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4. Alles verwandelt

August wanderte zu Fuß der Heimat zu. Er hatte die Garnison in heller Freude verlassen, eine Strecke begleitet von dem Sekondeleutnant. Als dieser beim Abschiede traurig sagte: »Du bist glücklich, Bruder, daß du Eltern hast, die sich auf dich freuen. Eine Waise wie ich hat keine andere Heimat als bei der Fahne«, da empfand August mitleidig, wie groß das Unglück des Kameraden war, aber ihm selbst schwand nach diesen Worten plötzlich die frohe Zuversicht. Auch als er weiterzog über die braune Heide, in dürftigem Nadelwald und durch armselige Dörfer, blieb ihm eine Bangigkeit, über die er sich selbst wunderte. Oft hatte ihn der harte Dienst und das knappe Leben bedrückt, jetzt, wo er sich in größerem Wohlstand bei seinen Angehörigen zwanglos tummeln wollte, kam ihm vor, als trenne er sich von Glück und Hoffnung. Sein ehrlicher Hauptmann wollte ihm nicht aus dem Sinn, auch an die arme Friederike mußte er denken, wie sie die Trennung vom Vater ertragen werde, und vergebens mühte er sich, die Gedanken nach vorwärts zu richten und die Freuden des Wiedersehens auszumalen. Als er an einem sonnigen Sommerabend das erste sächsische Dorf erreichte, schallte ihm aus dem Wirtshaus Tanzmusik entgegen. Selbst dieser lustige Gruß, den das Vaterland bot, nahm ihm die Beklemmung nicht von der Brust; er fragte hastig die Wirtin, ob kein Wagen vom Gute der Eltern ihn erwarte. Es war keiner da, und doch wußten sie zu Hause den Tag seiner Ankunft. Die Wirtin sah ihn so seltsam an, als er seinen Namen nannte: »Es ist dort großes Feuer gewesen,« sagte sie, »der Gutshof ist abgebrannt.«

Das also war es, was er ahnend vorausempfunden, und ihm kam vor, als sei dies das Ärgste noch nicht, was er erfahren solle. Nach kurzer Rast brach er auf und ging im Mondenlicht weiter. Er kam in die Gutsflur, er sah die Brandstätte, aus welcher noch weiße Rauchwolken aufstiegen, vor sich. Das alte Wohnhaus wenigstens war erhalten, denn dort bewegten sich Lichter, aber niemand empfing ihn; er schritt durch die leere Wohnstube, riß die nächste Tür auf und sah seine Mutter und den Bruder regungslos an einem Bett sitzen und darauf seinen Vater ausgestreckt, regungslos und tot. Da warf er sich am Lager nieder und merkte in seinem heißen Schmerze nicht, daß die Mutter und der Bruder neben ihm niederknieten und ihn mit ihren Armen umschlangen.

Das Feuer war bei Nacht in den Wirtschaftsgebäuden ausgebrochen, der Hofherr hatte sich übermäßig angestrengt, das Vieh zu retten, den Tag darauf war er, vom Herzschlage getroffen, dahingesunken.

Nach den Tagen dumpfen Schmerzes saßen drei Unglückliche zusammen und fragten, wie sie das Leben fortan ertragen sollten. Der Tod eines guten und kräftigen Mannes, sowie der Verlust, welcher vorausgegangen war, hatten der Familie fast alles unsicher gemacht; der Wohlstand war in geldarmer Zeit tief erschüttert, die Gebäude wieder aufzubauen, den Verlust an Vieh und Gerät zu ersetzen, die Wirtschaft fortzuführen erwies sich als schwer, und obgleich die gute Großmutter in der Stadt bereit war, nach Kräften auszuhelfen, so wurde doch der Beistand eines zuverlässigen Ratgebers unentbehrlich. Auch für die Söhne mußte ein Vormund bestellt, und sein Rat über die Zukunft der Jünglinge eingeholt werden. Nächster Verwandter der Mutter war Herr von Mickau, der in der Nähe ein Rittergut besaß und für einen erfahrenen Geschäftsmann gehalten wurde. Der Mutter galt seine Wahl als selbstverständlich; zwar erhob Fritz bescheiden den Einwand, daß der Vater von der geschäftlichen Umsicht des Herrn Vetters nicht immer eine gute Meinung gehabt habe, aber der Mutter blieb der Gedanke unerträglich, einem anderen Einblick und Verfügung in ihren Angelegenheiten zu gestatten.

Herr von Mickau, ein kleiner gewandter Mann von höflichem und aufgewecktem Wesen, hatte früher sorglos gelebt und dem Hofe als Kammerjunker seine Dienste gewidmet, sich aber zu rechter Zeit, bevor sein väterliches Erbe vertan war, auf das Gut zurückgezogen; er hatte am Hofe noch immer gute Verbindungen, und war Vertreter des benachbarten Landadels bei Staatsaktionen und feierlichen Anreden. Der Herr erklärte sich bereit, die Vormundschaft zu übernehmen und gab verständigen Rat in so einnehmender Weise, daß auch Fritz nichts dagegen einzuwenden wußte. Es wurde beschlossen, daß der ältere Sohn nach Leipzig zurückkehren solle, seine Studien zu beenden, der jüngere aber während des Urlaubs als Beistand der Mutter zurückbleiben. Beim Abschiede sagte Fritz dem Bruder: »Wir sind im Wohlstande aufgewachsen und vielleicht in manchem verwöhnt. Mir ahnt, daß wir beide einmal in die Lage kommen werden, auf das angewiesen zu sein, was wir selbst verdienen. Laß uns immer daran denken.«

Für Madame König war in ihrer Trauer der einzige Trost, daß sie sich auf ihren Liebling stützen konnte, und daß dieser im Hofe und unter den Bauleuten mit einer Umsicht und Sicherheit gebot, welche weit über seine Jahre gingen. Als aber der Urlaub dem Ende nahte, bestand die Mutter leidenschaftlich darauf, daß August seine Entlassung aus dem preußischen Dienst fordere, weil er ihr unentbehrlich sei. Der Sohn widersprach ehrerbietig, doch auch der Vormund stellte sich auf Seite der Mutter und riet: »Dem schriftlichen Gesuch an die Kompanie muß der Form wegen ein ärztliches Zeugnis beigelegt werden, welches den Gesundheitszustand meines Neffen als ungenügend darstellt, denn auf die Änderung der Familienverhältnisse würde bei einem Ausländer keine Rücksicht genommen werden.« Das Zeugnis eines gefälligen Arztes wurde leicht beschafft und ging mit dem Abschiedsgesuch an den neuen Hauptmann der Kompanie. Gleich nach dem Tode des Vaters hatte August dem Major Vogt geschrieben, aber er hatte auf diesen Brief keine Antwort erhalten und später zufällig erfahren, daß der Major gar nicht mehr beim Regiment stehe, sondern weit hinaus an die holländische Grenze kommandiert sei.

Auf die Eingabe erfolgte in kürzester Zeit eine höfliche Antwort des früheren Premierleutnants von Klotzing, welcher jetzt die Kompanie als Hauptmann führte, daß die Aushändigung des Entlassungsscheins nur erfolgen könne, wenn Monsieur König sie persönlich in Empfang nehme; es sei deshalb eine Rückkehr in die Garnison und vielleicht eine Reise ins Stabsquartier notwendig.

Mit schwerem Herzen machte sich August auf den Weg. Widerwillig hatte er den Tränen der Mutter und dem Drängen des Vormundes nachgegeben, jetzt erschien ihm die Sache nicht so leicht, als der Vetter sie dargestellt, und bei seiner Ankunft in der Garnison war ihm zumute wie einem Verbrecher, der vor seinen Richter treten soll.

Und so war auch der Empfang, der ihm zuteil wurde. Der Hauptmann begrüßte seinen Freikorporal mit den Worten: »Es ist mir lieb, Monsieur, daß ich Euch hier habe«, holte von dem Aktenbrett das ärztliche Zeugnis, welches dem Gesuch beigelegt war, zerriß das Papier und warf es vor Augusts Füße. »Wie konntet Ihr Euch unterstehen, mir mit solchen elenden Flausen zu kommen? Ihr habt Euch mit Worten vor des Königs Majestät und durch Revers gegen das Regiment verpflichtet, im preußischen Dienste zu bleiben und seid deshalb zur Fahne avanciert. Wenn Ihr meint, daß es noch in Eurem Belieben steht, zu bleiben oder zu gehen, so will ich Euch lehren, Euer gegebenes Wort zu halten. Geht zur Stelle in Euer Quartier und tretet morgen bei der Kompanie an.« Und als August Vorstellungen erheben wollte, rief er mit einem Fluche: »Hinaus! Ich werde Euch Eure sächsischen Mucken vertreiben.« Der Korporal trat, bleich von mühsam bekämpftem Zorn, auf die Straße, als ein Gefangener, der in seinen Kerker geschickt wird. Leider war der erwähnte Revers vorhanden; der junge Korporal hatte ihn nach der ersten gnädigen Anrede des Königs unterschrieben, als eine bloße Förmlichkeit, die bei jedem Fremden, der in die preußische Armee trat, gebräuchlich war. Jetzt wurde die Unterschrift zu einem furchtbaren Gebot für die Tage seiner Zukunft. Als er in sein Quartier kam, vernahm er noch in Betäubung den warmen Gruß und die tröstende Zusprache seiner alten Unteroffiziere. Den ganzen Tag saß er wie erstarrt. Er mußte unaufhörlich an das Leid der Mutter denken, und was ihn am tiefsten demütigte, er war mit sich selbst unzufrieden, denn er hatte dem Hauptmann ein Recht gegeben, ihn rauh zu behandeln. Aber er war auch lange genug Soldat gewesen, um sich einem übermächtigen Zwange zu fügen. Deshalb trat er nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tage vor den Hauptmann und begann ehrerbietig: »Ich bitte den Herrn Kapitän, mein Versprechen anzunehmen, daß ich mir im Dienst redlich Mühe geben und Seiner Majestät als honetter Soldat meine Treue erweisen werde, solange höchster Wille mich an der Fahne festhält. Vielleicht gewährt der Herr Kapitän späterhin einem Gesuch um den Abschied sein geneigtes Fürwort, wenn derselbe im Laufe der Zeit die Überzeugung gewinnen sollte, daß ich seiner Teilnahme nicht unwürdig bin.« Der Hauptmann aber versetzte darauf mit finsterer Miene: »Wer mit dem Gedanken umgeht, den Dienst zu verlassen, der ist in der Kompanie wenig nütze, und ich sage Euch deshalb geradeheraus, daß ich weder jetzt, noch in der nächsten Zukunft Eure Entlassung favorisieren werde. Erweist Ihr Euch als widerspenstig und unbrauchbar, so soll Euch hier bei uns der Teufel holen; und seid Ihr eifrig, wie Ihr mir versprochen habt, so kann Euch die Kompanie jetzt weniger entbehren als früher, da Ihr die Leute und die Umgegend kennt.«

Unter so trüben Aussichten begann August wieder den täglichen Dienst. Von den Offizieren war sein Freund Brösicke als Premierleutnant zu einer andern Kompanie versetzt, mit den neuen Leutnants, welche ihn kalt und abgeneigt betrachteten, kam er in kein gutes Verhältnis. Er erfuhr, daß Major Vogt vom Könige geadelt worden, wie bei höheren Offizieren Brauch war, und daß er immer noch auf Kommando abwesend sei.

Was den Korporal ein wenig mit seinem Schicksal versöhnte, war die französische Stunde. Mit zierlichen Worten und mit aufrichtiger Freude hatte ihn Monsieur Roncourt begrüßt, und bald plauderte der Alte wieder von dem früheren Kapitän und von seiner lieben Demoiselle. Das Mädchen lebte noch eingezogener als sonst, und wie der Franzose versicherte, waren er selbst und der Stieglitz die einzigen männlichen Charaktere, mit denen sie verkehrte. Es dauerte lange, ehe der Jüngling ihr begegnete, obgleich er immer bei ihrer Wohnung vorüberging, sooft er die Wache visitierte. Als er sie endlich einmal auf der anderen Seite der Straße erblickte, eilte er mit beflügeltem Schritt auf sie zu, und erst als er ihr nahegekommen war, fiel ihm sein Versprechen ein, errötend hielt er mitten auf der Gasse an und nahm den Hut ab, wie vor einer Dame vom höchsten Stande. Mit Erröten und tiefer Verneigung dankte auch sie, und der teilnehmende Ernst, mit welchem sie auf ihn sah, gab ihm die Überzeugung, daß sie an seinem Schicksal Anteil nehme. Dabei blieb es freilich zwischen beiden, er grüßte, sie dankte, und Monsieur Roncourt trug, ohne es zu wissen, Botschaft hin und her.

Aber auch über dieses Verhältnis warf das Schicksal einen Trauerflor. Als Roncourt einst bei seinem Schüler eintrat, zog er sein Taschentuch und begann feierlich: »Monsieur König, ich kann heut nicht das Vergnügen Ihrer Konversation genießen, weil mir das Gemüt zu sehr bewegt ist. Ich habe soeben die Verzweiflung der Demoiselle Friederike angesehen; ihr Vater ist in Friesland bei seinem Werbegeschäft von einem rachsüchtigen Deserteur, der ihn hinter der Verkleidung entdeckte, erschossen worden.«

Auch dem Jüngling brachen die Tränen aus den Augen, ihm fiel die letzte Stunde ein, in der er seinen alten Hauptmann gesprochen hatte, und daß dieser Tod dem Mädchen alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zerstörte. Die beiden Vertrauten saßen kummervoll einander gegenüber, bis der Jüngere rief: »Was wird die Demoiselle jetzt beginnen?«

»Das ist mein größter Gram,« antwortete Roncourt, wieder nach dem Tuche greifend, »sie kann sich hier nicht allein erhalten, obwohl sie im Nähen geschickt ist und von den Kaufmannsfrauen zuweilen Arbeit erhält. Bis jetzt hat ihr der Vater jeden Monat einen Teil seines Soldes auszahlen lassen. Ach, Monsieur, es wäre mir eine Freude und Ehre, könnte ich ihr einiges von meinem Stundengelde, das ich nebenbei verdiene, zugehen lassen. Aber sie würde es in keinem Falle annehmen, und wenn sie verhungern sollte, denn darin hat sie den Stolz ihres Vaters.«

»Man müßte etwas erfinden, was ihr die Annahme möglich macht«, rief August.

»Das wäre gut,« sagte der Franzose, »aber was?«

Der Jüngling überlegte: »Wollen Sie versprechen, mich niemals zu verraten, so würde auch ich unserem guten Hauptmann zuliebe gern etwas beitragen. Sie wissen, daß ich seiner Güte viel verdanke und daß ich von Hause weit größeren Zuschuß habe, als ich bedarf.« Das letzte war eine fromme Lüge.

Roncourt schüttelte den Kopf: »Wenn ich als alter Knabe eine Wenigkeit für das Kind meines seligen Kapitäns abgebe, so ist das in der Ordnung; Sie aber sind ein junger Herr, und ich weiß nicht, ob ich im Interesse der Demoiselle Ihr gutherziges Erbieten annehmen darf.«

»Machen Sie sich das nicht schwer,« überredete August, »ich gebe nicht dem fremden Mädchen das Geld, sondern, wenn Sie erlauben, Ihnen. Das Honorar, welches Sie seither von mir anzunehmen die Güte hatten, war viel zu niedrig. Sie gestatten mir, daß ich es erhöhe. Wie Sie es verwenden, ist Ihre Sache und geht mich nichts an.«

»Das ist ein Vorschlag«, sagte der Franzose, immer noch bedenklich. Doch August fuhr eifrig fort: »Gegen das Fräulein geben Sie vor, daß ein alter Kamerad des Vaters brieflich bei Ihnen angefragt habe, an wen er von jetzt die monatlichen Abzahlungen einer alten Ehrenschuld, die er seither dem Hauptmann zugesandt, adressieren solle.«

»So kann es gehen,« stimmte der Alte bei, »erfinden Sie noch den Namen und den Ort.«

»Beides will der Schuldner geheimhalten und sich nur Ihnen anvertrauen«, belehrte der begeisterte Dichter. »Vielleicht hatte der Schuldner einen Kassendefekt begangen und ist durch die Hilfe des Hauptmanns vor der Verzweiflung gerettet worden.«

»Sie sind ein Diplomat und voll von Einfällen«, antwortete Roncourt mit Bewunderung. Auf diese Verabredung gaben die beiden einander die Hand.

Für den Jüngling begann eine Zeit unerhörter Wirtschaftlichkeit. Der kleine Zuschuß, welchen er seit dem Tode des Vaters noch erhielt, wurde von jetzt jeden Monat dem Franzosen gezahlt, und der Freikorporal sah sich auf seinen Sold beschränkt. Es war eine schwere Zumutung, die er sich gestellt hatte, aber er setzte seinen Willen siegreich durch, strich unbarmherzig jede Ausgabe, die er irgend vermeiden konnte, und erfocht in der Stille viele kleine Triumphe über die eigene Begehrlichkeit. Als Knabe hatte er gut verstanden, sich Genüsse zu erschmeicheln, jetzt zwang ihn ein wunderliches Verhältnis, sich unablässig Entbehrungen aufzulegen. Doch die größte Entbehrung entstand ihm dadurch, daß er sich selbst eine neue Schranke errichtet hatte, welche ihn von näherer Bekanntschaft mit dem Mädchen schied. Denn er mußte jetzt nicht nur den Willen eines Verstorbenen ehren, sondern auch sein eigenes gutes Werk. Eins freilich war durchaus nicht zu vermeiden. Er sah die Demoiselle fortan öfter, wenn auch nur von weitem. Denn sooft er der Versuchung entgehen wollte, mit seinen Kameraden einige Groschen im Wirtshaus auszugeben, brachte er die Zeit damit zu, daß er spazieren ging. Auf solchen Gängen kam er an ihrem Hause vorüber. Als er sie zum erstenmal nach dem Tode ihres Vaters in Trauerkleidern am Fenster sitzen sah, blieb er stehen, sie aber öffnete das Fenster. Da reichte er ihr seine Hand hinein, sie hielt die Hand fest und weinte, und er sagte: »Auch ich habe meinen Vater verloren.« Das war alles, und dagegen hätte auch der Hauptmann nichts einwenden können. Wenn der Jüngling seitdem um diese Stunde vorüberkam, fand er das Mädchen fast immer hinter den Scheiben bei der Nähterei sitzen. War das Wetter leidlich, dann hing der Vogel im Bauer vor dem Fenster, so daß August zuletzt mutmaßte, sie habe ihn als Geber erkannt. Am Sonntag aber fand er sie regelmäßig in der Kirche, denn auch diese ehrwürdige Stätte besuchte er jetzt fleißiger als sonst. Sie mußte bei ihm vorüber, wenn sie eintrat und hinausging, und er beobachtete während des Gottesdienstes scharf ihre Andacht, nicht gerade zum Vorteil der seinen. Ja, zu der Neigung des stillen Liebhabers kam ihm etwas von der zärtlichen Sorgfalt eines Vaters. Er fing an, sich um ihre Kleidung zu kümmern, und wie er merkte, daß ihr ein warmer Wintermantel fehle, hatte er an jedem kalten Tage bitteren Verdruß. Als ihm gegen Weihnacht der Fuhrmann von Frankfurt an der Oder die Kiste heranfuhr, welche die Mutter gefüllt hatte, da lud er am Abend vor dem Fest den alten Franzosen zu Gaste und widmete diesem das gesamte anmutige Beiwerk: ein Marzipanherz, Äpfel und Nüsse. Und Roncourt empfing die Sachen so vergnügt, daß August nicht im Zweifel blieb, wohin der Alte sie tragen würde.

Für die Armee kam ein unruhiges Jahr; der König hatte geboten, alle Landeskinder in Dorf und Stadt, welche nach Stand und Beschäftigung dienstpflichtig waren, aufzuzeichnen. Jeder von diesen erhielt eine rote Halsbinde, die er fortan zu tragen hatte, und jedem Regiment wurde eine Anzahl dieser Aufgezeichneten überwiesen, in der Regel die Leute aus der Umgegend seiner Garnisonen. Da nun die Bezirke nicht sofort abgegrenzt wurden, gab es Eifersucht zwischen den Regimentern, Streit mit den Ortsbehörden und Kampf gegen die Widersetzlichkeit der einzelnen Leute, und darum, was den Kompanien am lästigsten war, eine endlose Schreiberei. Niemals zu irgendeiner Friedenszeit war das Heer in solcher Schreibertätigkeit gewesen, und niemals hatten die Hauptleute so zornig mit Redensarten um sich geworfen, die in der Bibel nicht zu finden sind.

Auch der Korporal hielt in diesem Jahr weniger die Fahne in der Hand als die Feder, und er büßte für seine kursächsische Bildung dadurch, daß er in seiner Kompanie einen großen Teil der Schreiberei besorgen mußte.

So verging der Winter und das Frühjahr, das Regiment wurde diesmal nicht zur Revue gezogen, und August fand keine Gelegenheit, seine Entlassung zu betreiben. Er selbst war in dem Einerlei des Dienstes still und ernst geworden, ein fester Soldat, der gelernt hatte, harter Pflicht zu gehorchen, und er fühlte die Öde seines Daseins fast nur an den Tagen, wo er einen Brief der Mutter erhielt oder einen des Bruders, der in seiner glücklichen Freiheit ihm jetzt oft schrieb und zu geduldigem Ausharren mahnte. Ach, die Nachrichten aus der Heimat machten das Herz nicht leichter, die Mutter oft krank, dazu Geldsorgen und Gutsärger; auch von Dorchen vernahm man wenig, sie aß auf ihren Silbertellern in der Einsamkeit, die Cousine war immer noch leidend, und was am meisten zu denken gab, Frau von Borsdorf sah bekümmert aus und hatte nur einmal verlauten lassen, daß Jesuiten in dem Schlosse aus- und eingingen.

August wußte, daß der Hauptmann ihn nicht leiden mochte und fortwährend mit Mißtrauen betrachtete, obgleich seine Hilfe in dieser Zeit wertvoll war; deshalb erwartete er auch nichts Gutes, als er an einem Morgen mit ungewöhnlicher Höflichkeit angeredet wurde: »Monsieur König, Ihr sollt mir und der Kompanie einen Dienst leisten und für einige Wochen auf Kommando gehen. Ihr habt unsere Ersatzleute, welche hie und da in der Neumark wohnen, aufzusuchen und mit Pässen zu versehen, neue Burschen einzuschreiben und Euch nach verlorenen Leuten zu erkundigen. Betrachtet dies Kommando als einen Beweis meines Vertrauens; bin ich in dieser Sache mit Euch zufrieden, so will ich sehen, wieweit ich Euren Wünschen entgegenkommen kann.« Seit lange war unter den Offizieren von diesem lästigen Auftrage die Rede gewesen, der nicht dem Fahnenkorporal zukam, sondern dem Premierleutnant. Da der Korporal schweigend in straffer Haltung stand, fragte der Vorgesetzte: »Nun, habt Ihr etwas zu bemerken?«

»Ich stehe zu Befehl.«

»Ihr nehmt einen unserer Leute mit, der zuverlässig und in der Gegend gut bekannt ist, Ihr mögt ihn auswählen.«

»Ich bitte den Herrn Kapitän, selbst den Mann zu bestimmen«, versetzte der Korporal.

Das war dem Hauptmann unlieb, weil er die Verantwortung für den Mann gern dem Untergebenen zugeschoben hätte, doch sagte er nach einigem Nachdenken: »Nehmt den Böttcher. Er soll nur das Seitengewehr tragen, damit er vor den Leuten für einen Beurlaubten gelten kann. Ihr geht noch heut ab.«

Böttcher war ein Landeskind aus der Neumark, er hatte sich nach abenteuerlichem Leben vor mehreren Jahren freiwillig anwerben lassen und stand als verwegener Gesell und Spaßmacher der Kompanie bei dem Hauptmann in Gunst, obwohl sein Rücken mehr als einmal mit den Spießruten Bekanntschaft gemacht hatte. August fand bald Grund, sich zu der Wahl Glück zu wünschen, denn Böttcher erwies sich als ein Schlaukopf, welcher den unangenehmen Teil des Geschäftes mit Behagen auf sich nahm.

»Herr Freikorporal,« sagte er auf dem Wege, »die Bauern und auch die Schulzen sind wegen der roten Halsbinden ängstlich und widerbellig und werden Ihnen die Leute vertuschen. Verraten Sie nichts von unserem Kommando, wenn wir an einen Ort kommen; ich werde tun, als ob ich auf Urlaub gehe und nur zufällig mit Ihnen zusammengetroffen bin, und ich werde vorher spionieren.« Das tat der Schelm, in jeder Dorfschenke erzählte er den Anwesenden Schnurren, gab vor, daß er aus der Umgegend stamme, und erkundigte sich mit erlogener Teilnahme nach seinen alten Bekannten, den jungen Burschen, deren Namen in der Liste standen oder die er im Nachbardorfe erkundet hatte. Waren die Leute ermittelt, so führte er seinen Korporal zu ihnen, damit dieser den Paß einhändige, durch welchen sie für Zugehörige der Kompanie erklärt wurden. Dabei verlief kein Tag ohne ärgerliche Abenteuer. Gleich im Anfange, als sie das Haus eines Tagelöhners betraten, welcher drei Söhne hatte, verweigerten der Vater und die Söhne trotzig, die Pässe anzunehmen, und als endlich ernste Vorstellungen und Drohungen die Familie erschreckt hatten, begann ein herzzerreißendes Wehklagen und Schluchzen, und die Braut des ältesten Sohnes umklammerte die Füße des Korporals, so daß dieser Mühe hatte, die Fassung zu bewahren und tröstend versprach, wie er sich bemühen wolle, dem Bräutigam eine Heiratsbewilligung vom Hauptmann auszuwirken und auf Grund derselben Befreiung vom Dienste. Ein anderer Bursch wies den Paß zurück, weil er bereits bei einem benachbarten Regiment eingeschrieben sei, und August stieß feindlich mit einem Major dieses Regiments zusammen, welcher ihn heftig bedräute, weil er einen Mann seiner Rolle wegnehmen wolle und ihm selbst in Aussicht stellte, daß er ihn geschlossen zu seinem Regiment zurückschicken werde. Aber der Korporal ließ sich nicht beirren und drohte wieder: »Wenn der Herr Oberstwachtmeister glauben, hierzu berechtigt zu sein, so muß ich es mir gefallen lassen; ich weiß aber, daß mich Seine Hoheit der Markgraf kräftig verteidigen wird, da ich nur nach der Order meiner Vorgesetzten gehandelt habe.« Darauf wurde der Major sanftmütiger und verglich sich zuletzt mit dem Korporal, daß der Fall höchster Entscheidung vorgelegt werden solle. Wieder ein anderer Eingeschriebener hatte durch den Offizier eines anderen Regiments bereits die Erlaubnis zur Verheiratung erhalten, und der Korporal mußte bei dem Ortspfarrer im Namen seines Regiments gegen die Heirat Einspruch tun. Auch der alte, würdige Geistliche weigerte sich, diesen Protest anzunehmen, bis August ihm erklärte: »Ich stehe hier, um dem Befehl des Königs Gehorsam zu verschaffen; wollen Euer Ehrwürden diesem Befehl widerstehen, so tun Sie es auf Ihre Gefahr, ich aber verlasse Ihr Haus nicht, bis Sie mir einen Empfangsschein über den eingelegten Protest gegeben haben.« Da klagte der Pfarrer bekümmert: »Solange ich lebe, ist mir keine solche Zumutung von einem Unteroffizier gestellt worden«, aber er schrieb den Schein. Auch die verlorenen Leute des Regiments machten Mühe; der eine war vom Urlaub nicht zurückgekehrt, sondern hatte, um Handgeld zu erhalten, sich bei einem Garnisonbataillon anwerben lassen und mußte nach langem Hin- und Herreden aus dem Gliede herausgeholt werden; ein anderer hütete in der Montur eines benachbarten Regiments die Schafe und gab sich für einen Beurlaubten aus, es erwies sich aber, daß er den Rock nur gekauft hatte, um sich dem Dienste der Kompanie zu entziehen.

In dieser ungemütlichen Beschäftigung durchzog der Korporal mit seinem Begleiter mehrere Wochen die Landschaft. Sein Auftrag war beinahe zu Ende geführt, und er saß müde in der Schenke eines Grenzorts an der Warthe, da meldete Böttcher: »Es ist ein Flüchtling aus Polen draußen, ein Deutscher, dort hinten von der Weichsel her, er ist groß und hat leere Taschen. Wollen Sie ihn freihalten, so werbe ich ihn an.«

»Bring ihn her«, gebot August.

Ein kräftiger Gesell mit gescheitem Gesichte trat ein, grüßte höflich und wurde auf freundliche Einladung zu Speise und Trank bald zutraulich. Als Böttcher ihm mit Trinken zusetzte, ohne sich dabei selbst zu vergessen, lachte der Flüchtling: »Ein williger Gaul bedarf nicht der Peitsche; ich merke, die Herren gehen darauf aus, mich anzuwerben.«

»Nur wenn Ihr bei nüchternem Mute selbst wollt«, antwortete August; »ich bin nicht hier, Fremde zu verlocken, und bot Euch an, unser Gast zu werden, weil ich hörte daß Ihr ein Deutscher und ein armer Flüchtling seid. Trinkt ruhig, ich verspreche, es soll Euch zu nichts verpflichten.«

Der Fremde sah ihn dankbar an: »Wenn mir auf dem Wege der Zorn über die Polacken in den Kopf stieg, habe ich zuweilen daran gedacht, bei den Preußen in des Königs Rock zu fahren; es wäre mir eine Freude, die drüben einmal auszuhauen. Und ich habe als Gerbergeselle sonst hier wenig Aussicht, weil das Thorner Handwerk mit den deutschen Zünften nicht in Bruderschaft steht.«

Mit einem neuen Interesse fragte August: »Wenn Ihr in Thorn zünftiger Gesell wart, was hat Euch fortgetrieben? Erzählt, wenn Ihr keinen Grund habt, es geheimzuhalten.«

»Es wird laut genug, die Steine schreien davon«, versetzte der Thorner mit zornigem Blick. »Ihr habt gehört, daß wir Bürgersöhne mit den polnischen Studenten Krakeel hatten.«

»Es war etwas davon in der Zeitung zu lesen,« sagte der Korporal, »doch haben wir nicht viel darauf gegeben.«

»Bei uns aber wird's, wie ich fürchte, mancher teuer bezahlen«, sagte der Gast. »Wißt, die Polen haben die Schule von St. Johann in Thorn zu einem Jesuitenkollegium gemacht; darin liegt eine übermütige und liederliche Bande von adligen Polen, welche mit ihren Säbeln in der Stadt herumfegt und uns Bürgerkindern spinnefeind ist, weil wir nicht ihren Glauben haben und ihr trunkenes Geschrei nicht ruhig ertragen. In diesem Sommer hatten die Nonnen in unserer Neustadt eine große Prozession angestellt, und die jesuitischen Studenten mit ihren Säbeln waren auch dabei, wir aber, Gesellen und Kinder, standen außerhalb des Kirchhofs und sahen dem Spektakel zu. Als die Prozession bei uns vorbeikam, nahmen die meisten von uns um des lieben Friedens willen die Mützen ab, die Polnischen aber sprangen auf uns zu und schrien, wir sollten niederknien, und da wir widerstanden, zogen die bösen Buben ihre Säbel und hieben auf uns ein. Ich selber erhielt einen Schlitz am Ohr,« – er wies die Narbe – »so daß wir zornig wurden und die jungen Jesuiten zurückschlugen. Alsbald rotteten sie sich zusammen, liefen brüllend mit geschwungenen Säbeln durch die Gassen und fielen jeden Deutschen von unserem Glauben gewalttätig an, bis Herr Konsul Roesner einen von ihnen einstecken ließ. Da wichen sie zurück, kamen aber bald mit neuer Furie aus ihrem Kollegium hervor, zogen einen armen Studenten von der deutschen Stadtschule aus dem Hausflur, in dem er ruhig stand, schleppten ihn gefangen in ihr Kollegium und brüllten und rasten aufs neue durch die Gassen. Endlich riß uns jungen Burschen die Geduld, mancher war wie ich verwundet, auch wir liefen zu Haufen und drängten sie nach ihrer Schule zurück. Weil sie aber aus den Fenstern mit Steinen gegen uns warfen und mit Gewehren schossen, wurde das Volk wütend, drang in das Kollegium ein, zerschlug das Holzwerk von ihren Tischen und Bänken und verbrannte dies am Johanniskirchhofe in einem großen Feuer. Man sagt bei uns, daß vor langer Zeit an derselben Stelle die Pfaffen Dr. Luthers Bücher verbrannt haben. Die gesamte Bürgerschaft trat bewaffnet zusammen, mit Mühe gelang es den Herren Bürgermeistern, den Lärm zu stillen. Am anderen Morgen hießen wir Deutsche die Tumultuanten, die Tore blieben geschlossen, und vom Rat wurde nach uns gesucht. Ich hatte mich versteckt, wo mich niemand fand. Und die Sache schien zu Ende. Jetzt aber, im September, kam unversehens von Krakau eine polnische Kommission mit wildem Kriegsvolk in die Stadt gezogen, und es begann ein Nachforschen und Verhören, so feindselig und mit so grausamer Bedrohung, daß jedermann das Ärgste zu befürchten hatte, ja sogar unsere beiden Herren Bürgermeister wurden angefahren und wie Missetäter verhört. Da sagte mein alter Vater: Mach dich fort, denn jetzt naht der Tag, welcher prophezeit ist, wo es heißen wird: Das deutsche Thorn geht an die Polen verloren. Sieh zu, daß du dich ins Preußische durchschlägst, denn nur von dort kann uns Hilfe kommen. – Ich entwich bei Nacht über die Stadtmauer und hatte meine Not, bis ich über die Grenze gelangte.«

»Hier seid Ihr unter Landsleuten und in Sicherheit«, tröstete August. »Habt Ihr in Thorn zufällig ein deutsches Fräulein gesehen, welches bei euren Bürgermeistern aus- und eingeht und auf einem polnischen Schlosse wohnt?« – Er nannte den Namen.

»Das Fräulein kenne ich nicht, das Schloß aber gehört dem Woiwoden, der einer der schlimmsten Wüteriche gegen die Deutschen ist.«

Das also war das Glück des armen Dorchens unter Jesuiten und polnischem Adel! Der Korporal wurde einsilbig und überließ es seinem Beistand Böttcher, den Gast zu unterhalten. Die beiden sprachen leise miteinander, endlich begann Böttcher: »Der Thorner will sich bei unsrer Kompanie anwerben lassen, wenn er ein ordentliches Handgeld bekommt.«

»Wollt Ihr mit Eurem guten Willen zu uns, so seid Ihr mir willkommen,« sagte August erfreut, beredete mit dem Manne die Werbung und trank ihm darauf zu.

Der Thorner ging am nächsten Morgen mit Paß und Brief an den Hauptmann zur Garnison ab; der Korporal aber setzte seinen Weg fort, durchsuchte die letzten Dörfer und dachte vergnügt, daß ihm die saure Arbeit wohlgelungen sei. Am Nachmittage führte Böttcher auf dem Fußwege, der längs der Warthe hinlief, zu einer Stelle, wo dicht am Wasser einige Erlen standen und daran eine rohe Holzbank. »Hier ist eine Überfahrt,« sagte Böttcher, »und hier liegt der Kahn, auf dem der Pole herübergekommen ist, eine Stunde auf und ab ist dies der einzige Kahn. Warten Sie ein wenig, Herr Freikorporal, ich will zusehen, ob ich für mich etwas erfischen kann.« August setzte sich auf die Bank, und der Gemeine hakte die Kette des Kahnes los, sprang hinein, stieß ihn einige Schritt vom Ufer ab und setzte sich darin nieder. »Ich denke, Herr Korporal, wir haben unsere Geschäfte glücklich zu Ende geführt, und ich hoffe, Sie werden mit mir zufrieden sein.«

»Ja, Böttcher,« antwortete August behaglich, »du warst ein schlauer Gehilfe, und ohne dich hätte ich's nicht fertiggebracht.«

»Zuletzt habe ich der Kompanie einen Mann verschafft,« fuhr Böttcher selbstzufrieden fort, »der einen Zoll mehr hat als ich.«

»Der Hauptmann soll dein Verdienst erfahren, er wird sich wundern, wenn der Pole ankommt.«

»Da er kommt,« sagte der Soldat, »will ich gehen. Herr Freikorporal, ich desertiere.«

»Plagt dich der Teufel, Böttcher?« rief der überraschte Korporal. »Hast du denn einen Grund, unzufrieden zu sein?«

»Das gerade nicht,« versetzte der Gemeine, »aber es ist mir langweilig geworden. Ich will einmal zusehen, was jetzt unter den Polen los ist. Greifen Sie nicht erst hinter sich, Herr Korporal, ich habe in Ihre Taschenpistole heut früh Wasser gegossen.«

August zog die kleine Waffe hervor, die ihm der Vater beim Abschiede geschenkt hatte, und spannte den Hahn. »Ich hab's gemerkt, ich dachte, der gestrige Gewitterregen wäre schuld, ich habe aber frisch geladen.« Und er richtete die Waffe auf den Ungetreuen, der sich unterdes durch einen Stoß weiter abgebracht hatte. »Komm zur Stelle zurück, Kerl, du weißt, daß ich dich niederschießen muß, wenn du nicht gehorchst.«

»Ich lasse es darauf ankommen«, sagte Böttcher, sich weiterschiebend. Der Schuß krachte, Böttcher hielt mit dem Kahn still.

»Die kleinen Dinger treffen nicht weit. Daß Sie aber auf mich geschossen haben, ist mir um unserer Freundschaft willen unlieb«, rief der Ausreißer nach dem Ufer herüber. »Zur Entschädigung dafür nehme ich die Montur unseres braven Königs Knirps mit in das Polnische, sie gibt dort mehr Ansehen als ein Freipaß, denn die Polen traktieren jeden preußischen Ausreißer mit Branntwein. Adieu, Herr Freikorporal, kommen Sie gut nach Hause. Halten Sie sich auf dem Wege links, sonst geraten Sie in den Modder.« Er stieß den Kahn an das andere Ufer und verschwand im Weidengebüsch. August steckte seine Pistole in die Tasche und eilte zurück zum nächsten Dorfe. Dort erzwang er durch ernste Vorhaltungen die Begleitung des Schulzen und einiger handfester Leute. Nach längerem Umwege kamen sie über den Fluß und forschten in den Grenzdörfern jenseits nach dem Flüchtling. Er war bereits gemächlich über die Grenze gegangen. Da der Korporal wußte, daß die Verfolgung über die Grenze hinaus der Kompanie zwei Mann gekostet hätte statt des einen, so mußte er unverrichteter Sache über den Fluß zurück und seinen Weg allein fortsetzen. Wahrlich in düsterer Stimmung. Denn er ahnte, daß die Flucht seines treulosen Helfers ihm bei der Rückkehr üblen Empfang bereiten werde. Auch sonst waren seine Betrachtungen unerfreulich; die Sonne neigte sich zum Untergang, er sah um sich eine öde Moorgegend, aus der er sobald als möglich herauskommen mußte, von der Garnison war er noch weiter als einen starken Tagemarsch entfernt, und sein Geld ging zu Ende, denn er hatte dem angeworbenen Mann, der von allen Mitteln entblößt war, einen Vorschuß auf das Handgeld gemacht. Er schritt also unzufrieden mit sich und der Welt vorwärts und war froh, als er bei Sonnenuntergang aus den Sümpfen heraus in eine Kieferheide gelangte. Der Abend wurde kalt und finster, der Weg schien endlos, zuletzt erkannte er in einer Lichtung die Umrisse einiger Gebäude und hörte Hundegebell. Er ging darauf los und kam an die Hütte eines Teerbrenners, den er durch starkes Klopfen am Fensterladen endlich bewog, die Haustür aufzuschließen. Nach langen Verhandlungen erlaubte der ungefällige Mann ihm ein Nachtlager auf dem Heuboden, wo der Gast frierend und bekümmert und keineswegs beruhigt über seine Sicherheit sich in halbem Schlummer umherwarf. Als er bei grauendem Morgen aufbrach, goß der Regen in Strömen, und der Brenner weigerte sich, etwas von dem einzigen Laib Schwarzbrot zu verkaufen, der den Vorrat des Hauses ausmachte; kaum war Auskunft über den Weg zur nächsten Stadt zu erhalten.

Als August endlich eine kleine Landstadt erreichte, war seine Kraft erschöpft; müde, durchnäßt, hungrig und mit leerer Tasche zog er ein und sah auf dem Markte nach einem Quartier aus. Da stand an der Einfahrt des Eckhauses ein junger Mann in Hemdsärmeln, rotbäckig, mit breiten Schultern und einer offenen Miene, welcher ihn anredete: »Herr Sergeant, wonach sehen Sie sich um?« August antwortete: »Nach einem guten Wirt.«

»Kommen Sie herein«, sagte der Mann. Er führte ihn in eine große Stube, in welcher eine hübsche junge Frau saß, ihr Kind auf dem Schoße. Die Stube war sauber mit gelber Farbe getüncht, rotgestrichene Tische und Bänke standen darin, und im Ofen brannte ein wohltätiges Feuer. August grüßte die Frau und fragte, wie Soldatenbrauch war, nach dem Namen des Wirtes. »Ich heiße Schulze,« sagte dieser, »und bin ein Brandenburger. Räume die Ofenbank, Pine, damit der Herr Sergeant sich trocknet.« August setzte sich und genoß schweigend die behagliche Wärme, während der Wirt ihm mit untergeschlagenen Armen zusah. Endlich begann der Gast: »Lieber Herr Schulze, mich hungert.«

»Es ist schon gesorgt«, antwortete der Wirt.

»Aber geben Sie mir keine Mahlzeit,« fuhr August fort, bedrückt durch seine Geldlosigkeit, »denn ich habe nur wenig in der Tasche.«

»Das wird sich alles finden«, sagte Schulze. »Es ist Mittagszeit, und auch wir wollen essen. Sie müssen vorlieb nehmen mit dem, was wir im Hause haben. Pine, decke auch für den Herrn Sergeanten.«

Die Frau setzte das Kind ihrem Manne auf das Knie und ging behend nach der Küche. Der Wirt sah ihr wohlgefällig nach und nickte dem Gaste zu: »Sie versteht's.« Darauf ließ er seinen Jungen auf dem Knie reiten, zuerst langsam, wie die Bauern, dann im Trabe wie die jungen Herren, bis der Kleine ins Feuer kam und seinerseits durch »Hott« und »Hü« den Vater antrieb. Unterdes legte die Wirtin ein reines Tischtuch auf und brachte die Speisen, deren kräftiger Geruch den Hungrigen mit frohen Hoffnungen erfüllte.

»Kommen Sie, Herr Sergeant,« sagte Schulze, »nichts geht über einen Teller Grützesuppe, wenn man durchnäßt ist.«

Der Gast aß wacker, so daß er sich selbst seines Appetits schämte, der Wirt aber gab ihm darin nichts nach, während er mit der Frau in freundlichem Zureden abwechselte und aus einer großen Kanne fleißig Kottbuser Bier einschenkte. Dabei erzählte der Korporal ein wenig von seiner sächsischen Heimat und von dem Kommando, welches ihn hierherführte, und verbarg nicht, daß ihm die Betrübnis der Leute, welche er aufgesucht, die Arbeit oft schwer gemacht hatte.

»Ich glaub's wohl,« sagte der Wirt, »denn manchen trifft es hart und grausam. Jedoch dazu sind wir alle da, die einen zahlen die Steuern, während die anderen marschieren, damit die Fremden Respekt vor uns behalten. Als mein Großvater jung war, hausten die fremden Kriegsvölker hier am Orte wie Mordbrenner und Kannibalen, und die Bürger wurden wie die Hunde erschlagen, von den Weibern und Kindern gar nicht zu reden. Als aber mein Vater jung war, hieben wir Brandenburger den Schweden, der sich noch einmal in das Land gewagt hatte, mit unseren Fäusten hinaus; seitdem haben wir Sicherheit, unsern Weibern wird keine Schmach mehr angetan, und unsere kleinen Kinder werden nicht mehr unter die Hufe der Pferde geworfen. Wenn nur von den Herren Offizieren Billigkeit geübt wird, so ist die Last für das Volk zu ertragen. Unsere Landeskinder, soweit sie wirklich eingezogen werden, dienen nicht gar lange und kommen klüger nach Hause zurück, als sie gegangen sind. Ich denke, es ist bei uns in Stadt und Land, obgleich wir viele Soldaten unterhalten, mit der Nahrung und dem Verdienst nicht schlechter bestellt als bei Ihnen in Sachsen oder anderswo in Deutschland. Denn unser König führt einen schweren Stock, aber er sorgt auch wie ein Vater für die Blauen und für uns andere in Hemdsärmeln.«

August freute sich über die kluge Rede, denn auch er fühlte zuweilen wieder den Stolz eines Preußen, und er saß mit seinem Wirt längere Zeit in gutem Gespräch zusammen, obwohl er die Mattigkeit immer noch merkte. Als er nach Tisch aufbrechen wollte, forderte er seine Rechnung; da sagte Schulze: »Drei Maß Bier zu einem Drittel, welches auf Sie kommt, macht soundso viel; das Essen bezahlt der liebe Gott.«

Und als August sich sträubte, diese Gastfreundschaft anzunehmen, schnitt Schulze seine Einrede durch, indem er nachdrücklich begann: »Lieber Herr Sergeant, ich habe aus Ihren Worten gemerkt, daß Sie von gutem Herkommen sind und zuweilen mehr Geld im Beutel haben, als vielleicht heut. Bietet sich Ihnen Gelegenheit, so können Sie damit einmal einem armen Soldaten etwas Gutes tun. Ich aber nehme von Ihnen weiter nichts; der Herr hat mir ein gutes Stück Brot beschert; meine Frau, die Sie hier sehen, habe ich geheiratet und diesen Gasthof mit dazu bekommen. Wir sind glücklich in unserem Hauswesen, warum sollte ich Ihnen nicht dies wenige angedeihen lassen? Nehmen Sie vorwillen.« Die Hausfrau sprach leise zu ihrem Mann. »Die Frau sagt mir eben,« fuhr Schulze fort, »daß ich Sie zum späten Nachmittage nicht fortlassen soll, weil Sie erschöpft sind. Nun weiß ich, daß Herrendienst allem vorgeht, aber wenn es Ihnen nichts verschlägt, so ruhen Sie sich erst in einem ordentlichen Bette aus, heut können Sie doch nicht mehr weit und morgen holen Sie mit frischer Kraft das Versäumte ein. Das ist Pines Meinung, und die Frau hat recht. Schlagen Sie ein.« – Er hielt ihm die Hand hin. August schlug dankbar ein. Als er am anderen Morgen aufbrach, schritt er zwischen dem Wirt und der Wirtin bis zum Haustor, wo zum letzten Abschied auch noch das Kind dem Gaste die Hand reichen mußte.

Herr Schulze und seine Frau wußten nicht, wie wohl ihre Freundlichkeit dem vereinsamten Jüngling tat, der auf dem Weitermarsch immer daran dachte, daß sein Vater gern hilfreich gegen Notleidende gewesen war, jetzt zahlten Fremde dem Sohne die Guttaten zurück. Auch sein harter Dienst dünkte ihm in diesen Stunden nicht mehr eine unwürdige Sklavenarbeit, die einfachen Worte des Brandenburgers hatten ihn gemahnt, daß etwas Großes darin war.

Am späten Nachmittag erreichte August die Garnison. Da der Hauptmann nach Tisch leicht unwirsch wurde, so besorgte der Heimkehrende, daß sein Aufenthalt bei dem freundlichen Wirt ihm jetzt seinen Rapport erschweren könne. Diese Annahme betrog ihn nicht. Als er eintrat, empfing ihn der Hauptmann mit Vorwürfen über seine lange Abwesenheit, auch der Bericht über die gelungene Ausführung des Auftrags minderte den Unwillen nicht, und als der Korporal zuletzt die Flucht des Böttchers berichten mußte, verlor der Hauptmann alle Herrschaft über sich, schleuderte rohe Flüche auf das Haupt seines Untergebenen und beschuldigte ihn der Willfährigkeit gegen den Entflohenen und der Feigheit bei der Verfolgung. Da geriet auch August in Zorn und rief mit blitzenden Augen: »Herr Kapitän, ein solcher Angriff auf meine Ehre ist ungerecht und unvernünftig.« Der Wütende riß den Degen aus der Scheide: »Ihr Höllenhund wollt noch räsonieren?« und drang mit der blanken Waffe auf ihn ein. Der Korporal sprang, um sich dem Trunkenen zu entziehen, zur Tür hinaus und die Treppe hinab, aber der Offizier rannte ihm nach, fuchtelte ihm mit der Degenklinge auf den Rücken und rief zu dem Feldwebel, welcher mit einigen Unteroffizieren auf der Straße vor dem Quartier stand: »Führt den Sakramenter in Arrest.«

August hatte bis dahin das Glück gehabt, niemals die Züchtigung mit der flachen Klinge zu erfahren, welche den Unteroffizieren und Junkern zugeteilt wurde, weil sie den Betroffenen nicht die Ehre minderte, was die Stockschläge getan hätten, die den Gemeinen zukamen. Als er nun heut so schwere Kränkung erfuhr, wo er freundliche Billigung erwarten durfte, empörte sich seine Seele gegen die Ungerechtigkeit, und wie der Feldwebel ihm nach dem Seitengewehr faßte, sprang er zurück und legte die Hand an den Griff. Da drang der Hauptmann mit entblößtem Degen aufs neue gegen ihn ein und hieb ihn über die Hand, daß das Blut hervorspritzte. Die Unteroffiziere drängten sich in guter Meinung an den Verwundeten, um diesen am Gebrauch seiner Waffe zu hindern, und der Feldwebel entriß ihm das Seitengewehr; er wurde auf die Wache geführt und dort auf Befehl des nachstürmenden Hauptmanns mit der gesunden Hand an die Strafsäule geschlossen, während der Feldscher geholt ward, die Wunde zu verbinden. Der Mann sagte bedauernd: »Es hat wenig gefehlt, daß Ihnen die Hand für immer gelähmt wurde.«

August saß totenbleich und trotzig in der strengen Haft. »So mußte es kommen,« dachte er, »damit ich der ungerechten Fesseln entledigt werde. Lieber will ich dies mühselige Leben in der Jugend endigen, als mich fernerhin in so schändlicher Weise zum Sklaven machen lassen.« Und kein tröstendes Zureden der Unteroffiziere vermochte ihm ein Wort abzugewinnen. Nach einer Stunde kam der Hauptmann, den der Vorfall ernüchtert hatte, in ganz veränderter Stimmung, er gebot den Arrestanten loszuschließen und versuchte begütigende Worte, aber er erhielt nur die Antwort: »Ich war des Königs Unteroffizier, aber nicht Ihr Sklave.«

Nach einigen Tagen wurde der Korporal zu dem gütlichen Verhör geführt, welches der kriegsgerichtlichen Untersuchung vorausging. Dazu waren ein Premierleutnant und der Auditeur vom Stabe gesandt, der Sekondeleutnant von der Kompanie zugezogen. August wußte, daß er sich vor einem Soldatengericht keines anderen schweren Unrechts schuldig gemacht hatte, als der Weigerung, sein Seitengewehr abzugeben, und er versuchte sich zu verteidigen: »Ich bin nie bestraft worden und fühlte in jenem Augenblick am tiefsten die Schande, auf der Straße arretiert und ohne Gewehr durch die Stadt nach der Wache geführt zu werden. Ich hatte nicht die Absicht, mich gegen die Verhaftung selbst aufzulehnen, und wollte nur das Gesuch stellen, mich mit dem Seitengewehr nach der Wache gehen zu lassen, als ich mit dem Degen angefallen und verwundet wurde.« Darauf bat er zu Protokoll zu nehmen, wie der Hauptmann am ersten Tage der Rückkehr sein Abschiedsgesuch behandelt, wie er ihn von der Fahne weg zu angestrengtem Dienst in die Schreibstube gesetzt und ihm zuletzt das schwierige Offizierskommando zugeteilt habe. Er erzählte das Benehmen bei der Rückkehr, die ungerechten Vorwürfe, die ihm wegen der Desertion des Böttcher gemacht worden, den nicht er, sondern der Hauptmann selbst ausgewählt. »Wie kann mir ein Vorwurf gemacht werden, daß ich ihn, der an meiner Seite ging, in den Kahn springen ließ, da ich, auf seine Hilfe angewiesen, vier Wochen mit ihm im Lande umhergezogen bin, wo er jeden Tag eine Gelegenheit finden konnte, zu entweichen? Was mir auch geschehen möge, ich erkläre hier, daß ich mich keines strafbaren Unrechts schuldig weiß, wohl aber mit bitteren Schmerzen fühle, daß ich grausam behandelt und in meiner Ehre gekränkt worden bin.«

Als er in den Arrest zurückgeführt ward, empfand er den besten Trost eines empörten Gemütes, daß er seinem Herzen Luft gemacht und, was ihn lange bedrückt, freimütig ausgesprochen hatte. Die Haft wurde ihm durch die Teilnahme der Unteroffiziere erleichtert; er vernahm auch, daß sein Fall schwerlich vor ein Kriegsgericht kommen werde, und daß der Hauptmann für einige Wochen beurlaubt sei.

Eines Abends saß der Korporal beim Kreuzerlicht über einem Buche, als Unteroffizier Roncourt eintrat. Der Alte hatte ihn so oft besucht, als der Dienst gestattete und durch sein Geplauder bleischwere Stunden erträglich gemacht, heut sah er sehr ernsthaft aus: »Demoiselle Friederike wünscht Sie zu sprechen.« August fuhr in die Höhe: »Sie wissen, daß das unmöglich ist.«

»Es ist keiner von den Offizieren bei Wege. Der Unteroffizier der Wache sitzt in der Stube und sieht nichts, der Posten unter dem Gewehr wird Ihnen den Rücken kehren, Sie müssen innerhalb der Vergatterung bleiben; das Fräulein steht draußen. So können Sie mit ihr reden.«

»Was ist geschehen?« fragte August mit trüben Ahnungen.

»Sie geht fort«, sagte Roncourt traurig.

Der Jüngling eilte hinter ihm ins Freie. An dem Lattenzaun sah er eine verhüllte Gestalt, er ging auf sie zu und suchte durch die Stäbe ihre Hand zu fassen, die sie ihm nicht entzog.

»Der Herr war meinem verstorbenen Vater lieb«, begann das Mädchen leise. »Es ist zum letzten Male, daß ich Sie sehe, und ich wollte Ihnen Lebewohl sagen.« Sie stützte sich an den Zaun und weinte.

»Warum müssen Sie fort?«

»Ich habe Herrn Roncourt genötigt, mir zu bekennen, woher die Unterstützung kam, durch welche ich in der letzten Zeit hier erhalten wurde. Ich weiß jetzt, wie großmütig der Herr an mir gehandelt hat, und ich danke Ihnen dafür von ganzer Seele. Aber das darf nicht so fortgehen. Dem Andenken an meinen Vater bin ich schuldig, mir andere Unterkunft zu suchen. Es ist mir Aussicht auf eine Stelle gemacht, morgen früh reise ich mit der Frau eines Kaufmanns ab.«

»Wohin?« fragte der Jüngling wie betäubt.

»Fragen Sie nicht, Monsieur König, vergessen Sie mich; nein, denken Sie zuweilen an mich wie an eine Verstorbene; ich werde Ihrer Herzensgüte gedenken, so lange ich lebe.« – Er fühlte den bebenden Druck ihrer Finger, da zog er in der Bewegung ihre Hand durch den Zaun und küßte diese. Das gebeugte Mädchen richtete sich auf und sagte fast freudig: »Ich danke Ihnen für diesen letzten Gruß. Ich gelobe dem Herrn, wenn er in Zukunft jemals von mir erfährt, es soll demselben nicht leid tun, daß er einem Mädchen von meiner Lage die Hand geküßt hat.« Sie zog ihr Tuch um sich, und kaum hörbar klang ihr Lebewohl, dann verschwand sie in der Dunkelheit; der Gefangene aber legte sein Haupt an den Zaun, der ihn von ihr schied.

Auch dieses Band, welches ihn noch in der Garnison festhielt, war zerrissen. Er saß den Rest des Abends in dumpfem Schmerze auf seiner Bank und suchte sich mit dem Gedanken zu ermutigen, daß solche Freundschaft auf die Länge doch nicht ohne Worte und Verkehr geblieben wäre. Und was hätte dann werden sollen? Erst in dem Weh, welches er nach der Trennung fühlte, wurde ihm bewußt, wie sehr sein Herz an der Verschwundenen hing. Als der Franzose wieder eintrat, machte er ihm heftige Vorwürfe, daß er gegen das Abkommen den Anteil des Jünglings an den Sendungen verraten habe.

Roncourt stellte sich feierlich vor ihm hin: »Sie haben Grund, Monsieur König, mit mir unzufrieden zu sein, und wenn Sie auf Genugtuung bestehen, so werde ich mich nicht weigern. Aber mir blieb keine Wahl, denn Demoiselle Friederike forderte die Mitteilung um ihrer Ehre willen, und sie hatte ein Recht dazu. Wenn Ihnen, dem jungen Manne, leid ist, daß sie geht, was soll ich, der Alte, sagen, der mit ihr fast alles verliert, was seinem Leben eine Freude war? Sie hat mir den Vogel in Kost gegeben, wollte ihn aber nicht verschenken, denn sie meinte, er wäre ihr vor aller ihrer Habe lieb, und sie hoffe, mich und den Vogel noch einmal wiederzusehen. An den Trost muß ich mich halten.«

Die Haft hatte einige Wochen gedauert, als der Feldwebel eilig den Gefangenen aufrief. »Mein Herr Bruder soll sogleich zum Major Vogt kommen; dieser ist aus dem Stabsquartier eingetroffen und ich denke, er bringt auch in deiner Sache die Sentenz.« August geriet in große Bewegung, der Überbringer seines Urteils erschien ihm glückverheißend, dennoch bangte ihm jetzt vor der Entscheidung. Sein Empfang belehrte ihn, daß die Sorge nicht unbegründet war, denn der Major begann mit strenger Miene: »Ihr habt Euch gegen Euren Kapitän schwer vergangen, Ihr habt ihm ins Angesicht sein Verhalten ungerecht und unvernünftig gescholten und habt Euch, die Hand am Seitengewehr, der Verhaftung widersetzt. Wenn er darauf die blanke Waffe gebraucht hat, so habt Ihr Euch Glück zu wünschen, daß Ihr nur mit einem leichten Hiebe davongekommen seid, ein anderer hätte Euch schlimmer mitgespielt. Seine Hoheit der Markgraf haben mir befohlen, Euch diese Order vorzulesen: Der Freikorporal König hat künftig den Respekt gegen seinen Kapitän besser zu beobachten, widrigenfalls man ihn mit der empfindlichsten Strafe belegen wird. Für diesmal ist er wegen seiner Jugend und bewiesenen Applikation aus besonderer Gnade zu pardonieren, auch wieder in Dienst zu stellen. – Dankt unserem gütigen Chef,« ermahnte der Major wieder gebieterisch, »wäret Ihr in meiner Kompanie gewesen, es wäre Euch viel schlechter ergangen.«

»Hätte doch der Himmel gefügt, daß mir dieses Glück zuteil geworden wäre,« antwortete August, »der Dienst ist mir im letzten Jahre schwer gemacht worden.«

»Harter Dienst erzieht eher zum Soldaten, als leicht gewonnene Zufriedenheit«, sagte der Major. Dann fuhr er in anderem Tone fort: »Mit großem Bedauern habe ich den Tod Eures Vaters vernommen, Eure Anzeige fand ich erst in diesen Tagen bei meiner Rückkehr vor. Wäre der würdige Mann noch am Leben und hätte er von diesem Streit mit Eurem Hauptmann gehört, er würde Euch mit den Worten ermahnt haben: Mein lieber Sohn, dein Hauptmann darf gegen dich nicht Unrecht behalten.« Und er legte ihm väterlich seine Hand auf die Schulter.

Das warme Wohlwollen, welches hinter dieser Mahnung erkennbar wurde, gab dem Korporal den Mut, sein früheres Gesuch um Entlassung zu erwähnen und für jetzt wenigstens um Urlaub zu bitten. Da aber furchte sich die Stirn des Majors. »Ein solches Gesuch vermag ich nicht zu befürworten, auch ist die Zeit dafür übel gewählt. Es stehen Verwicklungen bevor, welche einem Soldaten verbieten, seine Fahne zu verlassen.« Mit diesem Bescheide mußte August vorliebnehmen. Als der Hauptmann einige Tage darauf in die Garnison zurückkehrte, fragte er erstaunt den Korporal: »Wie? Seid Ihr los? Was habt Ihr für Strafe bekommen?«

»Der hohe Chef hat mich begnadigt.« Da sagte der Hauptmann: »Haben gute Freunde diesmal bei Seiner Hoheit für Euch gesprochen, so werde ich Euch von heut ab auf den Dienst passen. Sobald ich die geringste Widersetzlichkeit merke, sollt Ihr die Bekanntschaft mit meinem Degen in ganz anderer Weise machen als bisher.«

Der Unteroffizier schwieg und machte kehrt.


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