Karl Emil Franzos
Judith Trachtenberg
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Am nächsten Tag sprach man überall nur von dem verhängnisvollen Kuß und seinen Folgen: im Salon des Herrn Kreiskommissärs, in der Weinstube des Aaron Siebenschläfer, wo sich die christlichen Honoratioren zusammenfanden, und im Vorhof der Betschul, wo die öffentliche Meinung des Ghetto zusammengebraut wurde.

»Das kommt davon«, klagten die Juden, »wenn ein jüdisch Kind, schamlos entblößt, unter Christen geht und mit Männern tanzt. Und was muß sie gleich so empfindlich sein, wenn der junge Herr einen Witz über ihren Vater macht! Aber der Schuldige sündigt, der Unschuldige büßt. Jetzt werden der Wladko und der Agenor mit Pistolen aufeinander schießen, und wenn der eine tot bleibt oder gar – was Gott verhüten möge – alle beide, über wen kommt das Blut? Über uns alle! Ein jüdisch Kind hat es ja angestiftet!«

»Das dreiste Ding!« riefen auch die Christen. »Freilich, schön ist sie; dadurch hat sie auch den Grafen verhext, und das ist zugleich seine einzige Entschuldigung. Was ging's ihn an? Er hätte sie gleichfalls küssen sollen! Übrigens hat der Skandal schon damit angefangen, daß man die Jüdin zu einem solchen Fest lud.« Frau Anna hatte, wenn derlei in ihrer Gegenwart angedeutet wurde, die Verteidigung bereit. »Er hat es selbst ausdrücklich gewünscht«, beteuerte sie. »Da zieht die Kokette schon beim Einzug seinen Blick auf sich, so daß er gleich darauf meinen Mann nach ihrem Namen fragt und ihm dann beim Abschied so recht nachdrücklich sagt: ›Ich freue mich, die vielen schönen Damen heute abend wiederzusehen!‹ Sagen Sie selbst, blieb mir da etwas anderes übrig? Und nun wird das kecke Ding noch gar auf seine Heldentat stolz sein!«

Da irrte sie freilich; der armen Schönheit war es zumute, als könnte sie ihr Antlitz nie wieder der Welt zeigen; die Reue zernagte ihr hilfloses Herz, und die Tränen quollen über die erblichenen Wangen. Sie hatte seit jenem Vorfall ihre Stube nur einmal verlassen, im Morgengrauen, als der Wagen vorfuhr, welcher den Bruder in die Ferne führen sollte. Da war sie ihm um den Hals gefallen und hatte in heißem Schmerze sein Antlitz, sein Gewand, seine Hände mit ihren Küssen und Tränen bedeckt, daß auch seine Liebe stürmisch hervorbrach und sich seine Tränen mit den ihrigen mischten. »Verzeih«, stammelte sie dabei immer wieder, »du hast es gut gemeint und stets recht gehabt, tausendmal recht, auch gestern abend, und ich will mein Leben lang daran denken!« Er hatte keine Ahnung von der peinlichen Szene, ebensowenig der Vater, der gerührt dabeistand. So reisten sie leichten Herzens ab; Nathaniel, um den Sohne noch eine Tagereise weit das Geleite zu geben; er wollte erst am Abend des nächsten Tages heimkehren. Bis dahin barg sich Judith in ihrer Stube; selbst Frau Anna klopfte vergeblich an. Sie war gekommen, um vernünftig mit dem Mädchen zu sprechen, ehe Nathaniel heimkehrte; dieser alte Jude war ja sehr klug, aber man konnte doch nicht wissen, wie er die Sache auffaßte, und das war schon deshalb von Wichtigkeit, weil ihn Herr von Wroblewski eben um einen Vorschuß für die nächsten Prozesse anzugehen gedachte.

Unruhig ging sie fort, als hinter der Tür kein Laut hörbar wurde, aber sie verlor wenig dabei, daß die Unterredung nicht stattfand. Und wenn ihr der eigene Vater gesagt hätte, daß sie unrecht getan, als sie Schimpf mit Schimpf vergolten, Judith hätte es nicht geglaubt. Darin schwankte ihr Empfinden keinen Atemzug lang, aber ebensowenig in der Erkenntnis, daß jene Menschen, deren Verkehr ihr zum Stolz und zur Freude gewesen, sie nur widerwillig geduldet – ach, wie beschämend erschien ihr nur die Freundlichkeit, die man ihr zugewendet, beschämender noch als der Schimpf! Und weil ihr leidenschaftliches Herz so heiß danach lechzte, sich im Haß berauschen zu können, darum empfand sie es fast störend, daß sie des einen, des Vornehmsten in diesem Kreise, mit Achtung, mit Dankbarkeit gedenken mußte. »Muß ich?« knirschte sie dann. Sie gedachte seiner Blicke am Vormittag; ihr Antlitz hatte ihn bestochen, vielleicht war es sogar nur der Wunsch gewesen, sich ihren Dank zu verdienen! Dann aber mußte sie daran denken, wie ritterlich er für sie eingetreten, wie ehrfurchtsvoll er sie durch den Saal geleitet. Und sein Antlitz tauchte wieder vor ihrem Blick empor, das blasse, edle, ernste Antlitz mit den gebietenden Augen... »Nein, nein«, schluchzte sie dann wieder auf, »er ist gewiß nicht besser als seinesgleichen.« Aber auch dieser Gedanke brachte ihrem armen Herzen nicht Stärkung, sondern neues Weh...

Auch ein anderes Menschenwesen weinte um jener Szene willen bittere Tränen, nur daß es dabei nicht ganz so schön anzusehen war wie das goldhaarige Judenkind: Herr Wladko von Wolczinski. Und mit ihm schluchzten der Vater, die Mutter und die vier Schwestern, daß der Meierhof von Jammer widerhallte. Nur sein Vetter Jan blieb hart. »Heule nur zu«, brummte er. »Wolltest du dich nicht duellieren, so durftest du dich nicht von uns zur Forderung bewegen lassen. Fünfundzwanzig Schritt, einmaliger Kugelwechsel – Memme, sei ein Mann! Schieße du ihn über den Haufen. Rehe triffst du doch auf zwanzig Schritt.« – »Jan!« rief Wladko. »Wie du nur so herzlos sein kannst! Hat denn ein Reh dabei auch eine Pistole in der Hand, mit der es auf mich zielt? Das ist ein verdammtes Gefühl!« Und da auch die Damen im Quintett zu schluchzen fortfuhren, so entschloß sich der alte Herr Severin endlich, einen Versuch zu machen, und begab sich zum Kreiskommissär.

»Ich will Ihnen«, begann er düster und energisch, »keine Vorwürfe machen, aber Blutvergießen zu verhindern ist Ihre Pflicht. Graf Agenor ist der Letzte seines Stammes; von der Hand eines Wolczinski soll er nicht fallen. Er mag meinem Sohne eine bündige schriftliche Abbitte leisten, die wir in der ›Lemberger Zeitung‹ veröffentlichen, dann braucht das Duell nicht stattzufinden.«

Herr von Wroblewski hatte Mühe, seine Heiterkeit zu verbergen, ganz gelang es ihm nicht. »Das wird nicht gehen«, sagte er, »Graf Agenor war, ehe er durch seines Vetters Tod Herr dieser Güter wurde, Ulanenoffizier und hat mit Charge quittiert.«

»So?« rief der Baron und tat, als ob er erstaunt wäre. »Das erfahre ich erst jetzt! Dann würden wir ihm freilich nur die Wahl zwischen moralischem und physischem Tod stellen, und das wäre zu hart. Also: eine schriftliche Erklärung, die nicht in die Zeitung kommt!«

Herr von Wroblewski räusperte sich.

»Also meinetwegen – man soll uns nicht nachsagen, daß wir rachsüchtig sind – eine mündliche Abbitte. Wir laden einige Herren ein, er kommt zu uns und...«

Der Baron stockte, Herr von Wroblewski räusperte sich stärker.

»Oder – hm, wir laden niemand dazu – oder kommen bei Ihnen zusammen! Sie, ich, Wladko, er. Ganz zwanglos, keine langen Erklärungen! Er murmelt so einiges: ›Nicht so böse gemeint‹ und so weiter – man schüttelt sich die Hände und...«

Herr von Wroblewski hatte nun gar einen Hustenanfall.

»Zum Kuckuck«, brach der Alte los und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn, »leichter können wir es ihm doch nicht machen! Wir können doch nicht zu ihm kommen, damit er die paar Worte sage. Oder – hm – glauben Sie, daß wir das könnten?«

»Es wäre ungewöhnlich«, sagte der Kreiskommissär, nun wieder grabesernst.

»Ungewöhnlich! Daran liegt nichts! Mein Gott! Alles auf der Welt muß zum ersten Male geschehen... Lieber Freund, ich bitte, ich beschwöre Sie...«

»Ich will das Meine tun«, versprach Wroblewski und hielt Wort. Schon am nächsten Morgen begab er sich zum Grafen und trug ihm lachend das seltsame Anerbieten vor.

Auch Agenor lachte laut auf. »Es geht nicht«, sagte er dann, »ich bin Offizier. Was immer ich dem braven Jungen sage, es würde als Abbitte gedeutet werden.«

»Aber Sie dürsten doch nicht nach seinem Blute! Erwägen Sie nur: ein junger Mensch – der Champagner – eine Jüdin...«

»Er traf sie als Gast in Ihrem Hause!«

»Freilich! Glauben Sie, daß ich den Wladko entschuldigen will? Ein dummer Junge! Aber – Hand aufs Herz, lieber Graf, wir kennen uns ja nicht erst seit gestern – hätten Sie eine Silbe gesprochen, wenn das Mädchen häßlich gewesen wäre?«

»Ja!« erwiderte Agenor ernst und fest. »Sehen Sie, ich liebe die Juden gewiß nicht, im Gegenteil. Und zwar keineswegs um jener Erfahrungen willen, die ich selbst als junger Offizier mit ihnen gemacht; das find ich begreiflich, verzeihlich, sogar natürlich; jedes Wesen auf Erden wehrt sich mit seinen Waffen, die ihren sind das Geld und die List. Noch mehr, ich habe mich oft gefragt, wessen Schuld es ist, daß ihnen nur diese Waffen möglich sind – es sind ja Menschen, die auch vortreffliche Eigenschaften haben und in mancher Beziehung streng sittlich empfinden, sittlicher als wir –, ich gebe zu, es ist vielleicht zum größeren Teil unsere Schuld. Aber es ist nun einmal ein Kampf; wir schlagen mit Keulen auf sie los, und sie stechen uns in die Ferse. Und darum stelle ich mich, ohne über Schuld und Nichtschuld zu grübeln, in die Reihen jener, zu denen ich nach Blut und Stand gehöre...«

»Aber lieber Graf«, unterbrach ihn der Beamte, »als ob es der Worte bedürfte! Glauben Sie, daß ich die Juden liebe?«

»Aber Ihr Standpunkt ist nicht der meinige«, erwiderte Agenor etwas scharf. »Sie als Richter dürfen keine Partei nehmen, ich als Privatmann darf es, und als Mann von altem Adel muß ich es. In diesem Kampfe geht zunächst mein Stand zugrunde, und das schneidet mir durchs Herz, denn ich denke sehr hoch von diesem Stande, seiner Notwendigkeit, seinen Aufgaben. Wir Aristokraten – ich meine: wir wirklichen, reichen, reinblütigen, alten Geschlechter – sind die einzigen festen Pfeiler jedes Staates und wir polnischen Aristokraten sogar die einzige Hoffnung unseres Volkes; es hat niemand als uns, einen Bürgerstand gibt es kaum, die Bauern sind gegen uns. Und nun sehen Sie sich im Lande um: Ein Mann um den anderen, ein Geschlecht ums andere sinkt und fällt. Durch Leichtsinn, Trägheit, schlechte Wirtschaft? Gewiß! Aber wäre der Jude nicht im Lande, ginge das Schuldenmachen so leicht? Und wer ist der Erbe? Der Jude! Wer sitzt auf den Gütern der Wolczinski, denen noch vor hundert Jahren zwei Quadratmeilen gehörten? Armenier als Scheinbesitzer für die Juden, weil diese keinen Grundbesitz erwerben können!«

»Sehr wahr!« rief Wroblewski. »Aber deshalb dürfen Sie doch den letzten Sprößling des Geschlechts nicht totschießen!«

»Das will ich auch nicht«, wehrte der Graf lächelnd ab, »obwohl es vielleicht«, fügte er sehr ernst hinzu, »für ihn und seinesgleichen noch das beste Ende wäre! Denn was wird aus ihnen? Nur wenige vermögen sich noch durch die Heirat mit einer Bürgerlichen zu rangieren; und auch das ist ein Unglück, eine Erniedrigung. So weit wie in den westlichen Provinzen sind wir allerdings noch nicht, dort hat neulich ein Graf Wagenspergh eine Eskeles geheiratet. Soll es auch bei uns noch dazu kommen? Und darum lautet die erste Regel in diesem Kampfe: keine gesellschaftliche Berührung mit den Juden, keine Verwischung der Gegensätze!«

»Das ist doch nicht etwa ein Vorwurf?« fragte der Beamte gekränkt. »Sie haben es ja selbst gewünscht.« Und er erzählte, wie er jene Worte des Grafen gedeutet.

»Sie haben mich vielleicht verstanden!« erwiderte Agenor etwas verlegen. »Allerdings sagten Sie mir, daß das Mädchen auch sonst in Ihrem Hause verkehre, aber es war doch recht inkonsequent von mir und hat sich ja auch gerächt! Schwer gerächt! Glauben Sie, daß es mir angenehm ist, mich einer Jüdin wegen schlagen zu müssen? Aber so geht's, wir glauben, nur einen Schritt vom Wege zu tun, und er führt uns eine Meile weit ab. Es war zum ersten Male in meinem Leben, daß ich einer Jüdin in Gesellschaft begegnete, aber da ich sie da fand, so mußte sie mir als Dame gelten wie jede andere und stand, da ihr eine Beleidigung widerfuhr und ich zufällig in ihrer Nähe war, unter meinem Schutze. Und darum versichere ich: Ich hätte mich auch einer Häßlichen angenommen. Übrigens ist die Frage müßig – Judith ist schön, sehr schön, leider!«

»Leider?«

»Ja!« Der Graf blickte ernst, ja düster vor sich nieder. »Lieber Wroblewski«, sagte er gepreßt, »wenn ich nicht so gründlich davor bewahrt wäre, von Ihnen für einen Heiligen gehalten zu werden, ich würde mich des Bekenntnisses schämen, daß ich seit dem ersten Blick in dies schöne Antlitz... Aber Worte sagen's wirklich nicht... Kurz, jammerschade, daß sie eine Jüdin ist und...«

»Und...«

»Ein braves Mädchen!« Der Graf atmete tief auf, eine Blutwelle schlug über sein Antlitz bis zur Stirne empor, und die Finger umkrallten das Papiermesser von Elfenbein, mit dem sie bisher gespielt, so fest, daß das dünne Stäbchen zerbrach.

Die Augen des Kommissärs hatten sich weit geöffnet, nun kniff er sie listig zu, und der Mund rundete sich, als setzte er zu einem Pfiff an. Dann aber sagte er halblaut: »Man muß immer hoffen... Sie haben einen alten Freund in dieser Stadt, auf den Sie unbedingt zählen können... Unbedingt und in allem, lieber Graf...«

Der junge Aristokrat wandte ihm jäh sein Antlitz zu, es war noch immer gerötet, und die Lippen bebten.

»Was soll das heißen?« stieß er barsch hervor.

Wroblewski blickte ihn fest an und lächelte. Er sagte nichts. Der Graf schlug die Augen nieder. »Sprechen wir nicht mehr davon...« Er atmete mühsam. »Wenigstens«, fügte er fast murmelnd hinzu, »wenigstens heute nicht mehr... Und was Ihren Schützling, den Wolczinski, betrifft, so kann ich ihm nicht helfen.«

Er erhob sich, der Kommissär griff zum Hut. »Leben Sie wohl, lieber Freund«, sagte er und streckte dem anderen die Rechte entgegen.

Aber der Graf hielt beide Hände in die Taschen seines kurzen Reitrocks versenkt. »Adieu, Herr von Wroblewski!«

Der Kommissär lächelte noch verbindlicher und ging. Auf dem Korridor vor der Tür blieb er einen Augenblick stehen. »Ich hätte nicht gedacht, daß du noch so jung bist, mein Gönner!« murmelte er. »Der Händedruck aber, den du mir schuldig geblieben, wird dich unter allen Umständen Geld kosten, viel Geld, Liebster!«

Dann begab er sich in das Haus der Wolczinski. Seine Mitteilung entfesselte die Tränenströme von neuem; nur Herr Severin behielt seine Fassung. »Daß sich zwei junge Edelleute einer Jüdin wegen morden, darf der Himmel nicht zulassen. Ich bin getrost, Gott wird ein Wunder tun.«

Die fromme Zuversicht des Greises sollte nicht trügen; das Wunder geschah. Am Abend desselben Tages war Nathaniel heimgekehrt. Er war tief erschreckt, als ihm Judith verstört entgegentrat. Auch nachdem er ihre Beichte vernommen, ging er noch lange schweigend, in ungewohnter Erregung auf und nieder.

»Nun, Fassung, Kind«, sagte er dann endlich und strich ihr zärtlich das wirre Haar aus der Stirn. »Vielleicht wäre es würdiger gewesen, auf die erste Stichelrede des Burschen nichts zu erwidern, aber das ist geschehen. Aus dem Gerede der Leute mache dir nichts, es wird rasch verstummen! Mich betrüben nur die Folgen für dein eigenes Herz! Wie unglücklich würdest du sein, wie einsam bleiben, wenn du deine heutige Meinung über die Christen festhieltest! Das aber wirst du nicht, denn diese schlechte Meinung ist ebenso falsch wie die frühere gute. Und nun geh, armes Kind, und schlafe dein Kopfweh aus.«

Er selbst blieb noch lange wach. Dem alten Manne war sehr bitter zumute. Armes Kind, dachte er, selbst deine Schönheit, dein Frohsinn hat den Haß nicht entwaffnen können. Und wie schwer wirst du vielleicht an jener Stunde zu leiden haben! Wärest du eine Polin, du würdest durch das Abenteuer nur noch begehrenswerter werden, und brächen sich gar die beiden um dich den Hals, so würden dir hundert andere nachlaufen. Aber du bist die Tochter eines Stammes, bei dem ein Mädchen verloren ist, wenn es durch etwas anderes zuerst von sich reden macht als durch die Kunde seiner Verlobung...

Verloren, verdammt, wenigstens in der eigenen Heimat. Er sah da nicht zu schwarz, er kannte seine Leute. Schon daß er sie das zwanzigste Jahr hatte erreichen lassen, ohne sie zu vermählen, war ihnen befremdlich genug erschienen – wie mußten sie erst jetzt urteilen! Ob ihm Bergheim er einen Freier aus der Fremde schaffte, war nun zur Lebensfrage für Judith geworden; daheim fand sie keinen mehr. Und wenn er als Mitgift Berge Goldes aufschütten wollte – das war unmöglich, gleichviel, ob es zum Duell kam oder nicht. Fand es aber statt und gab dem Gerücht Flügel durchs ganze Land, dann erfuhr auch der fremde Freier schon in der ersten galizischen Stadt, wem er entgegenreise...

Mit furchtbarer Wucht senkte sich diese Befürchtung auf des alten Mannes Gemüt. Und bin ich selbst ganz schuldlos? fragte er sich. Habe ich meinem Kinde jene Erziehung gegeben, die ihm frommen konnte? Tat ich recht, Rafaels Warnungen zurückzuweisen?

Am nächsten Morgen ging er nicht in sein Kontor, sondern auf die Straße, zu Bekannten, in die Weinstube des Aaron Siebenschläfer. Unbefangen brachte er die Rede auf die Begebenheit und behandelte sie scherzhaft. Die Leute waren sehr erstaunt, dann aber wunderten sich mindestens die Christen darüber, daß sie die Kleinigkeit so ernst genommen; die Juden freilich schüttelten die Köpfe.

Um die Mittagsstunde begab sich Nathaniel zu seinem Mieter ins erste Stockwerk, Den Wortschwall Wroblewskis schnitt er kurz ab. »Ich weiß«, sagte er, »Sie können nichts dafür. Nun aber müssen Sie mir einen Gefallen tun, das Duell darf nicht stattfinden!«

»Aber wie soll ich's verhindern? Der Graf und Wladko, beide schnauben Rache!«

Nathaniel war ein rücksichtsvoller Mann, im Notfall aber konnte er auch sehr deutlich werden. »Da irren Sie!« sagte er sanft und leise. »Wladko stirbt vor Angst; der Graf hat Ihnen gestern erklärt, wie peinlich ihm das Duell um einer Jüdin willen ist. Sie irren, weil Sie für die Vermittlung eine hohe Forderung an mich stellen und die Höhe durch die Schwierigkeit der Aufgabe rechtfertigen wollen. Daraus kann aber nichts werden. Sie wissen, ich lasse Sie gern verdienen – an diese Sache wende ich keinen Heller; daß ich den Ruf meiner Tochter durch Geld fleckenlos erhalten hätte, lasse ich mir nicht nachsagen. Wollen Sie es aber aus alter Freundschaft tun...«

Herr von Wroblewski machte eine Miene, als hätte ihn Trachtenberg eben seiner wärmsten Verehrung versichert. »Was braucht es vieler Worte zwischen uns. Sprechen Sie, alter Freund!«

»Die Schwierigkeit«, fuhr der Jude fort, »liegt in der Form. Der Graf kann keinerlei Abbitte leisten, Wladko nicht ohne Abbitte zurücktreten. Das wird durch folgendes umgangen: Wladko erscheint mit seinem Vater morgen elf Uhr bei mir und bittet mich, den Vater, um Entschuldigung. Der Graf nimmt davon Kenntnis und erklärt: so scharf er Wladkos Haltung an jenem Abend mißbillige, so warm erkenne er die Ritterlichkeit dieser freiwilligen Sühne an.«

»Vortrefflich!« rief der Beamte. »Aber wenn nun Wladko...«

»Sich weigert? Der kommt gern! Höchstens wird Severin der Meinung sein, daß ich auch ihm bei dieser Gelegenheit Genugtuung wegen des verweigerten Darlehns geben sollte. Aber Sie machen ihm gewiß begreiflich...«

»Daß dies keine Gelegenheit ist, wo ein Ehrenmann Geld fordern kann! Selbstverständlich! Also morgen elf Uhr! Und je feierlicher, desto besser – nicht wahr?«

»Nein! Nur das Notwendige!«

»Aber der Graf – sollten wir ihn und seinen Kartellträger, den Rittmeister, nicht dazu laden? Er hört Wladkos Erklärung an, gibt sofort die seine ab, und die Sache ist in Ordnung!«

Nathaniel dachte nach, dann nickte er kurz. »Wenn mir der Herr Graf die Ehre geben will...«

»Ich darf ihn also in Ihrem und Fräulein Judiths Namen einladen?«

»Nur in meinem. Jüdische Mädchen laden keine Kavaliere ein...«

»Natürlich!« rief der Beamte eifrig. »Sie sind immer taktvoll! Aber dabeisein wird sie wohl?«

»Ich denke, nein...«

»Aber Pani Nathaniel«, rief der Beamte eifrig, »das geht nicht! Sie verlangen Genugtuung für Ihre Tochter, nicht weil sie eine Jüdin, sondern weil sie eine unbemakelte Dame ist. Und darum müssen Sie sich in jene Form fügen, die man wählen würde, wenn sie eine Christin wäre...«

Nathaniel dachte nach. »Meinetwegen!« sagte er dann kurz.

Herr von Wroblewski atmete auf. »Sie sollen sehen, ob ich Ihr Freund bin! Bis zum Abend haben Sie Nachricht!«

Schon zwei Stunden später konnte er melden, daß es geglückt sei. Gleichzeitig ging das Gerücht von dieser Austragung der Sache durch die ganze Stadt. Die Christen ärgerten, die Juden freuten sich, beide aber fragten: »Was mag es den Nathaniel gekostet haben?«

Als Judith am nächsten Vormittag gegen die elfte Stunde das Empfangszimmer betrat, klang ihr von der Straße her, trotz der geschlossenen Fenster, ein dumpfes Brausen entgegen. Sie warf einen scheuen Blick hinaus, draußen stand Kopf an Kopf die schaulustige Menge. Erblassend wich sie zurück.

»Was wundert's dich?« fragte Nathaniel lächelnd. »Es ist Merkwürdigeres zu sehen als vor fünf Tagen! Daß ein neuer Gutsherr einzieht, ist schon oft dagewesen, aber daß ein Schlachziz kommt, ein jüdisch Mädchen um Verzeihung zu bitten, noch nicht. Übrigens hätte ich viel darum gegeben, wenn...«

Er unterbrach sich: Wie sie so vor ihm stand, so bleich und ernst und harmvoll, da wollte ihm das Herz vor Mitleid überquellen, und der leise Vorwurf starb ihm auf den Lippen. »Mein armes Kind!« murmelte er gerührt. Vielleicht lag's auch an dem schwarzen Wollkleid und daß sie gegen ihre Gewohnheit heute jede Blume, jeden Schmuck verschmäht, aber sie schien ihm so ganz anders als sonst: ein ernstes Mädchen mit wissenden, traurigen Augen, nicht sein holdes, übermütiges Kind mehr. Die Gestalt schien schmächtiger, die Züge schärfer geworden. »Hast du heut nacht geschlafen?« fragte er und streichelte zärtlich die blasse Wange.

»Gewiß!« erwiderte sie gedrückt. Sie blickte nach der Uhr: noch fünf Minuten zu elf. »Wanda war eben hier«, erzählte sie dann, »morgen liest Wiliszewski oben seine Gedichte vor, sie lud mich dazu ein... Ich habe abgelehnt.«

»Mit Unrecht!« rief Trachtenberg eifrig. »Schon die Klugheit gebietet es, sich nicht zu stellen, als ob du neulich einen unsühnbaren Frevel erduldet hättest – und willst du plötzlich wie eine Nonne leben? Ich bitte dich also...«

»Vater«, unterbrach sie ihn flehend, »wenn du wüßtest...«

»Ich weiß!... Aber ich bitte dich, Judith!«

Sie verstummte, das war ein Befehl, gegen den es keinen Widerspruch gab. Draußen hielt ein Wagen, aus der Menge wurden einzelne Hochrufe hörbar. Judiths Wangen bedeckten sich mit glühender Röte. »Der Graf«, sagte Nathaniel.

Er eilte dem jungen Manne entgegen und beugte sein weißes Haupt so tief, als begrüßte er einen Herrscher. »Gott segne Ihren Eintritt!« sagte er pathetisch und doch herzlich. »Und Er lohne Ihnen Ihren Edelmut! Ich kann es freilich nicht in Worten sagen...«

»Aber Herr Trachtenberg!« sagte Agenor abwehrend. Sein Blick fiel auf Judith, sie war nun wieder bleich, ein Zittern überflog ihren Leib. »Sie sind doch nicht krank?« rief er und trat auf sie zu.

»Nein...«

»Ich fürchtete schon – die Folgen der Aufregung...«

Sie schien fassungslos vor Verlegenheit, auch er fühlte sich befangen, nicht zum wenigsten deshalb, weil das bleiche Mädchen im schwarzen Kleide so wenig jenem Bilde glich, welches er zuerst von ihr empfangen und das ihm seine erregten Sinne seither so oft vorgegaukelt. Der Vater faßte ihre Hand. »Willst du nicht dem gnädigsten Herrn Grafen danken?« fragte er. »Verzeihen Sie dem Kinde«, fügte er dann hinzu. »Die Erinnerung an den peinlichen Vorfall... Sie weiß sonst zu antworten...«

»Das hat Herr von Wolczinski erfahren«, sagte Agenor lächelnd. »Auch bedarf es wahrlich des Dankes nicht – niemand hätte an meiner Stelle anders gehandelt. Das war eine Pflicht, die ich gegen jede Dame erfüllt hätte...«

Judiths Antlitz belebte sich. »Gegen jede?« fragte sie hastig.

»Gewiß!« erwiderte er. Dann schien ihm der Sinn der Frage aufzugehen. »Ich wußte, daß Sie...«

»Eine Jüdin, ja!« fiel sie ihm ins Wort. »Aber hätten Sie es für jede Jüdin getan? Ich meine, wenn ich alt und häßlich...«

»Judith!« rief Nathaniel. »Was sprichst du da?« Er war ganz fassungslos, auch der Graf schien betreten. Welch plumpe Koketterie! fuhr es ihm durchs Hirn. Aber das schmerzvolle Beben um die blassen Lippen schien dagegenzusprechen.

Des Vaters Zuruf brachte ihr erst zum Bewußtsein, wie ihre Frage gedeutet werden konnte. Wieder schlug ihr die Purpurröte übers Antlitz. »Nein!« rief sie abwehrend, während sich die Augen mit Tränen füllten. »Mein Gott, ich meinte nur...«

Sie konnte es nicht aussprechen. Herr von Wroblewski und der Rittmeister traten ein, dicht hinter ihnen Herr Severin mit seinem Sprößling und dem Vetter Jan. Die Szene spielte sich programmgemäß ab. Wladko stammelte die ihm von Wroblewski vorgeschriebenen Worte; der Graf gab seine Erklärung ab, Jan sprach seine Ansicht aus, daß Wladko sich nicht mehr gekränkt fühlen könne; die Herren schüttelten einander die Hände. Das alles währte kaum drei Minuten. Judith stand fast teilnahmslos da. »Kein Wunder«, meinte Herr Severin, als er mit seinem Anhang das Zimmer verließ, zum Rittmeister, »sie ist von der Ehre betäubt.« Erst als sich auch der Graf zum Gehen anschickte, faßte sie sich wieder.

»Gnädigster Herr Graf«, begann sie mit zitternder Stimme, und ihre Hände falteten sich unwillkürlich. »Sie dürfen nicht etwa glauben, als ob ich vorhin... Nein, bei Gott, Sie täten mir unrecht! Aber sehen Sie – ich weiß freilich nicht, ob Sie mich verstehen können, Sie, der vornehmste Herr hier, aus dessen Umgang sich jeder eine Ehre macht...«

Die Tränen erstickten ihre Stimme.

Ihm wurde seltsam zumute, als das arme, blasse, schöne Kind so in zittriger Angst, mit emporgehobenen Händen vor ihm stand. Und das Gefühl, das sich dabei in seinem Herzen regte, ließ ihn auch das wirre Stammeln verstehen. »Es wäre Ihnen zum Troste«, fragte er, »wenn ich Ihre Frage von vorhin ehrlich bejahen könnte? Sie würden daraus schließen, daß einige unter uns das Vorurteil« – er verstummte – »nicht teilen«, hatte er sagen wollen; das durfte er als ehrlicher Mann nicht aussprechen: Er teilte es.

»Ja, ja!« rief sie.

»Nun denn – ich hätte es für jede andere Dame Ihres Glaubens getan. Ich könnte mich sogar auf einen Zeugen berufen, Herrn von Wroblewski hier. Er hat mir vorgestern zufällig dieselbe Frage gestellt und dieselbe Antwort erhalten.«

Der Kreiskommissär hatte bisher mit angehaltenem Atem gelauscht. »So ist es!« rief er eifrig.

»Dank! Dank!« murmelte Judith, und ehe der Graf es hindern konnte, hatte sie seine Hand erfaßt und geküßt.

Als Agenor in der nächsten Minute mit Wroblewski vor seinem Wagen stand und einsteigen wollte, fragte der Kommissär: »Wollen Sie uns eine große Ehre erweisen, lieber Graf? Morgen liest uns der Dichter Wiliszewski, den Sie vielleicht dem Namen nach kennen, seine neuesten Verse vor. Engster Kreis, wir sind bisher nur unser fünf; meine Frau hat nämlich noch die Judith eingeladen, obwohl sich das Mädchen eigentlich nicht für Wiliszewski interessiert und das letzte Mal, als er las, den ganzen Abend im Nebenzimmer allein in den Albums geblättert hat. . . Dürfen wir auf Sie hoffen?«

Er blickte dem Grafen forschend ins erregte Antlitz. Der verachtungsvolle Blick, der ihn traf, schien ihn gar nicht zu kränken, im Gegenteil, nun lächelte er sogar. Der Graf hatte den Blick gesenkt; die Hand auf den Wagenschlag gelehnt, stand er unschlüssig da.

»Bedaure«, stieß er endlich kurz hervor. »Für morgen abend bin ich versagt.«

»Wie schade!« rief der Kommissär. Der Wagen rollte davon, er sah ihm lächelnd nach, und dasselbe Lächeln lag auf seinen Lippen, als er, in seiner Wohnung angelangt, seiner Frau sagte: »Für morgen sechs Gedecke!«


 << zurück weiter >>