Arbeit mit der früheren zu einem einheitlichen Werk zu verbinden. Neu geschrieben wurde der erste Band »Aus dem Mittelalter« und fast ganz der zweite »Vom Mittelalter zur Neuzeit«, nur an den Schluß konnten einige Abschnitte aus der früheren Arbeit gefügt werden. Im Herbst 1866 hatte ich die Befriedigung, daß die fünf Bände des Werkes beendigt vor mir lagen, ich schrieb sie meinem Verleger Hirzel zu, der dem Unternehmen vom ersten Beginn warmen Freundesanteil erwiesen hatte. Mich aber erfüllte mit heimlichem Stolz, daß die Beendigung des Werkes mit dem Erfolge des Jahres 1866 zusammenfiel.

Die Kriegswochen des Jahres 1866 verlebte ich in Leipzig. Kurz vor Beginn des Kampfes war ich auf einige Tage nach Siebleben gegangen, dort mein Haus für den Krieg zu bestellen, und hatte zu Gotha in der Nähe des Herzogs die Verhandlungen mit dem König von Hannover erfahren. Vor dem Treffen bei Langensalza reiste ich zurück, weil man einen Zusammenstoß nicht mehr besorgte, und sah zu Leipzig, wie die ersten Preußen der Vorhut, die Pistole in der Faust, einritten. Es war von Feindseligkeit der Bevölkerung wenig zu spüren, denn das Gefühl der Zusammengehörigkeit war untilgbar. Ich darf hier sagen, daß ich auf einen guten Ausgang für den Staat meiner Väter sicher vertraute und nur durch die Schnelle und Größe des Erfolges überrascht war.

Alle Deutschen wurden zur leidenschaftlichen Parteinahme in diesen Kampf gezogen, aber fast nur den Preußen war vergönnt, in der ersten Zeit das beglückende Gefühl des Sieges und Fortschritts voll zu genießen. Am vollständigsten wurde dieser Segen dem ältern Geschlecht zuteil, welches die erfolglosen Anläufe und Niederlagen der letzten Jahrzehnte in tiefem Schmerz durchlebt hatte. Dieser Gewinn, als einzelner teil zu haben an dem politischen Fortschritt des eigenen Staates, an Siegen und Erfolgen, welche größer waren als jede Hoffnung, ist das höchste Erdenglück, welches dem Menschen vergönnt wird. In solcher Zeit erscheint das eigene Leben als klein und unwesentlich, in gehobener Stimmung fühlt der Mensch sich als Teil eines großen Ganzen, alles, was in ihm tüchtig ist, wird gesteigert, die Hingabe an eine große Pflicht adelt ihm die Gedanken des Tages, alles Tun, seine Haltung. Die Männer, welche als Leiter des Staates und des Krieges diese Erhebung der Seelen bereiten, werden der Nation liebe und vertraute Helden. Für Deutschland war endlich die Zeit gekommen, wo die stärkste Kraft der Nation in den Führern verkörpert erschien und wo der Mann das Schicksal des Volkes beherrschte. Das ungeheure und in vielem unverständliche Leben der Nation, welches in gewöhnlicher Zeit nach entgegengesetzten Richtungen dahinflutet, die einander kreuzen und bekämpfen, erschien zusammengefaßt und dienstbar der Kraft einzelner Menschen. Das Walten einer ewigen Vorsehung über den Schicksalen der Nationen und Reiche wurde uns dadurch so verständlich, wie uns sonst eine Menschenseele verständlich ist.

Als die Wahlen zum konstituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes ausgeschrieben waren, wurde mir aus Erfurt der Antrag gestellt, ich möge mich einer Wahl unterziehen. Die Tätigkeit eines Abgeordneten lag außerhalb des Kreises, in welchem mich mein Wesen festhielt, auch außerhalb des Gebietes, in welchem mein Ehrgeiz nach Erfolgen zu ringen hatte. Dennoch war es geboten, dem ehrenden Vertrauen zu entsprechen, weil man noch nicht übersehen konnte, wie sich in der Versammlung die Parteiverhältnisse stellen würden, und weil in solcher Zeit jede Stimme, welche aus voller Seele das Gelingen des Verfassungswerkes forderte, wertvoll sein konnte. Ich erklärte deshalb meinen politischen Freunden, daß ich mich nur für diesen Reichstag geeignet betrachte, hielt meine Wahlreden und ging als Abgeordneter nach Berlin. Ich wurde natürlich Mitglied der Nationalen Partei. Unter meinen Parteigenossen habe ich viele kennengelernt, welche mir sehr wert geblieben sind. Ich fand auch Gelegenheit, den Schaden zu beobachten, welchen Rechthaberei und Eitelkeit in den Seelen verursachen. Von aller Eitelkeit auf Erden ist wohl die parlamentarische die häßlichste, jedenfalls die schädlichste. An mir selbst machte ich bei einem erfolglosen Versuch auf der Tribüne die Beobachtung, daß ich noch nicht das Zeug zu einem Parlamentsredner besaß und dafür längerer Uebung bedurft hätte; die Stimme war zu schwach, den Raum zu füllen, ich vermochte bei dem ersten Auftreten die unvermeidliche Befangenheit nicht zu überwinden, auch war ich durch langjährige Beschäftigung in der stillen Schreibstube wohl zu sehr an das langsame und ruhige Ausspinnen der Gedanken gewöhnt, welches dem Schriftsteller zuteil wird. Diese Erkenntnis tat mir im geheimen doch weh, obwohl ich sie weltmännisch zu bergen suchte. Von feurigen Rednern der Partei aber wurde ich seitdem mit besonderer Herzlichkeit behandelt, und ich übte um so völliger meine Pflicht beim Abstimmen, was zuletzt die Hauptsache blieb.

Da ich durch literarische Kritik gewöhnt war, die poetische Natur der Zeitgenossen abzuschätzen, so lag mir nahe, auch aus der politischen Richtung meiner Kollegen die entsprechende Grundlage ihres Wesens herauszusuchen. Man kann unter den Vertretern des Volkes leicht dieselben Anlagen erkennen wie an den Dichtern, und es ist mehr als spielender Vergleich, wenn man bei ihnen eine epische, dramatische und lyrische Begabung unterscheidet. Die Konservativen sind unsere Epiker, in den Männern der Mittelparteien ist die Naturanlage vorherrschend, die den Dichter zum Dramatiker formt, das heißt eine verhältnismäßig unbefangene und gerechte Würdigung der kämpfenden Interessen, dazu die Fähigkeit, diese miteinander verhandeln zu lassen und den großen Ideen des Staates dienstbar zu machen. Auf der linken Seite stehen die Lyriker, von denen sicher mancher in seiner Jugend in einem Bändchen Gedichte auch dichterische Wallungen abgelagert hat. Aber freilich sind solche Naturen in der Politik nicht mehr von der Harmlosigkeit meines jungen Kollegen Bellmans, sie fühlen lebhaft, oft leidenschaftlich, was sie in ihrem Privatleben einmal wundgedrückt hat, und was sie leitet und aufregt, sind im letzten Grunde fast immer einige schmerzliche Eindrücke ihrer eigenen Vergangenheit. Solch Verletzendes wirkt in den Seelen übermächtig und beeinträchtigt eine billige und gerechte Beurteilung der Zustände, welche ihnen beschwerlich sind. Mit den Männern von dieser Anlage, welche in den kleinen Kreisen unseres Volkes gewöhnlich ist, verbinden sich andere Naturen: harte Doktrinäre, welche die Wirklichkeit gegen dem Idealbild des Staates, wie sie es konstruiert haben, als unleidlich betrachten, herrschsüchtige und gewissenlose Demagogen, und manche, denen der Wurm der Eitelkeit allzuviel von dem gesunden Kern ihres Lebens abgenagt hat. Auch diese Partei ist, in mäßiger Zahl den anderen beigefügt, unentbehrlich für den Staat, weil vor wirklichen großen Schäden die Beschwerde darüber in ihr am hellsten ausklingt; sie wird zum Unglück für die Nation, wenn durch die Verhältnisse oder durch die Fehler der Regierung ihr Einfluß übermächtig heraufwächst. Sieht man aber näher zu, was im geheimen, vielleicht ihnen selbst unbewußt, reizt und stachelt, so ist dies im Grunde sehr häufig eine Abneigung des Bürgertums gegen die Bevorzugung des Adels, gegen eine nirgend ausgesprochene und doch fühlbare Neigung unserer Herren, einen Stand von regierenden Gentlemen dem regierten Volke vorzusetzen. So wertvoll deshalb der aus unserer Vergangenheit überkommene erbliche Adel unserem Staatswesen geworden ist – er gibt unter anderem der Nation die Hälfte ihrer militärischen Turnlehrer –, so sollte doch jede monarchische Regierung sich sorgfältig davor wahren, daß nicht die Ansicht überhand nehme, die Plackerei gehöre dem Bürgerlichen, die Ehre des Amtes dem Adeligen. Unsere höchsten Herren haben schwerlich eine Ahnung davon, wie sehr im Volke, namentlich noch in Preußen, dieses Mißtrauen wirtschaftet und wie mächtig es das politische Urteil beeinflußt. Darum unterliegt auch die Verleihung des Adels an Bürgerliche ernstem Bedenken, und sich jetzt um einen Adelstitel zu bewerben, sollte jeder loyale unabhängige Mann vermeiden.

Diese Monate des Berliner Aufenthalts, unter ungewöhnlich günstigen Verhältnissen, waren auch in anderer Hinsicht für mich von hohem Wert: die große Stadt, in der ich mich bald wieder heimisch fühlte, der gütige Anteil des jungen Hofes und ein fast überreichlicher Verkehr mit alten und neuen Genossen. Unter diesen war mir v. Normann, der damals dem Kabinett des Kronprinzen vorstand, schon seit Jahren lieb. Er hatte einst seinen Geburtstag zu Siebleben gefeiert, war seitdem Ehrenmitglied unseres Kriegervereins, und die Schulkinder hatten ihn mit einem Verse angesungen, welcher der Dorfjugend lange im Gedächtnis haftete, kleine Flachsköpfe schrien ihn durch meinen Zaun und oft hatte ich, wenn die Kinder vor dem Hause im Staube der Landstraße tanzten und sangen, das »Hoch« der Schlußworte gehört. Jetzt saß ich im Hause des Freundes und freute mich an seiner hingebenden Tätigkeit und an anderem, was aller Begabung feste Grundlage ist.

Aber in die großen Eindrücke des Berliner Aufenthalts mischte das Schicksal stillen Schmerz. Meine treue Hausfrau erkrankte, es wurde der Beginn eines mehrjährigen Leidens, von dem sie nicht wieder genesen sollte. Unter den Kindern meines Bruders war das älteste zu einem blühenden Mädchen herangewachsen und mir lieb wie ein eigenes Kind. Bei der Pflege eines Verwandten, der an seinem Brustleiden starb, hatte sie den Keim derselben Krankheit empfangen. Es war jammervoll, den Kampf eines kräftigen Geistes gegen die zunehmende Zerstörung anzusehen. Als ich im Sommer zu Soden, wo die Sterbende mit ihrer Mutter weilte, von ihr Abschied genommen hatte und nach Fassung rang, sah ich plötzlich vor mir ein bleiches Antlitz, das sich teilnehmend zu mir neigte. Es war mein treuer Genosse von den Grenzboten, Kaufmann, den die Aerzte aus London zu uns zurückgeschickt hatten. Auch er war von dem Todesengel gezeichnet.

Wie leidenschaftlich aber auch in diesem Jahrzehnt Politik und Völkerkampf in Anspruch nahmen, mein eigenes Leben lief ganz in der alten Umgebung dahin: die Sommerzeit im Dorfe, wo ich aus meinem Fenster auf die altmodischen Gartenblumen sah, welche jedes Jahr unweigerlich auf denselben Beeten zu erscheinen hatten, die Wintermonate in der Stadt, wohin ich mitführte, was der Sommer etwa auf meinem Arbeitstisch zur Reife gebracht. Zu Leipzig fühlte ich mich fest in den Herzen alter Freunde verankert, und ich denke oft mit Sehnsucht der lieben Kameradschaft. Einem jüngeren Geschlecht aber möchte ich das einfache, häusliche und ehrbare Leben des Kreises, der mich dort umgab, gern empfehlen. Jedem war selbstverständlich, daß die Abendstunden, in denen der Mann von seiner Tagesarbeit ausruht, vor allem anderen der Hausfrau und der Familie gehörten. Es ist ein übler Brauch, wenn der Mann den Abend im Klub oder in Restaurationen verlebt, und wer einen neuen Haushalt einrichtet, sei er reichlich oder bescheiden, er möge sich vor dem schweren Unrecht wahren, das er dadurch seinen Liebsten zufügt. Da ein Mann aber auch den frohen Verkehr mit anderen und den Austausch kluger Worte nicht entbehren kann, so war unter uns nach dem Schlusse des Arbeitstages eine Stunde festgesetzt, in der wir uns in einer Tafelrunde zusammenfanden; es war nur eine Stunde, aber sie bot zur Genüge die Anregung und Erfrischung, welche wohltaten. Und wenn wir einander des Abends gegenseitig in unseren Haushalt luden mit den Frauen oder auch für Männergespräch, so war ausgemacht, daß nicht mehr als ein, höchstens zwei Gerichte aufgesetzt werden durften und kein teurer Wein. Bei solcher Ordnung schwirrten wir vergnügt wie die Heimchen. Seitdem ist der gesellschaftliche Verkehr viel anspruchsvoller, umständlicher und üppiger geworden, auch in den Kreisen, welchen vor allen obliegt, das Leben der Deutschen gesund zu erhalten. Sogar unsere Gelehrten ergeben sich verschwenderischen Mahlzeiten zu später Abendstunde, wohl jeder empfindet, wie ihm am andern Morgen das Haupt beschwert, die Nerven abgespannt sind, viele beklagen die Unsitte, aber sie fügen sich dem unholden Brauch und laden auch wohl ihre Studenten dazu, damit diese für ihr späteres Leben Sehnsucht und Bedürfnis nach ähnlicher Erschwerung des Daseins erhalten. Dies abgeschmackte Auftischen soll man doch solchen überlassen, welche kein besseres Selbstgefühl haben, als ihren Wohlstand durch Bärenschinken und eingeführte Kostbarkeiten zu zeigen. Gegenüber der Verschlemmung, welche in unser Tagesleben eindringt, ist es Zeit daran zu mahnen, daß alle diese reichlichen Zutaten zu dem äußern Leben, nicht allein bei der Tafel, auch in der gesamten Einrichtung des Hauses ein unnützer Ballast sind, der da, wo er zur Herrschaft kommt, den Menschen nicht heraufhebt, sondern herabdrückt, der unserer Jugend die Gründung eines eigenen Haushalts erschwert und uns am meisten da schädigt, wo wir anderen seither überlegen waren, in der Zucht und Ordnung des Familienlebens.

Zu meinen näheren Freunden in Leipzig gehörte der Jurist Stephani, damals zweiter Bürgermeister, dann durch eine Reihe von Jahren Vertreter der Stadt beim Reichstage. Es war eine Verkörperung der Vorzüge des sächsischen Wesens, durch seine dauerhafte Arbeitskraft, die schöne Verbindung von Gemüt und Verstand, ein maßvolles Urteil, welches allen Illusionen abgeneigt, immer das Praktische und Erreichbare wollte, nicht weniger durch seine treue Wärme, die bescheidene und freudige Anerkennung fremder Tüchtigkeit, der er doch nie feste eigene Ueberzeugung opferte. Diese Vorzüge machten ihn in der nationalen Partei zu einem Vertrauensmann und Vermittler, wie die Fraktion kaum einen zweiten besaß. Nach dieser Richtung war sein Verlust auch für einen weiteren Kreis unersetzlich. Neben ihnen gehörten zur Genossenschaft Männer von sehr verschiedenem Beruf: Wilhelm Braune, der Anatom, welcher eine Zeitlang auch mein lieber Arzt war, seiner sezierenden Wissenschaft zum Trotz eine warme enthusiastische Natur, hochsinnig und mutvoll, dann der spätere Oberbürgermeister Georgi, der Historiker Woldemar Wenck, mehrere Gelehrte und Häupter der Bürgerschaft.

Auch ein Fremder gehörte zur Tafelrunde, Joseph Archer Crowe, der wohlbekannte Kunstschriftsteller, damals englischer Generalkonsul. Er war in Paris erzogen, als Journalist und Zeichner für eine englische illustrierte Zeitung heraufgekommen, dann als Berichterstatter bald hier bald dorthin versandt worden, nach Italien während des österreichisch-französischen Krieges; er war auch als Beamter in Ostindien angestellt gewesen, bis ihn Erkrankung nach der Heimat zurückgeführt hatte. In unserem Kreise wurde Crowe bald ein werter Kamerad, der sich geradsinnig und mit guter Laune unter uns behauptete; wir bewunderten seine Arbeitskraft und die Findigkeit, womit er sich über unsere Handelsverhältnisse und die politischen Zustände zu unterrichten wußte.

Zehn Jahre meines Mannesalters lebte ich in vertrautem Verkehr mit Karl Mathy, es war in seinem Leben das letzte Jahrzehnt. Gekannt hatte ich ihn längst, wir waren in Gotha zweimal zusammengetroffen, er hatte auch einiges für die Grenzboten geschrieben und zuweilen mit mir Briefe gewechselt. Wenn ich damals mit dem badischen Staatsrat, dem gefürchteten Gegner der Revolutionäre, achtungsvoll verhandelte, hatte ich keine Ahnung davon, daß ihm gerade in diesen Jahren die bescheidene Stellung eines Redakteurs bei den Grenzboten als eine wünschenswerte Unterkunft für sein eigenes Haupt erschienen wäre. Erst im Jahre 1858, wo er die Leitung der Privatbank zu Gotha übernahm, begann das innige Verhältnis; wie er im zweiten Jahre darauf als Direktor der Kredit-Anstalt nach Leipzig gerufen wurde, zog er für mich nur von der Sonnenseite des Jahreslebens nach der Winterseite. Noch denken viele Deutsche daran, daß der Verstorbene ein ungewöhnlich kluger und kräftiger Mann war, auch daß in seinem Wesen eine Gewalt und furchtbare Entschlossenheit lag, welche bei großen Entscheidungen die Bewunderung der Freunde, den leidenschaftlichen Haß der besiegten Gegner aufregte. Aber nur, wer ihm persönlich nahe gestanden, weiß, wie anspruchslos und bescheiden sein Gemüt war, geneigt zu liebevoller Würdigung andersgeformter Menschennatur, und wie schön sich neben der unermüdlichen Tatkraft seine behagliche Laune und die Fähigkeit heiteren Lebensgenusses ausnahmen. Sein Wirken wurde stets durch hohe Ideen gerichtet, und meinte bei der genauesten Sorge um einzelnes das Ganze und Höchste; immer galt ihm der Mensch weniger als die große Sache, der er diente, aber überall, wohin er durch sein wechselvolles Schicksal geführt wurde, hat er einen großen Kreis warmer persönlicher Freunde um sich geschlossen. Mir, dem jüngeren, kam ihm gegenüber zugute, daß ich als Preuße bereits besaß, was er ersehnte, den Stolz auf mein Vaterland. Aber es war nicht nur die Politik und gute Kameradschaft des Tages, welche uns aneinander schloß, auch seine reiche literarische Bildung und die herzliche Teilnahme, in welcher er dem entgegenkam, was ich zu schaffen versuchte. Als er nach einigen Jahren auf Anregung des Freiherrn v. Roggenbach durch den Großherzog von Baden in die Regierung seines Heimatstaates zurückgerufen wurde, hörte der persönliche Verkehr nicht auf, ich ging alljährlich einige Tage zu ihm und sah mit dem Stolz eines Vertrauten, wie gut er sich in den Geschäften und im Hausverkehr mit Karlsruher Freunden eingerichtet hatte. In Mathys Seele kam in diesen Jahren ein neues Sonnenlicht durch die hochsinnige, aufopfernde Freundschaft Roggenbachs, der als Präsident des Auswärtigen Ministeriums ihm die Wege gebahnt und um seinetwillen gehäufte Arbeitslast auf sich genommen hatte. Auch der Leipziger Genosse Mathys empfing seinen Anteil an dem Vertrauen und der Neigung dieses seltenen Mannes.

Die Freunde in Leipzig kamen und schieden, die Tafelrunde blieb bestehen, die Entfernten band die Erinnerung an das gute Zusammenleben lange an die Zurückgebliebenen.

Wer die Menschen aufzählt, deren Freundschaft ihm heilsam war, wie ich auf diesem Bogen nicht sparsam getan habe, der berühmt sich dadurch seines irdischen Gewinnes, es ist immer verhülltes Selbstlob dabei. Denn wenn einem so viele tüchtige Menschen zugetan waren, so muß man doch auch danach gewesen sein. Aber mit jedem, der Erinnerungen oder Aehnliches schreibt, mag man in diesem Punkte Nachsicht haben. Denn wenn er sich noch so bescheiden und ehrlich gebärdet, immer setzt er sich auf das Präsentierbrett. Solche Empfindung hat mir die Niederschrift dieser wenigen Bogen schwieriger gemacht, als jemals eine Arbeit. Dennoch muß ich zu dem Selbstlob noch ein anderes fügen.

Da ich ein Deutscher bin, so ist die Zahl der Freunde, die hier genannt und nicht genannt sind, fast immer doppelt zu rechnen. Denn ihre Frauen gehören auch zu der Zahl. Noch ist bei uns Deutschen wie zur Urzeit in wohlgefügtem Haushalt die Frau die Vertraute und Genossin des Gatten auch über den Kreis der Familie hinaus, überall da, wo sein Gemüt stark beteiligt wird. Diese Innigkeit der Ehe ist in den Mittelklassen Deutschlands so rein und voll entwickelt, daß uns manche andere Nation darum beneiden kann, sie ist die beste Bürgschaft für unsere Dauer. In den Dichtwerken, welche die innigsten Beziehungen zweier Menschen erzählen, wird mit Vorliebe die leidenschaftliche Bewegung vor der Ehe dargestellt, von dem Leben in der Ehe vorzugsweise die inneren Kämpfe, oft die Vergehen. Diese bleiben uns Deutschen nicht erspart, aber sie sind bei uns glücklicherweise nur Ausnahmen, in Wirklichkeit ist der Frieden, das Vertrauen, ein dauerhaftes stilles Glück obenauf, und das klare Licht, welches aus dem festen Verhältnis der Gatten in alle Räume des Hauses strahlt, weiht das gesamte Familienleben. Es kommt auch den Vertrauten des Mannes zugute. Fast alle Freunde, die ich je gewann, besaßen solch stillen Reichtum, bis der Tod dem Zurückgebliebenen die Krone seines Daseins raubte.

Die zwei Familien aber, mit denen ich zu Leipzig in der innigsten Verbindung lebte, sind die von Karl Ludwig, dem Professor der Physiologie, und von Dr. Rudolf Wachsmuth, dem Direktor der Kredit-Anstalt. Selten vermag der Mann zu beurteilen, was er dem Verkehr mit seinen nächsten Freunden verdankt, denn die Tagesbilder ihres Wesens, welche er aufnimmt, gleichen nicht Photographien, die gesondert in der Seele bewahrt werden, sie gehen unmerklich in seinen eigenen Inhalt über und er selbst wird durch sie reicher, da wo er lernt und wo er mitteilt. An einer Stelle aber erkennt man die Beschaffenheit solcher, welche unserem Leben nahe stehen, an dem idealen Bild, welches wir uns von Männerwert und Tüchtigkeit machen. Wenn mir beschieden war, hoch von deutscher Natur zu denken, den Schein zu verachten, Liebe und Vertrauen zu der Menschenwelt zu bewahren, so haben die beiden vertrauten Freunde, Ludwig und Wachsmuth redlich dazu geholfen. Denn wie verschieden auch ihr Beruf ist, beide üben in ihm den gleichen Brauch. Der stolze Naturforscher, welcher sein Wissen und Können mit einer auch bei uns unerhörten Selbstlosigkeit den Erfolgen seiner Schüler dienstbar macht, und der uneigennützige Leiter großer Geschäfte, der Berater und Vertrauensmann so vieler, Stolz und Liebling seiner Mitbürger, beide leben in derselben hochsinnigen Hingabe für das Wohl anderer. Sie haben dem Freunde oft das Herz erhoben und durch ihre eigene Art sein Urteil über andere gerichtet. Dasselbe gilt von den Frauen der genannten. Weder Frau Ludwig, noch Franziska Wachsmuth sind in einem meiner dichterischen Versuche abgeschildert, aber zu dem Idealbild des liebevollen, tapferen deutschen Weibes, welches in meinen Erzählungen oft wiederkehrt, haben beide, ohne es zu wissen, reichlich beigesteuert.

Als ich im Herbst 1867 bei Mathy in Karlsruhe war, freute ich mich über seine energische Tätigkeit im Staatsministerium und über das schöne Verhältnis, in welches er zu der Person seines gütigen Fürsten gekommen war, aber ich sah auch mit geheimer Sorge die Veränderung in seinem Aussehen und seiner Haltung, welche er seit den schweren Wochen des Kriegsjahres erfahren hatte. Da faßte er mich mitten im heiteren Gespräch, als sich seine Frau gerade abgewendet hatte, am Arme und forderte leise das Versprechen, daß ich zur Stelle nach Karlsruhe kommen solle, sobald ich die Nachricht von seinem Tode erhalte. Ich sah ihn an und die Unterhaltung ging weiter. Wenige Monate darauf kam die Todesbotschaft. Seine Gattin sprach in der Stunde des Wiedersehens den Wunsch aus, daß ich den Nachlaß des Geschiedenen durchsehen und sein Leben beschreiben möge. Dies ist geschehen. Das Buch »Karl Mathy« war für mich in gewissem Sinne eine Fortsetzung der »Bilder«. Zu diesen hatte ich vor Jahren eine Aufzeichnung von ihm erbeten, in welcher er sein Leben als Schulmeister zu Grenchen in der Schweiz schildern mußte. Jetzt suchte ich die deutschen Zustände in einem südlichen Staat und die politische Schulung eines kräftigen Mannes aus der Zeit aufsteigender Bewegung darzustellen. Für die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens fand ich reichliches Material in seinen Tagebüchern, für die frühere Zeit, die in vielem noch lehrreicher war, boten nur zufällig erhaltene Briefe und Berichte seiner alten Freunde, die ich erbat, den unentbehrlichen Stoff. Das Buch wurde, wie fast alle größeren Arbeiten, zu Siebleben geschrieben im Sommer und Herbst des Jahres 1869. Es sollte der Dank sein, den ich dem geschiedenen Freunde für zehnjährige brüderliche Treue abstattete.

Der Tod Mathys war eine Mahnung, daß auch ich, der jüngere, in das Alter gekommen sei, wo die Verluste an lieben Vertrauten allmählich größer werden als der neue Gewinn, welchen das Leben uns entgegenträgt. Doch dieser Schatten fiel in eine Seele, welche noch in gehobener Stimmung und im Vollgefühl der Kraft die Schwingen regte. Ob mein Leben im ganzen glücklich zu preisen ist oder nicht, das weiß ich nicht, denn ich lebe noch. War ich aber einmal glücklich, so war ich es in diesen Jahren, in denen der deutsche Staat durch Kampf und Verträge gegründet wurde, und man wird auch wohl meinen Arbeiten aus dieser Zeit anmerken, daß sie in einer Periode gesteigerten Lebensmutes geschaffen sind. Schon der Roman »Die verlorene Handschrift« fällt für mich in den Beginn dieser Zeit, mitten in die Jahre des Kampfes die Vollendung der »Bilder aus der Vergangenheit« und in die Zeit der ersten Siegesfreude das Buch »Karl Mathy«.

 


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