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7. Die beiden Sibyllen

Regine sah jetzt von der Höhe des Schlosses auf die Stadt herab und in die blaue Ferne, wo sie sich den lieben Bruder beim Heere des Schweden dachte. Sie war halb als Dienerin, halb als Gast in den fürstlichen Haushalt aufgenommen und hatte auch hier die Freude, sich ein wenig nützlich zu machen. Sie gefiel der Frau Herzogin, einer ruhigen Dame, welche ihrem Herrn mit Bewunderung und Liebe zugetan war und ihre Pflichttreue während einer langen Ehe durch die Geburt von achtzehn Kindern erwies. Obgleich damals von diesem großen Segen nur die ersten Offenbarungen sichtlich waren, so fand die erlauchte Frau doch bereits ihr Glück in stiller Häuslichkeit, indem sie Küche, Wäsche und Silberzeug des fürstlichen Haushalts überwachte und einen großen Teil ihrer Zeit im Sessel bei vornehmer Arbeit verlebte. In solchen Stunden saß Regine oft auf dem Bänkchen zu der Herzogin Füßen, und da der oberdeutsche Klang ihrer Sprache den Herrschaften wohlgefällig war, so wurde ihr das Amt zuteil, Predigten und anderes Erbauliche vorzulesen. Das tat sie mit Eifer, und sie hatte zuweilen auch Gelegenheit, darüber eine bescheidene Meinung gegen den Herrn Lizentiaten auszusprechen, dessen stillen Gruß sie täglich in den Gemächern der Herzogin empfing. Der Herzog selbst aber, der sonst den Frauen der fürstlichen Kammer keine auszeichnende Beachtung zuwendete, fuhr fort, an seinem Schützling ein besonderes Wohlgefallen zu empfinden. Er dachte zuweilen an das unschuldige Gesicht und das verklärte Lächeln, welches er an der Schlummernden beobachtet, dann nahm er das Blatt hervor, auf welchem der Lizentiat die kurzen Reden Reginas verzeichnet hatte, und nährte den Wunsch, wichtigere Enthüllungen von ihr zu erhalten. Ja, ihm begegnete, daß er einst die Tür zu den Zimmern seiner erlauchten Gemahlin öffnete und hinter dem Vorhange stehen blieb, als er die erzählende Stimme des Mädchens hörte. Aber da sah er die Herzogin vor einer Tafel sitzen und um sie die Kammerfräulein, welche, mit Schürzen über den Kleidern, gerade an Gläsern mit Eingesottenem hantierten, er vernahm, daß seine junge Sibylle im Eifer sagte: »Ihrer herzoglichen Gnaden empfehle ich den Nürnberger Brauch, denn dort kochen sie die Latwerge mit Birnmost.« Und dem Herrn mißfiel, daß eine der Frauen widersprach und den Widerspruch schonungslos mit Gründen stützte.

Doch auch ihm glückte nicht, die Fremde in der erwünschten Tätigkeit zu beobachten. Allerdings, wenn das Kammerfräulein, welches bei Nacht auf hohen Befehl Reginas Genossin war, pflichtgemäß über den Schlummer ihrer Nachbarin berichtet hätte, so wäre mancherlei Prophetisches zu melden gewesen, aber das Fräulein wurde durch die flehentlichen Bitten Reginas veranlaßt, nichts zu sagen. Und es schwieg um so lieber, als auch die Hofmeisterin der Ansicht war, daß dem ganzen adeligen Frauenzimmer wenig daran liegen könne, wenn eine Landfremde durch mondsüchtige Reden bei Hofe zu einer unerhörten Distinktion gelange.

Aber nur kurze Zeit sollte Regine in lichter Höhe atmen; vom Walddorfe her zog schwarzes Gewölk heran gegen ihren Frieden und gegen das Glück des Bruders.

In dem Amtsschreiber kämpften durch einige Wochen Furcht und Eifersucht gegen die alte Begehrlichkeit, mit welcher er nach dem Besitz der Jungfer Judith und ihres Hauswesens strebte. Er hatte mit grimmigem Haß Bernhards Wege belauert und in jener Nacht vom Rande des Gehölzes der Suchenden zugesehen. Ihr Werk war ihm unheimlich erschienen, obgleich er sonst im stillen die landläufige Angst vor Zauberkünsten verachtete. Aber die Scheu vor ihrer geheimen Wissenschaft legte ihm auch den Gedanken nahe, daß er als ihr Hausherr dadurch allerlei für sich gewinnen könne. Endlich bedachte er, daß der Fremde davongezogen sei und wohl nicht wiederkommen werde, und wagte sich in das Haus der Jungfrau, mit der Absicht, ihr einen Antrag zu machen. Aber er lief nach kurzer Zeit zornig heraus, sattelte mit bösem Blick sein Pferd und ritt nach der Stadt.

Am nächsten Morgen rollte ein großer Wagen, von Bewaffneten geleitet, dem Walddorfe zu, das gesamte Konsistorium des Landes befand sich darin, drei weltliche Richter und drei geistliche, unter diesen der Schloßprediger, und neben dem Kutscher hockte ein Schreiber. Die Herren saßen in würdigem Ernste wegen des schweren Handels, der ihnen bevorstand. Mehrere Jahre hatte Satan sich begnügt, seine Gegenwart durch die Versuchungen zu erweisen, welche er unzweifelhaften Christen in den Weg warf, aber er hatte den Geplagten kein förmliches Paktum zugemutet, jetzt jedoch war Aussicht vorhanden, wieder eine große Jagd auf den alten Bösewicht mit aller gesetzlichen Feierlichkeit anzustellen. Darum fühlten die Herren neben der Verwunderung und dem Grausen auch das düstere Behagen, welches mit jeder schweren Pflichterfüllung verbunden ist.

Sie waren kaum vor der Wohnung des Pfarrers abgestiegen, so flog, während sie sich noch durch mitgebrachtes Frühstück für die bevorstehende Arbeit stärkten, die Kunde von der Neuigkeit durch alle Hütten des Dorfes. Wer das Geheimnis zuerst ausbrachte, hätte niemand zu sagen vermocht, aber alle wußten darum; die Leute liefen aus den Häusern, starrten nach der Pfarre, flüsterten einander ins Ohr oder rangen die Hände, und wiesen mit heftigen Bewegungen nach dem Hause, das einsam jenseits des Baches stand. Zu den ersten gehörte die alte Ursel selbst, die sich wohl bewußt war, daß die Leute mancherlei von ihr argwöhnten; sie lief von der Wiese, auf welcher sie Wäsche bleichte, in den Hof zurück.

Judith saß auf dem Ehrensitz, den vor kurzem ein anderer innegehabt. Sie folgte mit ihren Gedanken dem Lauf eines trabenden Rosses, wiederholte seine Reden und ihr Auge leuchtete fröhlich, wenn ihr die Worte in der Erinnerung besonders gefielen. Da schrie die alte Dienerin entsetzt in der Tür: »Die Richter sind im Dorfe, sie sind gekommen, Hexen zu brennen.«

»Sie meinen dich«, rief Judith aufspringend.

»Und noch eine«, antwortete scheu die Alte. Judith hielt die Hand vor die Augen. Sie hatte nach dem rosigen Himmel geschaut und stand plötzlich vor einem gähnenden Abgrund. Im nächsten Augenblick gebot sie: »Entflieh!« und wies nach der Gegend des Rennstiegs. Sie selbst setzte sich wieder zu der Arbeit. Sie lauschte auf die Tritte der Alten, vernahm, wie diese hastig im Flüsterton mit dem Knaben sprach, sie hörte die Hinterpforte knarren und sah von ihrem Stuhl durch das Fenster, ob ein Späher in der Nähe sei. Dann rief sie den Knaben, holte aus der Truhe ein verschnürtes Bund, welches Bernhard bei ihr zurückgelassen, tat es in einen Korb und gab es dem Kleinen. »Dies gehört deinem Herrn, birg es in einem Versteck und trag es zu seiner Schwester; bitte, daß sie für dich sorgt, denn ich fürchte, Kind, du wirst bei mir nicht länger bleiben dürfen.«

»Die schwarzen Männer mögen sich in acht nehmen,« drohte Pieps, »mein Herr wird ihnen die Wege zeigen.«

Judith lächelte. Als der Knabe mit dem Korbe verschwunden war, schlug sie die Bibel auf, in welche der Vater ihr für die Todesnot einen Spruch geschrieben hatte, legte die Hände darüber und neigte das Haupt, dann setzte sie sich wieder in den Lehnstuhl vor das Spinnrad. Sie dachte, ob der Knabe auch noch Mittagbrot erhalten und ob die Bleß versorgt sei, aber sie stand nicht auf, um nachzusehen. Sie saß still und starr und fühlte dabei, wie ihr das Atmen schwer wurde, und daß sich langsam etwas Unbekanntes, Furchtbares auf ihre Brust legte.

Unterdes fanden die Herren Kommissare viel zu verhören und niederzuschreiben. Zuerst hatten die Dorfleute scheu von fern gestanden und der Amtsschreiber hatte den einen und den anderen zu den Richtern hineinziehen müssen mit der harten Bedrohung, daß das ganze Dorf der Zauberei verdächtig werde, wenn man nicht aussage. Allmählich gerieten die Leute selbst in wahnsinnigen Eifer; was ihnen im Anfange als unglaublich und ungeheuerlich erschienen war, das wurde unter dem Hin- und Herreden wahrscheinlich. Viele wollten etwas beobachtet haben, und zuletzt drängten sich die Schwachen und Einfältigen zum Verhör. Nicht alle Nachbarn, man sah auch traurige Mienen und zornige Gebärden, aber die so gesinnt waren, standen furchtsam beiseite.

So geschah es, daß am Nachmittage eine lange Reihe gefährlicher Beschuldigungen gegen die Jungfrau jenseits des Baches gesammelt war, von der Dienerin Ursula ganz zu geschweigen, da das Konsistorium diese nach fast einstimmiger Versicherung der Zeugen für eine Haupthexe halten durfte. Aber auch die Zauberkunst der Jungfrau war den Herren wahrscheinlich geworden. Sie hatte in Krankheiten geholfen, wo der Stadtmedikus vergeblich angegangen worden, durch übelschmeckende Tränke, durch Auflegen der Hände, ja sogar durch ihre bloße Nähe. Sie hielt zwei schwarze bezauberte Vögel, welche sich vor anderen Menschen als Amseln gebärdeten, sie hatte bei Raubeinbrüchen wiederholt ihr Haus unsichtbar gemacht, die Bleß gab eine unnatürliche Menge Milch; Leute, welche übel von ihr gesprochen hatten, waren plötzlich erkrankt, mehrere Kinder hatten erst vor kurzem in ihrer Dachluke einen Kobold oder Hausgeist in Gestalt eines Kindes mit roter Mütze gesehen, der gegen sie die Zunge ausgestreckt hatte; dazu kam vieles andere, was nach allgemeinem Glauben von Zauberinnen verübt wurde. Auch das Zeugnis des alten Pfarrers war nicht gerade günstig. Er gab zu, daß sie als Pfarrerstochter mit den Geheimnissen des Glaubens wohlbekannt sei und daß sie regelmäßig dem Gottesdienst und der Kommunion beigewohnt, indes habe sie sich niemals durch besonderen Eifer bemerkbar gemacht, auch lobte er, daß sie stets den Schein eines bescheidenen und ehrbaren Wesens bewahrt habe, dennoch mußte er auffällig finden, daß die Dorfleute und die ganze Umgebung eine gewisse Scheu und unerklärliche Furcht vor ihr gehabt, und er konnte nicht leugnen, daß ihr seit Jahren jedermann geheimnisvolle Künste zugetraut habe. Sie sei allerdings gegen viele hilfreich gewesen, doch bleibe immer noch der Zweifel übrig, ob dies nicht aus Schlauheit geschehen sei, um gute Meinung zu gewinnen; auch sei ihm zuweilen auffällig geworden, daß ihre Heilungen nicht lange Bestand gehabt und daß die Genesenen bei nächster Gelegenheit wieder in harte Krankheit gefallen waren; und wenn ihm selbst auch sehr schwer werde, daran zu glauben, daß eine Jungfrau, welche von geistlichen Eltern stamme, sich auf Zauberei eingelassen, so sei doch sicher, daß die fromme Jungfer Königin, welche jetzt unter herzoglicher Protektion in der Stadt weile, in einer ihrer Visionen zweifelhaft von dem Glauben der Angeklagten gesprochen habe.

Es war Nachmittag geworden, als die Kommissare sich aus dem Pfarrhofe mit feierlichem Schritt nach der Wohnung Judiths bewegten und die Bewaffneten an der Pforte aufstellten. Hinter ihnen zog die ganze Gemeinde und umringte neugierig das Haus; während die einen erschreckt und traurig auf die Fenster starrten, dachten die Schlechtesten bereits daran, daß Haus und Hof begehrenswerte Dinge enthielten, welche besser in ihren Hütten, als in den Händen der Richter aufgehoben sein würden.

Judith stand allein in der Stube, sie wußte jetzt, daß sie schutzlos dem Untergange preisgegeben war durch eine Anklage, welche größere Todesgefahr brachte als der Biß einer Kreuzotter an heißem Tage. Aber ihr Schmerz war in diesem Augenblick niedergekämpft, hochaufgerichtet und in stolzer Haltung trat sie den Herren gegenüber, so daß diese mit mehr Höflichkeit und Vorsicht, als vorher in ihrer Meinung gewesen war, das Verhör begannen. Sie begutachteten Kräuter und Flaschen und sorgten dafür, daß der Vorrat, welcher unheimliches Rüstzeug des Bösen sein konnte, aus dem Zimmer entfernt wurde. Judith antwortete auf alle Fragen ruhig, sicher und mit klugem Bedacht. Sie erzählte, daß sie ihre Heilkunde von dem verstorbenen Vater erlernt, sie öffnete die Kammertür, und als ein schwarzer Vogel hereinflog, stellte sie ihm die Bibel hin und der Vogel setzte sich nach einem Wink darauf und pfiff seine Weise, so daß der alte Konsistorialrat Glassius laut sagte: »Mir wird leichter ums Herz, denn dieser Vogel scheint durchaus eine natürliche Amsel«, bis einer der Kollegen das Titelblatt des heiligen Buches aufschlug und, nach dem Druckort sehend, bedeutsam sagte: »Schismatisch«. Da wurde der Vogel noch verdächtiger als er gewesen. Judith lächelte stolz, als das rote Käppchen des Hausgeistes erwähnt worden war, und sie antwortete: »Den hochehrwürdigen Herren ist ja bewußt, daß Kinder und Erwachsene auf dem Lande überall Erdmännchen und Hausgeister sehen.«

Als sie gefragt wurde, wo ihre Dienerin Ursula sei, erklärte sie, das nicht zu wissen, und als ihr die Äußerung Reginas zu Gemüte geführt wurde, antwortete sie kurz: »Ich war der Jungfer fremd«, und setzte nach einer Weile in herbem Tone hinzu: »Ich denke, es geschah ihr ein großer Dienst, daß sie von mir weg nach der Stadt geholt wurde.«

So stark war der Eindruck, welchen ihr festes Benehmen auf die Verhörenden machte, daß sie milder gestimmt wurden und sich der Ansicht zuneigten, die Hauptschuld der Angeklagten sei am Ende nur ein verwegenes Kochen von Kräutern, welches mit Kirchenbuße und strenger Gefängnishaft zu sühnen wäre. Doch freilich blieb einiges sehr Bedrohliche zurück, vor allem als schwerste Anschuldigung, daß sie in der Nacht an unheimlicher Stelle im Walde bei zauberischem Werk gesehen worden war und bei ihr der alte Versucher in Gestalt des wilden Jägers. Als sie darüber befragt wurde, rötete sich ihr bleiches Gesicht und sie schwieg hartnäckig, so daß die Herren einander kopfschüttelnd ansahen. Und als der verhörende Richter darauf mit größerer Strenge über ihren vertraulichen Verkehr mit dem höllischen Nachtjäger zu inquirieren begann, da brach ihr empörtes Gefühl leidenschaftlich heraus und sie rief mit blitzenden Augen: »Schmach und Schande über die Herren, daß sie es wagen, einer ehrbaren Jungfrau so schamlose Fragen zu stellen. Hätte ich die Macht, ich würde euch aus dem Hause jagen, wie man einen bösen Hund hinausjagt.« Sie schlug die Arme übereinander, blieb stumm und keine Drohung mit Gewalt und peinlichem Verhör vermochte ihr fortan ein Wort abzugewinnen. Da freilich erkannten die Richter das verhärtete Gemüt und daß der Prozeß mit aller Strenge durchzuführen sein werde, und weil auch der Tag dahinschwand und das Abenddunkel die Stube der Zauberin noch unbehaglicher machte als sie sonst schon war, so wurde das Protokoll schnell geschlossen. Der Jungfrau ward mitgeteilt, daß sie in Haft sei, und da das Dorf kein Gefängnis hatte, wurde zur Behütung der Gefangenen, sowie zu der nicht weniger wünschenswerten Bewahrung ihrer Habe befohlen, daß zwei Bewaffnete bei Tag und Nacht an dem Hause wachen sollten. Der Schloßprediger aber, dem vieles an der Gefangenen gefallen hatte, vielleicht auch, daß sie der Jungfer Regine ohne Zuneigung gedacht, bestand darauf, daß ihr als einer Pfarrerstochter bis nach gefällter Sentenz eine christliche Frau aus dem Dorf zur Beschaffung des notwendigen Lebensunterhaltes beigeordnet werde. Als die Leute draußen gefragt wurden, wer das Amt übernehmen wolle, war niemand bereit; endlich trat ein halbwüchsiges Mädchen hervor und sagte weinend: »Sie hat meine Mutter in der letzten Krankheit gepflegt. Der liebe Gott wird mich nicht verstoßen, wenn ich zu ihr gehe.« Da die Richter ungern die eigene Rückfahrt aufschieben wollten, nahmen sie das Mädchen schleunig in Pflicht, verschlossen das Haus und übergaben den Schlüssel dem Pfarrer.

Als die Haustür zugeschlagen wurde, klang aus der Stube ein gellender Schrei, dann wurde es still. Es war der Angstruf eines Weibes, welches von seiner Liebe und dem Leben geschieden ward.

Der Amtsschreiber eilte in den Stall, um die Kuh Bleß und, was ihm noch mehr am Herzen lag, den Zelter in seine Verwahrung zu nehmen; aber er sah erstaunt, daß das Pferd verschwunden war. Da erst fiel ihm der fremde Knabe ein, und er fragte die Umstehenden nach diesem, doch auch ihn hatte niemand gesehen.

Am nächsten Morgen fand der Schreiber sein Hoftor geöffnet und sein eigenes Pferd, einen tüchtigen Klepper, gestohlen; die Spuren führten aufwärts nach den Bergen, sie wurden endlich unsichtbar und alle Nachforschung im Walde war vergebens. Zu Regine aber kam in derselben Stunde ein Schloßmädchen: »Draußen am Tor steht ein Knabe, welcher der Jungfrau ein Geschenk übergeben soll, er hat es eilig, doch will ihn die Wache nicht einlassen.«

»Wie sieht er aus?« fragte Regine neugierig und ging nach der Antwort herab zum Tore. Dort saß Pieps auf der Bank; er nahm in Gegenwart der Trabanten, die ihn argwöhnisch betrachteten, höflich die Mütze ab und bot einen Korb: »Dies soll ich zur Verwahrung übergeben.« Und leiser setzte er hinzu: »Euer Zelter steht in der Herberge am Tor, er ist für schnellen Ritt nicht zu gebrauchen. Wo liegt der Königsmark?« Regine sah erstaunt die verstörte Miene und die rollenden Augen des Knaben.

»Hinter Göttingen.«

»Und wo liegt Göttingen?« fragte Pieps wieder. »Weist mit der Hand nach der Richtung.« Als Regine die Himmelsgegend gezeigt hatte, so gut sie wußte, grüßte der Knabe wieder und lief den Berg hinab, bevor sie ihn ausfragen konnte. Sie trug den Korb in ihre Kammer, fand Sachen des Bruders darin, welche ihm lieb waren, und machte sich Gedanken über die geheimnisvolle Sendung.

Als sie aber einige Stunden darauf allein im Vorzimmer der Herzogin saß, trat der Lizentiat Hermann ein. Regine hatte seinem ehrerbietigen Gruße jeden Morgen freundlich gedankt und zuweilen nach der Tür gesehen, wenn die Stunde kam, in welcher er durch das Zimmer schritt, zuweilen auch, wenn er sie anzureden wagte, hatte es ein Wechselgespräch gegeben, an welches Regine den Tag über dachte. Heut sah sie wieder freundlich nach ihm hin, aber befremdet erkannte sie den düsteren Ernst seiner Miene. Schneller als sonst kam er auf sie zu und begann: »Die werte Jungfer Königin bitte ich an den Spruch zu denken: Denen, die Gott lieben – und ferner an den zweiten: Wen der Herr lieb hat –.«

»Ich denke daran«, sagte Regine aufstehend und neigte das Haupt.

»Denn«, fuhr Hermann fort, »ich habe mitzuteilen, was sowohl kläglich als schrecklich ist, und ich bitte inständig, daß die liebe Jungfer nicht den Boten entgelten lasse, was er wahrlich in tiefem Mitgefühl sagen muß.«

»Was ist dem Bruder geschehen?« fragte das erschreckte Mädchen.

»Nicht dem Bruder,« antwortete der Lizentiat, »sondern der Jungfer im Walde. Sie ist wegen Zauberei angeklagt und gestern im Dorfe von einem hohen Konsistorium verhört worden.«

»Sie ist von schlechten Menschen verleumdet«, rief Regine, händeringend.

»Sie wird als Gefangene in ihrem Hause verstrickt gehalten,« versetzte Hermann, »und wie ich vernehme, liegen schwere Anschuldigungen vor.«

»Sorgt nicht,« sprach das Mädchen mit bebender Stimme, »ihre Unschuld wird sich ergeben.«

»Ich bitte die Jungfer, sich der gewichtigen Worte zu erinnern, welche mir dieselbe auf der Reise hierher sagte,« fuhr der junge Mann feierlich fort, »daß uns nur die Liebe aus unserem traurigen Zustande erretten kann, und daß diese Liebe selten ist auch bei den Richtern. Es sind verlorene Stimmen in der Wüste, welche seither gegen das grausame und ungerechte Verfahren in zauberischen Händeln protestiert haben, und ich fürchte, viele Unschuldige werden geopfert, bevor einmal ein Schuldiger getroffen wird. Ich kenne die herzbrechende Klage, welche ein Unbekannter in einem lateinischen Büchlein gegen die Grausamkeit der gerichtlichen Prozedur veröffentlicht hat, und ich habe seitdem solche Anklagen beachtet, aber ich habe niemals gesehen, daß die Angeklagten sich zu retten imstande waren.«

»Ich muß zu ihr«, rief Regine.

»Weil ich solchen Entschluß für möglich hielt, habe ich gewagt, die Jungfer in dieser Sache anzureden mit flehentlicher Bitte, solchen Gedanken nicht auszuführen, denn Euch selbst bedroht die Gefahr.«

»Mich?« fragte Regine, das Haupt hebend. »Was kann mir geschehen?«

»Wer einer Gemeinschaft mit den Angeklagten bezichtigt wird, ist verdächtig, und wer verdächtig wird, der ist verloren.«

»Ich aber will Zeugnis geben für sie,« rief Regine, »was mir auch darum geschehe.«

»Die Jungfer kann nichts bezeugen, als ihres Herzens Meinung zum Mißfallen der Richter. Könntet Ihr der Jungfrau Möring dadurch auch nur einen mäßigen Dienst erweisen, so würde ich, obgleich mit blutendem Herzen, vermeiden, Euch abzuraten. Von den Richtern aber wird Eure unschuldige Aussage nur zum Schaden der anderen gedreht und umgedeutet werden und ihr Schicksal verschlimmern.«

»Führt mich zum Herzog, daß ich ihn anflehe.«

»Auch dies widerrate ich,« bat der Kandidat, »denn der Herzog wird in solchem Falle sein fürstliches Belieben gegenüber der gerichtlichen Prozedur niemals geltend machen, zumal da diese Prozedur vorgibt, sich sowohl auf göttliches als menschliches Recht zu stützen. Mir ist bewußt, daß bei jedem Prozesse dieser Art unsern frommen Herrn herzliche Angst beunruhigt, aber er ist selbst in seinem Leben so schwer durch die Bosheit der Menschen gekränkt worden, daß er für eine teure fürstliche Pflicht hält, der Macht des Satans durch scharfes Verfahren entgegenzuarbeiten.«

Das Mädchen stand mit gerungenen Händen, und auch dem Lizentiaten zitterte die Stimme, als er fortfuhr: »In bitterer Sorge um die liebe Jungfer selbst wage ich nur eine Bitte: Handelt in dieser schweren Prüfung nach dem Glauben, welchen Ihr bekennet; stellt alles dem anheim, bei dem allein Hilfe ist, verbergt vor jedermann die große Bewegung Eures Gemütes und lebt in dem Vertrauen, daß zuletzt alles wohlgemacht wird, wenn auch die Wege für uns unerforschlich sind und zuweilen menschlichem Verstand furchtbar erscheinen.«

»Ach, Herr,« klagte das Mädchen, »innerer Friede wird uns nur zuteil, wenn wir vorher alles getan haben, was unsere Pflicht ist, und ich vermag den Gedanken nicht zu ertragen, daß ich in scheinbarer Ruhe leben soll, während eine, die gütig gegen mich war, in Todesgefahr ringt.«

»Gerade um ihretwillen sollt Ihr Euch fassen, denn wenn es noch möglich ist, zu seiner Zeit den Herzog günstig für die Angeklagte zu stimmen, so kann das mit Eurer Hilfe und durch Euer Zeugnis nur geschehen, wenn Ihr selbst keinerlei Leidenschaft und geheime Verstörung offenbart.«

»Ich will mich mühen,« antwortete Regine, tief aufatmend, »so zu sein, wie der Herr für heilsam erklärt; ich bitte aber, mich Schwache dadurch zu stärken, daß Ihr mich unter den fremden Herrschaften hier nicht trauriger Ungewißheit überlaßt, sondern mir aufrichtig mitteilt, wann ich vor dem Herzoge meine Stimme erheben darf.« Das versprach der Lizentiat, hingerissen von ihrem Schmerz, aber er gedachte auch, sie selbst soviel als möglich vor der Gefahr zu schützen, die er für sie voraussah.

Unterdes jagte ein Knabe in gestrecktem Rosseslauf auf der Landstraße dahin. Die heiße Julisonne brannte ihm die Haut, und der Gewitterregen durchnäßte das Kleid, aber unverrückt suchte sein Auge am Himmel und auf dem Wege die Richtung nach Norden. Traf er Leute auf der Landstraße, so fuhr er in schnellstem Rennen vorbei oder umritt sie in weitem Bogen. Mehr als einmal wurde er angehalten, dann log er, sein Herr sei als Bote des Königsmark von Räubern überfallen, er selbst habe sich auf dem Pferde eines Räubers gerettet und eile mit der üblen Kunde zum General. Zuweilen fühlten die Leute Mitleiden, wiesen ihm den Weg und boten ihm einen Trunk und Brot; einmal griff die begehrliche Hand eines Strolches nach dem Zügel, aber sie zuckte, von dem scharfen Messer des Knaben geschnitten, zurück, und die Drohungen des Mannes verhallten hinter dem Flüchtigen. Am Abend des zweiten Tages brach das Pferd zusammen, er ließ es liegen, ohne sich danach umzuwenden, und lief zu Fuß weiter. Bei Göttingen kam er in die Wegspuren seiner Regimenter; er fand Weiber des Trosses, die er kannte, und erfuhr von ihnen, daß der Heerhaufen einen Tagemarsch nordwärts an der Leine rastete.

Denn dort sollten die weimarischen Regimenter sich mit dem kleinen Heere des Generals Königsmark vereinigen. Der Herr empfing die Anziehenden auf freiem Feld in großem Ornate, er hatte sein Heer so aufgestellt, daß es von drei Seiten einen freien Raum umfaßte, und Wilhelm wies mit herbem Lächeln seinem Freunde Bernhard die schwedischen Kanoniere, welche mit brennender Lunte bei ihren Geschützen standen. Die von Weimar zogen gegenüber in Reih und Glied auf, jedes Regiment gefolgt von seinem Troß. Die Beritte mußten sich drängen, weil, wie die schwedischen Offiziere bedauernd sagten, Mangel an Raum war. Wilhelm trabte mit seinem Gefolge vor und begrüßte den Feldherrn, welcher, den Hut abnehmend, dankte. Darauf rief der weimarische Feldoberst mit heller Stimme die Namen der Regimenter, und als von jedem der laute Gegenruf unter den geschwungenen Standarten: Hier Alt-Rosen! Hier Taupadel! geantwortet hatte, meldete er, zum Schweden gewandt: »Herr Generalleutnant, wir alle sind bereit, der Krone Schweden den Eid zu leisten.«

Königsmark bewegte sich einige Schritte vorwärts und fragte überrascht: »Auch Ihr?« – Und als Wilhelm höflich bejahte, fragte er weiter: »Auf meine Bedingungen?«

»Auf Eure Bedingungen«, wiederholte der andere.

Über den gesenkten Standarten und Fahnen wurden von schwedischen Offizieren die neuen Farben befestigt. Dann ritten die weimarischen Offiziere vor der Front in großem Ringe zusammen, der Eid wurde ihnen verkündigt, und sie schworen mit aufgereckten Fingern, als erster Wilhelm.

Nur Bernhard schwenkte den Hut zum Abschiede gegen die Standarte seiner Kompanie, rief dem Volke zu: »Lebt wohl, Kameraden«, und ritt, gefolgt von seinen Knechten, zur Seite.

Nach den Führern wurde der Soldat regimenterweise in Pflicht genommen. Königsmark beobachtete während der Zeremonie mit stillem Triumph seinen neuen Erwerb und konnte sich nicht enthalten, zuweilen seiner Freude laute Worte zu geben, denn er sah narbige Gesichter, sehnige Gestalten, wie aus Erz gegossen, und die sichere Haltung kampfgewohnter Männer. Aber er merkte auch an vielen finstere und traurige Mienen und erkannte, daß sie nicht freudig zu ihm kamen, sondern im Gebote harter Not. Als er so prüfend von seinem Platze die Front entlang ritt, kam er in die Nähe Bernhards und begann:

»Wie, Herr Abgesandter? Ihr seid der einzige, der nicht gut schwedisch sein will?«

»Die Ehre verbietet mir, meine Kompanie abzugeben, und sie verbietet mir auch, als dem einzigen unter meinen Kameraden, die Kompanie zu behalten«, entgegnete Bernhard.

»Ich hätte andere, die ich hier sehe, lieber gemißt als Euch«, sagte höflich der General. »Gewinnt Ihr einmal Lust zu schwedischem Dienst, so kommt zu mir. Verlaßt Euch auf mein Wort, ich schaffe Euch eine Bestallung.«

In der Herberge wartete Bernhard lange vergeblich auf den Freund, welcher zum Generalleutnant entboten war. Als Wilhelm eintrat, warf er sich finster in einen Sessel und drückte den Hut tief in die Augen. »Der General meint, er habe mich beseitigt, aber er könnte sich irren. Merk auf! Die Regimenter sind unter dem Vorwand guter Quartiere weitläufig auseinandergelegt, um den Verkehr zwischen ihnen zu erschweren, sie werden neu formiert, je zwei und zwei zu einem vereint mit neuen Standarten und neuen Obersten.«

»Das haben wir erwartet, und der Schwede ist in seinem Recht«, warf der Freund ein. »Jeder Feldherr würde ebenso verfahren.«

»Mich wundert, daß du den Schweden lobst«, sagte Wilhelm mißtrauisch.

»Ich habe mich seinem Dienste versagt,« versetzte Bernhard ruhig, »aber ich will ihn nicht unbillig verurteilen. Doch am meisten liegt mir auf der Seele: Was ist aus dir geworden?«

»Ein Oberstleutnant ohne Kommando«, sagte Wilhelm bitter.

»Auch das ist fast mehr, als wir erwartet haben.«

»Meinst du?« fragte der Unzufriedene. »So höre denn, der General pries mit glatten Worten meine Führung und rühmte sich, daß er dem schwedischen Kronkommissar, der ihm als Wächter gesetzt sei, mein Patent abgerungen habe; er fügte mit falscher Freundlichkeit hinzu, daß er sogleich meine Dienste fordern müsse; mit vertrautem Schreiben soll ich morgen bei Anbruch des Tages zum Feldmarschall Wrangel. Verstehst du, was das bedeutet? Ich soll getrennt werden von unseren Völkern, und sie werden dafür sorgen, mich in der Ferne festzuhalten, bis sie hier nach ihrem Gutdünken reformiert haben. Du hast den besseren Teil erwählt, Bernhard, dennoch denke ich, du sollst von mir hören. Grüße deine Schwester und sage ihr, meine weltliche Kunst, andere zu behandeln, habe mir schlechten Lohn eingetragen. Zuletzt hat mir keiner Dank gewußt, nicht unsere Leute, nicht die Fremden.«

»Ich aber,« antwortete Bernhard, »für gute Kameradschaft in guten und schlechten Tagen. Das will ich dir sagen, bevor wir scheiden. Denn du sollst jetzt für dein Glück unter den Schweden sorgen, ich aber werde mit leichtem Herzen und fröhlichem Mut zum Ehemann und Hausvater.«

»Laß Wein auftragen, mein Bruder,« rief Wilhelm, »wir wollen noch einmal wie Studiosen zusammensitzen, wir wollen denken, daß die ganze Kriegsfahrt zu Ehren Deutschlands und daß unser Heerbefehl nichts anderes war, als ein Studentenkönigreich, das wir am heiligen Dreikönigsabend angestellt haben. Jetzt sind alle unsere Mannen von der Bank gefallen, wir beide aber sitzen fest. Wer am längsten auf dieser Erde den Becher hebt, der bleibt Sieger.«

Die Tür wurde aufgerissen; bei dem trüben Licht sah Bernhard eine kleine Gestalt, welche mit wankendem Schritt auf ihn zukam. Vor seinen Füßen brach der Bube zusammen. Bernhard beugte sich zu ihm nieder, und das matte Kind flüsterte ihm wenige Worte in das Ohr. Da sank auch der starke Mann, wie von einem Schlage getroffen, zurück, und das Blut wich aus seinem Angesicht.


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