Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Die Schule

Als ich sechs Jahre alt war, fing ich an, ein wenig in die Schule zu gehen. Mein Oheim, Pastor Neugebaur, hatte sich gegen die Eltern erboten, den Unterricht selbst zu übernehmen. Ihm war das Lehren von je eine Freude gewesen, schon als armer Knabe hatte er sich durch Stunden, die er gab, fortgeholfen, und es ist wohl möglich, daß er darin völligere Befriedigung fand als im Predigen. Ich blieb bis zum Abgang auf das Gymnasium in seiner Lehre, zugleich mit seiner jüngsten Tochter und in der letzten Zeit mit meinem Bruder. Der Oheim war ein kleiner, untersetzter Herr mit einem mächtigen ovalen Kopf und großen Ohren, auf denen ein schwarzes Sammetkäppchen saß. Er geriet leicht in Eifer und war von den Mitgliedern seiner Gemeinde, welche dem geistlichen Oberhirten Ursache zur Unzufriedenheit gegeben hatten, besonders von dem weiblichen Teil, sehr gefürchtet. Er sprach ausgezeichnet polnisch, was für den Geistlichen in Kreuzburg unentbehrlich war, denn damals wurde noch jeden Sonntag vormittag deutsch und polnisch gepredigt. Mit einem Diakonus sorgte er für die geistlichen Bedürfnisse seiner großen Gemeinde, es gehörten auch einige Dorfschaften aus dem Kreise Rosenberg zu seinem Sprengel, fremdartige polnische Leute in auffallender Tracht, welche mehrere Meilen zur Kirche herkamen, vielleicht die Nachkommen eines Hussitenhaufens, der sich in alter Zeit an der Grenze festgesetzt hatte. Der größte Teil der Stadtbewohner war evangelisch, die kleine katholische Kirche in der Vorstadt, ein alter Holzbau, stand unter einem Kuratus, sie wurde zu meiner Zeit schöner in Ziegeln errichtet. Obschon Friede unter den Konfessionen war, bewachte doch jeder der geistlichen Hirten scharf seine Herde und blickte argwöhnisch auf Eroberungsversuche der anderen Kirche.

Wir Kinder lernten während der Schulstunden auch einiges von dem Verkehr des Predigers mit der Gemeinde und den Geschäften seines Amtes kennen, wir vernahmen die Verhandlungen mit dem Glöckner, den Lehrern und den Sündern, wir suchten in alten Kirchenbüchern die Geburten und Todesfälle für die auszustellenden Zeugnisse und zählten jeden Montag die Pfennige des Klingelbeutels; es war immer wenig genug darin, die falschen Geldstücke fehlten nicht, und vollends die Knöpfe, welche Arme aus Scham statt des Geldes hineingesenkt hatten, machten das Pastorat unwillig. Für seine Zöglinge aber war der Oheim der sorgfältigste und gütigste Lehrer, ich denke, auch ein guter Lehrer, obgleich seine Methode wahrscheinlich jetzt Widerspruch finden würde. Lesen lernte ich schon als sehr kleines Männchen, dazu hatte die Mutter geholfen und der bereits erwähnte Göckelhahn, welcher dem letzten Blatt des ABC-Buchs rot und schwarz aufgedruckt war und zu meiner Zeit noch mit ins Bett genommen wurde. Wenn der Kleine gut gelernt hatte, fand er am andern Morgen im Buche das Gröschel, welches der Hahn ausgekräht hatte. Wieder ist mir aus der Dämmerzeit meiner frühen Kinderjahre ein Augenblick deutlich geblieben, ich fühle noch die schöne gehobene Freude, die ich hatte, als ich für mich allein die erste kleine Geschichte las und den Sinn verstand.

Fast zugleich mit deutschem Lesen und Schreiben lernte ich die ersten lateinischen Vokabeln, ich erinnere mich gar nicht mehr, wann der lateinische Unterricht angefangen hat, aber mensa und amo habe ich wahrscheinlich aufgesagt, bevor ich sieben Jahre alt war; bald wurde lateinisch übersetzt. Auf den kleinen Bröder folgte Eutropius, und in das junge Gehirn zogen die Gestalten der römischen Geschichte ein, in welcher der Oheim gut bewandert war. Als nun die Zeit kam, wo ich daheim Campes Robinson mit Begeisterung las, ergab sich, daß in der Bibliothek des Oheims eine lateinische Uebersetzung des Robinson vorhanden war, und sofort arbeitete ich mich in der Stunde durch das behagliche Latein des starken Buches vom Anfang bis zum Ende; dann kam Nepos an die Reihe und mancher andere, zuletzt neben Vergil noch Cicero de officiis. Diese Hinterlassenschaft des Altertums war sehr langweilig, aber sie wurde unbarmherzig durchgelesen. Auch etwas Griechisch lernte ich, doch machten die unregelmäßigen Verba Beschwerde.

Der Oheim gab wenig auf die deutschen Stilübungen. Ob ich jemals einen deutschen Aufsatz verfertigt habe, ist mir zweifelhaft. Doch muß dieser Umstand meiner Schreibelust nicht hinderlich gewesen sein, denn ich begann mit etwa zehn Jahren meinen ersten Roman, eine Robinsonade, worin ein Vater mit seinen Kindern auf eine wüste Insel verschlagen wurde. Dort entdeckten die Kinder viel Seltenes und Abenteuerliches, dabei entwickelte sich als Lieblingsgestalt des Dichters der eine Sohn Jack, er fand immer das Beste, wurde mit allem fertig und war stets guter Laune, und ich neige mich zu der Ansicht, daß er Stammvater der unartigen Knaben war, welche unter dem Namen Kunz, Bolz, Fink später um meinen Schreibtisch tanzten.

Für die Naturwissenschaften blieb der Unterricht ungenügend. Nur Bücher mit Bildern, welche die Tante zuweilen aus ihrem Bücherschatz lieh, gaben Anschauungen, darunter die elf Bände des »Schlesischen Naturfreundes«. In den alten Sprachen aber war ich später gut daran, ich hatte von dem behenden Lesen den Vorteil, daß mir auch die Spätlateiner und die Mönche des Mittelalters, mit denen ich mich manches Jahr unterhalten mußte, leichter verständlich wurden.

Der Haushalt des Pastors war wunderlich, und auch wir Kinder merkten das. Der Oheim herrschte vorn im Hause bei seiner Pfeife, den Kirchenbüchern und Predigten, die Tante hinten auf der Gartenseite, es waren zwei getrennte Welten, die Töchter besorgten den Haushalt. Meine Tante, die älteste Schwester meiner Mutter, hatte sich ganz von dem Verkehr mit Menschen zurückgezogen und der Blumenzucht ergeben, es war aber nicht unser gewöhnlicher Gartenflor, welchen sie zog, sondern das Neueste und Seltenste; sie stand mit den großen Handelsgärtnern zu Breslau und anderswo im Geschäftsverkehr, erhielt viel Unerhörtes von Knollen, Zwiebeln und Samen und verstand dies meisterhaft zur Blüte zu bringen. Unter großen Schwierigkeiten. Denn da sie kein Glashaus hatte, mußte sie im Treibkasten und in der Stube auch anspruchsvolle Fremdlinge heraufbringen, welche solchen Aufenthalt ungern ertrugen. Deshalb waren alle Räume, bei denen der Widerstand des Oheims nicht hinderte, mit Blumentöpfen vollgesetzt, zum Gehen und Sitzen blieb nur wenig Raum, und wir Kinder wurden in allen Bewegungen zur größten Vorsicht genötigt. Ich befürchte, daß diese Herrschaft des Pflanzenreiches in den Stuben für die Gesundheit der Tante und der Kinder nachteilig gewesen ist. Die Tante trug den Kopf immer verbunden, auch die Cousinen blieben kränklich. Aber die Tante, welche sehr klug und sehr eigenwillig war, ließ sich von niemandem dreinreden. Irdisches Glück empfand sie wohl nur, wenn eine Amaryllis aufblühte oder eine Begonie ihre Blätterpracht entwickelte. Und diese Leidenschaft gewann mit den Jahren immer größere Herrschaft.

Von vier Kindern waren zwei Töchter am Leben geblieben, die jüngste, Julie, ein halbes Jahr älter als ich, war nicht nur meine Gefährtin beim Lernen, die meinetwegen sogar ein wenig Latein trieb, sie wurde auch meine Gespielin, soweit ihr die Tante das Ausgehen gestattete, und die beste Freundin meiner Kinderjahre. Ein Mädchen von ungewöhnlicher Geisteskraft, zuverlässig und charakterfest, die immer mehr um mich als für sich selbst sorgte. Sie war groß, nicht hübsch, ihre bleichen Wangen entbehrten seit frühester Zeit den Rosenhauch der Gesundheit, und ihr fehlte schon früh die anmutige Beweglichkeit, welche dem Kinde im fröhlichen Treiben mit seinesgleichen zugeteilt wird, aber das Klare und Lautere ihres Wesens machte sie zu einer sichern Freundin und zur klugen Beraterin aller, die ihr näherstanden. Auch in späteren Jahren, wenn ich von der lateinischen Schule und der Universität nach Hause kam, blieb Julie meine Vertraute, mit der ich am liebsten über alles verhandelte, was mich gerade beschäftigte, und oft war ich erstaunt über die Schnelle ihres Verständnisses und die Sicherheit ihres Urteils. Die zarte, anspruchslose Schwesterliebe aber, die sie mir unverändert bewies, lernte ich in ihrem vollen Wert erst schätzen, als sie selbst uns verloren war. Da sie nach dem Tode ihrer Eltern vor der Wahl eines Berufes stand, entschied sie sich mit einem Zug von Schwärmerei, gegen den ich vergeblich ankämpfte, für die Krankenpflege, und zwar für solche, welche die härtesten Anforderungen an den Menschen stellt; sie wurde Oberpflegerin der großen Irrenanstalt zu Leubus und stand eine Reihe von Jahren dem schweren Amte vor. Ein Jahr vor ihrem Tode besuchte sie mich noch in Siebleben; Hand in Hand, wie in unserer Kinderzeit, zogen wir auf den Waldwegen dahin um die Wartburg, die sie vor allem gern sehen wollte. Damals hatte sie sich so innig des Wiedersehens gefreut, und wir hatten während dieser Tage die kleinen Erlebnisse unserer gemeinsamen Vergangenheit so herzlich durchgesprochen. Ueber ihren Beruf sprach sie sich heiter und zufrieden aus, als ich mahnend daran rührte, und nur einigemal fiel mir auf, daß ihr Blick starr in die Ferne sah, als erwartete sie aus dem wogenden Nebel irgend etwas Beängstigendes, Fürchterliches. Es war der Feind, dem sie bald darauf erlag.

Während mich zu Kreuzburg die treue Sorge des geistlichen Oheims mit gelehrtem Wissen begabte, sorgte noch eine andere Lehrerin, welche als sehr ungeistlich betrachtet wurde, für meine Bildung, indem sie eine Fülle von Bildern, Anschauungen und Empfindungen in die junge Seele leitete. Dies tat die Bühne einer wandernden Gesellschaft, welche in meiner Vaterstadt aufgeschlagen wurde. Ganz dieselbe Einführung in dramatischen Wirkungen haben fast alle meine literarischen Zeitgenossen erfahren, welche in dem deutschen Stilleben von 1815-1840 heranwuchsen. Für die Jugendbildung dieser Zeit ist das kleine Stadttheater ebenso bedeutsam, wie die Einwirkung des Lauchstädter auf die Studierenden des früheren Geschlechtes war. Was freilich den jungen Zuschauer am meisten förderte, waren nicht die großen Effekte, durch welche die Phantasie am heftigsten erregt wurde, sondern die faßliche Darstellung der Menschenwelt, der verständliche Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe, Sprache und Verkehr der verschiedenen Lebenskreise, die Besonderheiten der Charaktere, auch Vortrag, Gebärde, Trachten, selbst bei einer unvollkommenen Darstellung. Von solchem Erwerb gibt sich das Kind keine Rechenschaft, er ruht ihm in der Seele gleich den Beobachtungen des eigenen Tageslebens, aber er beeinflußt ihm fortan Urteil, Verständnis der Dinge, das eigene Benehmen.

Ich war zehn Jahre alt, als die Gesellschaft eines Herrn Bonnot in Kreuzburg erschien. Sie war wohlbeleumdet, denn sie hinterließ beim Abschied keine oder doch nur wenig Schulden, die Kostüme gefielen als neu und sauber, es war sogar eine vollständige Ritterrüstung darunter, so daß der Held, welcher hineingesteckt wurde, aussah wie ein ungeheurer Silberkäfer. Man rühmte auch das Spiel, wenigstens in den Hauptrollen. Der Direktor, welcher eine unregelmäßige Nase hatte, spielte ausgezeichnet die Bösewichter, der Komiker war unwiderstehlich, auch Würde und Adel fehlten nicht, sie wurden durch den Heldenspieler Spahn und Frau vertreten. Dies waren ernsthafte, ordentliche Leute, was ihnen von den Zuschauern hoch angerechnet wurde und auch der Würdigung ihres Spiels zugute kam. Denn der ehrliche Deutsche glaubt von seinen Lieblingen auf der Bühne ungern Nachteiliges aus ihrem eigenen Leben, und wo er dies Leben als still, ehrbar und liebenswert rühmen kann, entsteht im Laufe der Zeit zwischen ihm und den Darstellern ein besonderes gemütliches Verhältnis, das sich zuweilen mit rührender Zartheit äußert.

Meine Eltern besuchten oft die Vorstellungen, dem Vater waren sie wohl der liebste Genuß, der ihm seither nur selten zuteil geworden war. Auch ich durfte manchmal die Eltern begleiten und ich erhielt reichlich die starken Einwirkungen der dramatischen Kunst, welche eine Wanderbühne geben konnte. Zwar die Lust- und Schauspiele, wie »Deutsche Kleinstädter«, »Menschenhaß und Reue« haben in mir geringe Spuren hinterlassen, dafür war ich wohl zu jung; größere die Zauberpossen, in denen auch gesungen wurde, die größten aber, Stücke wie »Abällino«, der Klingemannsche »Faust«, »die Waise von Genf«. Dieses Stück, in welchem ein verruchter Bösewicht mit seinem Dolche ein hilfloses Mädchen vom Anfang bis gegen das Ende verfolgt, erregte mir ein Entsetzen, das ich noch heut nachfühle, und einen Abscheu gegen die Quälerei Unschuldiger in den Darstellungen jeder Kunst. Dieser Abscheu vor dem Häßlichen, d. h. vor Wirkungen, welche beängstigen und quälen, ohne zu erheben, ist mir durch das ganze Leben geblieben und hat mich später gegen alle Poesie der französischen Romantiker verhärtet.

Aber was ich selbst durch diese Wanderbühne für mein Leben gewann; eine gewisse Schulung, dramatisch zu empfinden, vielleicht für die Zukunft die Möglichkeit, dramatisch zu gestalten, das galt mir damals wenig. Größere Bedeutung als die Stücke hatte für mich ein kleines Mädchen, welches die Kinderrollen spielte, Albertine Spahn. Das anmutige Kind war einige Jahre jünger als ich, mit Staunen sah ich zu, wie sie als Elfe, Ritterkind, Bauernmädchen sich so zierlich und sicher vor den Lampen bewegte, wie sie tanzte und mit ihrem feinen Stimmchen sang. Aller Zauber, den die Kunst der Bühne auf den Menschen auszuüben vermag, war für mich in dem Kinde verkörpert, und alles Entzücken, das der Begeisterte vor dem Kunstwerk empfindet, wandte ich ihrer kleinen Person zu. Auch als ich sie außerhalb der Kulissen sah und mit ihr sprechen durfte, betrachtete ich sie immer mit tiefer Verehrung und war glücklich, wenn sie mich freundlich anlachte. Dies Gefühl von ehrerbietiger Scheu behielt ich auch, nachdem wir gute Kameraden geworden waren, wenn sie nicht verschmähte, meine kleine Steinsammlung zu betrachten und einen merkwürdigen Federbusch von seinen bunten Glasfäden zu bewundern, den der Vater in Verwahrung hatte und nur bei besonderer Gelegenheit zum Schauen darbot. Als die Gesellschaft Kreuzburg verließ, bat ich die Mutter um ein Geschenk für die Kleine, ich trug ihr ein Halsband zu und legte es ihr um. Sie gab mir einen leisen Kuß, es war der erste und letzte meiner unschuldigen Liebe. Aus einer anderen Stadt sandte sie mir als Gegengabe einen Geldbeutel, auf welchem Gurkenkerne mit blauen Perlen sehr schön zu kleinen Sternen gefaßt waren. Ich habe ihn so lange bewahrt, bis die Kerne von eingedrungenen Käfern zerbissen wurden. Viele Jahre später, da ich mich bereits als dramatischer Schriftsteller versucht hatte, fand ich auf einem Theaterzettel aus Hamburg ihren Namen. In einem Briefe frug ich die Schauspielerin, ob sie meine Gespielin aus der Kinderzeit sei, und erhielt durch eine Freundin, welche sich in Hamburg nach ihr erkundigte, die Bestätigung. Wieder vergingen Jahre, ich war längst verheiratet und Redakteur der Grenzboten, da wurde mir berichtet, daß mein Theaterkind aus Kreuzburg als Frau eines namhaften Charakterspielers nach Leipzig gekommen sei. Sie war Mutter einer zahlreichen Familie und Gattin eines wüsten Gesellen, ihre Lebenskraft und Kunst waren unter der Ungunst ihrer häuslichen Verhältnisse gebrochen. Ich sah sie einmal im Theater in einer kleinen Nebenrolle und nichts in ihrem Wesen erinnerte mich an das Kind. Da ließ ich ihr durch einen Bekannten sagen, daß ich unsere Kinderzeit in treuer Erinnerung bewahre, sie selbst habe ich nicht wieder gesehen. Ich hätte ihr in nichts nützen können.

Aber Thalia war nicht die einzige Göttin, welche leise an das Haupt des Knaben rührte, auch von der Muse der Tonkunst wurde ich als Opfer bekränzt. Der Vater spielte ein wenig die Violine und blies besser die Flöte, und wenn gegen Abend aus seiner Stube die weichen Töne in unser Ohr drangen, zogen wir, Mutter und Kinder, uns leise in seine Nähe und hörten andächtig zu. Auch die Mutter lehrte sich selbst in ihrer unternehmenden Weise die Griffe und leichtere Stücke auf der Gitarre. Außerdem aber war als hochgeschätzter Hausbesitz eine große Konzertgeige vorhanden. Sie trug in ihrer Höhlung den Zettel »Kaspar Göbler, Lauten- und Geigenmacher zu Breslau 1756«, ihr Klang war in den Mitteltönen ungewöhnlich voll und schön, in den tiefen schwächer, und in den hohen schrie sie – Mängel, die bei einem spätern Umbau beseitigt wurden. Nun war ich auch da und der Vater legte mir zuweilen prüfend die Geige in den kleinen Arm mit dem innigen Wunsch, daß ich dereinst ihrer würdig werden möchte. Sobald also die kleinen Finger die Saiten zu drücken vermochten, wurde mir eine Übungsgeige gekauft und ein alter Stadtmusikus als Lehrer geworben. In seiner Zucht geigte ich einige Jahre unter vielen Fingerknipsen ohne große Freude. Als aber die Theatergesellschaft von Kreuzburg schied, blieb ihr Kapellmeister Zoche bei uns zurück in der Absicht, seiner zahlreichen Familie durch Unterricht ein ruhigeres Heimwesen zu gewinnen. Dem Vater war das gerade recht, er verschaffte dem neuen Anwohner ein altes Piano für den Unterricht und gab mich in seine Lehre. Die Sache ließ sich gut an. Mein Herr Zoche war ein fester Musiker von der alten Schule, der alle erdenklichen Instrumente von der Harfe bis zum Serpent zu behandeln vermochte. Ich betrachtete ihn anfänglich mit Befremden, denn sein Gesicht war seltsam von den Pocken zerrissen, doch er war gütig gegen mich, knipste niemals und wir wurden bald gute Freunde; er legte mir sogleich die große Geige unter das Kinn – später stellte sich sogar eine Bratsche ein –, und ich geigte unter ihm wieder einige Jahre tapfer darauf los, gewann auch ziemliche Fertigkeit, aber mein Gehör blieb unsicher, und ich habe für mein späteres Leben wenig anderes von dieser Beschäftigung bewahrt, als die Erinnerung an meinen gutherzigen Lehrer.

Wenn ich meine Schulzeit von täglich vier Stunden hinter mir hatte, erhielt ich von der Mutter die Vesper und war aller wissenschaftlichen Sorge enthoben, denn Schularbeiten daheim mochte der Onkel nicht leiden. Dann schwärmte ich leicht beschwingt und glückselig mit meinen Gespielen umher oder trieb im Hause lustige Künste, gewöhnlich mit dem kleinen Bruder zusammen, wir schnitzten und pochten, waren sehr tätig in Buchbinderei und malten Bilderbogen aus, wozu der Farbekasten mit Muscheln verwandt wurde, der für Kinder weit bequemer ist als der neue Tuschkasten. Waren wir emsig über solcher Arbeit, dann kam wohl auch der Vater nachsehen, ob wir die Sache recht anfingen; er lehrte uns Tischlerwerkzeuge gebrauchen, Pappkästchen ausmessen und zusammenfügen, Federn schneiden und mit der Heftnadel jede Art von Naht herstellen. Immer aber war die Mutter als guter Kamerad bei der Hand, sie half uns und wir halfen ihr, wo sie uns brauchen wollte. In der Dämmerstunde saß der Vater bei uns andern in stillem Behagen und wir erbaten unaufhörlich Geschichten, der Vater wußte viel aus seinem Leben zu erzählen, die Mutter aber teilte am liebsten mit, was sie kurz vorher selbst gelesen hatte. Sie las gern. Natürlich als Pastortochter vor allem in dem Familienbuch jener Jahre, den »Stunden der Andacht«, aber auch was irgend von gedruckter Poesie in ihren Bereich kam. Die Märchen standen nicht in besonderer Gunst, sie wurden fast nur durch die Dienstleute den Kindern beigebracht, von den Eltern wurden solche Geschichten geschätzt, welche sich wirklich hätten ereignen können. Schiller war lange nicht so bekannt, als er in den nächsten Jahrzehnten wurde, und der Name Goethe wurde nur selten genannt. Ihre Gedichte besaßen wir nicht. Der Vater hatte Lieblingsbücher, die er gern las, vor allem Hallos glücklichen Abend von Sintenis. Die Erziehung der Fürsten zu Humanität und Menschenliebe war damals die Sehnsucht redlicher Freunde des Vaterlandes, von ihr hing, wie man annahm, das Glück der Völker ab. Auch Lafontaine stand in hohen Ehren und einige Stücke von Iffland: »Verbrechen aus Ehrfurcht« und »Der Spieler«, diese als Erinnerungen an die Aufführungen der Schauspieler von Weimar. Oft erzählte der Vater von dem erschütternden Eindruck, den solche Theaterabende auf alle Zuschauer gemacht; es waren die höchsten Wirkungen, welche ihm die Kunst in die Seele gedrückt hatte. Denn was das lebende Geschlecht begehrte, war weniger die heitere Schönheit als die moralische Tendenz, alles, was den Menschen in Stunden der Versuchung fest machen konnte. Dem Hausgebrauch aber dienten behaglichere Geister: van der Velde, Tromlitz und Clauren. Als willkommene Wochengabe wurde der anspruchslose »Hausfreund« gehalten, den der Breslauer Dichter Geisheim herausgab. Er war das literarische Ereignis, von dem wir Kinder am meisten erfuhren. Im Anfange stand ein Gedicht, das mehr bürgerlich als gewaltig war, dann eine Geschichte, die sich durch einige Nummern zog, dann moralische Betrachtungen über Menschenleben, welche als Hobelspäne aus der Werkstatt der Redaktion dargestellt wurden, und zuletzt die immer hochgeschätzten Rätsel. Diese kleinen Nüsse aufzuknacken war die regelmäßige Wochenfreude. Als ich in späteren Jahren zugleich mit dem Herausgeber Mitglied des Breslauer Künstlervereins war und den Musen diente, konnte ich ihm manches Gedicht aufsagen, das der Alte in früheren Jahren aus dem Aermel geschüttelt hatte.

Wie einfach war doch der ganze Haushalt, obgleich die Eltern, nach den Verhältnissen jener Zeit, in mäßigem Wohlstande lebten. Die Papiertapete galt für einen Luxus, den wir in keiner Wohnstube hatten, die Wände waren mit bunter Kalkfarbe blau, rosa, gelb getüncht, eine kleine gemalte Rosette an der Decke der »guten« Stube wurde sehr bewundert. Auch das Streichen der Fußböden war noch ungebräuchlicher, und zur großen Beschwer der Familie und der Dienstmädchen blieb ein ewiges Scheuern der weißen Dielen notwendig; die Möbel standen gradlinig und einfach, kaum ein altes Stück in Rokoko darunter; zu Mittag nur ein Gericht, am Abend erhielten die Kinder selten ein Stück Fleisch, häufig Wassersuppe, welche die Mutter durch Wurzeln oder einen Milchzusatz anmutig machte. Wein wurde nur aufgesetzt, wenn ein lieber Besuch kam. Dabei wuchsen wir gesund und rotbäckig heran. Solche Einfachheit des Tageslebens war allgemein. Wenn die Herren einmal reichlicher Geld ausgaben, geschah es in der Weinstube, die der Vater sehr selten besuchte.

*

Es war ein Haushalt, wie es viele Tausende in Deutschland gab, und es waren Menschen darin, welche vielen Tausend anderen ihrer Zeit sehr ähnlich sahen. Es war auch ein Kinderleben, wie es in der Hauptsache allen Zeitgenossen verlief, deren Wachstum von liebenden Erziehern behütet wurde. Das heitere Licht, welches durch glückliche Häuslichkeit und durch die Zärtlichkeit guter Eltern über das ganze Dasein des Kindes verbreitet wurde, bewahrt der ältere Mann in der Erinnerung als das höchste Glück seiner Jugend, aber schildern läßt sich davon nur wenig. Die Menschen lebten redlich, pflichtvoll und warmherzig mit geringen Bedürfnissen und geringem Schmuck ihrer Tage. Die Poesie großer Dichter hatte wenig dazu geholfen, ihnen edle Gefühle in das Haus zu leiten, von guten Bildern, von antiker Kunst war ihnen vielleicht nichts bekannt, und von den tausend allerliebsten Erfindungen des modernen Kunstgewerbes war kaum etwas vorhanden, aber die Innigkeit des Empfindens, ja auch die Freude an dem mühevollen Dasein war nicht geringer als jetzt, und was vor allem den Wert des einzelnen Menschen bestimmt: die stille, heitere Hingabe an die Pflicht des Berufes und die treue Anhänglichkeit an den Staat waren wundervoll stark entwickelt. Das ganze Volk, Vornehme und Geringe, Große und Kleine, Arbeitgeber und Arbeitende, hatten im letzten Grunde dieselben Empfindungen, jedermann war patriotisch und jedermann war loyal. Freilich war solche Einmütigkeit die Folge unerhörter politischer Leiden, aus denen sich das Volk mit Anspannung der letzten Lebenskraft emporgerungen hatte. Die größte Not hatte den größten Segen hinterlassen. Möge der gute Geist unserer Nation verhüten, daß zu dem freundlichen Lächeln, mit welchem die Menschen des nächsten Geschlechtes auf das arme, enge Leben ihrer Großeltern zurückblicken werden, sich nicht auch eine geheime Sehnsucht nach Zuständen einer Vergangenheit mische, welche den Einzelnen so reichlich die höchsten Güter des Lebens zuteilte.

 


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