Anatole France
Thais
Anatole France

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Drittes Kapitel.

Eines Tages tauchte in der heiligen Stadt ein Gerücht auf und stieg bis zu den Ohren des Säulenheiligen empor: ein hoher Herr, einer der hervorragendsten Männer Ägyptens, der alexandrinische Flottenpräfekt Lucius Aurelius Cotta, werde kommen, er komme und sei schon in nächster Nähe.

Die Nachricht erwies sich als wahr. Der alte Cotta hatte auf einer Inspektionsreise auf dem Nil und seinen Kanälen mehrmals den Wunsch ausgesprochen, den Säulenheiligen und die neue Stadt, der man den Namen Stylopolis oder Säulenstadt gegeben, zu sehen. Eines Morgens sahen die Stylopolitaner den Fluß 195 ganz mit Segeln bedeckt. An Bord einer vergoldeten, purpurbehangenen Galeere erschien Cotta an der Spitze seines Geschwaders. Er stieg ans Land in Gesellschaft seines Geheimschreibers, der Wachstafeln trug, und seines Leibarztes Aristeas, mit dem er sich gerne unterhielt.

Ein zahlreiches Gefolge zog hinter ihm her, so daß das Ufer mit Beamtentrachten und kriegerischen Rüstungen bedeckt war. Einige Schritte vor der Säule blieb er stehen und fing an, den Säulenheiligen prüfend zu betrachten, indem er sich mit einer Falte seiner Toga den Schweiß von der Stirne wischte. Da er von Natur wißbegierig war, hatte er auf seinen langen Reisen viel beobachtet. Er erinnerte sich gerne an das Geschaute und dachte daran, nach Vollendung seiner Geschichte Karthagos, ein Buch über die merkwürdigen Dinge zu schreiben, die er selbst gesehen. Das sich ihm hier bietende Schauspiel schien ihn sehr zu interessieren.

»Höchst sonderbar!« sagte er, stark schwitzend und schnaufend. »Und, was man nicht vergessen muß, dieser Mann ist mein Gastfreund. Ja, dieser Mönch kam letztes Jahr zu mir zum Gastmahl und entführte darauf eine Schauspielerin.«

Zu seinem Schreiber sich wendend fuhr Cotta fort:

»Schreibe das auf meine Tafeln, mein Sohn, sowie auch das Maß der Säule, ohne die Form des Kapitäls zu vergessen.«

Dann sagte er, indem er sich nochmals die Stirne trocknete, zum Arzte:

196 »Glaubwürdige Zeugen haben mir versichert, daß unser Mönch, der seit einem Jahre auf dieser Säule lebt, sie keinen Augenblick verlassen hat. Ist das möglich, Aristeas?«

»Das ist möglich für einen Verrückten oder einen Kranken,« antwortete Aristeas, »wäre aber unmöglich für einen körperlich und geistig gesunden Menschen. Weißt du nicht, Lucius, daß die Krankheiten des Geistes oder des Körpers, denen, die damit behaftet sind, oft Kräfte verleihen, welche die Gesunden nicht besitzen? Offen gesagt, gibt es jedoch in Wirklichkeit weder Gesundheit noch Krankheit, sondern nur verschiedene Zustände der Organe. Durch anhaltendes Studium der sogenannten Krankheiten bin ich dahin gelangt, sie als notwendige Formen des Lebens zu betrachten. Ich habe mehr Vergnügen daran, sie zu studieren, als sie zu bekämpfen. Es gibt ihrer solche, die man nicht ohne Bewunderung beobachten kann und die unter scheinbarer Regellosigkeit tiefe Harmonien bergen. Ein viertägiges Wechselfieber ist sicher etwas Schönes. Gewisse Leiden des Körpers bringen oft eine plötzliche Erhöhung der geistigen Fähigkeiten mit sich. Du kennst Kreon. Als Kind war er einfältig und stammelte. Nachdem er sich aber durch einen Fall auf der Treppe den Schädel gebrochen, ward er der geschickte Advokat, als den du ihn kennen lerntest. Auch dieser Mönch muß an irgendeinem verborgenen Organ angegriffen sein. Seine Lebensweise ist übrigens nicht so außerordentlich, wie sie dir scheint, Lucius. Erinnere dich an die Gymnosophisten Indiens, die in voller 197 Unbeweglichkeit nicht nur ein Jahr, sondern zwanzig, dreißig, ja vierzig Jahre lang verharren können.«

»Beim Jupiter,« rief Cotta aus, »das ist eine starke Verirrung! Denn der Mensch wird zum Handeln geboren, und die Trägheit ist ein unverzeihliches Verbrechen, da es den Staat schädigt. Ich weiß nicht recht, welchen Glauben ich für diese so unheilvolle Übung verantwortlich machen soll. Sie hängt wahrscheinlich mit gewissen asiatischen Kulten zusammen. Zur Zeit, da ich Prokonsul von Syrien war, habe ich Phallus-Steine auf den Toren der Stadt Hera aufgestellt gesehen. Zweimal im Jahre steigt ein Mann hinauf und bleibt sieben Tage oben. Das Volk ist überzeugt, daß dieser Mann mit den Göttern verkehrt und von ihnen das Gedeihen Syriens erwirkt. Dieser Gebrauch kam mir unvernünftig vor. Dennoch tat ich nichts, um ihn zu unterdrücken, denn ich bin der Ansicht, daß ein Beamter die Bräuche der Völker nicht abschaffen, sondern im Gegenteil ihre Beobachtung sichern soll. Es kommt der Regierung nicht zu, Religionen einzuführen. Es ist vielmehr ihre Pflicht, den schon vorhandenen Genüge zu tun, die, gut oder schlecht, durch den Geist der Zeit, des Ortes und der Rasse bestimmt worden sind. Wenn sie ihre Bekämpfung versucht, zeigt sie sich umstürzlerischen Geistes, tyrannisch in ihren Handlungen und macht sich mit Grund verhaßt. Wie sollte man sich übrigens anders über den Aberglauben des großen Haufens erheben, als indem man ihn begreift und duldet? Aristeas, ich bin der Meinung, daß man diesen Wolkenkuckucksheimer in der Luft, wo er bloß 198 Kränkungen durch die Vögel ausgesetzt ist, in Frieden lasse. Nicht durch Maßregelung kann ich ihn überwinden, aber vielleicht, indem ich mir seine Gedanken und Einbildungen zu erklären suche.«

Er schnaufte, hustete und sagte dann zu seinem Schreiber, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte:

»Mein Sohn, schreibe auf, daß es in gewissen christlichen Sekten für löblich gilt, Buhlerinnen zu entführen und auf Säulen zu leben. Du kannst hinzufügen, daß diese Gebräuche den Kultus der Gottheiten der Zeugungskraft voraussetzen. Aber über diesen Punkt müssen wir ihn selbst befragen.

Cotta hob den Kopf, hielt seine Hand als Schirm über die Augen, um von der Sonne nicht geblendet zu werden, und rief mit lauter Stimme:

»Heda, Paphnucius! Sofern du dessen gedenkst, daß du mein Gast warst, antworte mir! Was tust du da oben? Warum bist du hinaufgestiegen, und warum bleibst du da? Hat diese Säule in deinem Geiste eine phallische Bedeutung?«

Da Paphnucius Cotta als Götzendiener ansah, würdigte er ihn keiner Antwort. Aber sein Jünger Flavianus trat hinzu und sagte:

»Edelster Herr, dieser heilige Mann nimmt die Sünden der Welt auf sich und heilt die Krankheiten.«

»Beim Jupiter! Hast du's gehört, Aristeas?« rief Cotta aus. »Der Wolkenkuckucksheimer pfuscht dir ins Handwerk. Was sagst du zu einem so erhabenen Berufsgenossen?«

199 Aristeas schüttelte den Kopf:

»Es ist möglich,« sagte er, »daß er gewisse Krankheiten besser heilt, als ich selbst, so zum Beispiel die Epilepsie oder Fallsucht, die man gewöhnlich göttliches Übel nennt, obschon alle übrigen Krankheiten ebenso göttlich sind, daß sie alle von den Göttern stammen. Aber die genannte Krankheit beruht zum Teil auf der Einbildung, und du wirst zugeben, Lucius, daß dieser Mönch auf seinem Säulenkapitäl mit dem Frauenkopf auf die Einbildung der Kranken stärker einwirkt, als ich es in meiner Studierstube, über Mörser und Fläschchen gebeugt, tun kann. Es gibt Kräfte, Lucius, welche unendlich viel mächtiger sind als Vernunft und Wissenschaft.«

»Welche?« fragte Cotta.

»Die Unwissenheit und die Torheit,« antwortete Aristeas.

»Ich habe selten etwas Merkwürdigeres gesehen, als was ich jetzt sehe,« fuhr Cotta fort, »und ich hoffe, daß einst ein geschickter Schriftsteller die Gründung von Stylopolis erzählen wird. Aber auch die seltensten Schauspiele dürfen einen Mann der ernsten Arbeit nicht länger als nötig aufhalten. Gehen wir daher und inspizieren wir unsere Kanäle! Lebe wohl, guter Paphnucius! oder vielmehr auf Wiedersehen! Wenn du je wieder auf die Erde niedersteigst und nach Alexandrien zurückkehrst, so verfehle nicht, ich bitte dich, zum Abendessen zu mir zu kommen!«

Diese von den Umstehenden vernommenen Worte gingen von Mund zu Munde und verliehen, von den 200 Gläubigen weiter verbreitet, dem Ruhme des Paphnucius einen unvergleichlichen Glanz. Fromme Einbildungskraft schmückte die Worte weiter aus und wandelte sie um, so daß man bald darauf überall erzählte, der Heilige habe von seiner Säule herab den Flottenpräfekten zum Glauben der Apostel und der Väter von Nicäa bekehrt. Die Gläubigen gaben den letzten Worten des Aurelius Cotta einen bildlichen Sinn, in ihrem Munde wurde das Abendessen, zu dem der hohe Beamte den Büßer eingeladen, ein heiliges Abendmahl, ein geistliches Liebesfest, eine himmlische Gasterei. Man bereicherte die Erzählung von dieser Begegnung mit wunderbaren Zügen, denen die, welche sie erfanden, zu allererst Glauben schenkten. Man sagte, daß im Augenblicke, da Cotta nach langem Wortstreit die Wahrheit bekannt habe, ein Engel vom Himmel gekommen sei, um ihm den Schweiß von der Stirne zu wischen. Man setzte hinzu, daß der Leibarzt und der Schreiber des Flottenpräfekten sich ebenfalls hätten bekehren lassen. Und da das Wunder für offenkundig galt, verfaßten die Diakone der wichtigsten libyschen Kirchen authentische Dokumente darüber. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß von da an die ganze Welt von dem Wunsche ergriffen wurde, Paphnucius zu sehen, und daß alle Christen im Okzident wie im Orient ihre geblendeten Blicke ihm zuwandten. Die berühmtesten Städte Italiens schickten Gesandte zu ihm, und der Cäsar zu Rom, der göttliche Constans, der die christliche Rechtgläubigkeit unterstützte, schrieb einen Brief an ihn, den seine Legaten mit großen Zeremonien übergaben.

201 Eines Nachts nun, da die zu seinen Füßen emporgeblühte Stadt unter dem sinkenden Tau schlummerte, hörte Paphnucius eine Stimme, die zu ihm sagte:

»Paphnucius, du bist berühmt durch deine Werke und mächtig durch dein Wort. Gott hat dich zu seinem Ruhme auserkoren. Er hat dich auserwählt, um Wunder zu wirken, Kranke zu heilen, Heiden zu bekehren, Sünder aufzuklären, Arianer zuschanden zu machen und den Frieden der Kirche herzustellen.«

Paphnucius antwortete:

»Gottes Wille geschehe!«

Die Stimme fuhr fort:

»Erhebe dich, Paphnucius, und suche in seinem Palaste den gottlosen Constantius auf, der, statt die weisen Handlungen seines Bruders Constans nachzuahmen, die Irrlehre des Arius und des Marcus begünstigt. Gehe! Die ehernen Pforten werden sich vor dir auftun, die Tritte deiner Sandalen werden auf dem Goldpflaster der Basiliken und vor dem Throne der Cäsaren widerhallen und deine erschütternde Stimme wird das Herz des Sohnes Constantins bekehren. Du wirst über die geeinigte, allmächtige Kirche herrschen. Und wie die Seele den Körper lenkt, so wird die Kirche das Reich lenken. Du wirst über die Senatoren, Ritter und Patrizier gesetzt werden. Du wirst den Hunger des Volkes stillen und die Frechheit der Barbaren zum Schweigen bringen. Der alte Cotta wird sich, sobald er erfährt, daß du der erste der Regierenden bist, um die Ehre bewerben, dir die Füße zu waschen. Nach deinem Tode wird man deine Kutte dem 202 Patriarchen von Alexandrien überbringen, und der im Ruhme weiß gewordene Athanasius wird sie wie die Reliquie eines Heiligen küssen. Gehe!«

Paphnucius antwortete:

»Gottes Wille geschehe!«

Er suchte sich zu erheben, um von der Säule herabzusteigen. Aber die Stimme erriet seinen Gedanken und sagte zu ihm:

»Steige aber ja nicht diese Leiter herab! Das hieße wie ein gewöhnlicher Mensch handeln und die dir verliehenen Gaben verkennen. Schätze deine Macht höher ein, engelgleicher Paphnucius! Ein großer Heiliger wie du muß durch die Luft fliegen. Spring herab! Die Engel sind da, um dich aufzufangen. Spring doch!«

Paphnucius antwortete:

»Der Wille Gottes geschehe auf der Erde wie im Himmel!«

Er bewegte seine langen Arme, die er wie die entfiederten Schwingen eines kranken Raubvogels ausgebreitet hatte, und war im Begriff, hinabzuspringen, als plötzlich ein abscheuliches Spottgelächter an seinem Ohr ertönte. Voll Schrecken fragte er:

»Wer lacht denn so?«

»Ha, ha,« krächzte die Stimme, »wir sind erst am Anfang unserer Freundschaft. Du wirst eines Tages nähere Bekanntschaft mit mir machen. Teurer Freund, ich habe dich veranlaßt, hier heraufzusteigen, und muß dir meine volle Genugtuung über die Fügsamkeit aussprechen, mit der du meine Wünsche erfüllst. Paphnucius, ich bin mit dir zufrieden!«

203 Paphnucius flüsterte mit angsterstickter Stimme:

»Zurück, zurück! Ich kenne dich. Du bist es, der Jesus auf die Spitze des Berges trug und ihm alle Reiche der Welt zeigte.«

Dann fiel er wie betäubt auf seinen Steinsitz zurück.

»Wie habe ich ihn nicht früher erkannt?« dachte er. »Erbärmlicher als die Blinden, Tauben und Lahmen, die auf mich bauen, habe ich den Sinn für die übernatürlichen Dinge verloren, und verderbter als die Wahnsinnigen, welche Erde fressen und die Leichen aufsuchen, kann ich nicht mehr das Geschrei der Hölle von der Stimme des Himmels unterscheiden. Ich habe sogar die Urteilskraft des Neugeborenen verloren, der weint, wenn man ihn von der Brust seiner Amme wegnimmt, die des Hundes, der die Spuren seines Herrn wittert, und die der Pflanze, die sich zur Sonne wendet. Ich bin das Spielzeug des Teufels. Satan hat mich also hiehergeführt. Als er mich auf diese Warte hob, waren mir Üppigkeit und Hoffahrt zur Seite. Nicht die Größe meiner Versuchungen setzt mich in Schrecken. Antonius hat auf seinem Berge ähnliche erduldet. Es ist mir willkommen, wenn die höllischen Schwerter vor den Augen der Engel mein Fleisch durchbohren. Ich bin sogar dahin gelangt, daß ich meine Qualen liebe. Aber Gott schweigt und sein Schweigen macht mich bestürzt. Er wendet sich von mir ab, der ich doch nur ihn hatte. Ich bin allein, voll Angst, weil er nicht da ist. Er flieht mich. Ich aber will ihm nachlaufen. Dieser Stein brennt mir unter den Füßen. Schnell fort von hier und Gott nach!«

204 Er ergriff sofort die Leiter, die an der Säule lehnte, setzte seine Füße darauf und befand sich, nachdem er eine Stufe hinabgestiegen, mit dem Gesicht gegenüber dem gehörnten Kopf des Kapitäls, der in sonderbarer Weise lächelte. Es ward ihm nunmehr klar, daß das, was er für den Sitz seines Ruhmes und seines Friedens angesehen hatte, nur ein teuflisches Werkzeug für seine Verwirrung und seine Verdammnis war. Er stieg hastig die übrigen Stufen hinunter und betrat den Boden. Seine Füße waren die Erde nicht mehr gewohnt und wankten. Da er aber den Schatten der verfluchten Säule auf sich fühlte, zwang er sich zum Laufe. Alles schlief. Er durcheilte, ohne gesehen zu werden, den mit Schenken, Herbergen und Karawansereien umgebenen großen Platz und stürzte sich in ein Gäßchen, das gegen die libyschen Hügel anstieg. Ein Hund, der ihn mit Gebell verfolgte, hielt erst am Rande des Wüstensandes inne. Und Paphnucius durchirrte eine Gegend, wo es keine andern Wege gab, als die Spuren wilder Tiere. Er ließ die verlassenen Hütten der Falschmünzer hinter sich und setzte die ganze Nacht und den folgenden Tag seine trostlose Flucht fort.



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