Anatole France
Thais
Anatole France

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Zweites Kapitel.

Er schlief die ganze Nacht nicht und hatte vor Sonnenaufgang eine Vision. Thaïs erschien ihm wiederum. Ihr Gesicht drückte keine lasterhaften Gelüste mehr aus, und sie war nicht, wie sonst, in durchsichtige Gewebe gehüllt. Ein Leichentuch umgab ihre ganze Gestalt und verbarg sogar einen Teil ihres Gesichtes, so daß der Mönch nur zwei Augen sah, welche schwere klare Tränen vergossen.

Bei diesem Anblick begann er selbst zu weinen, und da er dachte, daß Gott ihm diese Vision gesandt habe, zögerte er nicht mehr. Er erhob sich, ergriff einen Knotenstock als Sinnbild des Christenglaubens, und verließ seine Zelle, deren Türe er sorgfältig verschloß, damit die im Sande lebenden Tiere und die Vögel 18 der Luft nicht eindringen und die am Kopfende des Lagers verwahrte Heilige Schrift verunreinigen konnten. Dann berief er den Diakon Flavianus, um ihm die Obhut über die dreiundzwanzig Schüler zu übertragen, und schlug sodann, mit einem langen härenen Gewande bekleidet, den Weg nach dem Nil ein, den er am libyschen Ufer bis zu der Stadt, die der Mazedonier gebaut hat, verfolgen wollte.

Er war vom frühen Morgen an gewandert, ohne auf Müdigkeit, Hunger und Durst zu achten, und die Sonne stand schon tief am Horizonte, als er den ungeheuern Strom erblickte, der seine blutfarbenen Wellen zwischen Felsen von Gold und Feuer dahinwälzte. Er verfolgte nunmehr das Ufer, indem er an den Türen einsamer Hütten im Namen Gottes um Brot bat und die Beschimpfungen, abschlägigen Bescheide und Drohungen mit Freudigkeit hinnahm. Er fürchtete weder Räuber noch wilde Tiere, machte aber absichtlich Umwege, um Städte und Dörfer zu vermeiden, welche an der Straße lagen. Er befürchtete Kinder anzutreffen, die vor dem Hause ihres Vaters mit Knöcheln spielten, oder Frauen in blauen Hemden zu sehen, wie sie am Rande der Ziehbrunnen ihre Krüge abstellten und lächelten. Alles ist gefährlich für einen Mönch, ja, es ist bisweilen sogar gefährlich für ihn, in der heiligen Schrift zu lesen, daß der göttliche Meister von Stadt zu Stadt ging und mit seinen Jüngern schmauste. Die Tugenden, welche die Anachoreten mit Fleiß in das Gewebe des Glaubens einsticken, sind ebenso vergänglich als großartig. Ein Hauch der Welt kann ihre schönen Farben 19 trüben. Darum betrat Paphnucius keine Stadt. Er fürchtete, sein Herz könnte beim Anblicke der Menschen schwach werden.

So wanderte er auf einsamen Pfaden dahin. Wenn der Abend kam, machte ihn das Geflüster der Tamarisken, die der Abendwind liebkoste, erschaudern, und er zog seine Kapuze über die Augen, um die Schönheit der Dinge nicht mehr zu sehen. Nach sechstägigem Marsche kam er an einen Ort, genannt Silsilee. Der Fluß fließt daselbst in einem engen Tale, das von zwei Ketten von Granitfelsen eingeschlossen ist. Dort hatten die Ägypter zur Zeit, da sie die Dämonen verehrten, ihre Götzenbilder ausgehauen. Paphnucius erblickte den ungeheuren Kopf einer Sphinx, die im Felsen eingeschlossen schien. Aus Furcht, sie könnte irgendeine teuflische Kraft besitzen, schlug er ein Kreuz und sprach den Namen Jesus aus. Augenblicklich kroch eine Fledermaus aus einem Ohre der Sphinx, und Paphnucius erkannte, daß er den bösen Geist ausgetrieben habe, der seit mehreren Jahrhunderten dieses Steinbild bewohnte. Sein Eifer wuchs dadurch nur. Er las einen großen Stein auf und schleuderte ihn dem Götzenbilde ins Angesicht. Darauf drückten die Züge der Sphinx eine so tiefe Traurigkeit aus, daß Paphnucius dadurch gerührt wurde. Wahrlich, der Ausdruck übermenschlichen Schmerzes, den dieses steinerne Antlitz zeigte, hätte den gefühllosesten Menschen ergriffen. Paphnucius sprach daher zu der Sphinx:

»O Tier! Gleich wie die Satyrn und Zentauren, die unser Vater Antonius in der Wüste sah, bekenne 20 auch du die Gottheit Jesu Christi! und ich werde dich segnen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Er hatte kaum gesprochen, als ein rosiges Licht aus den Augen der Sphinx hervorbrach; die schweren Lider des Tieres zitterten, und die granitenen Lippen sprachen mit Mühe, wie ein Echo der Menschenstimme, den heiligen Namen Jesu Christi aus. Darum streckte Paphnucius seine rechte Hand aus und segnete die Sphinx von Silsilee.

Darauf setzte er seinen Weg fort und erblickte, als sich das Tal erweiterte, die Trümmer einer ungeheuren Stadt. Die Tempel, die noch standen, wurden von Götzenbildern getragen, die als Säulen dienten, und mit Gottes Erlaubnis richteten Frauenköpfe mit Kuhhörnern auf Paphnucius einen langen Blick, der ihn erbleichen machte. So wanderte er siebzehn Tage lang, indem er als einzige Nahrung einige rohe Kräuter kaute und des Nachts in zertrümmerten Palästen unter Wildkatzen und Pharaoratten schlief, zwischen die sich Frauen mischten, deren Rumpf in einen schuppigen Fischleib endigte. Aber Paphnucius wußte, daß diese Frauen aus der Hölle kamen, und er verjagte sie, indem er das Kreuz schlug.

Am achtzehnten Tage entdeckte er fern von jedem Dorf eine elende Hütte aus Palmblättern, die der vom Wüstenwinde herangetriebene Sand halb begraben hatte. Er näherte sich ihr in der Hoffnung, daß sie vor einem frommen Einsiedler bewohnt werde. Da keine Türe vorhanden war, erblickte er im Innern einen 21 Krug, einen Haufen Zwiebeln und ein Bett aus dürrem Laub.

›Das ist das Hausgerät eines Büßers,‹ sagte er sich. ›Gewöhnlich entfernen sich die Eremiten nicht weit von ihrer Hütte, und ich werde dem Bewohner dieser hier ohne Zweifel bald begegnen. Ich will ihm den Kuß des Friedens geben nach dem Vorbilde des heiligen Antonius, der den Eremiten Paulus, als er zu ihm gegangen war, dreimal küßte. Wir werden uns über die ewigen Dingen unterhalten, und vielleicht wird uns der Herr durch einen Raben ein Brot senden, das ich auf die Aufforderung meines Gastgebers hin brechen werde.‹

Während er so mit sich selbst sprach, umwandelte er die Hütte, um zu sehen, ob er jemanden finde. Und in der Tat, er hatte keine hundert Schritte getan, als er einen Mann erblickte, der mit verschränkten Beinen am Nilufer saß. Dieser Mann war nackt. Sein Haar war, wie sein Bart, völlig weiß und sein Körper röter als Ziegelstein. Paphnucius zweifelte nicht, daß er ein Eremit sei. Er begrüßte ihn mit den Worten, welche die Mönche gewöhnlich benutzen, wenn sie sich begegnen:

»Der Friede sei mit dir, mein Bruder! Mögest du eines Tages die süße Erquickung des Paradieses schmecken!«

Der Mann antwortete jedoch nicht. Er blieb unbeweglich und schien nichts zu hören. Paphnucius dachte, dieses Schweigen sei durch eine jener Verzückungen veranlaßt, die bei Heiligen oft vorkommen. Er kniete daher mit gefalteten Händen neben dem Unbekannten nieder und blieb so bis zum Untergange der Sonne im 22 Gebet. Da sein Gefährte bis dahin noch immer unbeweglich geblieben war, sagte er zu ihm:

»Mein Vater, wenn du aus der Verzückung, in der ich dich traf, zum Leben zurückgekehrt bist, so gib mir deinen Segen im Namen unseres Herrn Jesu Christi.«

Der andere antwortete, ohne den Kopf umzuwenden:

»Fremdling, ich weiß nicht, was du sagen willst, und kenne diesen Herrn Jesus Christus nicht.«

»Wie!« rief Paphnucius aus. »Die Propheten haben ihn verkündet, Legionen von Märtyrern haben seinen Namen bekannt; selbst Cäsar hat ihn verehrt, und soeben noch habe ich seinen Ruhm durch die Sphinx von Silsilee verkündigen lassen. Ist es möglich, daß du ihn nicht kennen solltest?«

»Mein Freund,« versetzte der Unbekannte, »es ist möglich. Es wäre sogar gewiß, wenn es auf der Welt irgendeine Gewißheit gäbe.«

Paphnucius war überrascht und betrübt wegen der unglaublichen Unwissenheit dieses Menschen.

»Wenn du Jesus Christus nicht kennst,« sagte er zu ihm, »so werden dir deine Werke zu nichts frommen und du wirst das ewige Leben nicht gewinnen.«

Der Greis entgegnete: »Handeln oder nicht handeln ist eins. Leben oder sterben ist gleichgültig.«

»Wie?« fragte Paphnucius, »du hoffst nicht auf das ewige Leben? Aber, sage mir, bewohnst du nicht eine Hütte in dieser Wüste nach Art der Anachoreten?«

»Es scheint so.«

»Lebst du nicht nackt und von allem entblößt?«

23 »Es scheint so.«

»Nährst du dich nicht von Wurzeln, und pflegst du nicht die Keuschheit?«

»Es scheint so.«

»Hast du nicht alle Eitelkeit der Welt abgeschworen?«

»Ich habe in der Tat auf alle nichtigen Dinge verzichtet, welche gemeinhin des Menschen Sorge ausmachen.«

»So bist du also, gleich wie ich, arm, keusch und einsam. Und du bist es nicht, wie ich, um Gottes willen und im Hinblick auf die ewige Seligkeit! Das kann ich eben nicht begreifen. Warum bist du tugendhaft, wenn du nicht an Jesus Christus glaubst? Warum beraubst du dich der Güter dieser Welt, wenn du nicht die ewigen Güter zu erwerben hoffst?«

»Fremdling, ich beraube mich keines Gutes, ich rühme mich, eine ziemlich befriedigende Lebensweise gefunden zu haben, obschon es, genau genommen, weder eine gute noch eine schlechte Lebensweise gibt. Nichts ist an sich ehrenhaft oder schmachvoll, gerecht oder ungerecht, angenehm oder lästig, gut oder schlecht. Die Meinung der Menschen gibt den Dingen ihre Eigenschaften, wie das Salz den Speisen Geschmack verleiht.«

»So gibt es also nach dir keine Gewißheit? Du leugnest die Wahrheit, welche sogar die Götzendiener gesucht haben? Du bettest dich in deine Unwissenheit wie ein müder Hund, der im Schmutze schläft?«

»Fremdling, es ist ebenso eitel, die Hunde wie die Philosophen zu beschimpfen. Wir wissen nicht, was 24 die Hunde sind und was wir sind. Wir wissen nichts.«

»O Greis, gehörst du denn der lächerlichen Sekte der Skeptiker an? Bist du einer jener elenden Narren, welche sowohl die Bewegung als die Ruhe leugnen, welche den Sonnenschein nicht vom Dunkel der Nacht zu unterscheiden vermögen?«

»Mein Freund, ich bin allerdings Skeptiker. Ich gehöre einer Sekte an, die mir lobenswert scheint, während du sie lächerlich findest. Die gleichen Dinge können eben ein verschiedenes Aussehen haben. Die Pyramiden von Memphis gleichen bei Sonnenaufgang Kegeln aus rosigem Licht und bei Sonnenuntergang erscheinen sie auf dem glutroten Himmel wie schwarze Dreiecke. Aber wer wird ihre wirkliche Substanz durchdringen? Du wirfst mir vor, den Augenschein zu leugnen, während doch der Schein die einzige Wirklichkeit ist, die ich anerkenne. Die Sonne scheint mir leuchtend, aber ihr wahres Wesen ist mir unbekannt. Ich fühle das Feuer brennen, aber ich weiß nicht wie noch warum. Mein Freund, du verstehst mich sehr schlecht. Es ist übrigens gleichgültig, ob man so oder so verstanden wird.«

»Noch einmal, warum lebst du in der Wüste von Datteln und Zwiebeln? Warum erträgst du großes Ungemach? Ich ertrage ebenso großes und befleißige mich, wie du, als Einsiedler der Enthaltsamkeit. Aber ich tue es, um Gott zu gefallen und die ewige Seligkeit zu verdienen. Und das ist ein vernünftiger Zweck, denn es ist weise, im Hinblick auf ein großes Gut zu leiden. Unvernünftig ist es dagegen, sich absichtlich unnützen 25 Mühen und zwecklosen Leiden auszusetzen. Wenn ich nicht glaubte, – verzeih diese Blasphemie, o ungeschaffenes Licht! – wenn ich nicht an die Wahrheit dessen glaubte, was Gott uns durch die Stimme der Propheten, durch das Beispiel seines Sohnes, durch die Taten der Apostel, durch die Autorität der Konzile und das Zeugnis der Märtyrer gelehrt hat, wenn ich nicht wüßte, daß die Leiden des Körpers für die Gesundheit der Seele notwendig sind, wenn ich, wie du, über die heiligen Mysterien in Unwissenheit lebte, würde ich sofort in die Welt zurückkehren, würde mich anstrengen, Reichtümer zu sammeln, um, wie die Glücklichen dieser Welt, üppig zu leben, und würde zu den Lüsten sagen: ›Kommt, meine Töchter, kommt, meine Dienerinnen, kommt, schenkt mir von eurem Wein, von euren Liebestränken ein, gießt für mich eure Wohlgerüche aus!‹ Aber du, unvernünftiger Greis, du beraubst dich aller dieser Genüsse, du verlierst sie, ohne einen Gewinn zu erwarten: du gibst ohne Hoffnung auf Vergeltung, und du ahmst in lächerlicher Weise die wunderbaren Taten unserer Einsiedler nach, wie ein eitler Affe, der eine Wand beschmiert, das Bild eines geschickten Malers nachzuahmen glaubt. O du törichtester der Menschen, welches sind denn deine Gründe?«

Paphnucius sprach so mit großer Heftigkeit. Der Greis jedoch blieb ruhig.

»Mein Freund,« antwortete er sanft, »was liegt dir an den Gründen eines schlafenden Hundes und eines eiteln Affen?«

26 Paphnucius hatte immer nur den Ruhm Gottes im Auge, und da sein Zorn gewichen war, entschuldigte er sich mit edler Demut.

»Verzeih mir, o Greis, o mein Bruder,« sagte er, »wenn mich der Eifer für die Wahrheit über die Grenzen der Schicklichkeit hinausgeführt hat. Gott ist mein Zeuge, daß ich deinen Irrtum und nicht deine Person haßte. Es schmerzt mich, dich in der Finsternis zu sehen, denn ich liebe dich in Jesu Christo, und dein Seelenheil beschäftigt mein Herz. Sprich, gib mir deine Gründe an! Ich brenne vor Verlangen, sie zu kennen, um sie zu widerlegen.«

Der Greis erwiderte gelassen: »Ich bin ebenso geneigt, zu reden als zu schweigen. Ich werde dir also meine Gründe mitteilen, ohne die deinigen dagegen zu fordern, denn du bist mir durchaus gleichgültig. Ich bekümmere mich weder um dein Glück noch um dein Mißgeschick, und es liegt mir nichts daran, ob du so oder so denkest. Und wie sollte ich dich lieben oder hassen? Zuneigung und Abneigung sind des Weisen gleich unwürdig. Doch, da du mich darum befragst, so wisse denn, daß ich Timokles heiße und auf der Insel Kos von Eltern geboren bin, die sich durch den Handel bereichert haben. Mein Vater war Schiffsreeder. Sein Verstand war sehr ähnlich demjenigen Alexanders, dem man den Beinamen des Großen gegeben, jedoch weniger schwerfällig. Kurz, es war eine armselige Menschennatur. Ich hatte zwei Brüder, die, wie er, Schiffsreeder wurden. Ich wurde Lehrer der Weisheit. Nun wurde eines Tages mein ältester Bruder von 27 unserem Vater gezwungen, eine Karierin namens Timaëssa zu heiraten, die ihm so sehr mißfiel, daß er nicht an ihrer Seite leben konnte, ohne in schwarzen Trübsinn zu verfallen. Meinem jüngsten Bruder dagegen flößte Timaëssa eine verbrecherische Liebe ein, und diese Leidenschaft wurde bald zu toller Raserei. Die Karierin haßte beide in gleicher Weise. Sie liebte dafür einen Flötenspieler, den sie nachts in ihrem Zimmer aufnahm. Eines Morgens ließ dieser daselbst seinen Kranz liegen, den er bei den Festen zu tragen pflegte. Meine beiden Brüder fanden den Kranz, schwuren, den Flötenspieler zu töten, und ließen ihn gleich am folgenden Tage trotz seiner Bitten und Klagen unter der Peitsche den Tod finden. Meine Schwägerin wurde von solcher Verzweiflung erfaßt, daß sie den Verstand verlor. Und nun trugen diese drei Elenden, die den Tieren gleich geworden waren, ihren Wahnsinn am Hafen von Kos zur Schau, indem sie mit schäumenden Lippen, wie die Wölfe, heulten und an den Boden stierten, so daß die Kinder sie verspotteten und mit Muscheln nach ihnen warfen. Sie starben, und mein Vater begrub sie eigenhändig. Bald darauf verweigerte sein Magen jegliche Nahrung, und er, der reich genug war, alles Fleisch und alle Früchte der Märkte Asiens zu kaufen, starb den Hungertod. Er war in Verzweiflung, daß er mir sein Vermögen hinterlassen mußte. Ich benutzte es zu Reisen und besuchte Italien, Griechenland und Afrika, ohne jedoch einem Weisen noch einem Glücklichen zu begegnen. Ich studierte die Philosophie in Athen und Alexandrien, wurde aber vom Lärm der 28 Disputationen betäubt. Nachdem ich meine Fahrten bis nach Indien ausgedehnt hatte, sah ich dort am Ufer des Ganges einen nackten Mann, der mit untergeschlagenen Beinen seit dreißig Jahren unbeweglich saß. Schlingpflanzen liefen über seinen ausgetrockneten Körper, und Vögel nisteten in seinen Haaren. Und dennoch lebte er. Bei seinem Anblicke fielen mir Timaëssa, der Flötenspieler, meine beiden Brüder und mein Vater ein, und ich erkannte, daß dieser Inder ein Weiser war. ›Die Menschen‹, so sagte ich mir, ›leiden, weil sie das nicht haben, was sie für ein Gut halten, oder weil sie, wenn sie es haben, es zu verlieren fürchten, oder weil sie etwas ertragen müssen, was sie für ein Übel halten. Laßt nur jeden derartigen Glauben abschwören, und alle Übel werden verschwinden.‹ Darum beschloß ich, nie eine Sache für vorteilhaft zu halten, mich von den Gütern dieser Welt völlig loszumachen und nach dem Vorbilde des Inders in Einsamkeit und Unbeweglichkeit zu leben.«

Paphnucius hatte der Erzählung des Alten aufmerksam zugehört.

»Timokles von Kos,« antwortete er, »ich bekenne, daß nicht alles in deinen Reden des Sinnes bar ist. Es ist in der Tat weise, die Güter dieser Welt zu verachten. Aber es wäre töricht, ebenso die ewigen Güter zu verachten und sich dadurch Gottes Zorne auszusetzen. Ich bedaure deine Unwissenheit, Timokles, und will dich in der Wahrheit unterrichten, damit du erkennest, daß es einen Gott in drei Gestalten gibt, und du diesem Gotte, wie ein Kind dem Vater, gehorchest.«

29 Aber Timokles unterbrach ihn:

»Hüte dich, Fremdling, mir deine Lehren darzulegen, und denke nicht daran, mich zu zwingen, deine Gefühle zu teilen. Jeder Streit ist unfruchtbar. Ich bin der Meinung, daß man keine Meinung haben muß. Ich lebe frei von Aufregung, solange mir alles gleichgültig ist. Setze deinen Weg fort und versuche nicht, mich der glückseligen Teilnahmlosigkeit zu entreißen, in der ich nach dem harten Werke meiner Tage wie in ein köstliches Bad eingetaucht liege!«

Paphnucius war in Glaubenssachen gründlich unterrichtet. Dank seiner Menschenkenntnis sah er ein, daß Gottes Gnade nicht auf dem Greis Timokles ruhte und daß der Tag des Heils für diese auf ihren Untergang versessene Seele noch nicht gekommen sei. Er antwortete also lieber nichts, aus Furcht, die Erbauung könnte zum Ärgernis ausschlagen. Denn es kommt bisweilen vor, daß man die Ungläubigen, indem man gegen sie mit Worten streitet, statt sie zu bekehren, nur zu neuer Sünde verleitet. Darum sollen die, so die Wahrheit besitzen, sie mit Klugheit ausbreiten.

»So leb' denn wohl,« sagte er, »unglücklicher Timokles!« Und indem er einen schweren Seufzer ausstieß, setzte er in der Nacht seine fromme Wanderung fort. 30



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