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Es war drei Wochen später, nach dem Kalender der erste Frühlingstag, aber auf der podolischen Heide sah es häßlich und trübselig aus, als lägen Sonnenschein und blauer Himmel viele Jahre fern. Es fröstelte den Grafen Agenor, während er so von seinem Schlößchen Borky auf halb aufgetauten Straßen durch Wind und Regen der Kreisstadt zufuhr, weil ihn sein Anwalt dringend zu einer Unterredung eingeladen. Doch das lag wohl nicht allein an dem Wetter; auch nachdem er nun schon eine Stunde in dem wohlgeheizten Amtszimmer seines Rechtsfreundes verbracht, mußte er auf und nieder gehen, die Hände reiben, das Gefühl der Kälte und Schwere zu bezwingen, das ihm die Glieder zu lähmen drohte. »Fast drei Monate«, seufzte er, »und was hab ich erreicht!«
»Sollte dies ein Vorwurf sein«, erwiderte der Anwalt, »so müßte ich ihn ablehnen. Was ich tun konnte, ist geschehen: Sie haben nun wieder Ordnung in Ihren Finanzen und um keinen schwereren Preis als unbedingt nötig; Herr Stiegle bleibt Ihnen erhalten, Herr von Wroblewski freilich auch, aber dagegen kann ich nichts tun. In Güte läßt sich da nichts richten; bieten Sie ihm ein Schweiggeld jährlicher zwanzigtausend Gulden auf Lebenszeit, er wird es dankend annehmen, aber schon im ersten Jahre weitere zwanzigtausend fordern, und gewähren sie diese nicht, so liegen die Dinge wieder wie heute. Einzuschüchtern ist der Mann auch nicht; seine Briefe an Sie beweisen seine Verlogenheit, seine schurkische Gesinnung; aber Ihre Briefe an ihn, daß Sie einen Betrug und Kirchenfrevel begangen und ihn zur Bestechung der Richter zu verleiten gesucht. Wollen Sie seine Drohungen in den Wind schlagen? Ich habe dazu geraten, ehe ich ihn näher kannte; jetzt kann ich's nicht mehr. Er ist der Typus des leichtfertigen Schurken, als Erpresser und Verschwender gleich groß; was er Ihnen erpreßt, ist er tatsächlich bereits den Wucherern schuldig; Ihre Furcht vor ihm ist seine einzige Erwerbsquelle; versiegt sie, so ist er schlimmer dran als ein Bettler, und seine Äußerung gegen mich: ›Dann suche ich eben meine Versorgung im Zuchthause und spiele mit meinem Zellengenossen Baranowski um Erbsen‹, enthält ein Korn Wahrheit. Haben Sie nun seine Anzeige zu fürchten? Ja! Der Betrug an dem Mädchen würde leicht wiegen, schwerer ist das Vergehen gegen das Staatsgesetz, am schwersten der Kirchenfrevel; ich resümiere dies rein tatsächlich, moralisch wäre vielleicht die Reihenfolge umzukehren...«
»Auch nach meinem Empfinden«, sagte der Graf düster. »Wenn ich an das arme Weib denke, krampft sich mir das Herz in der Brust zusammen.«
»Dann sind Sie wohl«, fragte der Anwalt, »von selbst auf den Gedanken gekommen, den ich Ihnen als meinen besten Rat mitteilen wollte?«
»Sie meinen: Judith alles zu gestehen und Taufe und Trauung nun nochmals und ernstlich zu wiederholen? Ja, daran habe ich oft gedacht, aber ich fürchte, die Reue kommt zu spät. Ich habe sie einmal, als ihr Zweifel kamen, belogen; es war der schimpflichste Augenblick meines Lebens. Ich fürchte, erfährt sie dies, so wird ihr der Tod lieber sein als ein Leben an meiner Seite...«
»Vergessen Sie nicht: sie liebt ihr Kind! Versuchen müssen Sie es jedenfalls; ich bin überzeugt, es wird glücken. Ich gebe Ihnen diesen Rat allerdings zunächst nur als Jurist; dann können Sie den Kommissär ruhig seinem Schicksal überlassen und ihn auf die Straße setzen, statt Ihr schönstes Schloß zu meiden, weil er darin haust. Die Anzeige macht er wohl auch in diesem Falle, aber die Strafe fällt gelind aus und hat in den Augen der Welt nichts Entehrendes mehr. Der Bischof mischt sich dann wohl kaum in die Sache – Sie haben ja der Kirche wirklich und wahrhaftig eine Seele zugeführt. Der weltliche Richter aber, vor dem Sie dann zuerst stehen, Wroblewskis Nachfolger, Herr Groza, ist ein Mann von feinstem Rechtsgefühl. So besorgt ich um Sie wäre, wenn er etwa jetzt über Sie zu richten hätte, ebenso bin ich davon überzeugt, daß er dann sagen wird: Der Graf hat gefehlt, aber auch gelitten, gebüßt und gutgemacht. Jedoch nicht bloß der Jurist, auch der Freund kann Ihnen keinen besseren Rat geben. Sie fühlen sich nicht glücklich...«
»Weiß Gott, nein!« sagte der Graf mit zuckenden Lippen.
»Mit solcher Last auf dem Herzen kann man es nicht sein. Befreien sie sich von dieser Last! Und die Rücksicht auf Ihre Standesgenossen kann Sie auch nicht hindern...«
»Nein!« sagte Agenor bitter. »Wahrhaftig nicht! Schlimmer kann meine Stellung zu ihnen nicht mehr werden. Ich bin ja ein Verfemter...«
»Da sehen Sie zu schwarz«, begütigte der Anwalt, »aber schlimmes Gerede ist ja vorhanden. Ich habe mich immer darüber gewundert, wie auf jene Äußerung hin, die Ihr Lakai gegen einen anderen Lakaien in Florenz gemacht, das Gerücht von einer Scheinehe so weit dringen konnte und vor allem, warum es seit einigen Monaten plötzlich allgemein geglaubt wurde. Die Lösung lautet: Weil sich diese Version, welche ja leider auch der Wahrheit entspricht, am boshaftesten und giftigsten ausbeuten läßt; hätte jemand etwas noch Schlimmeres aussinnen können, die Wahrheit wäre nicht durchgedrungen. Nun aber hat jedermann Gelegenheit, die Echtfarbigkeit seines Katholizismus zu bezeugen, indem er über den Frevel in der Kapelle zu Borky die Augen verdreht, und sich als ritterlich zu bewähren, indem er Ihr Benehmen als eines Edelmannes unwürdig verdammt. Es ist so weit gekommen, daß man sogar die Jüdin bedauert – hätte ich es nicht mit eigenen Ohren gehört, ich würde es nicht glauben. Dies alles aber geschieht zwar ausgiebig, aber heimlich, Herr Groza darf es ja nicht erfahren, das wäre Denunziation... Nun, lieber Graf, wie sich diese Stimmungen gestalten werden, wenn Sie die Jüdin in einigen Monaten als ihre rechtmäßige Gattin heimbringen, kann ich Ihnen freilich nicht verbürgen, aber ich meine: nicht bloß nicht schlimmer, sondern besser. Denn dann werden wenigstens die Edlen und Guten – groß ist ihre Zahl freilich nicht – anders über Sie denken...«
»Sie haben recht«, sagte Agenor und erhob sich. »Und was geschehen muß, soll bald geschehen. Ich fahre noch heute ins Städtchen, ordne mit Stiegle die Dinge für die Zeit meiner Abwesenheit und trete morgen die Reise nach Riva an. Die nötigen Papiere beschaffen Sie wohl und senden sie mir nach!«
»Kein Auftrag könnte mir lieber sein«, sagte der Anwalt und drückte die dargebotene Hand. »Alles Glück auf den Weg!«
Als der Graf kurz darauf wieder über die Heide fuhr, dem Städtchen zu, war das Wetter noch schlimmer geworden; dichter strömte der Regen nieder, mit Eisflocken untermischt, und gefror, kaum daß er zur Erde gelangt; nur im Schritt konnte der Kutscher die eisglatte Straße dahinfahren. Gleichwohl fror es den Grafen nicht mehr; seine Wangen waren gerötet, die Augen hell, so leicht hatte er sich seit lange, lange nicht mehr gefühlt. Es war ein schmaler, harter Pfad, der nun vor ihm lag, aber er führte zum Frieden mit sich selbst, vielleicht zum Glück
Immer strömender wurde der Regen, und ein schneidender Nordwind peitschte ihn vor sich her. Nun brach auch die Dämmerung ein, und der brave Fedko mußte zuweilen stillhalten, bis er den richtigen Weg erkannt. »Ein Hundewetter, Gnädigster!« entschuldigte er sich bei dem Grafen. »Ich kenne doch die Heide und ihre Tücken, aber so schlimm wie heute ist es mir nur noch einmal ergangen, das war, als ich...«
Er brach ab; es kam ihm plötzlich zu Bewußtsein, daß die Erinnerung an den Tag, da sich das Judenmädchen in den Schloßteich gestürzt, vielleicht seinem Herrn wehe tun würde. Und in seiner Verlegenheit darüber hieb er so heftig auf die Pferde ein, daß sie rascher vorwärts trabten. Zu Fall kamen sie dabei nicht, wohl aber übersah Fedko auf diese Weise ein anderes Gefährt, welches mühselig vor ihm dahinschlich; ein armseliges, mit einer leichten Leinwandplache überdecktes Lohnwägelchen; so hart fuhr er daran an, daß die Equipage feststand. Fluchend stieg er ab, das Rad loszumachen; auch der Lohnkutscher, offenbar ein Jude, begann zu fluchen. »Als ob er den Kaiser drin hätte«, rief er, »so überfährt er die Leut!«
»Den Kaiser fahr ich nicht«, erwiderte Fedko stolz, »aber der Herr Graf Baranowski will auch gern vorwärts kommen!«
»Und ich«, rief der Jude, »führ nur eine arme, kranke Jüdin mit einem kleinen Kind, aber das sind auch Menschen !«
»Nana«, sagte nun der gutmütige Fedko begütigend, »die Minute Aufenthalt wird ihnen nichts schaden!«
Und rasch hieb er wieder auf die feurigen Rappen ein, daß der Abstand zwischen den beiden Gefährten immer größer wurde. Längst hatte Fedko bereits den Schloßhof erreicht, als vor der Lohnkutsche eben erst die Lichter der Vorstadt Roskowka aufblinkten.
Der Jude wandte sich um. »Frau«, rief er in das Innere des Wagens, »da sind wir in Roskowka! In der Schenke könnt Ihr Milch für das Kind haben!«
»Gottlob!« erwiderte eine schwache Stimme. »Ja, haltet an, ich bitt Euch. Ich fürchte ohnehin, das Kind wird sich erkältet haben! Es ist so unruhig!«
»Aber wie denn!» tröstete der Mann. »Alle Eure Tücher habt Ihr ja um den Kleinen gebreitet, und Ihr selbst friert! Es ist ja ein Erbarmen und eigentlich auch eine Sünd gegen Euch selber! Aber mit einer Mutter zanken – da müßt ich ein noch größerer Narr sein!«
Aus dem Wagen kam leises Wimmern einer Kinderstimme. »Nur noch zwei Minuten«, sagte der Kutscher. »Aber wohin fahren wir dann?«
Es kam keine Antwort.
»Frau – hört Ihr nicht? Vor welchem Hause im Städtchen soll ich halten?«
»Auf der Straße...«, erwiderte nun die Stimme leise und zitternd, »ich werde auf der Straße aussteigen...«
»Weil Ihr so warm bekleidet seid?« grollte der Mann. »Aber wie Ihr wollt!... Prr! Hier ist die Schenke!«
Er half der Frau aus dem Wagen, und da er sah, daß sie wankte, so wollte er ihr das Kind abnehmen und führte sie, da sie dies nicht litt, stützend ins Schenkzimmer. Der große, wüste Raum war von zechenden Bauern und Fuhrleuten überfüllt, die Luft qualmig und stickig von Fuseldunst und Tabaksdampf und der Ausdünstung der vielen Menschen, die nässetriefend in den überheizten Raum getreten. »Das ist nichts für Euch«, sagte die Wirtin mitleidsvoll, als ihr der Kutscher den neuen Gast zuführte, und öffnete die Türe zum anstoßenden Raum, ihrer Wohn- und Schlafstube. Rasch brachte sie die Milch herbei – »auf der ganzen Welt findet Ihr keine bessere«, beteuerte sie – und sah dann zu, wie die Fremde die Milch in ein Saugfläschchen füllte und sie dem Kinde einflößte.
»Ihr nährt das Kleine nicht selbst?« fragte sie. »Freilich, Ihr seid wohl zu schwach dazu!« Die Fremde hatte das Tuch, welches ihren Kopf dicht umhüllte, weit vorgezogen. Die Wirtin konnte das Antlitz nicht deutlich sehen; daß es gramvoll und abgezehrt war, erkannte sie doch. »Aber das Kindchen gedeiht auch so gut!« fügte sie tröstend hinzu. »Ein Knäblein – nicht wahr? Wie lustig es jetzt mit den Beinchen strampelt! Da seid Ihr wohl noch nicht lange unterwegs, weil es so munter ist? Kommt Ihr aus Tluste?«
Die Fremde verneinte.
»Wir sind wochenlang unterwegs«, sagte sie, »aber ich habe getan, was ich konnte, und es gibt ja überall barmherzige Menschen.«
»Wochenlang!« rief die Frau. »Jetzt im Winter! Da kommt Ihr wohl aus der Krakauer Gegend?«
»Noch weiter her!«
»Noch weiter – also aus Aschkanas (Deutschland)? Vielleicht aus Prag? Dort ist eine große Gemeinde. Aber nach Eurer Sprache hätte ich gedacht, Ihr wäret aus unserer Gegend! Wollt Ihr bei mir übernachten?«
Die Fremde verneinte. »Ich muß ins Städtchen...«
»Wenn Ihr die Wirtshäuser dort für besser haltet...«, meinte die Frau etwas gekränkt, fuhr dann aber wieder teilnahmsvoll fort: »Ihr zittert ja! Habt Ihr das Fieber? Wartet, ich bring Euch etwas Supp'. Es ist mir nicht ums Geld, ich will nichts dafür, wenn Ihr arm seid...« Und ehe eine Antwort erfolgen konnte, war sie schon hinausgeeilt in die Küche.
Die Fremde sollte nicht lange allein bleiben. Zuerst kam der Kutscher: »Ruht Euch nur recht aus, Frau! Ich habe Zeit!« Dann guckte ein bärtiger Männerkopf in die Stube: »Gottswillkomm, ich bin der Wirt vom Haus! Die Supp' kommt gleich!« Endlich trat eine Greisin ein, bei deren Anblick die Fremde zusammenzuckte und das Tuch tiefer ins Gesicht zog. Aber das alte, kleine, dürre Weiblein mit dem verhärmten Gesicht, aus dem eine große, gekrümmte Nase hervorstach wie ein Zeigefinger, kümmerte sich nicht um sie. Es bot den guten Abend, setzte sich ans andere Ende des Tisches und starrte aus geröteten, tränenfeuchten Augen kummervoll vor sich nieder.
Die Wirtin kam, den dampfenden Teller in der Hand. »Gottswillkomm, Muhm Miriam«, begrüßte sie die Greisin. »Das ist schön, daß Ihr herkommt, statt drüben in Eurem Stüblein allein zu sitzen.« Sie stellte den Teller vor die Fremde hin. »Greift zu! Etwas Hühnerfleisch hab ich auch hineingetan; nicht viel, man gibt's, wie man's hat.« Dann wandte sie sich wieder zu der Alten: »Aber nicht schön ist's, daß Ihr noch immer soviel weint, Muhm Miriam!«
»Ach«, schluchzte die Miriam Gold, »ich wein nicht, es weint so von selbst aus mir heraus!... Sie war ja doch mein Kind, mein Fleisch und Blut!«
»Na, ich hab ja auch in der ersten Zeit nichts gesagt«, sagte die Wirtin. »Aber nun ist sie vier Monat tot, und Ihr weint Euch noch täglich die Augen aus. Sagt, müssen wir nicht alle sterben, und wie oft die Jungen vor den Alten? Hab ich nicht meine Rachele begraben müssen? Und meine Rachele – aber ich will Euch nicht kränken...«
»Ich weiß, was Ihr sagen wollt«, erwiderte die Miriam. »Daß Euer Rachele ein brav Kind war und meine Lea nicht. Aber wenn sie auch zur Kirche gegangen ist und eines Bauern Weib wurde, habt Ihr's schriftlich, Muhm Malke, habt Ihr's schriftlich, daß unser Herr da oben – sein Name sei gelobt – von der Lea so denkt wie Ihr?«
»Ja, Muhm Miriam«, sagte die Wirtin ernst, fast feierlich, »das haben wir alle schriftlich. Da steht's!« Sie wies auf die Bibel, die auf dem Fensterbrett lag. »Gott will nicht, daß aus einer Lea eine Barbara wird...«
»Wir werden's nicht ausmachen!« erwiderte die Greisin abwehrend und fuhr sich mit der Schürze über die rotgeweinten Lider. »Laßt mir den Trost, daß Er auch meinem armen Kinde ein gnädiger Richter gewesen ist. Und als es mit ihr zu Ende ging, da hat sie sich wohl erinnert, daß sie einst Lea geheißen hat. Da schickte sie ja zu mir und ließ mich flehentlich bitten, zu kommen. Aber ich war zu feig dazu und ließ mich überreden und tat meinem armen Kinde noch diese letzte Kränkung an. Ihr ist nun wohl, aber an mir zehrt die Reue, und darum wein ich, Muhm Malke, und werd nicht aufhören zu weinen...«
»Ihr wißt«, erinnerte die Wirtin, »ich habe Euch, als Ihr mich fragtet, nicht zu- noch abgeredet. Ich sagte, Ihr müßt den Rabbi und die anderen Frommen befragen. Das ist keine Weibersach!«
»Oh, es war eine Weibersach!« schluchzte Miriam. »Wer darf zwischen Mutter und Kind treten? Aber da schüchterten sie mich ein; Gott wolle es nicht, und als ich zu Rafael ging, da erwiderte er: ›Mein Almosen soll Euch nicht entzogen sein, auch wenn Ihr's tut, aber ich kann nicht dazu raten. Eure Tochter stirbt ja nicht, sie ist längst tot. Ich an Eurer Stelle ginge nicht. Ich weiß, Ihr seid glücklicher als ich. Eure Lea wurde keine Ehrlose wie meine Schwester. Aber‹, sagte er...«
Ein Wehlaut, kurz, schrill, gellend, klang durchs Gemach, daß beide Frauen zusammenschraken. »Was ist Euch?« riefen sie der Fremden zu. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, das Tuch war ihr vom Kopf geglitten, daß man das rotblonde, mit grauen Strähnen durchzogene Haar sah.
Die Wirtin wich einen Schritt zurück und starrte mit einem Grauen, mit einem Abscheu auf dies gelöste Haar, als hätte sich ihr plötzlich ein Nest von Nattern entgegengeringelt. »Was ist das?« schrie sie auf. »Seid Ihr kein ehrlich jüdisch Weib, daß Ihr Euer eigen Haar tragt?«
Auch die Miriam stand wie gelähmt. »Barmherziger Gott!« murmelte sie. »Dieses Haar – die Unglückliche...«
»So antwortet doch!« rief die Wirtin, zur Fremden gewendet. »Hier ist ein jüdisch Haus! Man will wissen, wen man beherbergt!«
Die Miriam trat auf sie. »Still!« murmelte sie. »Erkennt Ihr sie denn nicht? Es ist ja die Judith...«
»Die Judith!« schrie die Wirtin gellend auf. »Hinweg!«
Judith ließ die Hände sinken und wandte ihr das Antlitz zu. »Ich geh ja schon«, murmelte sie, »ich geh schon!«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Wirtin in diese todesblassen Züge, die sie einst – es schien ihr wie gestern – schön und hold gesehen, auf die gebeugte, von Fieberschauern durchrüttelte Gestalt. »Oh«, murmelte sie endlich vor sich hin, »da hat Gott gestraft!«
Die Miriam aber war auf Judith zugeeilt. Nicht in Tropfen wie vorhin – in Strömen schossen ihr die Tränen über die runzeligen Wangen, und mit leidenschaftlicher Inbrunst umfaßte sie die zarte Gestalt und strich mit ihren welken Händen über das verhärmte Antlitz. »Du Ärmste«, stieß sie bebend hervor, »du Ärmste, dich sendet mir Gott!«
Die Wirtin sah befremdet zu. Wie tief ihr Groll gegen die Abtrünnige war, bei diesem Anblick empfand sie ein leises Brennen der Lider. Sie wandte sich zur Tür. »Macht's kurz, Muhm Miriam«, sagte sie, »ich muß es nun meinem Mann sagen, und der wird's nicht leiden.« Und im Hinausgehen murmelte sie vor sich hin: »Wie mitleidig die Miriam ist! Ich wollt's auch sein, wenn ich mich nicht vor Gott fürchten würde!«
Dies Mitleid aber brach so ungestüm hervor, daß es selbst diesen unsäglichen, erstarrten Jammer zu rühren, zu lösen vermochte. »Ich weiß«, stammelte Judith, »ich weiß, Miriam, Ihr habt mich immer liebgehabt...«
»Sehr lieb!« murmelte die Greisin. »Du warst ja so schön und gut, oh, so gut! Als ich damals erfuhr, sie hätten dich im Garten mit dem Grafen gesehen, da gab es mir einen Stich da innen, und das Herz tat mir weh, fast so weh wie an jenem Tage, da mir mein armer Mann sagte: ›O Weib, wäre doch dein Schoß lieber verschlossen geblieben! Unsere Lea hält es mit dem Wassilj!‹ In meiner Herzensangst lief ich zu dir hin und erzählte dir die Geschichte meines Kindes, um dich zu warnen; so schwer es mir fiel, ich tat es dir zuliebe! Ach, es war umsonst! Wie hab ich dir nachgetrauert, beten durft' ich ja nicht für dich – sie sagen ja, daß es eine Sünde ist, für eine Abtrünnige... Du bist doch Christin?« unterbrach sie sich.
Judith schüttelte den Kopf.
»Oh«, jubelte die Greisin auf, »dann kann noch vieles gut werden. Nicht wahr, du wolltest dich nicht taufen lassen, und darum verstieß dich der Graf?«
»Nein! Ich bin Jüdin, aber die Schuld der Abtrünnigkeit lastet dennoch auf mir. Ach, und wieviel andere noch! Ich bin ein unseliges Geschöpf, verdammt in diesem und im künftigen Leben!«
»Im künftigen nicht, Judith!« sagte Miriam fast feierlich. »Wer so alt geworden ist wie ich, und wem die Menschen so viel Bitteres zugefügt haben in Seinem Namen, der erkennt, daß Er wohl barmherziger sein muß als die Menschen! Und wie hast du gebüßt! – Ich frage nicht danach, auf dem Gesicht steht's dir ja geschrieben...«
Vor der Tür ward halblautes Streiten hörbar. »Sie muß hinaus!« wetterte eine Männerstimme. »Sie hat auch kein Erbarmen mit Ihrem Vater gehabt.« Es war der Wirt. Dazwischen klang begütigend die Stimme seines Weibes.
»Komm«, drängte Miriam, »ich wohn nur einige Häuser weit, das Stüblein ist geheizt, da kannst du übernachten.«
Judith hüllte das Kind wieder sorglich ein. »Ich dank Euch«, sagte sie, »aber durch mich sollt Ihr nicht ins Unglück kommen, Miriam. Ihr seid auf die Guttaten der Leute angewiesen, sie würden Euch zürnen!«
»Mögen sie!« rief die Greisin. Hochaufgerichtet stand sie da, und wie ein Leuchten lag es auf ihrem welken Antlitz. »Und wenn ich deshalb Hungers sterben müßte, ich würde doch die Stunde segnen, wo dein Fuß meine Stube betreten hat. Denn dich sendet mir Gott! Er hat erhört, was mein Herz Tag und Nacht, seit mein armes Kind gestorben, zu ihm emporgestammelt hat. Da rang ich die Hände und rief: ›O könnt' ich meine Feigheit und Härte gutmachen! Was nützt der Toten mein Wehklagen, und was fängst du mit meiner Reue an, barmherziger Gott, der du willst, daß auch wir Menschen barmherzig sind!‹ Er aber wußte was mit meiner Reue anfangen, der Lebenden kann ich bezahlen, was ich der Toten schuldig geblieben bin... Komm«, schloß sie fast flehend, »komm zu mir...«
»Ich kann nicht...«, erwiderte Judith, »ich muß zu Rafael...«
»Nein, nein!« rief die Greisin abwehrend. »Spare dir diesen Schmerz....«, fügte sie dann zaghaft hinzu. »Du hast ja vorhin mit angehört...«
»Ich muß!« Sie suchte sich zu erheben, aber die Kräfte versagten ihr. »Ich muß!« wiederholte sie, und nun gelang es. Aber nur schwankend stand sie da, so stark rüttelten sie die Fieberschauer, und als ihr Miriam das Kind aus den Armen nahm, mußte sie es dulden.
Die Tür ward aufgerissen, der Wirt trat ein. »Wenn Ihr nicht gleich...« Er hielt inne, als er die beiden zum Gehen gerüstet sah, und der Anblick der Wankenden machte ihn vollends stumm. »Zwölf Kreuzer«, murmelte er nur noch, als sie ihn nach ihrer Schuldigkeit fragte, und strich die Kupferstücke, die sie ihm aufzählte, verlegen ein.
»Überleg's!« bat die Miriam noch einmal, als sie dem Wagen zuschritten. »Wenn du Rafael aufsuchen willst, so tu's morgen, nachdem du dich ausgeruht hast!«
»Es muß heute sein!« erwiderte Judith. »Mein Fieber wird immer stärker, der Arzt in Tluste meinte, daß ich schwerkrank werde; morgen bin ich vielleicht ohne Besinnung und muß so dahinsterben... Wir fahren«, wandte sie sich an den Kutscher, der mürrisch neben seinen Pferden stand, »zum großen Haus gegenüber dem Kloster...«
»Ich weiß schon«, erwiderte der Mann finster. »Da ich bezahlt bin, muß ich's tun. Aber hätt ich in Tarnopol gewußt, wer Ihr seid...«
Er beendete den Satz nicht und hieb grimmig auf die Pferde ein, daß sie mit einem Ruck aus dem Torweg fuhren. Draußen, im Kotmeer der Straße, ging es wieder Schritt für Schritt. Stumm saß Judith da, das Kind an sich gepreßt, nur zuweilen schlugen ihre Zähne im Fieberfrost hörbar aneinander; dann begann Miriam immer wieder zu flehen, den schweren Gang erst morgen zu tun. »Du bist ja halbtot!« schrie sie verzweifelt auf.
»Es muß sein«, erwiderte die Unglückliche. »Aber meine Gedanken beginnen sich zu verwirren... und eine Seele muß es erfahren, solang ich reden kann. Der Frevler soll seiner Strafe nicht entrinnen. Hört, Miriam, wie der Graf an mir getan hat...« Sie erzählte es in kurzen, wirren Worten; Miriam verstand es nicht recht, nur soviel war ihr klar, daß das arme Geschöpf furchtbar getäuscht worden.
»Du armes Kind«, schluchzte sie und schlug ihre Arme um die Bebende. Und als der Wagen vor dem Hause hielt, bat sie: »Laß mich mit Rafael sprechen, ihn vorbereiten!«
Auch davon wollte Judith nichts wissen. Aber als sie dem Wagen entstieg und nun vor dem Hause stand, wo sie die glücklichen, schönen, behüteten Tage ihres Lebens verbracht, dem Hause, an welches sie mit verzehrender Sehnsucht zurückgedacht, seit sie in die Fremde gegangen, schien sie ihre Kraft zu verlassen, sie wankte und wäre wohl trotz Miriams Hilfe zu Boden gesunken, wenn sich nicht ein Stärkerer mitleidig genaht hätte. Es war der Kutscher eines Wagens, der vor dem Hause hielt. »Bist du aus Lehm?« rief der Ruthene zornig dem Fuhrmann Judiths nach, als dieser auf dem Bocke blieb und nun davonfuhr, ohne sich weiter um die beiden Frauen zu bekümmern. Der Jude wandte sich um. »An der ist Gotteslohn zu holen«, rief er höhnisch, »ich gönne ihn dir!« Und er verschwand im Nebel.
Noch einmal raffte Judith ihre Kraft zusammen und trat, von Miriam gefolgt, ihr Kind auf dem Arm, in den Flur und dann, ohne anzupochen, in die Tür von ihres Vaters Arbeitszimmer. Der Raum war dämmerig erleuchtet; beim Schein einer Kerze schrieb Rafael am Pult an einem Briefe. Als er die Tür gehen hörte, wandte er sich um, ein halblauter Schrei entfuhr seinen Lippen, dann starrte er, totenbleich, wie von Entsetzen und Abscheu gelähmt, die Unselige an, als wäre ein Gespenst vor ihm emporgestiegen.
»Hinweg!« murmelte er endlich. »Hinweg!« wiederholte er lauter und wies mit zitternder Hand nach der Türe.
»Rafael«, schluchzte sie und sank, wo sie stand, hart an der Türe, in die Knie. Die Miriam aber stürzte vor und faßte den Saum seines Talars und rief verzweiflungsvoll: »Erbarme dich! Sie ist ja heimgekommen zu sterben!«
Er machte sich los und wich zurück, der Türe zu, die ins nächste Gemach führte. Er war unheimlich anzuschauen, wie er so dastand, die erblaßten Lippen halb geöffnet, das wachsbleiche Antlitz verzerrt, mit der Rechten nach der Türklinke tastend, die Linke ins wirre, schwarze Haar vergraben, ein Bild so wilden Grolls und Entsetzens, daß die Greisin bebend vor ihm zurückwich. So verflossen einige Sekunden; auch Judith regte sich nicht. Erst als plötzlich das Kind zu weinen begann, schien ihm bei diesem Laut die Besinnung zurückzukehren.
»Schafft sie fort!« rief er der Miriam zu, heiser, fast unverständlich rangen sich ihm die Worte aus der gepreßten Kehle. »Ihr Erbteil liegt beim Bürgermeister! Hier hat sie nichts zu suchen.«
»Erbarmen!« rief Miriam. »Ihr seid unter einem Herzen gelegen! Denke, daß ihr zwischen deinem Vater, deiner Mutter das Grab gebettet ist!«
»Leider!« schrie er wie rasend auf. »Die Vatermörderin verdient es nicht!«
Dumpf ächzte Judith auf, ihr Haupt schlug zu Boden. Das Kind entglitt ihren Arm und begann laut zu wimmern. Miriam stürzte auf das Knäblein zu und hob es auf. »Rafael«, rief sie und hielt es empor, »erbarme dich des unschuldigen Kindes!« Aber er hörte sie nicht mehr, er hatte das Zimmer verlassen, Miriam war mit der Ohnmächtigen allein.
»Hilfe«, schrie die Greisin, »Vater im Himmel, erbarme dich!« Ihr Ruf wurde gehört, die Tür zum Flur öffnete sich, ein alter Herr mit derbem, braunem Antlitz, Haar und Schnurrbart silberweiß, trat ein.
Es war Doktor Reiser.
»Schweigt!« herrschte er die Greisin an, die bei seinem Anblick vor Freude noch lauter zu schreien begann als vorhin aus Verzweiflung, und beugte sich über die Ohnmächtige nieder. Dann richtete er sich tieferschüttert empor; er brauchte nicht zu fragen, wer sie sei und was sich hier begeben. Eilig stürzte er zur Tür, rief den Kutscher seines Wagens, der vor dem Haustor hielt – der Arzt hatte eben einen Besuch beim Kommissär Groza im ersten Stock gemacht –, herbei und befahl, ihm seinen Arzneienkasten zu reichen. Dann mühte er sich, die Ohnmächtige durch Essenzen zum Leben zu bringen. Nur die Miriam und der Kutscher leisteten ihm dabei Hilfe; die alte Sarah, die sich einen Augenblick an der geöffneten Türe sehen ließ, lief furchtsam hinweg, als Miriam sie anrief.
Endlich schlug Judith wieder die Augen auf; der Arzt erkannte sofort, daß ihr die Besinnung nicht wiedergekehrt sei. »Mein Grab!« schrie sie wild auf und suchte sich den Händen ihrer Pfleger zu entringen. »Ich will mein Grab!« Erst als der Anfall sich wieder gelegt, konnte sie der Arzt in seinen Wagen bringen. »Zu mir!« bat Miriam. »Ich hab ein gutes Bett, und meine Stube ist warm!« Auch Doktor Reiser wußte kein anderes Asyl; weder im Juden- noch im Christenspital war ja die Aufnahme zu erhoffen! Auch lag das Häuschen, in welchem Miriam ihre Stube hatte, nur wenige Schritte von seinem Hause entfernt. So befahl er denn seinem Kutscher, auf kürzestem Wege, am Schlosse vorbei, nach Roskowka zu fahren.
»Fluch über ihn!« rief die Greisin, als sie an den erleuchteten Fenstern des Schlosses vorbeifuhren. »Da zecht er wohl oben mit seinen Freunden! Was kümmert ihn sein Opfer und sein Kind?«
Der Arzt erwiderte nichts, wahrscheinlich dachte er ähnliches. Aber die beiden irrten; war eine Vergeltung für sein Tun groß genug, so hatte sie den Grafen Baranowski in diesem Augenblicke erreicht. Da ging er, von allen Furien der Reue, der Furcht gepeinigt, in seinem Arbeitszimmer auf und nieder und las immer wieder den Brief aus Riva, welchen er eben vorgefunden. Die Hania berichtete über die Ereignisse der letzten Zeit, das Verschwinden ihrer Herrin; wie sie schon die Nachbarn aufgeboten, die Leiche im See zu suchen, als ihnen ein Kutscher aus Mori den Abschiedsgruß der Herrin und dem alten Jan auch noch die besondere Versicherung gebracht, daß er sein Geld gewiß zurückerhalten werde. »Aber es ist nicht darum, sondern er bangt um die Gnädige und das liebe Bübchen und ich auch, und wir bitten den Herrn Grafen, uns heimkommen zu lassen.«
Zu spät! – Der Fels war im Rollen, es ließ sich nichts mehr gutmachen, nichts verbergen; als seine Todfeindin kam sie heim, ihn der Schmach preiszugeben. Wie seiner Sinne nicht mächtig, durchmaß er das Zimmer, Stunde um Stunde, bis ihn die wankenden Füße nicht mehr trugen, und die bleichen Lippen wiederholten immer wieder, bald laut, bald leise die beiden Worte: »Zu spät!... Zu spät!«