Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Kinderleben in Kreuzburg

Liebe alte Stadt! Es ist lange her, daß ich dich nicht gesehen habe, vieles hat sich an dir verwandelt, du bist jetzt Knotenpunkt von zwei Eisenbahnen, die Zahl der Einwohner ist zweimal so groß als in meiner Kinderzeit, und stärker arbeitet in dir der Verkehr und das Geräusch des Tageslebens. Dem bejahrten Mann aber ist dein Bild, wie du vor sechzig Jahren warst, fester im Gedächtnis geblieben als vieles andere, was ihm das spätere Leben entgegentrug.

Die Stadt liegt im Flachlande in einer weiten Lichtung, die Wälder sind klein geworden, aber die Kiefern fassen den Horizont noch immer mit einem dunklen Saume ein, und die Stadt ist deutsche Grenzstadt geblieben nicht nur gegen Polen, auch gegen den oberen Teil von Schlesien, denn auch nach dieser Seite beginnen gleich hinter der Stadt Dörfer mit polnisch redenden Landleuten.

Daß die Stadt als eine wehrhafte Grenzfeste erbaut worden, das war nach fünfhundertfünfzig Jahren noch überall zu erkennen. An der einen Ecke hatte auf kleiner Erhöhung die Burg der Kreuzherren gestanden, noch war der Raum abgeschlossen, darin ein Amtshaus, in dessen Räumen die königlichen Behörden ihre Aktenschränke aufgestellt hatten, und neben diesem ein alter viereckiger Ziegelturm, verfallen und unbenutzt, den zu besteigen verboten war. Oft sah der Knabe neugierig und scheu nach der Höhe zu einem wilden Strauch empor, zu welchem die Vögel den Samen an eine Fensteröffnung getragen hatten. Der Zufall hatte gefügt, daß auf derselben Stätte, wo einst die Ordensbrüder ein Hospital für arme Kranke unterhalten hatten, durch Friedrich den Großen ein Landarmenhaus für die Provinz Schlesien errichtet worden war; dicht neben dem Hofraum des Amtshauses erhob sich der mächtige Bau hoch über die Bürgerhäuser.

Doch Burg und Stadt waren nicht nur durch Mauer, Graben und Erdwall beschirmt gewesen, noch fester durch einen großen Teich und sumpfigen Wiesengrund, welcher einem Heerhaufen den Zugang nur auf der Landstraße gestattete.

Die beiden Tore der Stadt, das deutsche und polnische, standen noch mit ihren engen Gewölben, die Torflügel wurden jede Nacht geschlossen und durch Wächter behütet, aber sie öffneten sich bereitwillig dem verspäteten Reisenden. Während meiner Kinderzeit wurden sie niedergelegt und der breitere Zugang mit einem Gattertor versehen. In der Mitte der Stadt lag der große Ring, ein viereckiger Markt, in dem die vier Hauptstraßen mündeten. In des Ringes Mitte stand das alte Rathaus und das Viereck der zwölf Häuser, welche in alter Zeit das Verkaufsrecht gehabt hatten. Abseits vom Markte war der Kirchhof mit der evangelischen Kirche. Nach demselben Plane sind mit Abweichungen in Einzelheiten die meisten Städte Schlesiens erbaut. Nicht alle. Es gibt auch solche mit häuserfreiem Marktplatz; offenbar entnahmen die erfahrenen Städtegründer des Mittelalters ihre Baurisse wenigstens zwei verschiedenen Ueberlieferungen. Ein wasserreicher Bach, die Stober, lief an einer Seite innerhalb der Stadtmauer dahin, dort hatten die Färber und Gerber ihre Stege und eine große Wassermühle arbeitete mit mehreren Rädern. Die Zeit hatte der Stadt genommen und gegeben, wiederholte Brände hatten die alten Straßen niedergelegt, fremdes Kriegsvolk hatte in jedem Jahrhundert geplündert, verwüstet, zerstört, aber alles Unglück der Vergangenheit war durch die unablässige Tätigkeit kleiner Bürger überwunden worden. Die niedrigen Häuser auf dem Markt und in den Hauptstraßen waren von Ziegeln und sorgfältig getüncht, auch vor den Toren mehrte sich die Zahl der sauberen Steinhäuser mit rotem Dach.

Zweimal in der Woche füllte sich der Markt mit den Wagen der Landleute, dann sah man ein Gewühl geschäftiger Menschen, kleine struppige Pferde, zahllose Getreidesäcke, die Bauerfrauen der nahen polnischen Dörfer in ihrer auffallenden Tracht, jüdische Händler, die sich gleich Aalen zwischen den Wagen hindurchwanden, und die Ratsdiener, wie sie im Amtseifer die Stöcke schwangen, um Ordnung zu erhalten.

Am Sonntag trug die Stadt ihr Festkleid, die großen runden Kiesel, mit denen der Markt und die Straßen gepflastert waren, erwiesen die höchste Glätte und Sauberkeit, welche ihnen möglich war. Von dem niedrigen Turme der Stadtkirche riefen die Glocken feierlich zur Kirche, und es war eine vergebliche Sehnsucht der Kinder, in die Blechmütze hinauf zu kriechen, die man dem alten Turm aufgesetzt hatte. In der Kirche war alles schmucklos, die weißgetünchten Wände vergraut und fleckig, nur um das Kanzeldach saßen dicke Rokoko-Engel aus Stuck in Weiß und Gold, ein wenig beschädigt, und mich dünkt, einem war die Trompete, die er blasen sollte, abgebrochen. An die kahle Wand war eine große Holztafel befestigt, auf welcher die Namen der Krieger aus dem Kirchspiel standen, welche in den Freiheitskriegen geblieben waren. Alles war wohl früher stattlicher und geschmückter gewesen, jetzt aber fehlte das Geld. Zwischen den Pfeilern ragten Holzgalerien, welche zum großen Teil nach altem Herkommen den einzelnen Handwerken gehörten; dicht neben der Kanzel war der Ratschor, darin saß ganz vorn der Vater und neben ihm der kleine Sohn so nahe dem Onkel Pastor, daß es möglich gewesen wäre, diesem mit leiser Stimme guten Morgen zu sagen, wenn die Würde des Ortes solche Höflichkeit erlaubt hätte.

Außerhalb der Stadtmauer aber dehnt sich weithin das Flachland, auf der deutschen und auf der polnischen Seite läuft die Straße wohl eine halbe Meile zwischen kleinen Häusern der Vorstadt und den Bauernhöfen der Kämmereidörfer, dann endet sie in tiefem Sande, denn Kunststraßen gibt es noch nicht in der Gegend. Am äußersten Ende der Menschenwohnungen gegen den Wald liegt von niedriger Mauer umgeben ein Kirchhof der Dorfgemeinde mit einer kleinen Kapelle. In dem wilden Holunderbusch, der über die Mauer ragt, erspäht der Knabe das Nest eines Singvogels, es ist der letzte kleine Haushalt freundlicher Vögel, welche bei den Menschen wohnen. Von da waten Pferde und Menschen schwierig zwischen einzelnen kleinen Kiefern vorwärts. Der Sand ist heiß und bei jedem Schritt versinkt der Fuß bis über die Knöchel, es ist eine kleine Wüste, aber die Füße stapfen mutig in dem weichen Boden, denn dahinter liegt der Wald mit seinem Schatten und dem lockenden Geheimnis, das um ihn schwebt. Weit zieht sich der Forst entlang, zuerst dürftiges Niederholz, hier und da wächst ein Wacholderstrauch und etwas Moos in kleiner Niederung. Im Hochwalde aber ist der Grund glatt und braun von gefallenen Nadeln, Baumwurzeln laufen über den Fußsteig und da wo Regen von den Nadeln niederrieselt, haben sich wilde Beeren mit ihrem dunklen Laube angesiedelt. Gelbe Stämme und dunkle Föhrengipfel erfüllen die Luft mit würzigem Waldduft. Hier ist es still, nur zuweilen schreit der Häher und ein Krähenschwarm, der über den Bäumen fliegt. Und von der Straße, die durch zwei verfallene Gräben bezeichnet wird, tönt der Ruf des Fuhrmanns, der die müden Pferde unablässig antreibt. Langsam nähert sich der Lastwagen, seine graue Plane überdeckt die Waren, welche der Stadt zufahren, damit die Grenzleute in ihrer Abgelegenheit an den Genüssen der Fremde auch Anteil haben.

Wer aber seitwärts von der Straße in das Feld hinaustritt, dem sinken die niedrigen Dorfhäuser bald zum Horizont hinab und er steht zwischen den Saaten auf einem Grunde, der fast so eben ist wie eine Tenne, ringsum am fernen Rand des Horizonts von dunklem Waldringe umschlossen. Wenn das Auge über die Erde fliegt, so findet es wenig, woran die Blicke haften wollen, hier und da geköpfte Weiden an den Fahrwegen, im Felde selten noch einen wilden Birnbaum und darunter einen kleinen Rasenfleck, wo Feldblumen blühen. Im Lande aber sitzen und schwatzen die Feldsperlinge mit ihren Verwandten. Seit Urzeiten haben ihre Familien auf diesen Bäumen freie Wohnung und freie Nahrung aus der Flur, und sie schreien deshalb in den Zweigen, zanken sich übermütig wie nirgend sonst und kehren sich wenig an den Menschen, der darunter tritt. Aber wer einige hundert Schritt weiter geht, dem sinkt auch der Baum niederwärts zum Boden hinab und er steht wieder auf der flachen Erdscheibe und sieht über sich die blaue Himmelsglocke mit weißen Wolkenstreifen, welche im großen Bogen von der Erde über ihn reichen und wieder bis zum Waldsaume hinab; er erblickt wenig Erde, aber viel Himmel, die Erde rund, der Himmel rund, beide so lichtvoll und in so heiterer Helle, wie nur die weite Ebene im Norden und Osten des deutschen Bodens dem Auge darbietet. Die Weisen lehren seit mehr als hundert Jahren, in den Gebirgen müsse man schöne Landschaften aufsuchen, und das Flachland will niemand rühmen. Wer schauen will, mag in die Berge wandern, aber wer sich wohlfühlen will und heiteres Licht für sein Leben begehrt, der findet es auch dort, wo der Himmel von allen Seiten so tief hinabsteigt, daß der Wechsel seiner Lichter alles wird und die Formen der Erde wenig.

Auf der anderen Seite der Stadt breitet sich eine weite Wasserfläche, die dem Kinderauge unermeßlich scheint, es ist ein großer Teich, gegen die Häuser durch hohen Damm begrenzt. In alter Zeit war das Wasser ein Schutz der Stadt, jetzt liefert es gefällig große Weihnachtskarpfen. Aber nur wenige Jahre staunt der Knabe im Herbst die Männer an, welche mit großen Netzen durch den Schlamm waten. Dann wird die Flut abgeleitet und die weite Fläche in Wiesen und Ackerland verwandelt, der Damm dauert als Spaziergang für die Städter. Auch auf den anderen Seiten läuft um die Stadtmauer und den trockenen Stadtgraben ein Ringwall, er ist zur Hälfte mit starken Holzgerüsten besetzt, den Tuchrahmen, an welchen die Tuchmacher ihre Gewebe aufspannen, und die blauen, grauen und weißen Tuchflächen stechen grell ab von dem grünen Grunde und den alten Ziegelmauern. Aber die Holzrahmen zerfallen in diesen Jahren, die Zahl der Tuchmacher wird kleiner.

Denn das Handwerk in der Stadt hat gegen die Ungunst der Zeit zu kämpfen. Einst waren die Tuchmacher und Strumpfwirker wohlhabende Innungen gewesen, sie webten und wirkten die blauen und weißen Röcke und die bunten Strümpfe für das Landvolk bis weit nach Polen hinein, aber der erschwerte Verkehr mit der Fremde und noch mehr der Beginn der Maschinenarbeit macht ihnen mit jedem Jahre den Verdienst geringer. Noch fehlt das Geld und die Kraft zum größeren Betriebe; die alte Zeit geht zu Ende, der Segen der neuen wird noch nicht sichtbar, es ist eine Periode des Rückganges und der ersten Versuche auf neuen Bahnen, in welche meine Kindheit fällt.

In dieser Stadt wuchs ich herauf, von lieben Eltern gehütet. Was mein Gedächtnis bewahrt hat, sind zuerst einzelne Augenblicke, die gleich Nebelbildern aus dem Dunkel aufleuchten. Der dreijährige Knabe sitzt neben dem Kindermädchen auf einer Bank vor dem Wohnhause der Eltern und sieht erstaunt über sich einen roten Nachthimmel und feurige Lohe, welche um die Dächer der Stadt dahinfährt. Das große Armenhaus steht in hellen Flammen, die über das Dach lodern, der Vater ist mit Spritzen und der Bürgerschaft beim Feuer, die Mutter rafft in der Wohnung mit fliegenden Händen das Wertvolle zusammen, den kleinen Sohn hat man aus dem Bett ins Freie getragen.

Das Armenhaus war damals eine große Bewahrungsanstalt für verkommene Leute, die nicht gerade gefährlich waren. Dort wurden in strenger Hauszucht einige hundert Männer und Frauen unterhalten, für jedermann kenntlich an grünen Tuchröcken, in denen sie an Sonntagen im Zuge nach der Kirche schritten. Zwei Blinde unter ihnen, denen die Hausordnung unerträglich wurde, hatten am späten Abend unter einer Treppe Feuer angelegt und waren dann aus dem Hause geschlichen, um zu entfliehen. Als sie in dem ummauerten Hofraum standen, fragte der eine: »Was aber soll aus der unschuldigen Stadt werden? Sie wird bei dem starken Winde auch niederbrennen, die Bürger haben uns nichts zuleide getan.« Da schritt der andere Blinde, während drinnen der Brandstoff schwälte, dreimal um das ganze Gebände und sprach einen alten Feuersegen zum Schutz der Stadt, worauf beide durch ein Pförtchen ins Freie entwichen. Aber sie wurden wenige Tage darauf in der Umgegend an ihren grünen Röcken erkannt und gefangen eingebracht; ihr Prozeß, in dem auch der Feuersegen aufbewahrt blieb, wurde ein vielbesprochener Rechtsfall.

Das Gebäude stand bald in hellen Flammen, es brannte drei Tage, aber die Stadt blieb verschont. Da die unteren Treppen zuerst in Brand gerieten, war die Rettung der vielen eingeschlossenen Leute sehr schwierig und es gingen Menschenleben verloren. Die Geretteten aber wurden, nicht zur Freude der Stadt, für einige Jahre bei Bürgern untergebracht, bis ihnen ein neues Haus erbaut war. Dieses Bild eines Hausbrandes haftete fest in der Seele des Knaben.

Und wieder ein halbes Jahr darauf ist der Kleine am Morgen aufgewacht und findet sich erstaunt in einem fremden Bett, in der Wohnung seines Oheims, die älteren Cousinen stehen bei seinem Lager und erzählen, daß ihm daheim in der Nacht ein kleiner Bruder geboren worden ist. Der neue Weltbürger wird getauft, es sind viel schön gekleidete Leute in der Wohnung der Eltern und der ältere Sohn blickt in eine ungeheure Tüte, die er in der Hand hält, große Erdbeeren von Zucker darin. Der Knabe trägt die Tüte in die leere Nebenstube, kniet nieder und will zum lieben Gott beten für die Eltern und den kleinen Bruder. Aber wunderlich! Während er kniet, kommt ihm vor, als ob das nur Ziererei wäre, er hat ein Gefühl von Leere und von Unehrlichkeit, nimmt seine Tüte und steht wieder auf.

Später fühlt der Knabe sich glücklich im Besitze einer roten gestrickten Mütze, von der er noch jetzt jede Masche und auf dem Deckel das Muster eines großen Sterns sieht. Diese wollene Mütze wird allgemein bewundert, sie ist bei artigem Gruß nicht leicht abzuziehen, aber sie dehnt sich und dauert, und er trägt sie noch als er mit dem Göckelhahn im Bilderbuch zur Schule geht. Dann hält der Kleine in seinen Händen eine hölzerne Puppe, die Lore, welche ebenso unvergänglich ist wie die Mütze, sie hat einen harten schweren Kopf, und so oft die Farbe abgerieben ist, weiß die Mutter das Gesicht mit Oelfarbe wieder schön fleischfarben und rot zu malen. Aber die Farbe wird zuletzt uneben und Lore sieht blatternarbig aus zum großen Kummer der Kinder.

Denn ich bin nicht mehr allein. Auf dem Schoß der Mutter sitzt eine kleine helle Gestalt und greift mit den Händen nach mir. Die Hände sind so klein und das ganze Kerlchen ist so klein und es kann den Namen des Bruders nicht ordentlich aussprechen, aber die großen Augen sehen schon so warm, herzlich und treu nach mir hin, wie sie ein ganzes Menschenleben hindurch taten. Mein Bruder Reinhold ist dreieinhalb Jahr jünger als ich, ich lerne ein wenig um ihn sorgen, mein Spielzeug zu seiner Unterhaltung hergeben und ihn altklug belehren; und er purzelt und läuft um den Bruder herum, stopft Sand in meine winzigen Kochtöpfe und schüttet ihn wieder aus, hämmert mit dem Kopf der Lore zur größten Beschwer des Kunstwerks auf den Fußboden und zieht meinem Hanswurst die bunten Lederflecken aus seiner Montur, bis er endlich lernt mit dem Steckenpferd den Tisch zu umkreisen und neben dem Bruder aus zerriebenen Aepfeln und Nüssen kleine Gerichte herzustellen. Zuletzt gehen wir beide Hand in Hand miteinander durch die Haustür in die Welt, wo große Hunde laufen und Pferde mit sehr großen Wagen über das Pflaster fahren; auch er trägt eine gestrickte Deckelmütze mit dem Stern, aber seine ist kornblumenblau, damit eine Verwechslung unmöglich werde. Und wenn die Leute uns freundlich anreden und wir den Versuch machen, die Mützen zu ziehen, dann fühlt die Frau Bürgermeisterin bei dem Lobe der Fremden die holdeste und liebenswerteste Regung der Eitelkeit, den Stolz einer Mutter. Mein Bruder Reinhold war von seiner ersten Kindheit an ein Prachtkind, groß, stark und kraftvoll, und er behielt diese Eigenheiten auch im Mannesalter. Er hing warm an seinem Bruder, und ich erinnere mich nicht, daß wir in unserem ganzen Leben jemals in Zwist geraten sind. Für die Mutter war er nicht leicht zu ziehen, denn der kräftige Knabe war von einer ganz ungewöhnlichen Heftigkeit, er ballte, sobald ihn etwas erzürnte, die kleinen Fäuste und geriet ganz außer sich. Ihm war in der frühen Kinderzeit nicht immer von Vorteil, daß er als der jüngere heranwuchs, denn er verkehrte fast nur mit den älteren Gespielen seines Bruders, die gegen den kleinen Kameraden nicht die Rücksicht übten, welche seine Jahre forderten. Aber seine Heftigkeit wurde durch Selbstbeherrschung später in einer Weise gebändigt, wie ich das sonst an keinem andern Menschen erlebt habe, denn als er ein Mann geworden, war der Grundsatz seines Wesens eine ruhige Kraft und gemessene Freundlichkeit.

Die liebe Mutter war eine helle Gestalt, welche sich und andern das Leben angenehm zu machen verstand, eine ausgezeichnete Wirtin, dabei von einer gewissen künstlerischen Begabung, erfindungsreich und anschläglich. Sie hatte nie Zeichnen gelernt, aber sie verfertigte sich selbst die Muster zu den Teppichen, die sie unternahm, sie hatte auch in der Landwirtschaft des Vaters schwerlich viel Zeit gehabt, mit den feinen Handarbeiten der Frauen umzugehen, aber sie versuchte bis in ihr hohes Alter alles Neue, was in dieser Art gerade wieder aufkam: Kreuzstich, Plattstich, Filet, Häkeln, alles, was man nur stricken, nähen und sticken kann. Und was Bäckerei betrifft, Einsieden von Früchten und dergleichen, so war ihr niemand überlegen. Allerdings mit einer Beschränkung. Man kochte damals noch bei lustiger Herdflamme, die Maschine und Steinkohle lagen im Schoße der Zukunft, und ihr war deshalb das ganze Leben lang ein Kummer, daß die Torten, welche sie in immer neuen Stoffmischungen zu schaffen bemüht war, gern wasserstriemig wurden. Ihren Knaben freilich war das gar nicht leid, denn diese erhielten dann in sehr kleinen Bissen den Löwenanteil. Bei aller Arbeit wurde der älteste Sohn ihr Vertrauter, und ich wundere mich, daß ihm keine Schürze über seine männliche Tracht zugemutet ward, er stampfte die Gewürze, rieb als Gehilfe zu Weihnachten den Mohn mit einer großen runden Keule, lief Knäuel wickelnd um die Stühle, entblätterte Krautköpfe für den Hobel, und lernte auch Lichte in Zinnformen gießen, denn damals gab es noch kein Stearin, und die Putzschere war ein unentbehrliches Werkzeug, dessen Handhabung durch die Kinder zuweilen den Abendbesuch in plötzliche Finsternis setzte. Das störte nicht sehr, man zündete das Licht in der Küche mit Schwefelfäden und Pinkfeuerzeug wieder an; bis endlich die roten Fläschchen mit Stupfhölzern erfunden wurden, welche aber der Vater als eine Neuerung wegen des spritzenden Vitriols nicht billigte. Er selbst trug in der Westentasche immer Stahl, Stein und Schwamm und unterrichtete die Knaben vorsorglich im Gebrauch zum Nutzen ihrer Männerjahre. Du liebe Zeit!

Da in dem neu bezogenen Hause ein winzig kleiner Hofraum von wenigen Quadratfuß vorhanden war, so bestand die Mutter darauf, eine Bank hineinzusetzen, begann Gärtnerei in Topfgewächsen, unternahm sogar Hortensien zu ziehen und verwandelte den Raum nach wenig Jahren in einen ganz von Blumen umschlossenen Aufenthalt, in welchem der Herr Bürgermeister die Pfeife rauchte, auch die beiden Knaben noch Platz auf Stühlchen fanden und die Mutter fröhlich bei ihrer Handarbeit an neue Unternehmungen dachte. Ob die Kleider der Kinder jemals Geld gekostet haben, ist zweifelhaft; die Mutter schnitt und nähte aus der Garderobe des Vaters jede Art von Kleidungsstücken und wußte ihnen durch schöne Säume und besonderen Schnitt ein stattliches Aussehen zu geben, das alle Hausmütter zu achtungsvoller Anerkennung zwang. Sie hatte einen unermeßlichen Schatz bunter Fleckchen von Seide und Tuch, dazu einen großen Beutel mit Knöpfen von den wunderlichsten Formen aus der Zopfzeit, so daß für die Kinder das Betrachten und Sortieren ein oft erbetener Genuß wurde.

Zwischen den Haushaltungen der Stadt und den Ackerbürgern der Vorstädte bestand ein gewisses landwirtschaftliches Tauschverhältnis, welches zur Folge hatte, daß auch wir alljährlich für den Sommer einige Quadratruten Ackerland in der Flur zur freien Benutzung erhielten. Auf diesem Erdflecke waltete die Mutter, die freilich in dem großen Pfarrhofe ihrer Heimat an Höheres gewöhnt war, wie ein weiser Feldherr, der auch eine kleine Macht ehrenvoll auszunutzen versteht. Es ist unglaublich, was sie alles darauf zu ziehen wußte, nicht nur den Bedarf von Kartoffeln, auch hochgeschätzte Gemüse, das Verschiedenartigste stand beieinander, alles gedieh, und der Fleck war schon von weitem durch die bunten Blättergebilde, welche sich in der Sonne blähten, erkennbar. Dies aber war kein Vorteil, denn gerade das Liebste, die Gurken, wurde ihr alljährlich gestohlen, nur die Kürbisse dauerten zum Trost der Kinder, weil sie wenig begehrt waren. Demungeachtet ließ die Mutter von ihren Pflanzungen nicht ab. Oft ging sie am frühen Morgen eilig hinaus, besorgte selbst das Gießen und war wieder zur Stelle, bevor wir aus den Federn stiegen. Wenn aber der Tag der Ernte kam, war nicht nur die Hausfrau glücklich, trotz ihrem geheimen Kummer über das Verlorene, noch mehr die Kinder. Denn dies war der einzige Tag im Jahre, wo wir bei kleinem Feuer im Freien Kartoffeln rösteten, die sogleich gegessen wurden und den Mund schwarz färbten, und wo wir bei warmem Wetter eine Weile barbeinig auf dem Felde umherlaufen durften. Die Freude darüber war wohl deshalb so groß, weil der Marsch auch geheimen Schmerz bereitete, denn die Stoppeln stachen sehr in die kleinen Füße.

Die meisten Kinderspiele des Jahres wurden von uns geübt, der Drache flog, der Mönch brummte, die Bleisoldaten marschierten auf dem Fußboden und was die Händler, welche »Spilleleute« hießen, von geschnitzter Holzware an den Jahrmärkten ausstellten, wurde so lange sehnsüchtig betrachtet, bis wir davon heimtragen durften. Am liebsten aber spielten wir mit bunten Bohnen, welche in ein rundes Loch geschoben und geworfen werden mußten, denn die kleinen Kugeln von Marmor und Ton waren bei uns nicht zu haben. Auch im geheimen Verstecken übten wir uns. An einer Ecke des Hofes wurde ein tiefes Loch gegraben, die Wände sorgfältig mit flachen Steinen und Moos bekleidet und in diesem Raume vieles Gute niedergelegt, das begehrlichen Blicken entzogen werden konnte, vor allem Obst; aber auch Lore und der Hanswurst mußten sich oft gefallen lassen, in der finsteren Höhlung zu kauern.

Viele Wochen vor Weihnachten sind die Knaben in emsiger Tätigkeit, denn als ein Hauptschmuck des Festes wird nach Landesbrauch das Krippel aufgestellt, Bilder der Krippe, in der das Kindlein liegt, mit Maria und Joseph, den heiligen drei Königen, den anbetenden Hirten mit ihren Schafen und darüber der glitzernde Stern und Engel, welche auf einem Papierstreifen die Worte halten: »Gloria in excelsis«.

Wenn die Lichter brannten und die Engel sich bei leichter Berührung wie lebendig bewegten, dann hatten die Kinder zum erstenmal das selige Gefühl, etwas Schönes verfertigt zu haben. Während des Festes wurden dann ähnliche Arbeiten kleiner und erwachsener Künstler besehen, denn fast in jedem Haushalt stand ein Krippel, und mancher wackere Bürger benutzte seine Werkstatt, um dasselbe durch mechanische Erfindungen zu verschönen; man sah auf den Bergen große Windmühlen, deren Flügel durch rollenden Sand eine Zeitlang getrieben wurden, oder ein Bergwerk mit Grubeneinfahrt, in welchem Eimer auf und ab gingen, und häufig stand ganz im Vordergrund ein schwarz und weiß gestrichenes Schilderhaus mit rotem Dach und davor die preußische Schildwache. Aber diese Zusätze waren dem Knaben niemals nach dem Herzen, er hatte die dunkle Empfindung, daß sie sich mit den Engeln und den heiligen drei Königen nicht recht vertragen wollten.

Und wieder eine Kinderfreude. Die Mutter hat einen kleinen Vogel lebendig gemacht. Im Pastorgarten sah ich vor mir auf der Erde etwas Nacktes, ein Sperlingskind, das aus dem Neste gefallen war; ich hob es auf und als ich sein Herzchen zucken fühlte, wurde mir weh zumute und ich trug es, selbst zitternd und in Tränen, nach Hause. Die Mutter behandelte den Zufall mit sicherer Ueberlegenheit, verfertigte ein Nest aus Watte, kochte ein Ei und brachte etwas von dem zerhackten Inhalt mit einem Federkiel in das winzige Geschöpf. Dies gewann neuen Lebensmut und wurde durch fortgesetzte richtige Behandlung dem irdischen Dasein erhalten. Ich aber empfand einen glückseligen Schauer, als ich ihm selbst die Nahrung eingeben durfte und beobachtete, wie sich allmählich der nackte Leib mit Flaum und kleinen Kielen bekleidete. Matz wuchs und erhielt sein Federkleid, er flatterte mir auf den Kopf, saß auf meiner Schulter und wurde bald mein vertrauter Geselle, der alle Scheu verlor und in der Stube den ganzen Tag um mich herum hüpfte. Als er ziemlich herangewachsen war, mahnte die Mutter, den Kleinen wieder ins Freie zu bringen; ich trug ihn traurig in den Pastorgarten und setzte ihn auf einen Baum, dort aber duckte er sich kläglich zusammen und fand bei dem Spatzenvolk des Gartens schlechten Willkommen, denn dies wilde Gesindlein kam herangeflogen und schrie so zornig gegen mein armes Findelkind, daß dieses entsetzt immer wieder zu mir zurückflog. Endlich wurde beschlossen, daß ich den Vogel behalten durfte und ich trug ihn seelenvergnügt in unsere Stube zurück. Dort blieb er den ganzen Sommer mein Spielkamerad. Aber ihn erreichte im Winter das Schicksal. Durch einen Spalt der Türe sprang die Katze des Nachbars herein; Matz war im Nu in ihren Krallen und gemeuchelt. Ich stürzte auf die Mörderin zu – ich sehe noch jetzt die wilden Augen – und entriß ihr den Vogel, aber er war tot. Das war der erste große Schmerz meines Lebens, so herzzerreißend, daß auch die Mutter, die mich fest in den Armen hielt, nichts dagegen vermochte. Ich habe seit der Zeit nie wieder ein Tier zu meinem Hausgenossen gemacht, aber die gute Freundschaft zu dem großen Volk der Vögel ist mir geblieben.

 


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