Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Jahre der Vorbereitung

So war ich wieder daheim mit der akademischen Handhabe vor dem Namen, wohlgemut und hoffnungsvoll, ich hatte mich in der Fremde behauptet, eine Anzahl tüchtiger Menschen liebgewonnen und von ihnen Freundliches erfahren. Ich saß unter den Hortensien der Mutter und strich leise an das lockige Haupthaar des Vaters, welches dünner und weißer geworden war, ich wußte viel zu erzählen und war nicht sparsam im Austeilen meiner Dissertation. Ich nahm meine Bücher und Hefte vor, konnte mich aber nicht enthalten, dazwischen ein zweites Schauspiel, das ich in der letzten Zeit in Berlin ausgedacht hatte, zu beenden und sauber abzuschreiben, es hieß: »Die Sühne der Falkensteiner«, Zeit: Mittelalter, darin zwei feindliche Familien, deren Zwist durch Liebe ausgeglichen wird – keine unerhörte Idee – etwas von dem Inhalt hatte ich in einem Prosastück des Wackernagelschen Lesebuches gefunden, Lieblingsfigur wurde ein Spielmann Hahnekamm, die Sprache lief in Prosa, der Inhalt war übermäßig gefühlvoll, mit sehr langen Dialogen, ohne dramatisches Geschick und noch ohne gute Zeitfarbe, das Ganze nichts als ein anspruchsvolles Ritterstück, völlig unbrauchbar. Obgleich ich es mit vielem Behagen beendigt hatte, fiel mir doch nicht ein, dafür bei den Bühnen um Zutritt zu werben, es war für mich abgetan, und wird hier nur deshalb erwähnt, weil es erwies, daß die Seele mit zweiundzwanzig Jahren, trotz der Berliner Beschäftigung mit Shakespeare und dem Theater, noch ganz in epische Fäden eingesponnen war.

Nachdem ich den Winter still zu Hause gearbeitet hatte, faßte ich den Entschluß, mich als Privatdozent für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau zu habilitieren. Der Vater war damit einverstanden. Er hatte ein viel besseres Vertrauen zu mir und meiner Kraft, als ich nach meinem Können verdiente, er ist auch darin nie irre geworden, und es war mir nach seinem Tode eine Stunde innerer Bewegung, als ich fand, wie sorglich er alle meine gelegentlichen Reime, die ihm zugegangen waren, und alles, was ich bis dahin sonst geschrieben, sich aufbewahrt hatte.

Im Jahre 1839 ging ich nach Breslau und sprach zuerst über meinen Plan mit Hoffmann, welcher ihn durchaus billigte. Es war damals noch erlaubt, ein Jahr nach der Doktorprüfung Dozent zu werden. Jedenfalls war dies für mich zu früh, mein Können glich, wenn der stolze Vergleich erlaubt ist, einem umfangreichen Bau, für den der Grund gegraben, hier und da eine Mauer aufgerichtet ist, aber es war noch kein Teil so unter Dach, daß ich in ihm einen sichern Hörsaal für akademische Schüler aufschlagen konnte. Ich war überhaupt keine Natur, welche frühreif und mit festgeschlossener Kraft in geradliniger Tüchtigkeit fortschreitet, ich habe erst als Lehrer und noch später das meiste von dem erworben, was mancher andere beim Eintritt in seinen Beruf bereits gesammelt hat. Doch solche verständige Einsicht brachte erst die Zeit.

Zur Bewerbung um das akademische Lehramt schrieb ich eine lateinische Abhandlung über die Dichterin Hrosvith. Diese Gandersheimer Nonne aus der Zeit der sächsischen Kaiser hatte mich schon in Berlin beschäftigt, die merkwürdigen Komödien, welche sie neben ihren epischen Gedichten verfaßte, um der Hetärenwirtschaft in den Lustspielen des Terenz Beispiele von weiblicher Enthaltsamkeit und von Verachtung irdischer Liebe entgegenzustellen, sind für uns sehr belehrend. Denn aus ihnen ist zu erkennen, wie unmöglich es den Deutschen vor tausend Jahren war, dramatisch zu schreiben, und daneben wie ein talentvoller Blaustrumpf in jener Zeit fühlte und sich gebärdete.

Als ich die hoffnungsreiche Stellung eines Privatdozenten gewann, war ich fast dreiundzwanzig Jahre, und es wurde für mich hohe Zeit, meiner Militärpflicht zu genügen. Nun wäre klüger gewesen, wenn ich mich erst nach meinem Dienstjahre habilitiert hätte, ich aber wollte vor allem andern die Sorgen für meinen künftigen Beruf hinter mir haben. Durch meine Laufbahn hatte ich die Berechtigung zum einjährigen Dienst erhalten, und im Frühjahr 1839 hatte ich mich auch für das elfte Regiment beim Oberstleutnant v. Hobe, den ich zufällig kannte, zum Eintritt gemeldet und gebeten, mir Aufschub bis zum Herbst zu bewilligen, was man mir zuvorkommend gestattete. Da fand ich kurz nach meinem Geburtstag in der Zeitung eine Aufforderung, durch welche alle aus meinem Geburtsjahr, welche ihrer Militärpflicht noch nicht genügt hatten, dringlich ersucht wurden, sich bei der Polizei zu melden. Ei, dachte ich, jetzt nur nichts versäumt. Ich eilte auf die Polizei und meldete mich. Ich war verwundert, daß der Beamte mich mürrisch und mißtrauisch ansah, als er mich in die Liste zeichnete. Einige Wochen darauf erhielt ich den Befehl, mich vor der Ersatzkommission zu stellen. Dort fand ich mich in einer keineswegs gewählten Gesellschaft. Ein alter mißvergnügter General erschien, behandelte mich, trotz meiner Auseinandersetzung, als säumigen Kantonisten, und erklärte, daß ich bereits älter als 23 Jahre sei und mein Recht auf einjährigen Dienst verloren habe, der Arzt habe mich zu untersuchen. Ich war schnell aufgeschossen, damals schmal und kränklich, also versuchsweise einzustellen; die Stiefeln aus, unter das Maß, die Fahne wurde herangetragen und ich als Gemeiner für drei Jahre in Eid und Pflicht genommen. Als Erinnerung an den wunderlichen Tag unter dem wilden Völklein blieb mir ein Gedicht »Der Nachtjäger«, das ich während des langweiligen Wartens in wetterschwüler Stimmung niederschrieb.

Da ich kurz darauf in den Ferien nach Kreuzburg kam, machte der Vater, mehr bekümmert als ich, unter Darlegung des Sachverhältnisses die Eingabe an den König, welche mir das Recht des einjährigen Dienstes wiederschaffen sollte. Unterdes erkrankte ich ernsthaft an einem gastrischen Fieber – es war keine leichte Krankheit, ich mochte mich überarbeitet haben – und ich lag fest als der Termin kam, wo ich mich zum Eintritt in Breslau stellen sollte. Der Vater zeigte der Ersatzkommission an, weshalb ich verhindert war, am Tage einzutreffen, und legte ein Zeugnis des Kreisphysikus bei; aber umgehend erging der Bescheid an den Landrat, ich sollte sofort per Schub zum Regiment geschafft werden. Das war verzweifelt gesetzlich. Ich wurde einige Tage darauf eingepackt, fuhr nach Breslau und meldete mich bei dem zehnten Regiment, dessen sechster Kompagnie ich zugeteilt war; der Major sandte mich mit wohlwollendem Bedauern in meine Wohnung zurück. Dort behandelte mich der Regimentsarzt, bis ich dienstfähig wurde. Darauf wurde ich auf dem Bürgerwerder mit zwei anderen Rekruten, die ebenfalls zurückgeblieben waren, gedrillt. Bald traf auch von Berlin die Order ein, welche die Schnur auf den Achselklappen bewilligte, doch blieb ich auf Zureden des Majors bei der Kompagnie, deren einziger Freiwilliger ich war.

Die Sache ließ sich nicht übel an, die Unteroffiziere taten mir das Mögliche zu Gefallen, und ich gewann reichlich Gelegenheit, das Kleinleben der Kaserne kennenzulernen, ich erhielt eine Ahnung davon, was der Murr dem Musketier bedeute, ich chargierte und sprang im Bajonettfechten jedem Feinde verderblich umher, und merkte, daß diese Turnübung für mich von dauerndem Nutzen sein könne. Nur der Hauptmann, ein alter Knabe, der seit dem Jahre 1813 ohne gute Aussichten für sich in Dienst stand und als Bärbeiß übel beleumundet war, blieb schwierig. Ich nahm auch meine akademischen Vorlesungen auf und habe zuweilen, wenn ich gerade aus der Kaserne kam, in der Kommißjacke das Katheder besteigen müssen, was bei ernsten Professoren Anstoß erregte. Aber das geschäftige Leben zwischen Kaserne und Universität fand im Winter ein unerwartetes Ende. Ich hatte die Krankheit vom Herbst noch nicht überwunden, das Exerzieren in dem dünnen Anzug, wie er damals war und wie ihn der Hauptmann befahl, zog mir Erkältungen zu, ich legte mich ein und begann ein wenig zu phantasieren. Als der Arzt meine Erkrankung dem Hauptmann anzeigte, befahl dieser, mich aus meiner Wohnung in das Lazarett zu schaffen, da er wohl wisse, daß ich mich nur verstelle. Das war nicht wahr. Ich wurde in eine Krankenstube gebracht, welche mit Kranken so angefüllt war, daß der Dunst und die Umgebung auch einen Gesunden krank gemacht hätten. Ich verfiel einem hitzigen Nervenfieber, der Arzt, selbst betroffen, ließ mich auf ein anderes Zimmer bringen, in dem ich einige Wochen hinbrachte. Jede Erinnerung an diese Zeit ist mir geschwunden. Sobald ich die Uebersiedelung vertrug, wurde ich auf Befehl des Majors wieder nach meiner Wohnung befördert, dort blieb ich noch einige Wochen als Revierkranker, bis ich als Armeereservist entlassen wurde.

Das war mein Soldatendienst. Ich hatte mich, wahrlich in guter Meinung, ungeschickt verhalten und mir selbst die Hauptschuld zuzuschreiben. Aber mein altes Preußen hatte mich auch nicht mit Sammetpfötchen angefaßt. Der Vater fühlte die Kränkung schmerzlich, er hatte ein langes Leben der Pflicht gegen den Staat hingegeben, und vorab tat ihm, dem Bürgermeister, jene verlangte Beförderung durch Schub weh. Einmal kamen die Worte über seine Lippen: »Wäre es der Sohn eines vornehmen Mannes gewesen, sie hätten ihn nicht so behandelt«. – Wir aber wollen bürgerliches Wesen zu Ehren bringen.

In Pflege der Mutter gewann ich die Spannkraft und den Uebermut der Jugend zurück und konnte meine Vorlesungen für das Sommerhalbjahr wieder beginnen. Ich hatte aber in dieser Zeit, wo ich viel allein war, noch eine kleine geheime Tätigkeit begonnen, ich machte Gedichte, nicht nur für andere, sondern auch für mich.

Daß mir, einem Schlesier, das Versemachen nicht schwer wurde, ist fast vorauszusetzen, denn seit der Zeit der schlesischen Dichterschulen waren in meinem Heimatlande Gelegenheitsgedichte die unentbehrliche Beigabe eines jeden Familienfestes, und wer dergleichen nicht selbst verfertigte, erhielt das Wünschenswerte um ein Geringes von stets bereitwilligen Versifexen. – Auch ich besorgte, seit ich in den oberen Klassen des Gymnasiums war, den gelegentlichen Hausbedarf der Familie und guter Freunde in Reimereien, die in Ton und Stil waren wie die anderer auch. Dergleichen Gewöhnung an Schulmeisterverse und gereimte Prosa war innigem lyrischem Schaffen gar nicht günstig, weil die Seele sich an das vorschnelle und phrasenhafte Ausgeben gewöhnte. Auch in Breslau fand ich überreiche Gelegenheit zu solch anspruchslosem Machwerk, denn an Festen fehlte es nicht. Ich war Mitglied des Künstlervereins geworden, einer harmlosen Genossenschaft von Dichtern, Musikern und bildenden Künstlern der Stadt, welche keine Gelegenheit versäumte, bei Jahresfesten und Zweckessen durch Lyrik gefällig zu werden. Die schnell zusammengeschriebenen Verse wurden dann ebenso schnell von den Musikern komponiert, und von einer guten Liedertafel, welche Mosewius leitete, gesungen. Die Verse waren meist des Aufhebens nicht wert, doch wenn mich die Erinnerung nicht trügt, befanden sich unter den verklungenen Kompositionen anmutige Melodien, die wohl mehr Berechtigung hatten als manche raffinierte Komposition des modernen Männergesanges. War aber auch nicht bedeutend, was wir machten, die Gesellschaft war, wenn es gesungen wurde, seelenvergnügt.

Vorsteher des Künstlervereins war Professor August Kahlert, unser Aesthetiker, der eine gute musikalische Bildung und Kenntnis der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts besaß, ein ehrenhafter, zuverlässiger Mann, auf schlesischem Boden erwachsen und vorzugsweise den Kunstinteressen der Landschaft hingegeben. Unter den Mitgliedern wurde ein lustiger Kauz, August Geyder, Dozent in der juristischen Fakultät, mir in seiner Weise freundlich zugetan; er war unerschöpflich in drolligen Einfällen und Geschichten, die Freude alter Herren, welche ein Glas Ungarwein schätzten, der allerbeste König, den die Narrenwelt sich wünschen konnte. Leider wurde der arme Gesell das Opfer seines Amtes, er verlor allmählich die Freude an ernster Arbeit.

Hoffmann von Fallersleben gehörte dazu, damals noch an der Universität, ein Dichter von Gesellschaftsliedern, wie es in unseren Jahren kaum einen zweiten gegeben hat, in dem Verein der wirkungsvolle Vorsitzende bei Schillerfesten und andern Männergelagen. Seine hohe Gestalt, die starke Stimme, die Mischung von Volksmäßigem und Lehrhaftem in seinen Liedern, die klangvollen Doppelreime in den gereimten Trinksprüchen und nicht zuletzt seine feste norddeutsche Ausdauer machten ihn zum unübertrefflichen Leiter der heiteren Geselligkeit. Die Freude an diesen Erfolgen und die Gewöhnung, ein Mittelpunkt froher Brüder zu sein, wurden ihm allmählich zum Nachteil. Im Jahre 1842 erschien der zweite Teil seiner unpolitischen Lieder, welcher für seine Stellung an der Universität verhängnisvoll wurde. Schon seit Erscheinen des ersten Teils hatten ehrliche Freunde mit Bedauern gesehen, daß der Beifall, welchen die spöttischen Verse erhielten, ihn allzusehr befing, und daß das Bedürfnis, politische Hiebe auszuteilen, stark in einer Seele wirtschaftete, die gar nicht auf unbefangene Würdigung der wirklichen Verhältnisse angelegt war. Für Deutschland war freilich die Zeit gekommen, wo die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden überall in der Lyrik auftönte. Was ich über die Persönlichkeit einiger Dichter erfuhr, trug nicht dazu bei, mich für diese Richtung der lyrischen Poesie zu erwärmen, welche von dem Schaffenden eine ungewöhnliche Größe des Urteils oder die Wucht heißer Leidenschaft fordern muß, wenn sie nicht unwahr und phrasenhaft werden soll.

Die übrigen Mitglieder des Vereins lebten fast sämtlich in kleinen Verhältnissen mit mäßigem Talent, dessen Grenzen man leicht übersehen konnte, und nur wenigen ward vergönnt, dauernde Erinnerung an ihre Tätigkeit zu hinterlassen. Aber sie waren echte Schlesier, gutherzig, leichtlebig und in der Mehrzahl anspruchslos, etwa mit Ausnahme der Musiker, unter denen einzelne Anwandlungen von übler Laune hatten, auch diese nur bis zum dritten Glase; und man konnte sich in der Gesellschaft ganz wohl fühlen. Allerdings wurde die poetische Kunst Breslaus nicht durch sie allein vertreten, es gab außerdem noch einen Kreis ästhetisch regsamer Männer in Amt und Würden, deren Kritik und eigene Versuche anspruchsvoller waren; dieser sammelte sich um die Professoren Braniß und Suckow, zu ihm stand ich in keinem näheren Verhältnis. Dort war mehr von Tieckscher Novelle, bei meinen bescheidenen Freunden mehr von Johann Christian Günther und von des Knaben Wunderhorn.

Auch ich erwarb bald einen hübschen kleinen Ruf als Günstling der Musen. Dennoch war ich kein lyrischer Dichter. Wenn mich etwas wirklich bewegte, so tönten in mir der Stimmung entsprechend stundenlang Worte und Noten irgendeines alten Volksliedes, und ich hatte nur selten das Herzensbedürfnis, dafür eigenen Ausdruck zu finden. Einen Anfall von lyrischem Eifer hatte ich schon nach meiner Heimkehr von Berlin gehabt, als die Entlassung der sieben Göttinger Professoren die Deutschen aufregte; aus dieser Zeit stammt das gedruckte Gedicht »Die Wellen« und ein längeres »Die Krone«. Aber aus früherer und aus späterer Zeit ist kaum etwas Singbares geblieben. Was mich zur Darstellung lockte, war fast immer eine Situation, in der ich eine andere Persönlichkeit empfand, die poetische Erzählung. Dieser Drang, kleine epische Stoffe lyrisch zu behandeln, pflegt auch bei großen Dichtern in einer gewissen Zeit ihres Lebens zu kommen und wieder zu vergehen, so bei Goethe, Schiller, Uhland. Jetzt kam mir die Zeit, in der ich vorzugsweise gern gereimte Geschichten verfertigte, es war die erste selbständige Lebensäußerung meiner Poesie. Eines dieser Stücke, den »polnischen Bettler«, sandte ich dem Musenalmanach von Echtermayer und Ruge. Daß es Aufnahme fand und einen artigen Brief Ruges zur Folge hatte, wurde in späteren Jahren die Einleitung zu einem persönlichen Verhältnis mit dem Herausgeher. Ruge hatte angenommen, daß die Klage des Polen aus politischer Wärme für Polen eingegeben sei, die leider damals Modekrankheit des Liberalismus war. Er kannte mich nicht, sonst hätte er das Gegenteil herauslesen können.

Für die epischen Bilder richtete ich mir den Nibelungenvers zu, ein Maß, auf das ich noch jetzt viel halte, weil es bei geschicktem Gebrauch, welcher die Einförmigkeit des Taktes zu vermeiden weiß, jeder Stimmung der Seele lebhaften Ausdruck gibt.

Bald sollten mir nicht nur die eigenen Gedichte zu schaffen machen, auch die anderer. Denn da ich an der Universität zuweilen über neuere Dichtkunst las und in der Stadt einen Ruf als Versemacher gewonnen hatte, so kamen Abgeordnete der Studentenschaft zu mir und ersuchten mich, die Redaktion eines Musenalmanachs für das Jahr 1843 zu übernehmen, zu welchem Studierende die Gedichte liefern sollten. Mit trüben Ahnungen willigte ich ein, erhielt überreichlich Beiträge, sowie genaue Kenntnis von der Beschaffenheit junger lyrischer Gemüter, hatte viele unnütze Mühe und erreichte nichts weiter, als daß meine stolzen Knaben die Freude hatten, ihre Verse gedruckt zu kaufen. Mir aber blieb seit der Zeit ein tiefer Groll gegen alle lyrischen Zusendungen, denen die Bitte um ein Urteil beigefügt war.

Ein Druck meiner Gedichte erschien 1845 unter dem Titel »In Breslau«. Aber zwischen diese kleinen Versuche fiel die Ausführung einer größeren Arbeit. Aus Fuggers »Ehrenspiegel des Hauses Oesterreich« hatte ich die Werbung des Erzherzogs Maximilian um Maria von Burgund aufgenommen. Die bereits poetisch zugerichtete Erzählung gefiel mir so, daß ich ein Lustspiel daraus ersann. Das Stück wurde 1841 im Sommer zu Breslau geschrieben mit großer Wärme und Freude und sehr ungenügender Kenntnis der Bühne. Wer das Jugendstück jetzt mit nachsichtigem Wohlwollen betrachtet, der wird vielleicht finden, daß in dem Bau der einzelnen Hauptszenen die Empfindung für das Wirksame nicht fehlt, daß aber im ganzen die Umschaffung des epischen Stoffes in das Dramatische unvollständig ist, und daß die Umrisse der Charaktere noch am meisten eine Begabung des Verfassers erkennen lassen. Bei ihnen wird die jugendliche Unbeholfenheit durch das Behagen und gute Laune in dem Detail verdeckt.

Das Stück war gerade fertig, als mir in der Zeitung eine Bekanntmachung der Hoftheater-Intendanz zu Berlin in die Hände fiel, worin diese einen Preis für ein Lustspiel höheren Stils aus der Gegenwart ausschrieb. Es war am Ende des Jahres, kurz vor dem Schlußtage der Ablieferung. Ich dachte, wie junge Autoren in solchem Fall zu denken pflegen: unleugbar stammt die Handlung der Brautfahrt nicht aus der Gegenwart, und den Preis wird man ihr wohl nicht zuteilen, aber wenn sie eingesandt wird, so hat sie Aussicht auf baldige Beurteilung und man kann immerhin nicht wissen, was geschieht. Schnell wurde das Stück abgeschrieben und nach Vorschrift ohne Namen des Verfassers eingesandt mit dem Motto aus Bürgers Lenore: »Weit ritt ich her von Böhmen, ich habe spat mich aufgemacht.«

Der Winter kam, neue Frühlingsknospen standen an den Bäumen und ich dachte nicht allzu oft an das eingesandte Stück; da fand ich Ende März 1842 in einer Berliner Zeitung wieder eine Bekanntmachung der Intendanz, sie habe, statt einen ersten und zweiten Preis zu erteilen, vorgezogen, vier Stücke mit gleichem Preise zu bedenken. Dazu die vier Kennzeichen, welche durch die Verfasser eingesandt waren, und das letzte war das meine. Sehr, sehr angenehm. Natürlich beeilte ich mich, die Intendanz von meiner Persönlichkeit in Kenntnis zu setzen, und erlebte, nach artiger Antwort aus Berlin, die hoffnungsreichen Monate eines jungen Dichters, dessen Stück zur Aufführung angenommen ist. Denn aufgeführt sollten die vier Stücke werden und nach der Aufführung der Preis mit einem Honorarzuschuß gezahlt. Ich ließ jetzt das Lustspiel als Manuskript drucken, versandte es an die größeren Theater, liniierte Bogen und legte ein Heft an, mit der Aufschrift: »Akta der Brautfahrt«, worin ich die Korrespondenz und die zu hoffenden Einnahmen zusammentragen wollte. Das Stück wurde, soviel mir bekannt geworden, in der nächsten Folgezeit auf zwölf TheaternDessau, Stettin, Köln, Hamburg, Koblenz, Danzig, Kassel, Breslau, Stuttgart, Weimar, Wien und Riga. aufgeführt, zu Hamburg und Wien mit entschiedenem Mißerfolg; es konnte dort nur einmal gegeben werden. Auch wo die erste Darstellung wohlwollend aufgenommen wurde, wie in Kassel, vermochte sich das Lustspiel auf die Länge nicht zu behaupten.

In Breslau ging ich die Rolle des Kunz mit dem Darsteller sorgfältig durch, ihm fehlte gänzlich die heitere Laune, aber er gab sich die größte Mühe. Bei der ersten Aufführung war ich selig, ich saß wie verzückt und ertappte mich darüber, daß ich fortwährend die Lippen bewegte und die Worte der Schauspieler leise mitsprach. Es störte mich auch gar nicht und ich war beim Schluß nur etwas verwundert, daß das Publikum meine Begeisterung nicht recht teilen wollte und dem jungen Verfasser nur ein mäßiges Wohlwollen gönnte. Das reine Glück, welches ich an diesem Abend fühlte, habe ich später bei Aufführungen meiner Stücke nur noch einmal genossen, aber nicht wegen meiner Arbeit, sondern wegen guter Arbeit der Darsteller.

In Berlin kam die Brautfahrt überhaupt nicht zur Aufführung. Dem Grafen Redern war als Intendant v. Küstner gefolgt und dieser hatte nach dem Mißerfolg, den das Stück auf anderen Bühnen gehabt, offenbar keine Lust, die Erbschaft seines Vorgängers anzutreten.

Im Jahr 1843 erschien das Stück im Buchhandel (Breslau, Schuhmann). Dieser ersten Ausgabe ist eine Widmung an den russischen Seemann Schanz, Kapitän der Dampffregatte Kamtschatka, vorgesetzt. Veranlassung für die Zuschrift wurde eine Bekanntschaft.

Zwei Jahre vorher hatte mich der Arzt in ein Seebad geschickt. Zu Swinemünde fand ich an der Wirtstafel nur wenige Badegäste, anspruchslose Leute aus der Nachbarschaft, obenan aber einen fremden Seemann mit einnehmenden Zügen, dunklem Haar, untersetzt und von urkräftigem Aussehen. Er war von dem russischen Schiff, welches einen kaiserlichen Besuch für Berlin herangefahren hatte und im Hafen die Rückkehr erwartete. Der Fremde benahm sich bei Tisch wie ein Seebär, sprach in wegwerfendem Tone Verachtung der deutschen Küche und der kläglichen Wirtschaft in diesem preußischen Neste aus. Als ich ihm entgegnete, er hätte zu Hause bleiben können, wir hier hätten uns die Ehre seines Besuches nicht erbeten, brummte er, mit seinem Willen sei er auch nicht gekommen. »Da Sie fremdem Willen zu gehorchen hatten, so werden Sie ihn wohl auch dadurch ehren, wenn Sie uns freundlich merken lassen, daß Sie hier Gast sind.« Er sah mich an und antwortete nicht. Als ich nach Tisch in der Veranda saß, arbeiteten deutsche Matrosen an den Segeln ihrer Brigg und johlten dazu nach Schifferweise. Da hörte ich wieder die unwirsche Stimme des Fremden zu mir herübersprechen: »Dies Gesindel kann keine Arbeit ohne Geschrei machen.«

»Als ich gestern abend bei dem russischen Schiff vorüber kam, hörte ich Geschrei, das weit häßlicher klang, es waren bestialisch betrunkene Leute, die darin lärmten.« »Das war nicht im Dienst, sie hatten freien Abend.« Wieder Schweigen. Darauf trat er an meinen Tisch, nannte seinen Namen, Kapitän Schanz, und begann ein menschliches Gespräch. Seitdem verkehrten wir als gute Leute; da die anderen Gäste sich nach wenigen Tagen verloren, waren wir einige Wochen aufeinander angewiesen und fast den ganzen Tag beisammen; ich lud ihn zu einer Bowle eigener Erfindung, die er achten mußte, und trank seinen Sauternes zwischen den großen Kanonen. Dabei öffnete er nach Seemannsart sein Herz und erzählte viel aus seinem Leben, was ich gern vernahm. In der Schlacht bei Navarin war das russische Schiff, auf dem er als jüngster Offizier diente, in Brand geraten, die Offiziere hatten es verlassen, er hatte sich als letzter der Bemannung ins Meer geworfen und war von den Engländern aufgefischt worden. Seitdem hatte er schnelle Beförderung gefunden und war einige Jahre zuvor nach Amerika geschickt worden, den Bau des großen Raddampfers zu überwachen, den er vor kurzem nach Kronstadt gebracht hatte und der für das schnellste und stärkste Schiff der russischen Marine galt. Er hatte eine Dame vom Hofe geheiratet und Aussicht auf gute Laufbahn. An seinem Kaiser hing er treu, aber wenn es etwas gab, was er tief und grimmig haßte, so waren es die Russen, denen er doch diente. Denn er war Finne, er fühlte sich nur glücklich, wenn er von der Heimat, ihren Sitten, ihrer Redlichkeit und von seiner schuldlosen Kindheit erzählte, und seine Züge wurden weich und das Auge leuchtete, sooft er seine heimischen Volkslieder vorsang und mir zu übersetzen suchte. Und da ich ihm etwas von dem alten finnischen Runengedicht Kalevala berichtete, wurde er geneigt, mich als einen halben Landsmann zu betrachten. Er war eine groß angelegte Natur, auch in seinen Ansichten, und kam mir zuweilen vor wie ein nordischer Seekönig aus alter Zeit, der in unser Jahrhundert verschlagen worden ist. Aber er trug die Fesseln Rußlands in seiner Seele, wenn er immer wieder von den Intrigen seiner Feinde berichtete und von den krummen Gängen, welche aufwärts führten, und wenn er stolz rühmte, daß man die Juwelen, die der Kaiser bei seiner Vermählung geschenkt hatte, zum vollen Taxwert zurückgenommen habe. Da er auf seinem Schiff in der unnahbaren Einsamkeit eines orientalischen Herrschers lebte, fand er Genuß darin, dem jüngeren Fremdling vieles, was er von Liebe und Haß, von Schmerzen und Hoffnungen in sich verschlossen hielt, anzuvertrauen. Und er tat dies in rückhaltloser Weise. Zuweilen aber hatte er Anfälle von bitterem Trübsinn, dann war er ganz Seebär. Als er einst von aller Bücherschreiberei mit höchster Verachtung sprach, sagte ich ihm, daß ich mein nächstes Buch ihm widmen würde. »Das tun Sie niemals.« »Ich tue es doch, Kapitän.« Da ich in den letzten Tagen vor seiner Abreise noch einen Freund aus dem Stamme der Cochius, welcher Oberförster auf Rügen war, besuchen wollte, sagte er am Abend ernsthaft: »Heut müssen wir Abschied nehmen, wir sehen uns nicht wieder.« »Ich bin vor Ihrer Abreise zurück, Kapitän.« »Sie können nicht, das Dampfschiff fährt morgen zum letztenmal nach Putbus, keine Slup von dort kommt gegen den Wind in diesen Hafen.« »Ich komme doch. Auf Wiedersehn.« Ich besuchte meinen Berliner Freund, kreiste mit ihm um den Herthasee und schaute von Stubbenkammer auf das glitzernde Meer. In der Nacht fuhr ich von Putbus auf einer gemieteten Slup bis zu einem Fischerdorfe im Nordwesten der Insel Usedom – eine lustige Fahrt unter hellem Sternhimmel – und kam auf einem Ochsenkarren noch gerade zu rechter Zeit in Swinemünde an, um meinem Kapitän an der Fallreeptreppe die Hand zu schütteln, bevor er abfuhr.

Mein Versprechen habe ich gehalten, und da die Brautfahrt das nächste Büchlein war, welches erschien, so mußten der Kapitän und das Stück sich gefallen lassen, miteinander zu schwimmen. Es waren keine siegreichen Fahrten. Das Stück wurde mit späteren Dramen wiederholt aufgelegt und lag länger als ein Dritteljahrhundert, sicher vor Wind und Wellen der Aufführungen, in dem stillen Hafen der Bücherdramen abgetakelt.

Da schrieb im Jahr 1881 Dingelstedt aus Wien, er beabsichtige, das Stück bei der Vermählung des Kronprinzen Rudolf aufzuführen, und ersuche um szenische Einrichtung zu diesem vornehmen Zweck. Ich sprach gegen seine Absicht alle naheliegenden Bedenken aus und überließ ihm, wenn er dennoch die Aufführung unternehmen wolle, das Stück nach den Bedürfnissen seines Publikums und der festlichen Veranlassung selbst einzurichten. Das tat er, bereits erkrankt – es war wohl seine letzte größere Regiearbeit – und dank der Veranlassung, der glänzenden Ausstattung und der freundlichen Hingabe seiner Schauspieler, erreichte das Stück einen anständigen Erfolg, und der Autor machte die Erfahrung, daß man Unglaubliches erlebt, wenn man nicht vorher stirbt. Die Aufführung am Burgtheater veranlaßte eine wohlwollende Intendanz zu München und die Direktion des Stadttheaters zu Hamburg und Altona, Aufführungen zu veranstalten, wie vorauszusehen, ohne dauernden Beifall.

Unterdes hatte Breslau die Artigkeit, den jungen Dichter zuvorkommend zu behandeln. Wenn er die Schmiedebrücke entlang zur Universität schritt, so trug nicht er die Mappe, sondern diese wurde zu ihm getragen, nicht von großen Scharen der Zuhörer, aber es waren immer einige, welche die Freundlichkeit hatten. Er blickte auch nicht mehr aus dunklem Zimmer zu Professorentöchtern auf, sondern war imstande, seiner Verehrung wohlgefügten Ausdruck zu geben, und zu der Bewunderung, mit welcher er den weiblichen Teil der akademischen Welt betrachtete, kam noch etwas anderes, der Polizeiblick. Denn er war ein Vorsteher im akademischen Klub geworden, einer großen Gesellschaft, welche Mitglieder der Universität und des höheren Beamtentums allwöchentlich vereinigte. Er betrachtete prüfend die Paare, welche zur Française antraten, empfing beim Kotillon zuweilen Schleifen der Hochachtung, und wenn er beim Beginn des Balles eine Tänzerin, gleichviel ob jung oder alt, aufforderte, so war diese immer die erste Dame, welche tanzte, was schon etwas bedeutete. Auch wenn er einmal die Weinstube besuchte, war nicht unwahrscheinlich, daß er dort Bekannte fand, jüngere und ältere Herren aus allerlei Kreisen, nicht nur von der Universität, auch vom Militär und Adel aus der Provinz. Er erhielt Einladungen in Familien und auf das Land und lernte die Breslauer Gesellschaft ein wenig kennen, ersten, zweiten und dritten Stock.

Der Zufall hatte gefügt, daß ich mit der schlesischen Dichterin Agnes Franz in demselben Hause wohnte, der Verkehr mit ihr und ihrem Haushalt gehört zu den holdesten Erinnerungen jener Jahre. Von Aussehen war sie ein ältliches, verwachsenes Fräulein, mit einem etwas großen Kopf und etwas kurzem Hals, sie trug eine schwarzseidene Mantille mit Krausen, welche leise und geisterhaft raschelte, wenn sie in Bewegung geriet. Eine Schwester hatte ihr auf dem Totenbett vier kleine Waisen vermacht, welche ihre Familie bildeten; sie bewohnte daher drei Treppen hoch eine Kinderstube und eine gute Stube, die als Salon betrachtet wurde. Ein großes Mansardenfenster mit Efeu umzogen, ein altes Fortepiano, ein Bücherschrank und ein kleiner Schreibtisch gaben dem bescheidenen Raum ein wohnliches und poetisches Aussehen. In der Stube erzog sie die Kinder, schrieb ihre Gedichte, Parabeln und Novellen, und empfing ihre Freunde beim Tee. Mochte sie aber tun was sie wollte, es lag sehr viel Frieden, Freude und Seligkeit auf ihrem gar nicht hübschen Gesicht. Auch wenn sie weinte, sah sie zufrieden und glücklich aus. Und was merkwürdig war, wer in ihre Nähe kam, geriet in eine ähnliche zufriedene Stimmung. In der Stube roch es durch das ganze Jahr nach Wachsstock und Tannen, die Brezeln auf dem Teller hatten ein so schlaues Aussehen wie Zauberbrillen, die man nur auf die Nase zu setzen braucht, um Elfen tanzen zu sehen, und man mußte sich sorgfältig hüten, irgend etwas, das an irgendeinem Ort lag, anzusehen, weil man zu befürchten hatte, daß es ein kleines Geschenk sei, welches die Freundin bis zum rechten Augenblick versteckt hielt.

In ihren Gedichten und Erzählungen hatte sie oft mit Blumen, Engeln und dem lieben Gott Verkehr. Wenn ein Fremder das las, wurde ihm manchmal des Guten zuviel; wenn man mit ihr umging, merkte man davon nicht mehr, als für die gute Laune nötig war, ja man merkte überhaupt nicht, daß man bei einer Dichterin saß. Ein Jahr lang waren wir gute Leute gewesen, ohne daß ich ein Wort von ihr gelesen hatte. Und als ich ihr einmal in einer Stunde gegenseitiger Zufriedenheit das erzählte, geriet sie ernsthaft in Sorge und meinte, ich sollte das niemals tun, denn ihr Dichten könne uns Männern nicht gefallen, und dabei sah sie so liebevoll besorgt und befangen aus, daß das Weltkind hingebend wurde und alles las, was sie geschrieben hatte. Doch verband uns eine gemeinsame literarische Neigung, die für Märchen und Sagen. Mit Adalbert Kuhn hatte ich in Berlin mich darum gekümmert und seitdem ein wenig Volksüberlieferungen gesammelt. Freilich hatte Agnes nicht dieselben Gesichtspunkte, sie dachte an ihre Kleinen, ich an allerlei, was für Kenntnis alter Zeit daraus zu gewinnen war; aber wir teilten doch unsere Habe einander eifrig mit. Ich untersuchte auch gern ihren Büchertisch, auf dem um Weihnachten die neuen Kinderbücher aufgetürmt standen, welche ihr gefällige Freunde oder Buchhandlungen zugesandt hatten. Noch fehlte sehr der Bilderreichtum und die schöne Kunst, woran sich jetzt unsere Kinder freuen sollen. Aber die Erzählungen und spielenden Nachbildungen echter Märchen waren nicht viel anders als sie jetzt in der Mehrzahl sind. Doch alle kritischen Bedenken mußten schweigen gegenüber der frohen Wärme, mit welcher die Freundin ihre Schätze vorzeigte, vornehme Kinderschriften von starkem Leibchen mit schönem bemalten Mantel und arme dünne Bettelmannsbüchel mit grauem Papier und undeutlichen Holzschnitten. Noch gab es in ihrem Bücherhaufen rotkämmige Hähne, welche Groschen auskrähten; unartige Jungen fuhren auf Kähnen oder kletterten auf Bäume, oder neckten böse Hunde, bis sie zum warnenden Beispiel für ihr Jahrhundert ins Wasser fielen, Beine brachen und gebissen wurden; artige Mädchen spielten mit ihren Puppen, während sich rote Bänder in kühnen Windungen um die weißen Kleider schlängelten; schwarze Köhler verwandelten sich in gute Berggeister, welche hungernden Eltern goldene Aepfel einbescherten; unbegreiflich und höchst überraschend wurde die allerverborgenste Tugend an das hellste Licht gebracht und das kleinste Unrecht auf das allergenaueste bestraft. Und wie verständig und wohlwollend benahmen sich selbst die Tiere jeder Art! Was der Hund sagte und der Frosch erzählte, was das Rotkehlchen erlebte und das Pferd gegen das Zebra äußerte, es war alles unglaublich verständig und gebildet. Sogar die Figuren ihrer Märchenwelt! Viele Prinzen in roten Sammethosen bestanden Abenteuer, in denen jeder andere steckenbliebe, ihnen aber war die Sache Kleinigkeit, weil sie unermeßlich tapfer waren und vortreffliche Zauberhilfe hatten. Was konnte uns der greuliche Drache mit seinem feurigen Maul ängstigen, oder der schändliche Oger, welcher sich bemüßigt sah, kleine Kinder zu fressen? Wir wußten recht gut, daß diesen Bösewichtern zuletzt von unsern Lieblingen der Kopf abgeschlagen wurde. Vollends die kleinen braunen Männchen und die Feen und die guten Zauberer. Wie freundlich sie hin und her trippelten, wie sie immer gerade zu rechter Zeit erschienen, welche nützliche Geschenke sie zu geben wußten, kleine Nüsse, in denen ungeheure Zelte steckten, und wandelnde Stecknadeln, welche selbständig den Feind in die Beine stachen. Eine solche Fee war die Fränzel selbst, die gute Frau Holle in ihrer kleinen verkrausten Geisterwelt.

An den Winterabenden, wenn die vier Kleinen um den Sessel der Tante sprangen und das Lampenlicht wohlgefällig über den weißen Teetassen glänzte, gab es eine endlose Reihe von Kinderfesten. Da war das Bratäpfelfest, wo die Kinder wie Indianer um die große Schüssel voll Aepfel einen Kriegstanz aufführten und kleine Lieder sangen, welche Fränzchen auf dem alten Klavier begleitete, bis zuletzt alt und jung in der Stube herumwalzte, während Agnes unaufhörlich und lächelnd die Musik machte, ja bis selbst Tische und Stühle zuvorkommend ihre Beine einzogen und das eckige Wesen verbargen, weil ohne ihre Nachgiebigkeit das Tanzen in dem engen Raum unmöglich gewesen wäre. Dann das Fest des Bleigießens, wo Agnes sich nicht nehmen ließ, allen jungen und alten Gästen die Bedeutung ihres Gusses auszulegen. Wie schelmisch und fein tat sie das, so daß Gelächter und sanftes Erröten der jungen Damen gar nicht aufhörte; und ferner der Abend der schwimmenden Nußschalen, wobei ungewöhnlich viel Nüsse verbraucht und zuletzt Volkslieder und Kanons gesungen wurden, Prinz Eugen der edle Ritter, und die Glocke von Kapernaum – und endlich gar das eigentliche Christfest!

Schon vier Wochen vorher war die Freundin in stiller Aufregung. Die Mantille rauschte doppelt geisterhaft, die Stube war unwegsam, wie ein Schiffsverdeck, durch herrenlose Dinge, welche mit großen Tüchern so sorgfältig verdeckt waren, daß nur selten ein Hanswurstbein oder eine Bandschleife hervorzugucken wagte. Und wie nähte, schneiderte und strickte die Agnes. Ich traf sie einst in ihrer Stube, als sie über einen großen Regenschirm von rotem Baumwollenzeug hergefallen war und mit der Schere begeistert hineinschnitt; sie hing an ihm wie eine Hummel in dem Kelch einer Tulpe. Und als ich sie frug, weshalb sie gegen den guten alten Schirm wüte, setzte sie mir schlau auseinander, daß er ein prächtiges Futter abgeben werde für den Burnus ihres kleinen Pflegesohnes. Und das ist wahr gewesen, kein Mensch hat dem Mäntelchen angemerkt, woher sein Inwendiges stammte, und wenn der kleine Kerl darin umherlief und wir ihm zusahen, dann winkte sie mir mit glücklichem Gesicht geheimnisvoll zu.

Schon am frühen Morgen des Christfestes sah man Leute zu ihr hinaufschleichen, solche Leute, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens dahingehen, mit Krücken, mit zerrissenen Schleiern vor dem Gesicht, und Bettelkinder auf allen Vieren. Und häufig konnte man nachher die Agnes sehen, wie sie mit Hut und Mantille aus ihrem Dachstübchen herabstieg und durch den Winterschnee wanderte, bald in schlechte Hütten, bald in die Häuser der Reichen, um dort für ihre Armen zu bitten.

Die Pracht der Einbescherung aber zu schildern, wäre niemand imstande. Diese vielen Wachsstöckchen und großen Weihnachtsbäume und die Masse von kleinen Geschenken auf zwei langen Tafeln in vielen Portionen, und bei jeder ein allerliebstes grün und rot gemaltes Licht. Zuerst kamen die Armen, dann die Kinder, die Freunde. Jeder erhielt und versuchte zu geben. Es war ein wirres Durcheinander von Danksagungen und Händedrücken, von hübsch gespieltem Erstaunen und freudigem Aufjauchzen. An dem Abend saß die kleine Dame zuletzt da wie eine Königin, etwas müde und angegriffen von dem Lärm und der Freude, aber ihre Augen glänzten von Seligkeit und Rührung.

Gute Freundin! deine Bücher für Kinder sind von vielen vergessen, du selbst schläfst seit Jahren den ewigen Schlaf, doch wie auch die Gegenwart unsere Seele in Anspruch nimmt, wenn Weihnacht herankommt, der Schnee an den Fenstern hängt und die Klingel die Gegenwart des Christkinds meldet, dann wenigstens werden die Alten, die dich geliebt haben, deiner gedenken!

Zu den angesehenen Familien der Stadt, in denen ich am liebsten verkehrte, gehörten die Molinari, ein altes Kaufmannsgeschlecht, das, im 17. Jahrhundert aus Italien eingewandert, in einem großen Patrizierhause nahe am Markt den Stammsitz hatte. Es zählte unter den ersten katholischen in Breslau und unterhielt gemütliche Beziehungen zu den geistlichen Würdenträgern der Stadt. Die Handlung – Kolonialwaren und Produkte – wurde durch einen rüstigen alten Herrn und durch zwei Söhne im kräftigen Mannesalter geleitet. Dem ältesten derselben machte mich der akademische Klub bekannt, er suchte mich auf und führte mich in seiner Familie ein. Theodor Molinari war zu Breslau eine der bekanntesten Persönlichkeiten und ein Liebling der Stadt, ein hochsinniger und ritterlicher Mann, eifrig und tapfer, von großer Gemütswärme. Er war der Vertrauensmann Bedrängter, Vormund vieler Waisen, wegen seiner Tatkraft und uneigennützigen Redlichkeit auch in der Kaufmannschaft hoch angesehen. In seiner Jugend war er einige Jahre in England gewesen und hatte dort große Verhältnisse des Handels und ein mächtigeres Staatsleben kennengelernt, er bewahrte auch in der Erscheinung etwas von der englischen Art, aber sooft sein Gemüt erregt wurde, brach die Glut des Italieners und das fröhliche schlesische Wesen hervor. Von Gestalt war er groß und breitschulterig, rasch und kräftig in seinen Bewegungen, dreizehn Jahre älter als ich, aber er sah mit seinem dunklen Haar und der braunen Gesichtsfarbe noch älter aus. Er war ein gutherziger Mann auch gegenüber den kleinen Anforderungen, welche der Tag stellte. Die Schnelligkeit, mit welcher er in die Tasche griff, muß für jeden Bittenden zum Entzücken gewesen sein, denn dieser konnte erkennen, daß die reichliche Gabe gern und freundlich gegeben wurde; bei jeder geselligen Unternehmung mußte er argwöhnisch beaufsichtigt werden, denn er bestand hartnäckig darauf, alles allein zu bezahlen, und wenn etwas Gemeinnütziges unternommen wurde, Unterschriften gesammelt, Beiträge gefordert, er war immer unter den ersten, welche angegangen wurden, und immer der, welcher mit ganzer Seele dazutat, sich selbst bereitwillig für das, was ihm gut erschien, einsetzte und die Arbeit und Verantwortung übernahm. Gegen alles aber, was er für unrecht hielt, bäumte er mit dem Feuer eines Jünglings auf und ließ sich durch kein Bedenken zurückhalten, auch da nicht, wo andere sich vorsichtig hüteten.

In späterer Zeit hat man zuweilen dem Kaufmann in »Soll und Haben« die Ehre erwiesen, ihn als Abbild meines Freundes zu betrachten. Mit Ausnahme der stolzen Redlichkeit haben sie wenig gemein. Der im Buch ist, wie es die Idee des Romans verlangte, ein steifleinener Herr, der ja nur zu bestimmten Zwecken erfunden wurde, mein Freund war eine reiche und gemütvolle Natur, in der das frische Leben voll und warm pulsierte.

In dem Geschäft, das nach damaligen Verhältnissen zu den großen in Schlesien gehörte, stand Theodor an der Spitze des Auswärtigen Amtes, er hatte viel Agenten in Krakau, Galizien, bis zur türkischen Grenze. In den fremden Absatzgebieten war Wagnis und Gewinn beträchtlich, oft wurden Reisen dorthin nötig, und der Umgang mit den fremdländischen Kunden war nicht immer bequem. Aber diese Tätigkeit gab auch Kenntnis fremder Zustände und Einblick in das Verkehrsleben des europäischen Ostens. Ein anderer Teil des Betriebes, der sicherste und regelmäßigste, war das Provinzialgeschäft, worin das Haus alte Verbindungen hatte, zumal in Oberschlesien. Dieses leitete der jüngere Bruder Ottomar, der stiller für die Familie und die Handlung lebte, nicht weniger wacker, gescheit und gutherzig. Rührend war die Liebe und das feste Vertrauen, mit welchem die Brüder aneinander hingen, und wer die beiden beobachtete im Kontor und in der Familie, der sah die Gebrüder Wohlgemut im Niklas Nickleby von Boz leibhaftig vor sich. Beide aber waren verheiratet und lebten in reichem Haushalt unter aufblühenden Kindern.

In ihren Familien verbrachte ich viele frohe Abende. Aus meinem Verkehr mit Theodor entstand eine feste Männerfreundschaft, die gerade deshalb so innig wurde, weil wir auf ganz verschiedenen Wegen den Inhalt unseres Lebens gewonnen hatten. Ich erhielt durch ihn neuen Einblick in das Geschäftsleben der Landschaft und die großen Verkehrsinteressen des Staates, und ihm war es auch ganz recht, einen Gesellen zu finden, mit dem er über vieles verhandeln konnte, womit die Zeitgenossen sich beschäftigten und aufregten. Er wurde mein Vertrauter, in dessen Gemüt ich manches niederlegte, was mich innerlich bewegte, und die liebevolle Treue, mit welcher er das Wohl des jüngeren Freundes im Herzen trug, gab mir eine Sicherheit, die mich frühzeitig fest machte. Vor allem war es die Politik, in der wir treu zusammenhielten. Seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. war sie die wichtigste Angelegenheit des Tages geworden. Die Anfänge einer demokratischen Bewegung wurden überall sichtbar, die berechtigte Unzufriedenheit mit dem Polizeiregiment des Staates hatte in den Seelen Mißtrauen gegen jede Maßregel der Regierung und eine Bitterkeit großgezogen, welche oft zum Pessimismus wurde und die Wärme für den Staat in gefährlicher Weise beeinträchtigte.

Theodor war ein warmer Preuße und ein warmer Liberaler, er sah mit Schmerzen, wie die Regierung auf Irrwegen dahinschwankte, und zürnte der Haltlosigkeit, mit welcher das junge Freiheitsgefühl sich äußerte. Durch ihn kam ich in Verbindung mit Gleichgesinnten, worunter einige der besten Männer der Stadt waren. Voran Karl Milde, welcher ebenfalls in England gebildet war, ein Mann von großen Gesichtspunkten, erfindungsreich, vielgewandt und beweglich. Dann der neue Oberbürgermeister Pinder, damals in seiner kräftigsten Zeit, das Musterbild eines preußischen Beamten, eine weiche und warme Natur, von großer Anziehungskraft für alle, die mit ihm in Verbindung traten, im Verkehr mit seinen Bürgern von vornehmer Haltung und milder Freundlichkeit. Endlich Richard Röpell, der jüngere Professor der Geschichte. Auch diesem verband mich zuerst die gemeinsame Sorge um die Zukunft des Vaterlandes, sein maßvolles Urteil und die Zuverlässigkeit seines Wesens. Er war einer von den wohlgefügten Männern, bei denen man mit Sicherheit darauf rechnen kann, auch nach jahrelanger Trennung in großen Fragen die gleiche Auffassung zu finden. Unter allen, die in Breslau unserem Freundeskreise angehörten, war allein seiner dauerhaften Kraft beschieden, die großartige Entwicklung der deutschen Verhältnisse zu erleben und treu den Ansichten der früheren Mannesjahre dafür tätig zu sein.

Diese Bekanntschaften hatten die natürliche Folge, daß ich gesellig in Anspruch genommen wurde und überreichliche Gelegenheit erhielt, mich in schlesischer Weise auszugeben. Einige Jahre trieb ich dies zur Winterszeit mit sorglosem Behagen; zuletzt wurde mir des Guten zuviel, und ich merkte, daß es Zeit war, mich selbst ernster anzufassen.

Da drang in unser politisches und geselliges Treiben ein lauter Klageschrei von Not der Spinner und Weber in den Gebirgskreisen. Dort saß in den Tälern eine dichte Bevölkerung, welche sich mit Hausindustrie auf eigenen Webstühlen zu erhalten suchte. Durch die neue Maschinenarbeit und durch das dürftige Leben mehrerer Generationen war sie verkümmert und in sklavische Abhängigkeit von den Kaufherren, den regelmäßigen Abnehmern ihrer Ware, geraten. Jetzt aber hatte Ungunst der Handelsverhältnisse ihr Leiden so hoch gesteigert, daß ein schnelles Eingreifen menschenfreundlicher Tätigkeit geboten war, um die Schrecken der Hungersnot abzuwenden. Ueberall in Deutschland wurde für sie gesammelt, in Breslau trat ein Zentral-Verein zusammen zur Aufnahme und Verwendung der Beiträge und zur Herbeiführung besserer Lebensbedingungen für die Leidenden. Die Mitglieder des Vereins wurden aus verschiedenen Kreisen der Gesellschaft gewählt, auch ich wurde dazu herangezogen. Zu ihm gehörten, außer den Führern der Kaufmannschaft und städtischen Verwaltung, auch große Gutsherren der Provinz, vom Militär die Generäle Graf Brandenburg und Willissen. Das Verhalten dieser beiden Herren im Vereine war sehr verschieden. Graf Brandenburg erklärte sogleich mit wohltuender Ehrlichkeit, daß ihm die genaue Kenntnis der Verhältnisse fehle, daß er aber ein warmes Herz für die Sache mitbringe und sich gern unterrichten wolle, und er hat zu jeder Zeit, wo er eine Ansicht äußern mußte, mit gutem Urteil auf der Seite gestanden, welche das Richtige wollte. Willissen dagegen wußte in unruhigem Eifer sogleich Vorschläge zu machen, schrieb unaufgefordert Gutachten und Abhandlungen, und alles was er forderte, war nicht ausführbar. Als er im Jahre 1850 von den Schleswig-Holsteinern zum militärischen Führer gewählt wurde, konnte man sich trüber Ahnungen über den Ausgang des Kampfes nicht erwehren. – Der Verein erhielt bald beträchtliche Summen zur Verfügung; durch die Einsicht der geschäftskundigen Mitglieder, unter denen Milde und Theodor Molinari waren, wurde er vor der naheliegenden Gefahr bewahrt, sich in schädlicher Weise zwischen Weber und Kaufleute, Arbeiter und Arbeitgeber einzuschieben. Die Kaufgeschäfte, welche er in erster Notzeit und zur Warnung für harte Händler errichtet hatte, wurden sobald als möglich in zuverlässigen Händen dem regelmäßigen geschäftlichen Betriebe zurückgegeben, der Not des Augenblicks wurde nach Kräften gesteuert, für Verbesserung der schlechten Wohnungen, Webstühle, Werkzeuge das mögliche getan. Am wenigsten glückten die Versuche, den Bedrängten andere Arbeit zu verschaffen, denn auch, wo die Gelegenheit dazu gefunden wurde, hinderte die körperliche Unfähigkeit und ebensosehr der Stolz der armen Leute, welche für sich und ihre Kinder mit unüberwindlicher Zähigkeit an dem Geschäft der Vorfahren festhielten. Es erwies sich, daß nichts schwerer ist, als einem verkommenden Industriezweig seine Opfer zu entreißen. Dem Beamtenstaat, wie er damals war, fehlte vollständig die Einsicht und Kraft, mit rücksichtsloser Energie einzugreifen, der Privatwohltätigkeit stand nur in wenigen Fällen die hochherzige Hingabe solcher zur Seite, welche ihr eigenes Leben der Erziehung der Unglücklichen hingeben wollten. Wir alle lernten, daß keine Vereinstätigkeit, auch die emsigste nicht, eine Arbeit zu tun vermag, welche nur die Zeit vollbringt, indem sie die einen austilgt, die anderen dadurch heraufhebt, daß sie ihnen allmählich die Kraft zuteilt, sich selbst zu helfen, allein oder im Verbande mit den Genossen.

In diesen Jahren hielt ich an der Universität meine Vorlesungen über mittelhochdeutsche und neuere deutsche Literatur; wiederholt eine Vorlesung über deutsche Poesie seit Goethe und Schiller, in welcher einzelne Gedichte als Proben vorgetragen und nach bestem Vermögen begutachtet wurden. Diese Vorlesung mit sorgfältig eingeübtem Vortrag charakteristischer Gedichte war nicht unnütz, und ich möchte Aehnliches auch jetzt noch in den Lektionsverzeichnissen finden, damit eine Lücke in der Bildung ausgefüllt werde, welche die gelehrten Schulen wohl zurücklassen. Für mich selbst las und arbeitete ich rüstig, ich begann die Monumenta Germaniae auszuziehen und trug vorzugsweise kulturgeschichtliche Notizen zusammen. Seit meiner Doktorschrift hatte ich beschlossen, eine Geschichte der deutschen dramatischen Poesie zu schreiben, auch dafür sammelte ich, und unternahm eine Ferienreise nach der Bibliothek in Wien, um alte Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts durchzusehen. Sehr bald erkannte ich, daß die Geschichte der dramatischen Poesie zugleich eine Geschichte des Theaters sein muß, in welcher die Art und Weise der Ausführungen oft weit anziehender ist, als der Inhalt der Stücke und die poetische Behandlung des Stoffes. Denn zwischen den kirchlichen Aufführungen des Mittelalters und der Nürnberger Bühne des Hans Sachs liegen mehr als hundert Jahre eigentümlicher und großartiger Aufführungen, welche städtische Feste waren, bei denen die gesamte Bürgerschaft beteiligt war. Sie fanden unter freiem Himmel statt, dafür wurden Gerüste und Bauten aufgeführt, allerlei technische Erfindungen gemacht. Noch jetzt geben die Festspiele in Oberammergau eine entfernte Vorstellung davon. Auch diese großen Stadtspiele haben eine reiche, schwer zu bewältigende Literatur hinterlassen, und wer die Geschichte des deutschen Dramas schreibt, wird viele Jahres seines Lebens auf Bewältigung des massenhaften Stoffes zu verwenden haben. Jedenfalls war ein solches Unternehmen für einen jungen Dozenten, der sich durch eine literarische Arbeit in der wissenschaftlichen Welt einführen will, nicht gerade bequem. Doch hielt ich lange daran fest. Einer Aufforderung von Wilhelm Grimm folgend, zog ich für das deutsche Wörterbuch, welches vorbereitet wurde, den ganzen Jakob Ayrer und einiges kleinere aus, hielt auch einmal vor gemischtem Publikum eine Reihe von Vorträgen über neuere deutsche Literatur.

Wenn ich in den Ferien nach der Heimat kam und im kleinen Hofraum zwischen den Eltern saß, von meinen Erfolgen und reichlicher von werten Bekannten erzählte, da fand ich die Mutter ganz unverändert, den lieben Vater aber bedrückten die Jahre. Ach, noch mehr die neue Zeit, die seit 1840 auch in der kleinen Grenzstadt bemerkbar wurde; denn die Bürger fingen an, sich um allerlei zu kümmern, was der Magistrat bis dahin allein verstanden. Früher hatten sie zuweilen leise gemurmelt, jetzt widersprachen unruhige Köpfe ohne Scheu, ein kleines Lokalblatt wurde gegründet, nicht zur Freude des Bürgermeisters, darin erschienen widersetzliche Bemerkungen auch über Städtisches. Der Stadt wurden von der Regierung höhere Leistungen zugemutet, zum teuren Bau eines mächtigen Pfarr- und Schulhauses sollte ein Teil des Stadtwaldes, an dem das Herz des Vaters hing, niedergeschlagen werden, und vergeblich sträubten sich Magistrat und Bürgerschaft dagegen. Ja, der Bürgermeister selbst wurde von einem zugewanderten Fremden daran erinnert, daß er nicht mehr zeitgemäß sei. Seit dem vorigen Jahrhundert hatte er, wie damals Landesbrauch war, jeden Handwerksburschen mit »Er« angeredet. Einer, der jetzt kam, wollte sich das nicht gefallen lassen und protestierte unwillig gegen die wegwerfende Behandlung. Der Vater sah den Aufsässigen erstaunt an und vergönnte ihm fernerhin das summarische »Man«, das hielt der Angeredete für noch schlimmer und forderte als freier Staatsangehöriger das schickliche »Sie«. Er hatte recht, und ich besorge, dem alten Bürgermeister mit seinem Silberhaar wurde das auch von der Regierung angedeutet. Solche kleine Zusammenstöße der alten und neuen Zeit kränkten den Vater tief. Erstaunt sah er ringsum eine plötzliche Veränderung des Lebens, neue Verhältnisse, ganz unerhörte Forderungen, und ihm kam vor, als wenn alles Gute mit dem alten zugrunde gehe.

Im Jahre 1847 suchte er mit 73 Jahren um seine Dienstentlassung nach. Es war für ihn ein schwerer Abschied, ein Abschied auch von Kreuzburg, der ihm durch Beweise von herzlicher Anerkennung, die ihm die Stadt entgegenbrachte, nicht erleichtert wurde. Er zog mit der Mutter nach Groß-Strelitz zu meinem Bruder. Dieser hatte die Rechte studiert, war auf einige Jahre zur Regierung übergegangen und Kommissarius für Auseinandersetzung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse geworden. Durch eine starke Jugendliebe gehoben, hatte er mit steter Anspannung seiner Kraft sich früh zu einer selbständigen Tätigkeit heraufgearbeitet und jetzt in glücklicher Ehe seinen Haushalt eingerichtet. Dort lebte der Vater bis 1848. Die Ereignisse dieses Jahres erschütterten ihn tief. Als er am Abend des 17. November die Nachricht vom Widerstande der Nationalversammlung gegen die königliche Auflösungsorder las, brach ein kurzer Schmerzensruf aus seiner Seele – wie die besorgte Mutter in der Nacht nach ihm sah, fand sie ihn tot.

 


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