Anatole France
Thais
Anatole France

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Sechstes Kapitel.

Am frühen Morgen empfing die Äbtissin Albina den Abt von Antinoë an der Schwelle der Zellen.

»Sei willkommen in unseren Zelten des Friedens, ehrwürdiger Vater, denn du kommst wohl, die Heilige zu segnen, die du uns gegeben hast! Du weißt, daß sie Gott in seiner Gnade zu sich beruft. Wie solltest du eine Nachricht nicht erfahren haben, welche die Engel von Wüste zu Wüste getragen haben? Thaïs ist in der Tat ihrem seligen Ende nahe. Ihre Werke sind getan, und ich kann dir mit wenig Worten beschreiben, wie sie unter uns gelebt hat. Als sie nach deinem Weggang in der mit deinem Siegel verschlossenen Zelle zurückgeblieben, schickte ich ihr mit ihrer Nahrung eine Flöte, wie sie die Mädchen ihres Berufes bei den Festen zu spielen pflegen. Ich tat das, damit sie nicht in Trübsinn verfalle und nicht weniger Anmut und Talent vor Gott habe, als sie vor den Blicken der Menschen gezeigt hatte. Und es war nicht unweise gehandelt, denn Thaïs spielte 231 jeden Tag auf der Flöte zum Lobe des Herrn, und die Jungfrauen, welche von den Tönen dieser unsichtbaren Flöte angezogen wurden, sagten: ›Wir hören die Nachtigall der Himmelshaine, den Schwanengesang des gekreuzigten Jesu.‹ So tat Thaïs Buße, bis nach sechzig Tagen die von dir versiegelte Türe sich von selbst öffnete und das Tonsiegel zerbrach, ohne daß irgendeine Menschenhand es berührt hätte. An diesem Zeichen erkannte ich, daß die Prüfung, die du ihr auferlegt hattest, aufzuhören habe und daß Gott der Flötenspielerin ihre Sünden vergebe. Von da an teilte sie das Leben meiner Töchter, arbeitete und betete mit ihnen. Sie erbaute sie durch die Bescheidenheit ihres Auftretens und ihrer Reden und glich unter ihnen einem Standbild der Schamhaftigkeit. Bisweilen war sie traurig, aber diese Wolken zogen vorüber. Sobald ich sah, daß sie durch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe an Gott gefesselt sei, scheute ich mich nicht, ihre Kunst und sogar ihre Schönheit zur Erbauung ihrer Schwestern nutzbar zu machen. Ich forderte sie auf, vor uns die Taten der starken Frauen und der weisen Jungfrauen der Schrift darzustellen. Sie ahmte Esther, Judith, Debora, Maria, die Schwester des Lazarus, und Maria, die Mutter Jesu, nach. Ich weiß, ehrwürdiger Vater, daß deine Sittenstrenge sich beim Gedanken an solche Schauspiele empört. Aber du wärest selbst gerührt worden, wenn du sie in diesen frommen Szenen gesehen hättest, wie sie wahre Tränen vergoß und ihre Arme wie Palmen gen Himmel streckte. Ich gebiete schon lange über Frauen und habe den 232 Grundsatz, ihren besonderen Anlagen nicht entgegenzuwirken. Alle Samen geben nicht die gleichen Blumen, und alle Seelen lassen sich nicht auf gleiche Art heiligen. Es ist auch in Betracht zu ziehen, daß Thaïs sich Gott zu einer Zeit ergeben hat, da sie noch schön war, und ein solches Opfer ist, wenn auch nicht einzig in seiner Art, doch sehr selten. Diese Schönheit, die ihr natürliches Kleid ist, hat sie auch heute nach drei Monaten des Fiebers, an dem sie stirbt, noch nicht verloren. Da sie seit ihrer Erkrankung fortwährend den Himmel zu sehen verlangt, lasse ich sie jeden Morgen unter den alten Feigenbaum tragen, der am Brunnen des Hofes steht und in dessen Schatten die Äbtissinnen dieses Klosters ihre Versammlungen abzuhalten pflegen. Du wirst sie dort finden, ehrwürdiger Vater, aber beeile dich, denn Gott ruft sie und heute abend schon wird ein Schweißtuch das Gesicht bedecken, das Gott zum Ärgernis und zur Erbauung der Welt geschaffen hat.«

Paphnucius folgte Albina in den vom Morgenlicht überfluteten Hof. Längs der Ziegeldächer bildeten die Tauben eine Perlenreihe. Unter dem Feigenbaume ruhte Thaïs ganz weiß mit gekreuzten Armen auf einem Bette. Verschleierte Frauen sprachen an ihrer Seite Sterbegebete.

»Habe Mitleid mit mir, mein Gott, nach deiner großen Güte und tilge meine Sünden nach der Fülle deiner Barmherzigkeit!«

Er rief sie:

»Thaïs!«

Sie schlug die Augenlider auf und drehte ihre 233 weißen Augäpfel nach der Richtung, aus der die Stimme kam.

Albina gab den verschleierten Frauen ein Zeichen, sich einige Schritte zu entfernen.

»Thaïs!« wiederholte der Mönch.

Sie hob den Kopf. Ein leichter Atemzug drang aus ihren bleichen Lippen:

»Bist du es, mein Vater?« flüsterte sie. »Erinnerst du dich des Wassers der Quelle und der Datteln, die wir gepflückt haben? . . . An jenem Tage, mein Vater, ward ich zur Liebe und zum Leben geboren.«

Sie schwieg und ließ den Kopf sinken.

Der Tod umschwebte sie, und der Schweiß des Todeskampfes netzte ihre Stirne. Eine auffliegende Turteltaube unterbrach das erhabene Schweigen durch ihren Klageruf. Dann mischte sich das Schluchzen des Mönchs in den Psalmengesang der Jungfrauen:

»Wasche meine Unreinheit ab und läutere mich von meinen Sünden! Denn ich kenne meine Ungerechtigkeit, und mein Verbrechen erhebt sich ohne Unterlaß wider mich.«

Plötzlich richtete sich Thaïs in ihrem Bette auf. Ihre Veilchenaugen öffneten sich weit. Gen Himmel blickend und die Arme nach den fernen Hügeln ausstreckend, sagte sie mit heller und reiner Stimme:

»Da sind sie, die Rosen des ewigen Morgens!«

Ihre Augen glänzten, eine sanfte Röte färbte ihre Schläfen. Sie schien süßer und schöner als je wieder aufzuleben. Paphnucius kniete nieder und umfing sie mit seinen gebräunten Armen.

234 »Stirb nicht!« rief er ihr mit einer fremdartigen Stimme zu, die er selbst nicht wiedererkannte. »Ich liebe dich! Stirb nicht! Höre mich, meine Thaïs! Ich habe dich getäuscht, ich war nichts als ein elender Tor. Gott, der Himmel, alles ist nichts. Das einzig Wahre ist das irdische Leben und die Liebe der Geschöpfe. Ich liebe dich! Stirb nicht! Es ist ja unmöglich, du bist zu kostbar. Komm, komm mit mir. Laß uns fliehen! Ich werde dich in meinen Armen weit forttragen. Komm, wir wollen uns lieben! Verstehe mich doch, o Heißgeliebte, und sage mir: ›Ich werde leben, ich will leben.‹ Thaïs, Thaïs, erhebe dich!«

Sie hörte ihn nicht mehr. Ihre Blicke verloren sich im Unendlichen.

Sie flüsterte:

»Der Himmel tut sich auf. Ich sehe die Engel, die Propheten und die Heiligen . . . Der gute Theodor ist unter ihnen, seine Hände sind voll Blumen, er lächelt mir zu, er ruft mich . . . Zwei Seraphim kommen zu mir. Sie sind ganz nah . . . Wie schön sie sind! . . . Ich sehe Gott!«

Sie stieß einen Freudenseufzer aus, und ihr Haupt sank leblos auf das Kissen zurück. Thaïs war gestorben. Paphnucius umschlang sie voll Verzweiflung, voll heißer Sehnsucht und Liebesraserei.

Albina rief ihm zu:

»Fort von hier, Verdammter!«

Sanft drückte sie die Finger auf die Augenlider der Toten. Paphnucius wankte zurück. Seine Augen 235 brannten, und er fühlte die Erde unter seinen Schritten sich auftun.

Die Jungfrauen stimmten den Gesang des Zacharias an:

»Gelobt sei der Herr, der Gott Israels.«

Plötzlich stockte ihnen die Stimme in der Kehle. Sie hatten das Gesicht des Mönchs erblickt und flohen entsetzt, indem sie schrieen:

»Ein Vampir! ein Vampir!«

Sein Gesicht war so häßlich geworden, daß er es fühlte, als er mit der Hand darüber hinfuhr.

 


 


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