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Noch an demselben Abend hatten die Nachbarn Rafaels die Neuigkeit erfahren; am nächsten Morgen ging sie von Mund zu Mund und weckte ungemessenes Staunen und Grauen. Gott hatte den Frevel an seinem heiligen Namen gerächt, die Frevlerin in den Staub geschmettert; als Todkranke, als Bettlerin war Judith Trachtenberg heimgekehrt, und die Leute, die sie gesehen, meinten, daß sie wohl sterben werde – die Rechnung war ausgeglichen: hier war kein Anlaß mehr zu Mitleid oder Verfolgung. Aber eben weil hier Gott selbst gerichtet, darum lobten sie Rafael, daß er ihm nicht in den rächenden Arm gefallen, und tadelten Miriam, weil sie dies gewagt. »Sie bringt sich um ihr künftig Heil«, urteilten die Milderen und die Besseren, »zu der Verantwortung, die sie um ihres eigenen entarteten Kindes willen treffen muß, fügt sie diese neue Schuld!« Anders die Rohen und Strengen, welche, von Neugier getrieben, seit dem frühen Morgen das Häuschen in Roskowka umlagert hielten, um durch das Fenster oder beim Öffnen der Türe Gottes Opfer zu sehen. Als die Greisin aus dem Stübchen trat und sie beschwor, zu gehen oder doch die Stimmen zu dämpfen, damit die Kranke nicht beunruhigt werde, wichen nur wenige zurück, die meisten drängten drohend heran. »Schäme dich«, riefen sie ihr zu, »du bringst Schmach über die Gemeinde!«
Aber das arme, schwache Weiblein, das sonst im Bewußtsein seines Unglücks, seiner Dürftigkeit demütig dahingeschlichen und sich vor dem Geringsten gebeugt, damit er ihm die Sünde seiner Tochter vergebe, wich nicht. Stolz aufgerichtet stand Miriam da, und auf dem welken Antlitz lag jener Glanz wie am Abend zuvor, da sie erkannt, wozu Gott ihre Reue brauchen könne. »Schämt euch!« rief sie. »Ihr Törichten, was wißt ihr von Ihm und was vor Ihm eine Schmach ist! Zurück, sag ich!« Und es mußte wohl etwas in diesem Antlitz, diesen Worten sein, was selbst die Rohen traf, denn sie gaben Raum.
Freilich nur eine Sekunde lang, dann rief einer: »Hat sich noch kein Christ gefunden, der dich heiraten will?« – und der Hohn löste den Zauber.
Aber da kam der Miriam Hilfe. Einer der Vorsteher der Gemeinde, der greise Simon Tragmann, ging vorbei und trat schützend vor die Greisin. »Geht!« rief er gebieterisch. »Wo Gott gesprochen, haben die Menschen zu schweigen! Geht – ich fordere es im Namen eures toten Wohltäters. War's sein Wille, daß die Sünderin an seiner Seite ruhe, so will er auch, daß sie im Frieden sterbe.«
Darauf verließen sie das Häuschen und ballten sich auf der Straße zusammen und sprachen nur noch halblaut miteinander. Die Neugier hielt sie fest – kaum wußten sie selbst, worauf sie warteten, aber das Unerhörte mußte doch auch irgendwelche Folgen haben.
Zunächst freilich harrten sie vergebens. Nur der alte Arzt, der bereits im Morgengrauen dagewesen, trat ins Häuschen. Aber während er noch drinnen verweilte, kam ein Wagen gefahren, in welchem das Oberhaupt der Stadt saß, der Herr Bürgermeister. Als er die Ansammlung sah, widerstand er schwer der Versuchung, eine Rede zu halten, dann aber besann er sich, daß er ja gekommen, nach seinem Mündel zu sehen, und ging in die Krankenstube. Dort händigte er der Miriam einen größeren Betrag für die Pflege ein und erkundigte sich bei Doktor Reiser nach dem Stande der Krankheit. Aber dieser vermied jede bestimmte Antwort: Judith liege an einem heftigen Nervenfieber, ob sie davonkommen werde, wisse er nicht. Der Herr Bürgermeister fühlte sich dadurch veranlaßt, seinem lebhaften Mitgefühl in beredten Worten Ausdruck zu geben, und da er, wenn er erst den Klang der eigenen Stimme vernommen, sich nicht so bald wieder von dem Genuß ihres Wohllauts trennen konnte, so richtete er nun auch an Miriam eine Lobrede über ihre Barmherzigkeit. Aber die alte Frau unterbrach ihn kurz mit der Bitte, die Kranke nicht zu erregen, und noch energischer verfuhr der Arzt: Er nahm den Demosthenes unter den Arm und führte ihn hinaus.
Dort aber, vor der Türe, ward ihnen ein Anblick, der auch die Gaffer für ihr Ausharren belohnte: Vom Schlosse her kam im Galopp eine Equipage herangebraust und hielt vor dem Häuschen. Graf Agenor sprang heraus und eilte, bleich, zitternd vor Erregung, auf die beiden Männer zu. »Wie steht's?« stieß er angstvoll hervor und faßte die Hand des Arztes.
Doktor Reiser gab zögernd Bescheid; allzu freundlich war dabei sein Antlitz nicht.
»Ich muß zu ihr!« rief Agenor. »Sie soll gleich ins Schloß gebracht werden, sie und mein Knabe. Ich lasse sie keinen Augenblick länger hier...«
»Hm – hm!« Der Arzt räusperte sich langgedehnt. »Das wäre doch erst zu überlegen! Ihr Anblick dürfte auf die Kranke nicht eben beruhigend...«
Er konnte nicht vollenden; die Miriam war in den Flur gestürzt und vor den Grafen getreten.
»Hinweg!« rief sie gellend. »Hinweg!« wiederholte sie leiser, aber mit herbster Entschiedenheit. »Die Judith und ihr Kind bleiben hier...«
»Frau«, sagte der Graf bittend, »ich bin Ihnen für Ihre Barmherzigkeit sehr dankbar, aber im Schloß kann sie ja bessere Luft und Pflege haben...«
»Ihren Dank brauch ich nicht«, erwiderte Miriam, nun fast flüsternd, sie tat sich offenbar den größten Zwang an. »Es kann ja auch nicht jeder so barmherzig sein wie Sie... Die Judith bleibt bei mir, sag ich, und das Würmchen auch! Niemand kann sie besser pflegen als ich, und die Luft – es ist keine gute Luft in Ihrem Schloß, Herr Graf, sie richtet zugrunde...«
»Ich fordere mein Recht«, erwiderte Agenor. »Meine Familie...«
»Still!« Die Greisin trat noch näher an ihn heran, kaum vernehmbar fielen die Worte von ihren Lippen. »Ihr Weib, wollen Sie sagen? Zwingen Sie mich, davon zu sprechen...«
Er wich zurück und verstummte. »Herr Doktor«, wandte er sich flehend an den Arzt. Aber dieser schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen, Herr Graf«, sagte er. »Kommen sie, meine Herren. Die alte Frau da ist drinnen nötig.«
... Einige Stunden später ging das Gerücht durchs Städtchen, die Judith sei gestorben. Hunderte strömten nach Roskowka, sich Gewißheit zu holen; die Nachricht war falsch. Vielleicht war sie nur deshalb entstanden und tauchte auch in den nächsten Tagen immer wieder auf, weil es die Leute für undenkbar hielten, daß die Unglückliche genesen könne: Gott hatte sie ja verurteilt, und das Grab harrte schon – so war alles in Richtigkeit. Als sie nun aber leben blieb und der Arzt jedem, der ihn fragte, von Tag zu Tag bessere Nachricht gab, wurden die Leute unruhig, Juden wie Christen – wenn sie leben blieb, so stimmte die Rechnung nicht mehr; wie sollte man dann über sie urteilen, wie sich zu ihr stellen? Dennoch gab es im Städtchen wohl nur einen Menschen, der ihr aus ganzem Herzen den Tod wünschte; das war Herr Ludwig von Wroblewski. Ihre Genesung bedrohte seine Sicherheit; von dem Grafen hatte er nichts zu fürchten, aber genas sie und reichte die Klage bei Groza ein, dann war es mit seinem schönen, behaglichen Leben für immer vorbei, dann nahm ihn ein engerer Wohnraum auf als das Schloß, und daß wohl gleichzeitig mit ihm auch den Grafen das Verderben ereilte, konnte ihm nur geringen Trost gewähren. Je günstiger die Nachrichten aus der Krankenstube klangen, desto schlafloser wurden seine Nächte, und als er – drei Wochen waren seit Judiths Heimkehr vergangen – die Kunde erhielt, daß sie bereits außer Bett sei, ließ er Agenor um eine Unterredung bitten. Denn der Graf litt ihn zwar in seinem Hause und hatte bisher selbst die frechsten Wünsche nicht zu weigern gewagt, aber ihr unfreundliches Gespräch im Januar, unmittelbar nach des Grafen Heimkehr, war zugleich das einzige geblieben; Agenor wich ihm aus; statt seiner verhandelte, wenn es sein mußte, der Anwalt mit dem Exkommissär – weil er selbst zu feige ist, dachte dieser, mein Verlangen nach einer Unterredung wird er nun ebendarum gleichfalls nicht abzuschlagen wagen. Er irrte, Agenor lehnte ab. Nun mußte Wroblewski zur Feder greifen; in lebhaften Farben schilderte sein Brief die Gerüchte über die Scheinehe, die schon früher in adeligen Kreisen im Umlauf gewesen und nun, seit Judiths Heimkehr, jedem Menschen auf zehn Meilen in der Runde bekannt seien. Niemand zweifle an ihrer Wahrheit, es sei nur rätselhaft, daß sich Groza bisher nicht darum gekümmert – wie aber, wenn nun Judith spräche? Ihm selbst, schloß er, drohe ja auch dann keine Gefahr, nur seine Freundestreue bestimme ihn zu dieser Warnung. Aber auch dieser bewegliche Brief blieb ohne Antwort, und als sich Wroblewski nun an den Anwalt wendete, erwiderte dieser: der Graf glaube von der Mutter seines Kindes nichts befürchten zu müssen; spräche Judith doch, so werde dies zunächst Herrn von Wroblewski unangenehm sein, da sich aus den Aussagen des Ignaz Trudka ergeben werde, daß ihm der Hauptanteil an jenen unerquicklichen Vorfällen gebühre; besagter Trudka habe sich ihm zu diesem Zwecke vor einigen Wochen zur Verfügung gestellt. Es war eine schlimme Stunde für den Exkommissär, als er diese Antwort las; da ihm kein Mahnbrief mehr aus Mohilew zugekommen, so hatte er auch nichts geschickt und das Geld für sich verwendet – nun tauchte dieser Mensch wieder auf!... Pah! dachte er dann, wenn dem Grafen nicht bange ist, was sollt' ich mich sorgen? Er hat seine Ehre zu verlieren, ich wahrhaftig nicht! Aber ganz leicht wollt' es ihm doch nicht wieder zumut werden.
Vielleicht überschätzte er die Stellung des Grafen, indem er so dachte, vielleicht hatte auch dieser nach der Ansicht der Leute seine Ehre nicht mehr zu verlieren. Judiths Heimkehr hatte jene Gerüchte tatsächlich belebt und verschärft; ob es seine Standesgenossen unwürdig fanden, daß er einer Jüdin wegen überhaupt so viele Umstände gemacht, oder ob sie seine Mittel tadelten – in seiner Verurteilung fanden sich alle zusammen. Aber diese Mißachtung, die ihm in den ersten Wochen seiner Heimkehr das bitterste Weh bereitet, schien ihm nun gering angesichts des schwereren Leids, welches über seine Seele gekommen: der zehrenden Reue, der bohrenden Angst vor den Gerichten. Alles Gute und Schlimme seines Wesens wirkte vereint zusammen, ihm diese Qual zu verschärfen; seine Liebe für die Unglückliche, die brennende Sehnsucht, sein Fehl zu büßen und die Selbstachtung zurückzugewinnen, aber nicht minder jener falsche, äußerliche Begriff, der ihm einst jede Sünde geringer hatte erscheinen lassen als die Verheiratung mit der Jüdin. »Sie darf nicht sterben!« rief er in fast sinnloser Angst dem alten Arzte zu, den er in diesen Schmerzenstagen täglich besuchte. »Und sie darf mich nicht anklagen!« fügte er im nächsten Atemzuge mit derselben Leidenschaftlichkeit hinzu; vielleicht war ihm selbst nicht klar, wovor ihm mehr bangte, was ihn schmerzlicher getroffen hätte. Doktor Reiser, der ihm anfangs hart genug begegnete, empfand allmählich Mitleid mit dem gequälten Manne, und als ihn dieser beschwor, zwischen ihm und Judith zu vermitteln, ihm zu ermöglichen, jenen Vorsatz auszuführen, den er schon vor ihrer Heimkehr gefaßt, versprach er, einen Versuch zu wagen.
Aber so vorsichtig er ihn unternahm, schon bei seiner ersten Andeutung röteten sich die bleichen Wangen der Genesenden, und abwehrend streckte sie die Hand gegen ihn aus. »Sprechen Sie's nicht aus«, rief sie, »noch wär ich nicht stark genug, es anzuhören! Kehrt mir die Kraft zurück, dann will ich seiner gedenken...«
»Um ihn zu verderben«, sagte der alte Mann traurig.
»Um meine Pflicht gegen mich und mein Kind und meinen Bruder zu tun!« erwiderte sie. »Oh, Sie wissen nicht, wie sehr er an mir gefrevelt hat! Sogar mein Erbe wollt' er mir rauben!«
»Dies doch wohl nicht!« wandte der Arzt ein.
»Ich meine mein Grab«, rief sie wild ausbrechend, »mein Bestes, was mir geblieben ist – ach, es ist ja mehr, als ich noch je zu hoffen gewagt habe... Sie sehen mich so seltsam an, Herr Doktor, aber mein Kopf ist klar, ich sehe jetzt alles, wie es war, auch seine Feigheit, seine Schlechtigkeit! Oh, wie groß sie waren, wie groß!«
»Lassen wir das Gespräch«, bat Doktor Reiser und faßte ihre Hand. »Ich sehe, Sie hassen ihn, und da habe ich nichts mehr zu sagen!«
»Ja, ich hass' ihn«, sagte sie dumpf, »aber ich tu ihm nicht unrecht. Daß er mich betrogen und in seine Arme gerissen hat – das kann ich noch verstehen, ich könnt's sogar vergeben. Wie hätt er wissen sollen, daß auch die Jüdin ein menschlich Wesen ist und ein Herz im Leibe hat und Ehre? Auch weiß ich ja wohl, wie sehr ihn jener Schurke anstachelte und ihm die Wege ebnete und alles glattstrich, auch das Gewissen. Und dann – in seiner Art hat er mich ja wirklich geliebt... Aber noch mehr kann ich verstehen: sogar den häßlichen Betrug, die Scheintrauung, zu der ihn der Schurke gleichfalls bewog... Ein Baranowski! Es schien ihm der einzige Ausweg. Und dann, er raubte, er stahl mir meine Ehre vor den Menschen, aber er nahm nicht, ohne zu geben, was er geben konnte: die Versorgung, seinen Schutz, seine Treue. Ein anderes jedoch stahl und raubte er mir, ohne es zu ersetzen, und das war wahrlich ein noch heiligeres Gut! Er stahl mir meinen Glauben und gab mir dafür – einige Tropfen Wasser aus der Hand eines Gauners. Und dieses Verbrechen konnte ihm selbst nicht so nötig erscheinen wie jenes erste. Er befürchtete, ich könnte sonst Verdacht schöpfen. Aber kann ihn dies entschuldigen? Darf ein Mensch dem anderen sein Heiligstes rauben, nur um darüber beruhigt zu sein, daß sein Frevel unentdeckt bleiben wird? Und er hätte sich ja die Ruhe so leicht auf andere Weise schaffen können, er wußte ja, wie blind ich ihm glaubte – die dümmste Ausrede, warum diesmal die Taufe nicht nötig sei, und der Frevel wäre überflüssig gewesen. Aber daran dachte er nicht einmal! Eine Jüdin – hat die überhaupt ein Gemüt, was braucht die einen Glauben? Und als ich ihm sagte, daß ich ihn brauchte, als er sah, daß kalte Dämmerung um mich war und ich im Schmachten nach Licht und Wärme fast verging, da war ihm dies recht unbequem, es erinnerte ihn ja an seinen Frevel, aber dies war auch die einzige Empfindung, die er dabei hatte!«
»Und wenn er anders empfand, was hätte er tun sollen? Hätte er Sie etwa nachträglich taufen lassen oder ohne diese Formalität zu seinem Glauben bekehren sollen? Wäre dies der geringere Frevel gewesen?«
»Nach meiner Empfindung sicherlich!« erwiderte sie fest. »Wäre ich nun Katholikin, ich empfände dies jetzt gewiß als ein furchtbares Unglück, jedoch seine Schuld wäre in meinen Augen geringer. Aber nun hören Sie ferner! Als ich erfuhr, daß mein Vater tot sei, und mich als seine Mörderin fühlte, als sich meine Seele in Schmerzen wand, wie sie der Allerbarmer wenigen Menschen auferlegt haben mag, und ich den Mann, den ich liebte, beschwor: Ich will meinem Vater in unserer Weise nachtrauern und beten, damit ich nicht wahnsinnig werde, erbarme dich und sag mir die Wahrheit! – da log er! Haben Sie auch dafür eine Entschuldigung bereit?«
»Nein«, erwiderte der alte Herr, »keine Entschuldigung, aber eine Sühne. Wozu Graf Agenor nun bereit ist, wissen Sie ja wohl schon durch Ihre Pflegerin. Er hatte kaum von Ihrer Heimkehr erfahren, als er hierher eilte, um sein Weib, sein Kind vor aller Welt Augen in sein Schloß zu führen... Wie blaß Sie werden! – Blieb Ihnen dies verschwiegen?«
Aus ihren Wangen war alles Blut gewichen, das Haupt sank auf die Stuhllehne zurück, die blassen Lippen öffneten sich. »Es ist nichts«, murmelte sie, als er besorgt ihre Hand ergriff. Sie atmete mühsam. »Die Miriam erzählte es mir, aber ich deutete es anders...«
»Und nun«, fragte er, »wo Sie die richtige Deutung wissen? Der Graf will Sie in derselben Stunde, wo Sie Christin werden, zu seinem Weibe machen. So lautet mein Auftrag an Sie!«
Sie lag noch immer schweratmend da, die Augen schlossen sich, um den Mund zuckte es wie von verhaltenen Tränen.
Er erhob sich. »Es kommt Ihnen unerwartet«, sagte er. »Ich will mir die Antwort morgen holen...«
Sie schwieg. Er blickte ihr ins Antlitz und sah, wie es immer ruhiger, immer starrer wurde; die Lider blieben gesenkt, zwei jähe Tränen brachen zwischen ihnen hervor und rollten die Wangen herab, aber die Brauen zogen sich immer finsterer zusammen. Und so, mit geschlossenen Augen, gab sie durch ein leises Schütteln des Hauptes die Antwort.
»Wie soll ich dies verstehen?« murmelte er bestürzt. »Sie lehnen ab?«
»Wie könnt' ich anders?... Es ist, als wollt' er die Toten lebendig machen... Wie ich so dachte, welches Glück es gewesen wäre, wenn er sich damals freiwillig dazu hätte entschließen können, da kamen mir die Tränen... Nun aber, wo er's aus Furcht vor dem Groza tun will...«
»Sprechen Sie mit ihm, und Sie werden erkennen, wie aufrichtig seine Reue ist... Und denken Sie auch an das Kind! Sie können dann nicht bei Ihrem Nein bleiben. Soll Ihr Knabe als Erbe der Baranowski durchs Leben gehen oder als...« Er brach ab. »Verzeihen Sie, aber auch das will erwogen sein!...«
In der Tat, das schien sie vergessen zu haben, unwillkürlich wandte sich ihr Blick nach der Ecke des Stübchens, wo die Wiege des Kindes stand. Wieder zuckte es um den Mund, und die Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich will Sie nicht quälen«, sagte der Arzt und griff nach dem Hut. »Befragen Sie Ihr Gewissen und fassen Sie Ihren Entschluß. Ich komme morgen wieder.« Er verließ das Zimmer.
»Ich glaube, Sie haben morgen ihr Jawort«, sagte er dem Grafen, als er ihm die Unterredung berichtete. »Und da Sie beide jung sind, so kann noch alles gut werden.«
Agenor blickte düster vor sich nieder. »Wenn Sie sich nur nicht täuschen«, sagte er gepreßt, »wenn nur ihr Haß gegen mich nicht größer ist als die Liebe zu ihrem Kinde!«
»Das glaub ich nicht«, meinte der Arzt. »Sie ist ja eine Jüdin – was täte eine Jüdin nicht für ihr Kind! Allerdings setze auch ich darauf alle meine Hoffnung. Denn was etwa eine geringere Natur dazu bestimmen könnte: die Klugheit, der persönliche Vorteil, der Drang, vor der Welt beneidet dazustehen, hat über sie keinerlei Macht – daran denkt sie nicht einmal!«
Er war sehr befremdet, als die Miriam am nächsten Morgen bei ihm erschien: Judith lasse bitten, heute noch nicht zu kommen; da ihr ja nun das Ausgehen gestattet sei, so wolle sie ihres Vaters Grab besuchen.
»Das wird sie sehr erregen!« sagte er. »Sagen Sie ihr, ich ließe sie dringend bitten, noch einige Tage zu warten.«
Aber die alte Frau schüttelte den Kopf. »Davon wird sie nichts hören wollen«, meinte sie, »und schaden wird's ihr auch nicht. Eher schadet es ihr, wenn sie sich noch länger vergeblich danach sehnt. Seit sie wieder zur Besinnung gekommen ist, hat sie ja keinen anderen Gedanken als das Grab; wär's nach ihrem Willen gegangen, ich hätte sie längst auf einen Wagen geladen und hingeführt. Heut aber würde sie sich auch nicht abhalten lassen, sie hat ja die ganze Nacht vor Sehnsucht kein Auge geschlossen. Ich glaube«, schloß die Greisin so ruhigen Tones, als spräche sie von dem Besuch bei einem Lebenden, »ich glaube, sie hat mit ihrem Vater zu sprechen.«
Mit bangem Vorgefühl betrat der Arzt am nächsten Tage das Stübchen, und es wuchs, als er in Judiths Züge blickte; sie trugen wieder jenen Ausdruck düsterer Ruhe, der seit den Tagen der Genesung in ihnen heimisch geworden. So blickt nicht drein, wer sich versöhnen will, dachte er, und in der Tat sagte sie, kaum daß er Platz genommen: »Ich kann's nicht tun, Herr Doktor, ich muß nein sagen!«
»Und Ihr Knabe – haben Sie das recht erwogen?«
»Auch dies«, erwiderte sie. »Für ihn wär es besser, das ist wahr. Es ist ja kein Glück, ein Jude zu sein, und zudem gebe ich ihm ja noch eine andere, schlimmere Erbschaft mit, die sonst ein jüdisch Kind selten durchs Leben schleppen muß: die Schmach seiner Geburt. Aber was immer eine Mutter tun darf, damit ihr Kind es besser habe, eine Verbrecherin darf sie deshalb nicht werden. Und wenn ich mich heute taufen ließe, so wäre dies ein Verbrechen gegen Gott!«
Er blickte sie befremdet an. »Das hab ich nicht erwartet!« sagte er. »Sie wollten es ja schon einmal tun, und es lag nicht an Ihnen, daß es nicht geschah!«
»Damals!« entgegnete sie. »Was wußt' ich damals von Gott? Was kann überhaupt ein glücklicher, schuldloser Mensch von ihm wissen – und nun gar ich, die so sehr glücklich war! Natürlich glaubte ich an ihn, und obwohl ich eigentlich lieber eine Christin gewesen wäre, so war ich doch auch mit meinem Glauben leidlich zufrieden und betete, wenn ich zu dem vielen, was ich hatte, noch etwas wünschte. Kurz, ein Gewand war mir damals mein Glaube – warum hätte ich's nicht mit einem anderen, bequemeren vertauschen sollen, besonders da es der Geliebte wünschte? Leicht fiel es mir doch nicht, aber nur deshalb, weil mich dieser Wechsel von den Meinen schied. Aber nun reichten sie mir kein neues Gewand, und ich wurde unglücklich und wurde schuldig, und da erkannte ich, was der Glaube ist: kein Gewand, sondern die Seele selbst, und die wechselt man nicht... Ich weiß, was Sie sagen wollen«, fuhr sie ungeduldig fort, als er sprechen wollte, »ich hab's oft genug gehört: Wir haben alle nur einen Vater im Himmel! Ich habe selbst daran geglaubt, auch als ich schon im tiefsten Elend war, und es war mir ein Trost, zu hoffen: vielleicht kommt eine Zeit, wo alle Menschen so denken. Aber nun, wenn ich mein eigenes Geschick bedenke und das der anderen um mich her, nun kann ich nicht mehr daran glauben! Wie, wir sollten um unseres Glaubens willen so viel gelitten haben, und es war eigentlich überflüssig? Es ist Ihm gleichgültig, wenn wir Juden bleiben oder nicht? Warum läßt Er uns dann als Juden geboren werden? Nein, Er muß wissen, was Er damit will, nicht zwecklos fließt unser Blut, unsere Träne – sonst wäre Er nicht der Allerbarmende, der Allgerechte! Nun denn, so will ich mich seinem Willen beugen und nicht neue Schuld auf mich laden – ich habe ihn ohnehin zu fürchten...«
»Ihren Gott, den Judengott!« sagte der alte Mann traurig.
»Ich begreife, daß Sie zu ihm zurückgekehrt sind; aber dennoch ist es wahr: der da oben ist kein Juden-, kein Christengott!... Und Sie wissen wenig von unserem Glauben! Lernen Sie ihn erst kennen...«
»Oh«, rief sie wild, »ich habe an dem wenigen genug!... Es ist eine Religion der Liebe, der Menschlichkeit! Sie gebietet, der reichen, hübschen Jüdin das Haus zu öffnen, wenn man ihrem Vater Geld schuldig ist, und damit sich die jungen Herren unbefangener mit ihr unterhalten können als mit den christlichen Damen. Sie hat kein Gefühl des Fremdseins; es sind ja Menschen wie sie –jenen aber sind sie, ihr Vater, ihr Bruder, keine Menschen, sondern Juden; die Männer geboren, damit der Christ von ihrer Arbeit seinen Nutzen, die Frauen, damit er an ihrer Schönheit seinen Spaß habe. Und wenn die Jüdin ihr Herz an den Christen verliert und alles läßt, ihm zu folgen, weil sie ihn liebt, so gebietet ihm sein Glaube, zu denken, daß sie eine Jüdin ist. Und es ist eine Religion des Erbarmens!« Sie schluchzte krampfhaft auf und griff sich ins Haar und hielt ihm eine Strähne hin, durch deren rotes Gold ein breiter, grauer Streif liegt. »Ich bin zweiundzwanzig Jahr alt, Herr Doktor! – soll ich mehr sagen?«
»Haben nicht auch«, fragte er, »die Juden dazu beigetragen, daß dieser Streif breiter werde? Auch bei ihnen steht geschrieben: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹ – es ist sogar ein Hauptgebot ihres Glaubens, wie des unseren. Handeln Ihre Leute danach? Denken Sie an den Empfang, der Ihnen hier bereitet worden ist!«
»Mir geschah, wie ich es verdient«, erwiderte sie finster. »Was wußten, was wissen sie noch heute anderes von mir, als daß ich eine Ehrlose bin und meines Vaters Mörderin? Aber wenn Sie recht hätten, Herr Doktor, und es stünde für uns alle eigentlich dasselbe geschrieben, und wir sündigten alle dagegen – nun, dann kann es vielleicht einmal Frieden und Frühling auf Erden werden, aber jetzt ist Kriegs- und Winterszeit. In der Winterszeit bleibt man daheim, in der Kriegszeit geht man nicht in des Feindes Lager. Und wenn Sie recht hätten, daß auch Ihr Altar vor Gott ein heiliger Ort ist, so darf ich ihn nicht entweihen! Sagen Sie selbst, was müßte ich dabei fühlen, wenn ich mein Haupt zum Taufbecken neigte, und woran müßte ich bei der Trauung denken? Es wäre ja nach all dem, was geschehen ist, vielleicht meine schlimmste Sünde. Und ich fürchte mich vor Gott! Ich muß daran denken, wie mein Vater darüber geurteilt hätte; auch um seinetwillen darf es nicht sein. Wie ich so gestern an seinem Grabe stand, ist mir dies klargeworden: Er war ein gottesfürchtiger Mann und hätte nicht dazu geraten, daß ein Mensch im Heiligsten lüge...«
»Er war ein milder Mann«, entgegnete der Arzt, »und wußte wohl, wieviel Gott vergeben könne. Er selbst hat viel vergeben...«
»Die eigene Kränkung«, sagte sie mit bebender Stimme, »nicht den Frevel gegen Gott. Er sagte sich: Mein Kind hat mir das Herz gebrochen; Gott wird es strafen, aber ich vergebe ihm, und hat es genug gelitten, so mag es an meiner Seite ruhen. Und ruft der Engel des Gerichts, so mag es an meiner und meines Weibes Hand vor den Richter treten! So hat er's gemeint, und dieses Erbe zu verlieren fiele mir schwer, aber für mein Kind brächte ich dies Opfer. Ein Verbrechen aber, wiederhol ich, kann ich auch für mein Kind nicht begehen.«
Er blickte in das bleiche, düstere, starre Antlitz und wagte kein Wort mehr. Stumm erhob er sich, drückte ihre Hand und wandte sich zum Gehen. Da hielt ihn ein leiser Ausruf zurück; er klang wie ein Seufzer. Er blickte sie fragend an. Sie stand vorgebeugt da, zitternd, das Antlitz von glühender Röte übergossen. »Noch eins«, murmelte sie fast unverständlich. »Wenn er sich dazu entschließen könnte...« Sie verstummte.
»Wozu?« fragte er.
Aber da seufzte sie tief auf und ließ die Arme schlaff niedersinken. »Nein«, sagte sie, »das wird er doch nicht tun wollen. Er kann es nicht... und es ist wohl auch nach unseren Gesetzen nicht möglich... Er würde mich wohl nur verhöhnen, daß ich daran zu denken gewagt habe... Verzeihen Sie, ich habe nichts mehr zu sagen...«
Er fragte noch einmal. »Nein... nichts«, sagte sie, nun wieder fest und entschieden. Darauf verließ er sie.
Es blieb ihm nun noch die bittere Pflicht, dem Grafen die Antwort zu bringen. Aber Agenor nahm sie gefaßter auf, als er gefürchtet. Er wurde bei den ersten Worten sehr bleich und murmelte: »Ich habe es Ihnen vorhergesagt!« Dann verriet sich, während er der Erzählung lauschte, seine Unruhe nur durch das nervöse Spiel der Fingerspitzen auf der Tischplatte.
»Wie Gott will!« sagte er, nachdem der Arzt geschlossen. »Mindestens habe ich nun den Trost, das Meine getan zu haben. Und klagt sie mich an, so werden Sie mir Ihr Zeugnis nicht weigern, daß ich ihr alles gewähren wollte, was sie irgend fordern kann.«
»Ja – aber ungern!« erwiderte der alte Herr kurz. Die Äußerung des Grafen verstimmte ihn, doch nur einen Augenblick; dann sagte er sich, daß sie im Munde des schwachen Mannes, den nicht bloß die Reue, sondern auch die Furcht getrieben, durchaus begreiflich sei, und um sich seiner Aufgabe ganz zu entledigen, teilte er ihm nun auch ihre letzten Worte mit.
Sie übten eine tiefe Wirkung auf den Grafen. Mit geröteten Wangen schnellte er vom Sitz empor und streckte abwehrend die Hände vor. »Das kann nicht sein«, rief er. »Lieber das Zuchthaus... Wie kann sie mir derlei zumuten?«
»Sie tut es ja auch nicht«, sagte der Arzt. »Sie hat mir nicht einmal gesagt, um was es sich handelt. Und ich will's auch nicht wissen.«
Kein übler Mensch, dachte er, als er die Schloßtreppe hinabschritt, zudem in trauriger Lage, aber wie schwach, wie schwach! Ich wette, seine Fassung hält nicht drei Tage vor, dann kommt er wieder zu mir und fleht mich an, noch einen Versuch zu machen.
Er irrte nur insofern, als Agenor noch am Abend desselben Tages kam. »Sprechen Sie mit Rafael«, bat er. »Er ist der einzige Mensch, der Einfluß auf sie hat. Es kann ihm ja nicht gleichgültig sein, ob seine Schwester als Entehrte im Städtchen lebt oder als meine Gattin.«
Der Arzt schlug es rundweg ab. »Es wäre nutzlos«, erklärte er, »ihm ist sie ja eine Tote!« Und dabei blieb er trotz aller Bitten und Beschwörungen.
Trotzdem sollte der wackere Mann am nächsten Morgen den Weg zu Rafael antreten; was der Graf nicht über ihn vermocht, gelang der Miriam Gold. Kurz nachdem Agenor gegangen, kam sie zaghaft geschlichen und erschöpfte sich in tausend Entschuldigungen, daß sie so spät zu stören wage. »Aber es muß sein«, beteuerte sie. »In mir schreit mein Herz: Du mußt es dem Herrn Doktor sagen! Und so bin ich hier...«
»Redet, Miriam«, sagte er. »Aber zu einer Versöhnung mit dem Grafen kann ich keinen Versuch mehr machen.«
»Wer spricht davon?« erwiderte sie. »Lob und Dank dem Allmächtigen, daß es mißlungen ist! Während Sie drinnen bei ihr waren, habe ich gebetet: ›Mein Herr und Gott, laß es nicht geschehen! Unser Herr Doktor ist sonst ein kluger Mann; verwirre ihm den Verstand, daß er diesmal Unsinn spricht und sie nicht überreden kann!‹ Und warum? Etwa damit sie nicht abtrünnig wird? Nein! Ich weiß ja mehr von ihm als die anderen Leut hier; mir sagt mein Herz: Er war barmherzig gegen meine Lea und würde es darum auch gegen die Judith sein. Oder weil die Ehe nicht glücklich wäre? Welches Leben wird sie sonst führen! Nein, es ist etwas anderes!« Ihre Stimme sank zum Flüstern herab. »Wir müssen vorsichtig sein, sonst gibt es ein Unglück! Ihre Seele, Herr Doktor, um die steht es schlecht. Die ist ein armes Vögelchen, das davonfliegen möcht, und da halten es noch einige Fäden fest. Sie muß für ihr Kind sorgen und sich vor den Leuten rechtfertigen und Gottes Willen erfüllen. Solang sie Schmach und Verfolgung zu dulden hat, bleibt sie, weil sie glaubt, daß es die Buße ist, die Er ihr auferlegt hat. Würde sie die Frau des Agenor, so war sie gerechtfertigt, das Kind versorgt, und auch die Verfolgung wär zu Ende. Dann sind die Fäden zerschnitten, und das arme Vögelchen flattert davon...«
»Das hätte ich unter keinen Umständen befürchtet«, erwiderte er. »Hat sie Ihnen derlei je angedeutet?«
»Nein, aber wenn man so mit jemand lebt und jeden Seufzer hört... Nun, es ist Ihnen ja gottlob nicht gelungen! Aber ich möcht deshalb doch noch ein Fädchen haben, das sie festhält. Ihr Herz blutet über Rafaels Groll; welches Glück, wenn sie mit ihm versöhnt wäre! Freilich« – die Greisin fingerte in der Luft umher, als wäre da das Gespinst wirklich ausgespannt –, »freilich lockert sich dann das andere Fädchen da: die Verfolgung. Aber ganz zerreißt es deshalb nicht; ich kenn unsere Leut... Und darum, weil Sie ein so gutes Herz haben, Herr Doktor, und weil es eine so arme Seele ist: Wollen Sie nicht mit Rafael sprechen?«
»Es wird nutzlos sein«, mußte er auch ihr sagen, aber er versprach es. Und als er Rafael gegenüberstand, schwand ihm vollends alle Hoffnung; das war das Antlitz, die Gebärde eines finsteren, gramvollen Mannes, nicht eines dreiundzwanzigjährigen Jünglings. Kaum daß der Arzt den Zweck seines Besuches angedeutet, erhob er sich von seinem Sitz.
»Herr Doktor«, sagte er ruhigen, kalten Tones, »dieser Name wird in meinem Hause nicht genannt. Ich darf es auch dann nicht gestatten, wenn mein Besucher dadurch eine Gewissenspflicht erfüllen will. Vor mehreren Tagen waren die Vorsteher der Gemeinde bei mir und forderten mich auf, zu bewirken, daß der Knabe endlich in den Bund Israels aufgenommen werde. Ich mußte ihnen erwidern, daß mir in dieser Frage nach meiner Empfindung kein Recht, aber auch keine Pflicht zustünde. Und da handelte es sich gewiß um eine heilige Sache.«
»Keine heiligere, als die mich herführt«, erwiderte der Arzt. »Haben Sie die Vorsteher gehört, so darf ich die gleiche Gunst erhoffen.« Und er begann von Judith zu sprechen; schlicht und kurz, wie es seine Art war, aber er selbst hatte dabei die Empfindung, daß kein Herz so hart sein könne, diesen Jammer ungerührt zu vernehmen. Auch die Werbung des Grafen verschwieg er nicht und warum Judith sie abgelehnt.
Rafael hatte ohne ein Zeichen der Ungeduld, regungslos, mit abgewandtem Antlitz, zugehört. Und als er sich nun wieder dem Arzte zukehrte, da wußte dieser, daß er vergeblich gesprochen; wer so blicken konnte, hatte das Erbarmen verlernt.
»Sie haben mir wenig Neues gesagt«, sagte er. »Gewiß, ein hartes Schicksal; Sie nennen es unverdient, ich verdient; die Entscheidung liegt bei jenem, der es bestimmt. Ich meinerseits will es weder verschärfen noch lindern; mein ist die Rache, spricht der Herr, und sie ist mir eine Tote. Sie bleibt es auch nach dem, was Sie mir erzählt haben. Sie versichern, sie habe ihre Ehre nicht leichtfertig verschleudert, sondern sei um sie betrogen worden; dann mag sie den Betrüger verklagen, mir genügt es, daß sie, das behütete Kind des besten Vaters, eine Ehrlose ist, in dieser Stadt seit Jahrhunderten die einzige ihres Glaubens. Sie sagen, sie wolle nun nicht Christin werden, aber das ist, meine ich, kein Verdienst, sondern eine Pflicht. Und ihre Reue? Sie reißt meinen Vater nicht ins Leben zurück und wäscht nicht die Schmach von unserem Namen...«
»Herr Trachtenberg, das ist eine seltene Härte...«
»Vielleicht nicht so selten«, erwiderte er, und nun zum ersten Male bebte seine Stimme, »wie einst meine Liebe zu ihr war!«
Als der Arzt das Haus verließ, fand er den Wagen Agenors vor der Türe. Der Herr Graf sei beim Kommissär Groza, sagte ihm Fedko... Sollte er sich selbst gestellt haben? dachte Doktor Reiser. Dann mußte er sich wieder der seltsamen Worte Miriams erinnern; er schenkte ihnen keinerlei Glauben, und doch bedrückten sie sein Gemüt. Das Fädchen hatte sich nicht knüpfen lassen, es war wohl für immer zerschnitten.
Als er am späten Nachmittag von der Rundfahrt bei seinen Kranken heimkam, berichtete ihm der Diener, daß sowohl der Graf Baranowski wie die alte Miriam nach ihm gefragt; diese habe darum gebeten, sie sofort wissen zu lassen, sobald der Herr Doktor heimkomme...
»So meld es ihr«, sagte der Arzt.
Der Ermüdete hatte kaum in seinem Lehnstuhl Platz genommen, als der Graf eintrat. Er sah übel aus; sein Blick war unstet.
»Verzeihen Sie«, begann er, »aber es ließ mir keine Ruhe. Mein Fedko erzählte mir, daß Sie heute doch bei Rafael gewesen. Was hat er Ihnen gesagt?«
Der Arzt gab Bescheid.
»Dann habe ich auch«, erwiderte Baranowski, »den Schritt, den ich heute getan, nicht zu bereuen. Ich dachte schon, er sei vielleicht übereilt gewesen.« Der Ton widersprach den Worten; er klang unsicher genug; nun seufzte er tief auf. »Ich war bei Groza. Dem Rate meines Anwalts folgend, habe ich ihm selbst alles gebeichtet.«
»Wie nahm er's auf?«
»Schlimmer, als ich dachte. Er sprach freilich kein Wort aus, das mich verletzen konnte, aber er blickte mich finster an und vermied es, mir beim Abschied die Hand zu reichen. Auch betonte er scharf, daß er meinen nächsten Besuch in seinem Amtszimmer erwarte; ich bin für morgen elf Uhr vorgeladen... Nun, wie Gott will! Jedenfalls war es also kein übereilter...«
Da schnellte der alter Herr, der bisher auf die Straße hinausgestarrt, empor, faßte ihn an der Schulter und schob ihn ins Nebenzimmer. Er hatte gesehen, wie eben hinter dem Diener her die Judith dem Hause zuschritt, ihr Kind auf dem Arm. »Sie dürfen horchen!« flüsterte er noch Agenor zu, lehnte die Türe an und ging ihr entgegen.
Ihre Wangen waren gerötet, die Augen glänzten vor Erregung. »Sie sind ja mein einziger Freund«, begann sie. »Sie werden mir nicht zürnen, wenn ich Sie um Rat frage. Mittags brachte mir ein Gerichtsbote dies Papier.«
Er entfaltete den Bogen. »Herr Kommissär Groza lädt Sie für morgen elf Uhr als Zeugin vor – das werden Sie wohl früher gelesen haben. In welcher Sache? Das ahnen Sie wohl auch! Ich kann Ihnen übrigens zufällig mitteilen, daß es sich wirklich um den Grafen handelt. Er hat sich dem Gerichte selbst gestellt...«
»Ah«, rief sie, »... um seine Strafe zu mildern!«
»Und wenn auch deshalb, ist's ihm zu verübeln? Er hat seine Reue wahrlich deutlich genug erwiesen, Sie bleiben unversöhnlich – nun, so hat er die Erfüllung Ihrer Drohungen nicht erst abgewartet. Sie werden ihm morgen vor dem Richter begegnen – er ist für dieselbe Stunde als Angeklagter vorgeladen...«
»Nein, nein!« rief sie. »Ich will ihn nicht sehen!«
Er blickte sie an; wie sie so dastand, das edel geschnittene Antlitz von leichter Röte überflutet, den schlanken Leib hoch aufgerichtet, umfloß sie ein Abglanz ihrer einstigen Schönheit. Aber wie hatte sich der Schmerz in diese Züge eingemeißelt, wie erschütternd war der Gegensatz des ergrauten Haares zu dem jugendlichen Oval des Gesichts, das es umschmiegte. Der Arzt hatte Mühe, die angeschlagene Tonart festzuhalten, aber es mußte ja sein.
»Warum wollen Sie ihn nicht sehen?« fragte er. »Ich finde es sehr praktisch von Groza, daß er Sie beide zusammen vorlädt; das verkürzt das Verfahren, und der Graf kommt rascher zu seiner Strafe. Auch brauchen Sie ja, wenn Sie morgen die Anklage aussprechen, die ihn dem Kerker überliefern soll, nicht seinen Knaben mitzunehmen...«
»Herr Doktor«, rief sie, »wenden nun auch Sie sich von mir?... Ich kann ja nicht Christin werden... Was soll ich tun?«
»Das wird er Ihnen selbst sagen«, erwiderte der Arzt. In der geöffneten Türe stand Agenor. Sie schrie leise auf und wankte, als sie ihn erblickte: Er aber stand einige Sekunden wie gelähmt und starrte sie an.
»Judith!« schluchzte er dann auf und stürzte vor und zu ihren Füßen nieder. »Verzeih... verzeih!... Du sollst nicht Christin werden... wir gehen nach Weimar und lassen uns dort trauen... bei Gott dem Allmächtigen schwör ich's dir zu!«
Ihre Augen schlossen sich; der Arzt eilte heran, riß ihr das Kind aus dem Arm und ließ sie in einen Stuhl gleiten. »Es ist nur eine Ohnmacht«, tröstete er.