Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Gymnasium

Als ich fast dreizehn Jahr alt war, kam mein treuer Lehrer mit dem Vater überein, daß es Zeit sei, mich auf das Gymnasium zu geben. Der jüngere Bruder meines Vaters, Karl, welcher Direktor des Stadtgerichts zu Oels war, erklärte sich bereit, mich in sein Haus zu nehmen. Im Jahre 1829 zu Ostern brachten mich die Eltern nach Oels. In der Aufregung der letzten Woche und während der Reise war mir nicht deutlich geworden, was die Veränderung für mich bedeute, erst an dem Morgen, an welchem die Eltern heimfuhren, wurde das bange Wehgefühl zu lautem Schmerz, ich klammerte mich an sie und wollte sie nicht loslassen. Als der Wagen verschwunden war, schlich ich in meine Stube und war einige Tage elend wie noch nie. Ich war allein.

Das Weh der Trennung im Herzen, sah ich längere Zeit gleichgültig auf die neue Umgebung. Und doch war alles größer und stattlicher als daheim. Vorab die Fürstenstadt Oels. Nach einem Brande zum großen Teil neu aufgebaut, war sie sauber und freundlich, darin ein schöner Ring, an dem der Oheim wohnte, der große stolze Bau des herzoglichen Schlosses mit seinen Söllern und Galerien und dem reichen Steinmetzwerk im Grün alter Bäume, mehrere Kirchen, das Gymnasium. Bei uns hatten die besten Häuser nur einen Oberstock gehabt, hier standen viele mit zweien. Sechs hohe Türme, auch ein viereckiger alter Mauerturm, dieser aber wohlerhalten mit vielen Fenstern und Zinnen, und auf dem Schloßplatz eine hohe Ehrensäule mit Bildhauerarbeit und einer goldenen Krone auf der Höhe.

Der Haushalt, in welchen der Knabe versetzt wurde, war dem des Vaterhauses so unähnlich als möglich. Der Bruder des Vaters lebte unverheiratet, sein Hauswesen wurde von einer kränklichen alten Wirtschafterin geführt. Er war ein gesundes kräftiges Kind gewesen, als ihn seine Wärterin auf den Boden fallen ließ, seitdem war allmählich sein Rückgrat verkrümmt. Er hatte ein großes faltiges Gesicht und kluge Augen, sein entstellter Leib wurde durch zwei lange Beine getragen. Die erste Zeit seines Staatsdienstes hatte er in den polnischen Landesteilen zugebracht, dort in der Einsamkeit und in unbehaglichen Verhältnissen ausschließlich zwischen seinen Akten und Büchern gelebt und dies stille Wesen so lieb gewonnen, daß er es auch in der Heimat fortsetzte. Er war fest, bestimmt und kurz entschlossen, ein tüchtiger Jurist, der wunderschnell arbeitete, nach wenigen Stunden Schlaf stand er früh bei der Arbeit seines Amtes; wenn ich im Winter kam, ihm den guten Morgen zu bieten, waren die Lichter auf dem Aktentisch bereits heruntergebrannt. Aber nur der Morgen gehörte dem Amte. Er besaß ein ungewöhnliches Sprachtalent und war ein Kenner fremder Literatur geworden, wie sie wohl selten sind, er las Griechisch und Lateinisch so geläufig, daß ihn viele unserer Philologen hätten beneiden können, sprach Polnisch und etwas Russisch, das er in der Jugend wie von selbst gelernt hatte, und trieb neben dem Englischen alle romanischen Sprachen. In seiner großen Bibliothek waren die Dichter und Historiker alter und neuer Zeit in schönen Ausgaben vorhanden, dort las er mit dem Stift in der Hand täglich mehrere Stunden bis in die Nacht hinein, fast immer stehend an seinem Pulte. Auch griechische und römische Altertümer studierte er wie ein Fachgelehrter. Böckhs Staatshaushalt der Athener und die neu erschienenen Werke von Otfried Müller, den er sehr hoch schätzte, sah ich zuerst in seiner Büchersammlung, von größeren Kupferwerken das Augusteum, welches gerade damals herauskam – die Vestalinnen zu Dresden habe ich zuerst aus den gelben Heften dieser Sammlung kennengelernt. Seine Lieblingsdichter waren Aristophanes, Shakespeare und Calderon, welchen er in den vier Foliobänden der Ausgabe von Keil besaß. Leider kam solcher Reichtum dem Neffen nicht zugute, denn der Oheim gab nicht viel auf Uebersetzungen. Er arbeitete auch viel für sich mit der Feder, übersetzte und schrieb Abhandlungen über das Gelesene, aber er ließ nie etwas drucken, und seine Handschrift war so ungewöhnlich schwer zu lesen, daß das Geschriebene für andere kaum vorhanden war. Ich fürchte, daß mancher gute Gedanke, manche feine Bemerkung, zumal über romanische Literatur, mit seinen Handschriften verloren gegangen ist.

Bei fester Einteilung der Tageszeit setzte er durch, noch jeden Tag eine Stunde den Blumen zu widmen, die er in einem Hausgarten pflegte und außerdem auf Gestellen eines sonnigen Zimmers, das als Wintergarten diente und sonst nur zur Mittagsmahlzeit benutzt wurde. Er verstand auch diese Pflege sehr gut, in anderer Weise als die Tante Pastor daheim. Diese zog die Blumen, wie ein Künstler in seiner Werkstatt ein Kunstwerk bildet, ohne Rücksicht auf das Umherstehende, der Oheim aber als Schmuck seiner Umgebung; in seinem Garten standen die schönsten Aurikeln und Sommerblumen in gefälliger Anordnung, und im Winterzimmer unter andern ein reicher Flor von Mesembrianthemum, das gerade modisch wurde, von Hyazinthen, Tazetten und Jonquillen. Der junge Neffe ahnte nicht, wie rührend das Leben dieses Einsiedlers war. Durch seine Mißgestalt ausgeschieden von Familienglück, fand er in der Geistesarbeit vergangener Zeiten und in dem, was die Blumenwelt von schönen Formen entgegentrug, seine beste Befriedigung.

In diesem Leben war er ernst und schweigsam geworden, und der Gesang des Kanarienvogels, den er in seiner Arbeitsstube hielt, war der lauteste Ton, den man hörte. Nur einmal in der Woche ging er auf eine Stunde in die Weinstube, wo sich ein gelehrtes Kränzchen angesiedelt hatte, aber auch dort stand er zu keinem der Mitglieder in näherem Verhältnis, und ich kam zu der Vermutung, daß er sich sogar aus meinen Herren Lehrern nicht viel machte.

In diesem Hause wurde mir ein Dachstübchen gemietet, zu Mittag aß ich unter den Blumen allein mit dem Oheim, und oft wurde während des Essens kein Wort gesprochen. Zuweilen durfte ich den Oheim auf dem Spaziergange begleiten, er ging schnell mit großen Schritten die Feldwege entlang, ich trabte nebenher; auch dabei feierliches Schweigen, er dachte vielleicht an Calderon, ich war froh, wenn ein Hase lief oder eine Lerche aufstieg. Nie war mein Oheim unfreundlich, ja er versuchte zuweilen, sich mit mir zu beschäftigen, aber ich empfand, daß ihm das mühsam war. Solches Zusammenleben ohne innere Gemeinsamkeit wurde für den dreizehnjährigen Knaben, der durch die Hingabe der Eltern verwöhnt war, eine schwere Sache, jedenfalls war es noch schwerer für den Oheim, den Knaben in seinem Tagesleben zu ertragen, und ich denke mir, daß er seiner Brudertreue dadurch ein großes Opfer brachte. Es war wohl auch zu spät für ihn, zu dem Kinde so herabzusteigen, daß dieses den Mut gewann, sich unbefangen gegen ihn auszusprechen. Nur zeitweise, und zumeist wenn ich einen dummen Streich gemacht hatte und der Oheim die Verpflichtung fühlte, das Treiben des Knaben strenger zu beaufsichtigen, arbeitete ich in seinem Zimmer, dann beharrten wir beide schweigend über den Büchern.

Alles war in dem stillen Haushalt weit reicher als daheim. Die Einrichtung der Zimmer, der Mittagstisch und sein Gerät, an den Wänden Bilder und gute Kupferstiche, große Glasschränke mit schönen gebundenen Büchern. Es war ein feierlicher Aufenthalt, in dem vornehme Geistergestalten aus alter und neuerer Zeit umgingen, aber für die warme Empfindung eines Kinderherzens und für den geselligen Verkehr mit anderen blieb nicht Raum, nicht Zeit, und ich vermute, daß dies abgeschiedene Daheim auch auf mein späteres Leben nachgewirkt hat. Zu sehr fehlte die Gewöhnung an die kleinen gesellschaftlichen Pflichten, welche durch den Verkehr in gebildeten Familien dem heranwachsenden Jünglinge zur anderen Natur werden; wählerisch und bis zu einem gewissen Grade willkürlich wurde auch die Beschäftigung mit den geistigen Interessen. Der Knabe wurde gewöhnt, allein für sich zu leben, seine sanguinische Heiterkeit und das Bedürfnis, sich bei Gelegenheit aufzutun, bewahrten ihn davor, in späteren Jahren ein Sonderling zu werden, der arm an Freunden durch die Welt geht; aber es blieb ihm immer, auch in Zeiten, wo er täglich mit guten Gesellen heiter verkehrte und die Freude hatte, Geltung unter ihnen zu gewinnen, ein Bedürfnis, für sich zu sein. Diese Selbständigkeit gereichte ihm manchmal zum Vorteil und Schutz. Aber ihm blieb auch im geheimen ein Gefühl, daß er in der frohen Gesellschaft ein Fremder sei, und ihm blieb die Gewöhnung, alles, was ihn stärker bewegte, allein zu tragen, zuweilen mit der Ueberzeugung, daß dies kein Glück sei.

Später habe ich mich gefragt, wie mein Verhältnis zum Oheim geworden wäre, wenn dieser die Zeit des Mannesalters an seinem Neffen erlebt hätte. Und ich habe beklagt, daß mir in jenen Jahren so völlig die Fähigkeit fehlte, sein Vertrauen zu gewinnen und ihm selbst von Herzen lieb zu werden. Wenn ich bedenke, wie lange er manchmal in stiller Betrachtung vor seinen Lieblingsblumen stand, und wie hell sein Auge leuchtete, wenn er von einem Buche aufsah, so kann ich den Gedanken nicht los werden, daß dieser ungewöhnliche Mensch nicht immer so enthaltsam in seinem Fühlen und in so leidenschaftsloser Klarheit und Ruhe gelebt hat. Was hatte ihm das pochende Herz in so feste Bande gelegt? Von seinem früheren Leben sprach er nie. Trug er im geheimen noch anderes Leid als die Trauer über die Mängel seiner Erscheinung? Aber was es auch war, ich denke, er trug es wie ein Mann.

Bei meiner Vorprüfung für das Gymnasium schüttelte der Direktor Körner das Haupt über die Unregelmäßigkeit meiner Kenntnisse. Er preßte mir Tränen aus den Augen, weil er meiner Versicherung nicht glauben wollte, daß lateinische Stellen, die er vorlegte, mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Aber er war ebenso erstaunt, daß ich von den Winkeln und Seiten eines Dreiecks gar nichts zu berichten wußte. So wurde ich für die Quarta bestimmt und saß dort ein halbes Jahr fremd und schüchtern unter Knaben, die meist jünger und kleiner waren. Von da stieg ich zu den unregelmäßigen griechischen Zeitwörtern der Tertia auf.

Das Lernen wurde mir leicht und einzelnes trieb ich mit Freude, aber den regelmäßigen Fleiß, welcher dem Kinde durch frühen systematischen Schulunterricht angewöhnt wird, erwarb ich nicht, ich blieb auch im Lernen selbstwählerisch und eigenwillig. Langweilige Hefte, welche nur nach längeren Zeiträumen eingefordert wurden, verfertigte ich am liebsten dicht vor der Ablieferung in Nachtarbeit. So hatte ich immer Muße, allerlei anderes zu treiben, was nicht immer förderlich war.

Ich hatte Geige und Noten mitgenommen und gehorchte eine Zeitlang dem Wunsche des Vaters, für mich fortzuüben; da aber die Anregung, welche das Hören von Musik gibt, gänzlich fehlte, und da die eigene Befähigung trotz der erlangten Fingerfertigkeit gering war, so blieb die Geige bald liegen. Dagegen kam die Lesewut. Aber nicht die gewählte Gesellschaft in der Bücherstube des Oheims fesselte zumeist, sondern die grauen Bände einer kleinen Leihbibliothek, Romane und abenteuerliche Geschichten. Ich las ohne Erbarmen gegen mich selbst und den Verleiher alles, was mir in die Hände kam. Glücklicherweise war damals diese volksmäßige Ware unschuldiger, als sie wohl jetzt ist. Die Ritter- und Räubergeschichten waren am reichlichsten vorhanden und ich verschlang mit Spieß und Kramer alle die öden Wiederholungen, welche nach gleichem Rezept gemacht sind. Dann kamen die alten Bekannten van der Velde und Tromlitz an die Reihe und viele andere.

Dort, in der dürftigen Herberge, welche die größten und die kläglichsten Geisteswerke gesellte, fiel mir zum ersten Male Walter Scott in die Hände. Die Fülle und heitere Sicherheit dieses großen Dichters nahmen mich ganz gefangen, durch ihn lernte ich ahnen, was der Dichtkunst die Charaktere bedeuten; ich las alle seine Romane mit immer neuem Entzücken durch. Bald freilich wurde Cooper mit den ersten Indianer- und Seeromanen in der Seele des Knaben sein Rival, beide sind mir noch heut Hausfreunde geblieben, mit denen ich oft verkehre. Und ich habe ihrer freudigen epischen Kraft vieles zu danken.

In der Klasse sagten wir Gedichte nach eigner Wahl her. Zum Vortrage trat der Aufgerufene in den freien Raum vor den Bänken und es wurden ihm dabei einige Handbewegungen zugemutet. Das war für jeden eine schwere Aufgabe, und der Neuling mußte sich einigemal gefallen lassen, daß die andern ihn auslachten. Ich hatte zum ersten Debut Bürgers Entführung gewählt und ich glaubte ein gutes Werk zu tun, als ich das lange Gedicht auswendig lernte. Aber der Vortrag kam nicht bis zum Ende, denn als ich bedrückt und kläglich mit vorgestrecktem Arm begann: »Knapp, sattle mir mein Dänenroß,« lachte der strenge Konrektor Kiesewetter, daß er schütterte, und die Klasse folgte ihm darin willig nach. Das wurde mir eine Lehre, ich wählte später Kürzeres mit weniger aufregendem Anfang, bis ich endlich durchsetzte, meine Sache so wohl und übel zu machen wie die übrigen. Aber die Poesie unserer großen Dichter? Allmählich, erst spät und ohne daß mir die Größe ihres Einflusses auf meine Bildung im Bewußtsein geblieben ist, kamen sie mir zu. Im ganzen ging es mir mit meiner Freude an der Poesie wie den meisten Menschen, welche in Empfänglichkeit und Verständnis fast ebenso fortschreiten wie die Nationen, zuerst fesselt vorzugsweise das Epische: Märchen und Geschichten, dann erwacht die sinnige Empfindung für das Lied und den Rhythmus, zuletzt im beginnenden Mannesalter das volle Verständnis für das Dramatische. Ich habe Schillers Dramen erst würdigen gelernt, als mir Shakespeare nicht mehr fremd war, die edle Schönheit der lyrischen Poesie Goethes aber gar erst als Mann.

Einige Halbjahre sind vergangen, der Knabe schießt in die Höhe und wird hager, er hat das Selbstgefühl eines alten Tertianers und beginnt in angeborener Neigung zur Bastelei ein Nebengeschäft. Durch einen Kameraden, ein Mündel des Oheims, wird er in die Geheimnisse der Feuerwerkerei eingeweiht, er dreht Hülsen, stampft Pulver, verfertigt farbigen Satz, formt Leuchtkugeln und quetscht mit Pulver gefülltes Papier zu Fröschen zusammen, dann zieht er mit seinem Gesellen des Abends in einen abgelegenen Garten oder gar in das freie Feld und zündet die häusliche Arbeit an. Das geriet eine Weile recht wohl. In meiner Dachstube hatte ich mir eine kleine allerliebste Feuerwerkerei eingerichtet, deren Gerät ich in meinem Koffer verwahrte und mit der ich meine Freistunden hoffnungsreich zubrachte. Nun war gerade etwas Großes im Werke, ich hatte viele Ellen Ludelfaden gefertigt und diesen in schwarzen Gewinden durch die Stube aufgehängt, damit er trockne. Da raunte mir ein Dämon zu, die Güte des Fadens an einem abgeschiedenen Stück zu erproben. Weh! er brannte nur zu gut, denn im Nu wurde die gesamte Zündschnur von der Flamme ergriffen, ein feuriger Strahl zuckte durch das Zimmer und dicker Pulverdampf umhüllte mich, ich stürzte zum Fenster, um ihn hinauszulassen und dann zur Tür, um mich selbst hinauszubringen. Der Dampf wirbelte ins Freie und auf die Treppe, die Leute, welche auf der Straße waren, schrien Feuer, der Hauswirt rannte entsetzt herzu. Als der Oheim nach Hause kam, wurde die Klage erhoben und der Missetäter erhielt eine wohlverdiente Strafpredigt und mußte geloben, dieser brotlosen Kunst sofort völlig zu entsagen. Der erste Zorn des Oheims war leichter zu ertragen als die kalte Nichtachtung, die er dem Frevler durch einige Zeit zeigte.

Wieder einige Semester, ich bin in Sekunda, der schwierigen Klasse, welche noch nicht Prima ist und wo man lernt, daß die griechische Partikel ἀν mit dem Indikativ gebraucht wird, wenn das Gegenteil in der Wirklichkeit stattfindet. Ich habe einen Freund, der etwas älter ist und in warmer Neigung zu mir hält; oft sitzt er mir lange gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen, fast wie der Ohm, er kommt mir aber zuweilen tyrannisch vor, weil er nicht leiden will, wenn ich mit anderen umherstreife. Mit ihm ziehe ich auf das Gut, das sein Vater in der Nähe gepachtet hatte, wir nehmen Gewehre und gehen auf die Jagd, er ein guter Schütze, ich bis dahin nur mit Pfeil und Bogen. Er lehrt mich die nötigen Griffe und wir kommen an ein kleines Wasser, er zeigt mir etwas, was ein wenig über die Oberfläche hervorragt, und sagt leise: »schieß.« Das tue ich ganz nach seinem Wunsch, der Gegenstand ist verschwunden, ein gefälliger Hund, der uns begleitet, stürzt sich ins Wasser und bringt eine Ente mit abgeschossenem Kopf. Ich hoffe, daß es eine wilde war, doch bin ich, wegen der langen Zeit, welche seitdem vergangen ist, nicht sicher. Als ich das arme Geschöpf sah, dachte ich reuig an Matz. Dies ist der einzige Jagderfolg, den ich in meinem Leben aufzuweisen habe. Aber auch die Treffer an der Scheibe wurden mir nicht leicht.

Denn zu Oels hatte ich beim Unterricht gemerkt, daß ich sehr kurzsichtig war. Als ich das in den Ferien dem Vater klagte, riet er mir, mich doch ohne Brille durch die Welt zu schlagen, und erzählte mir von der Hilflosigkeit eines Theologen, der ihn einst am Morgen aus dem Bett angefleht hatte, ihm seine Brille zu suchen, damit er die Beinkleider finden könne. Dem Rat blieb ich folgsam, ich habe nur im Theater und vor Bildern die Gläser gebraucht. Die Beschwerden, welche dieser Mangel in größerer Gesellschaft bereitet, suchte ich zu überwinden und ging arglos an manchem vorüber, was einen schärferen Beobachter beunruhigen konnte. Die Freude an Blütenpracht und Schmuck der Kleider, an merkwürdigen Gesichtern und an Frauenschönheit, den strahlenden Blick, den holden Gruß aus der Ferne mußte ich oft entbehren, während sich andere daran freuten. Aber da die Seele sich behend in Mängel der Sinne einrichtet, so entwickelte sich schon früh in mir ein gutes Verständnis solcher Lebensäußerungen, die in meine Sehweite kamen, und ein schnelles Ahnen von vielem, was mir nicht deutlich wurde; die geringere Zahl der Anschauungen gestattete, die empfangenen ruhiger und vielleicht inniger zu verarbeiten. Jedenfalls war der Verlust größer als der Gewinn. Darin aber hatte der Vater recht, meine Augen bewahrten durch das ganze Leben unverändert den scharfen Blick in der Nähe.

In dem letzten Jahre vor dem Tode des Oheims wurde ich des Alleinseins enthoben. Er nahm auch meinen Bruder, der auf das Gymnasium kam, in mein Zimmer und an seinen Tisch. Aber die Gegenwart des lieben Knaben änderte nichts in der Hausordnung, und für mich war der Stubenkamerad noch zu klein, um mein Vertrauter zu werden.

Das Allerbeste aber blieb, solange ich die Schulmappe trug, die Heimkehr in das Vaterhaus. Sie wurde mir fünfmal im Jahre zu den Ferien vergönnt, ich denke, daß die Eltern sich nicht weniger danach sehnten als das Kind. Doch war die Reise von neun Meilen bei damaligen Verhältnissen keine Kleinigkeit, sie dauerte einen ganzen Tag, der Weg war noch nicht Kunststraße, die Post fuhr sehr langsam, zum Teil in der Nacht. Deshalb ließ der Vater mich jedesmal durch ein gemietetes Fuhrwerk abholen und zurückbringen. Dies war ein großer Korbwagen mit grauer Plane, die über starke Faßreifen gespannt wurde; das Hineinkriechen war mühsam, die Luft darin erhielt durch den vereinigten Geruch von Heu und Pech ein Aroma, welches dem Knaben auf dem Wege zur Heimat recht anmutig war, das Strohbund des Sitzes wurde durch eine aufgelegte Pferdedecke vornehmer gemacht, man tat aber gut, sich in der Mitte zu halten. Bei trocknem Wetter trabten die Pferde und rasselte der Wagen in einer Staubwolke dahin, bei Regenwetter aber drang das Naß des Himmels unvermeidlich in das Gehäuse, worin der Reisende eingepuppt war, und alles Bemühen, die Tropfen von Wangen und Nase abzuleiten, blieb vergeblich. Dann verwandelte sich auch der Weg in Morast, die Löcher wurden gefährlich und der Insasse mußte sich an den Seiten festhalten, um das Gleichgewicht zu bewahren. Auf der Mitte des Weges, in Namslau, wurde bei Verwandten Mittag gemacht, erst am späten Abend fuhr der Wagen durch das Tor der Vaterstadt. Im Winter aber wurde bei hohem Schnee, der in meiner Heimat reichlicher fällt als im deutschen Westen, das Fortkommen schwierig, dann blieb das Gespann zuweilen in einer Schneewehe stecken, der Fuhrmann stieg ab, stapfte den Pferden eine Bahn und forderte von mir, daß ich ihm dabei helfen solle. In der Regel fuhr derselbe Ackerbürger, ein Pole, der jedoch im Laufe der Jahre dem Branntwein unterlag, überall einkehrte und schwer aus den Schenken fortzubringen war. Die letzte Fahrt mit ihm schuf Not. Ich war bereits ziemlich herangewachsen und hatte den Bruder bei mir, welcher kurz vorher auf das Gymnasium gekommen war. In der Luft war ein wildes Schneetreiben, der Weg durch hohen Schnee fast unfahrbar; der Fuhrmann war schon berauscht, als er uns am frühen Morgen abholte, und hatte nach einigen Meilen Fahrt sich in einen gefährlichen Zustand versetzt. Er hielt mit dem Wagen in einer Schneewehe still, zog ein polnisches Gesangbuch aus der Tasche und fing laut zu singen an. Da diese Frömmigkeit unter der Plane uns nicht vorwärts brachte und gutes Zureden nichts half, ergriff ich endlich die Zügel und trieb die Pferde an. Dies aber gefiel ihm nicht, er geriet in Wut, zog ein großes Messer aus der Tasche und fuchtelte damit drohend gegen uns. Und ich erkannte in seinen Augen ein häßliches Licht, welches der Teufel anzündet, wenn ihm gelungen ist, sich im Hirn festzusetzen. Endlich glückte es, ihn durch freundliches Klopfen auf die Schulter und gutes Zureden so weit zu bringen, daß er wieder die Zügel ergriff. Doch derselbe Anfall mit Messerschwingen wiederholte sich einigemal, und es war Abend, als wir in Namslau ankamen. Dort eilten wir zu den Verwandten und fuhren am nächsten Morgen in anderem Wagen nach Hause. Unser untreuer Fuhrmann, für den in der Herberge die nötige Vorsorge getroffen war, fand sich erst den zweiten Tag darauf ein, sehr reuig, er fiel nach polnischer Weise vor dem Vater auf die Knie und erhielt auch Verzeihung. Aber das alte Bundesverhältnis hörte auf.

Ein halbes Jahr, bevor ich in die Prima kam, starb mein Oheim nach kurzer Krankheit, während wir zu den Ferien daheim waren. Seine Bibliothek wurde versteigert, und ich zog mit dem Bruder in ein Bürgerhaus und erhielt die Verpflichtung, über den jüngeren Aufsicht zu üben. Ich hatte jetzt Freiheit genug, auch die Gesellschaft stellte sich ein, denn unsere Wohnung wurde ein Hauptquartier meiner Kameraden. Die Prima hatte wenig Schüler, aber diese hielten gut zusammen, sie bildeten eine kleine Verbindung, die nach Studentenbrauch an Mütze und Pfeifenquasten eigene Farben trug, soweit dies geschehen durfte ohne auffällig zu werden. Es war ein harmloses Spiel und ich vermute, daß die Lehrer es wohl bemerkten, aber darüber hinwegsahen. Familienverkehr fehlte mir auch jetzt, doch nahm ich Tanzstunden, welche in einem Privathause für einen kleinen Kreis eingerichtet wurden, und trat in zarte Beziehungen zu jungen Damen, welche dort für die Gesellschaft vorbereitet wurden. Indes kann ich nicht sagen, daß diese Stunden mich übermäßig in Anspruch nahmen, auch die Annäherung an höhere Weiblichkeit blieb für mich ohne Bedeutung und hörte mit den Tanzstunden auf.

In Prima verweilte ich drittehalb Jahr, zwei Jahre als Primus; ich wurde nicht meiner Verdienste wegen so früh zu dieser Würde befördert, sondern weil alle meine Vordermänner zur Universität abgegangen waren. In den letzten Jahren lernte ich tüchtig, der Direktor war mir gewogen und sah mir wohl auch manches nach; auf seinen Wunsch blieb ich ein halbes Jahr länger als vielleicht nötig gewesen wäre, und ich habe nicht Ursache gehabt, dies zu bereuen.

 


 << zurück weiter >>