Anatole France
Thais
Anatole France

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Fünftes Kapitel.

Als Paphnucius die Augen wieder aufschlug, sah er sich von Mönchen mit schwarzen Kapuzen umgeben, die ihm Wasser auf die Schläfen träufelten und Beschwörungen murmelten. Einige andere, welche Palmen trugen, standen draußen vor dem Grabmal.

»Auf unserem Wege durch die Wüste«, sagte einer der Mönche, »haben wir in diesem Grabmal Geschrei gehört, und da wir eintraten, fanden wir dich wie leblos auf dem Boden liegen. Ohne Zweifel haben dich die 216 Dämonen niedergeworfen und sind bei unserer Ankunft entwichen.«

Paphnucius hob den Kopf und fragte mit bebender Stimme:

»Meine Brüder, wer seid ihr? Und warum habt ihr Palmen in den Händen? Sind sie wirklich nicht für mein Begräbnis bestimmt?«

Sie antworteten:

»Bruder, weißt du nicht, daß unser Vater Antonius, dem im Alter von hundertundfünf Jahren sein baldiges Ende verkündet worden ist, vom Berge Colzinus, auf den er sich zurückgezogen, herniedersteigt, um die zahllosen Kinder seiner Seele zu segnen? Wir gehen mit diesen Palmen unserem geistigen Vater entgegen. Aber du, Bruder, wie kannst du von einem so großen Ereignisse nichts wissen? Ist denn kein Engel gekommen, um dich in diesem Grabmal davon zu benachrichtigen?«

»Leider verdiene ich eine solche Gnade nicht,« erwiderte Paphnucius, »die einzigen Gäste dieser Behausung sind Dämonen und Vampyre. Betet für mich. Ich bin Paphnucius, Abt von Antinoë, der elendeste der Diener Gottes.«

Beim Namen Paphnucius bewegten alle ihre Palmen und murmelten Segenssprüche. Derjenige, der bereits gesprochen, rief bewundernd aus:

»Ist es möglich, daß du jener heilige Paphnucius bist, der sich durch so große Werke hervorgetan hat, daß man annimmt, er werde einst dem großen Antonius selbst gleichkommen. Ehrwürdigster, du hast die 217 Buhlerin Thaïs zu Gott bekehrt und bist, nachdem du auf eine hohe Säule erhoben warst, von den Seraphim entführt worden. Die, welche nachts am Fuße der Säule wachten, sahen deine selige Himmelfahrt. Engelflügel umgaben dich wie eine weiße Wolke, und deine ausgestreckte Rechte segnete die Wohnungen der Menschen. Als das Volk am andern Morgen dich nicht mehr sah, stieg ein banger Schmerzensschrei zur entkrönten Säule empor. Aber dein Jünger Flavianus verkündete das Wunder und übernahm an deiner Stelle die Herrschaft über die Mönche. Nur ein einfältiger Mensch namens Paulus wollte der allgemeinen Annahme widersprechen. Er versicherte, daß er dich im Traume von Teufeln habe davontragen sehen. Die Menge wollte ihn dafür steinigen, und es ist ein Wunder, daß er dem Tode entrinnen konnte. Ich bin Zosimus, der Abt dieser Mönche, die du zu deinen Füßen siehst. Wie sie, kniee ich vor dir nieder, damit du den Vater mit den Kindern segnest. Dann wirst du uns von den Wundern erzählen, die Gott durch deine Mittlerschaft zu wirken geruht hat.«

»Weit davon entfernt, mir gnädig gewesen zu sein, wie du glaubst,« antwortete Paphnucius, »hat mich der Herr vielmehr durch entsetzliche Prüfungen heimgesucht. Nicht von Engeln bin ich entführt worden, sondern eine Schattenmauer hat sich vor meinen Augen erhoben und ist vor mir hergezogen. Ich habe in einem Traume gelebt. Außer Gott ist alles Traum. Als ich die Reise nach Alexandrien machte, hörte ich in wenig Stunden vielerlei Reden und erkannte, daß die Heerschar des 218 Irrtums unzählbar ist. Sie verfolgt mich, und ich bin von ihren Schwertern umgeben.«

Zosimus antwortete:

»Ehrwürdiger Vater, bedenke, daß die Heiligen und besonders die Heiligen der Wüste fürchterlichen Versuchungen ausgesetzt werden. Wenn du nicht in den Armen der Seraphim in den Himmel entrückt worden bist, so hat der Herr doch sicherlich deinem Bilde diese Gnade erwiesen, da Flavianus, die Mönche und das Volk Zeugen deiner Entführung waren.«

Paphnucius entschloß sich immerhin, die Segnung des Antonius einzuholen.

»Bruder Zosimus,« sagte er, »gib mir eine dieser Palmen und laß mich mit dir unserem Vater entgegengehen!«

»Gehen wir!« erwiderte Zosimus. »Eine kriegerische Ordnung geziemt den Mönchen, welche die ersten Soldaten der Welt sind. Du und ich werden als Äbte vorangehen und die andern werden uns unter Psalmengesang folgen.«

Sie machten sich auf den Weg, und Paphnucius sagte:

»Gott ist die Einheit, denn er ist die Wahrheit, die einzig ist. Die Welt ist mannigfaltig, weil sie der Irrtum ist. Man muß sich von allen Schauspielen der Natur abwenden, selbst von den scheinbar unschuldigsten. Ihre Mannigfaltigkeit, die sie angenehm macht, ist das Zeichen, daß sie schlecht sind. Darum kann ich nicht einmal einen Busch Papyrushalme am schlafenden Gewässer sehen, ohne daß sich meine Seele betrübt. Alles, 219 was die Sinne wahrnehmen, ist verwerflich. Das geringste Sandkorn birgt eine Gefahr. Jedes Ding führt uns in Versuchung. Das Weib ist lediglich die Vereinigung aller Versuchungen, die in der leichten Luft, auf der blumigen Erde und im klaren Gewässer zerstreut sind. Glücklich der, dessen Seele ein verschlossenes Gefäß ist! Heil dem, der stumm, taub und blind zu werden wußte und nichts von der Welt versteht, um Gott zu verstehen!«

Nachdem Zosimus über diese Worte nachgedacht, antwortete er folgendermaßen:

»Ehrwürdiger Vater, es ziemt sich, daß ich dir meine Sünden gestehe, da du mir deine Seele aufgedeckt hast. So beichten wir einer dem andern nach apostolischem Gebrauche. Bevor ich Mönch wurde, habe ich als Weltkind ein abscheuliches Leben geführt. In Madaura, der durch ihre Buhlerinnen berühmten Stadt, jagte ich jeder Art von Liebe nach. Jede Nacht schwelgte ich in Gesellschaft von jungen Lüstlingen und Flötenspielerinnen und zog mit derjenigen nach Hause, die mir am besten gefiel. Ein Heiliger, wie du, kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie weit mich die Leidenschaft meiner Begierden trieb. Es genügt, wenn ich dir sage, daß sie weder verheiratete Frauen noch Nonnen verschonte und sich in Ehebrüchen und Kirchenfreveln erging. Mit Wein reizte ich die Glut meiner Sinne, und mit Recht nannte man mich den größten Trunkenbold von Madaura. Trotzdem war ich Christ und bewahrte in meinen Verirrungen den Glauben an den gekreuzigten Jesus. Nachdem ich den größten Teil meines 220 Vermögens auf diese Weise vergeudet hatte und bereits die ersten Bedrängnisse der Armut kosten mußte, sah ich den kräftigsten meiner Zechgenossen infolge einer schrecklichen Krankheit rasch dahinwelken. Seine Kniee trugen ihn nicht mehr, und seine zitternden Hände versagten ihm den Dienst. Die geschwächten Augen fielen ihm zu. Aus seiner Kehle drang nur noch ein entsetzliches Muhen. Sein Geist war noch schwerfälliger als sein Körper und schien zu schlafen. Gott hatte ihn zur Strafe dafür, daß er wie ein Tier gelebt hatte, in ein Tier verwandelt. Der Verlust meiner Güter hatte mir bereits heilsame Gedanken eingeflößt, aber das Schicksal meines Freundes war mir noch nützlicher. Es machte einen solchen Eindruck auf mich, daß ich die Welt verließ und mich in die Wüste zurückzog. Seit zwanzig Jahren genieße ich nun hier einen Frieden, den nichts getrübt hat. Ich übe mit meinen Mönchen den Beruf des Webers, des Baumeisters, des Zimmermanns und sogar des Schreibers aus, obschon ich in Wahrheit wenig Geschmack an der Schreibearbeit finde, da ich von jeher das Handeln dem Denken vorgezogen habe. Meine Tage sind voll Freude und meine Nächte ohne Träume, und ich glaube, daß Gottes Gnade auf mir ruht, weil ich inmitten der schrecklichsten Sünden immer die Hoffnung bewahrt habe.«

Als Paphnucius diese Worte hörte, hob er die Augen gen Himmel und sprach für sich:

›O Herr, du betrachtest mit Liebe diesen Menschen, der sich so schwer versündigt hat, diesen Ehebrecher und Kirchenschänder, und du wendest dich von mir ab, der 221 ich immer deine Gebote beobachtet habe! Wie dunkel ist deine Gerechtigkeit, mein Gott! Und wie unerforschlich sind deine Wege!‹

Zosimus breitete die Arme aus:

»Siehe, ehrwürdiger Vater, wie schwarze Züge wandernder Ameisen zieht es auf beiden Seiten des Horizontes dahin. Das sind unsere Brüder, die, wie wir, dem Antonius entgegengehen.«

Als sie am Orte der Zusammenkunft anlangten, bot sich ihnen ein wunderbares Schauspiel dar. Die Heerschar der Mönche dehnte sich in drei Linien in einem unendlichen Halbkreis aus: in der ersten standen die Ältesten der Wüste mit dem Hirtenstab in der Hand, und ihre Bärte hingen bis zur Erde. Die von den Äbten Ephrem und Serapion geleiteten Mönche und alle andern Klostergeistlichen des Nils bildeten die zweite Reihe. Hinter diesen erschienen die Büßer, die von den fernen Felsgegenden herkamen. Die einen trugen auf ihren geschwärzten und eingetrockneten Leibern unförmliche Lappen, die andern hatten als Gewand bloße Schilfrohre, die mit Schlingpflanzen zusammengebunden waren. Mehrere waren ganz nackt, aber Gott hatte sie, wie die Schafe, mit einem dichten Fell bekleidet. Alle trugen grüne Palmzweige in den Händen. Es war wie ein smaragdener Regenbogen, und sie glichen den Chören der Auserwählten, den lebenden Mauern der Gottesstadt.

Es herrschte in der Versammlung eine so vollkommene Ordnung, daß Paphnucius ohne Schwierigkeit die ihm unterstehenden Mönche herausfand. Er 222 gesellte sich zu ihnen, nachdem er sein Gesicht unter seiner Kapuze verborgen hatte, um unerkannt zu bleiben und ihre fromme Andacht nicht zu stören. Plötzlich erhob sich ein lautes Frohlocken.

»Der Heilige!« rief man von allen Seiten, »der Heilige! der große Heilige ist da! der Liebling Gottes ist da, gegen den die Hölle nichts vermocht hat! Unser Vater Antonius!«

Dann entstand ein tiefes Schweigen, und alle Stirnen senkten sich in den Sand.

Von der Höhe eines Hügels, der sich in der weiten Wüste erhob, nahte sich, auf seine Lieblingsjünger Macarius und Amathas gestützt, Antonius. Er ging langsamen Schrittes, aber sein Körper hielt sich noch aufrecht, und man bemerkte noch einen Rest übermenschlicher Kraft an ihm. Sein weißer Bart breitete sich über seine breite Brust aus, sein glatter Schädel warf Lichtstrahlen, wie die Stirne des Moses. Seine Augen hatten Adlerblicke, und auf seinen runden Wangen glänzte ein kindliches Lächeln. Er erhob seine durch ein Jahrhundert unerhörter Arbeiten ermüdeten Arme, um sein Volk zu segnen, und sprach mit dem letzten Glanz seiner Stimme die Liebesworte:

»Wie schön sind deine Hütten, o Jakob! Wie lieblich sind deine Zelte, o Israel!«

Sofort erscholl von einem Ende der lebenden Mauer zum andern, wie ein harmonisches Donnergetöse, der Psalm: »Wohl dem, der den Herrn fürchtet.«

Von Macarius und Amathas geleitet, durchschritt Antonius unterdessen die Reihen der Ältesten, der 223 Klostergeistlichen und der Einsiedler. Dieser Seher, der Himmel und Hölle gesehen, dieser Einsiedler, der von einer Felsenhöhle aus die christliche Kirche beherrscht hatte, dieser Heilige, der in den Tagen der schwersten Prüfung den Glauben der Märtyrer bekannt hatte, dieser Lehrer, dessen Beredsamkeit die Ketzerei niedergeschmettert hatte, sprach zärtlich zu jedem seiner Söhne und nahm am Vorabend seines seligen Todes, den ihm Gott, der ihn liebte, endlich versprochen hatte, herzlichen Abschied von ihnen.

Er sagte zu den Äbten Ephrem und Serapion:

»Ihr befehligt zahlreiche Heere und seid beide hervorragende Feldherren. Ihr werdet daher auch im Himmel eine goldene Rüstung tragen, und der Erzengel Michael wird euch den Namen von Chiliarchen seiner Scharen geben«

Als er den greisen Palämon erblickte, küßte er ihn und sprach:

»Das ist das sanfteste und beste meiner Kinder. Seine Seele strömt einen ebenso süßen Balsam aus, wie die Blüten der Bohnen, die er jedes Jahr sät.«

Zum Abte Zosimus gewendet, sagte er:

»Du hast an der göttlichen Güte nicht gezweifelt, darum ist der Friede des Herrn mit dir. Die Lilie deiner Tugend ist dem Dünger deiner Verderbnis entsprossen.«

An jeden richtete er Sprüche untrüglicher Weisheit.

Zu den Ältesten sprach er:

»Der Apostel hat rings um Gottes Thron 224 vierundzwanzig Greise in weißen Gewändern und bekränzten Hauptes sitzen sehen.«

Den Jungen sagte er:

»Seid fröhlich! Laßt die Traurigkeit den Glücklichen dieser Welt!«

So streute er, indem er vor der Armee seiner Söhne vorüberschritt, Ermahnungen aus. Als Paphnucius ihn kommen sah, fiel er, zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, auf die Kniee:

»Mein Vater, mein Vater,« rief er in seiner Angst aus, »komme mir zu Hilfe, denn ich gehe zugrunde. Ich habe Gott die Seele der Thaïs geschenkt, ich habe die Spitze einer Säule und die Totenkammer eines Grabmals bewohnt. Meine Stirn, die beständig den Boden berührte, ist schwielig geworden wie das Knie eines Kamels. Und doch hat sich Gott von mir abgewandt. Segne mich, mein Vater, und ich werde gerettet sein! Schüttle den Ysopbusch, und ich werde gewaschen sein und glänzen wie der Schnee!«

Antonius antwortete nichts, sondern ließ seinen Blick, dessen Glanz niemand ertragen konnte, über die Schar von Antinoë schweifen. Als er dabei Paulus, den man den Einfältigen nannte, bemerkt hatte, betrachtete er ihn lange und winkte ihn hierauf zu sich.

Da alle erstaunten, daß sich der Heilige an einen des Verstandes beraubten Menschen wende, sagte Antonius:

»Gott hat diesem hier mehr Gnade verliehen als irgendeinem unter euch. Hebe die Augen auf, mein Sohn Paulus, und sage, was du im Himmel siehst!«

225 Paulus der Einfältige sah empor. Sein Gesicht erglänzte, und seine Zunge löste sich:

»Ich sehe im Himmel«, sagte er, »ein mit Decken aus Purpur und Gold geschmücktes Bett. Drei Jungfrauen halten Wache vor ihm, damit keine andere Seele sich ihm nahe als die auserwählte, für die das Bett bestimmt ist.«

Da Paphnucius dieses Bett für das Symbol seiner Verherrlichung ansah, fing er schon an, ein Dankgebet zu sprechen. Aber Antonius gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen und wies ihn an, den Einfältigen weiter zu hören, der in Verzückung flüsterte:

»Die drei Jungfrauen sprechen zu mir, sie sagen: ›Eine Heilige ist im Begriffe, die Erde zu verlassen, Thaïs von Alexandrien wird sterben. Wir haben das Bett ihres Ruhmes bereitet, denn wir sind ihre Tugenden: Glaube, Gottesfurcht und Liebe.‹«

Antonius fragte:

»Lieber Sohn, was siehst du weiter?«

Paulus ließ seine Blicke umsonst vom Zenith zum Nadir und vom Aufgang nach dem Niedergang schweifen, als seine Augen plötzlich den Abt von Antinoë trafen. Ein heiliges Entsetzen ließ sein Gesicht erbleichen, und seine Augäpfel strahlten unsichtbare Flammen wider.

»Ich sehe«, flüsterte er, »drei Dämonen, die sich voll Freude anschicken, diesen Menschen zu ergreifen. Sie gleichen einem Turm, einer Frau und einem Magier. Alle drei tragen ihre Namen mit glühendem Stahl aufgebrannt, der erste auf der Stirn, der zweite 226 auf dem Bauche und der dritte auf der Brust, und diese Namen sind: Hochmut, Üppigkeit und Zweifel.«

»Ich habe gesehen.«

Nachdem er so gesprochen, sank Paulus mit wirren Blicken und herabhängenden Lippen in seine Einfalt zurück.

Da die Mönche von Antinoë Antonius mit Bestürzung ansahen, sprach der Heilige nur die wenigen Worte:

»Gott hat sein gerechtes Urteil verkündet. Wir müssen ihn anbeten und schweigen.«

Damit ging er weiter und segnete alle nacheinander. Die zum Westen sinkende Sonne umgab ihn mit einem Glorienschein, und sein durch himmlische Gnade maßlos verlängerter Schatten zog, wie ein unendlicher Teppich, hinter ihm her, als Zeichen des langen Andenkens, das die Menschen diesem großen Heiligen bewahren sollten.

Aufrecht stehend, aber niedergeschmettert, sah und hörte Paphnucius nichts mehr. Die einzigen Worte: »Thaïs wird sterben,« erfüllten seine Ohren. Ein solcher Gedanke war ihm nie gekommen. Zwanzig Jahre lang hatte er einen Mumienkopf betrachtet, und nun versetzte ihn der Gedanke, daß der Tod die Augen der Thaïs schließen könnte, in verzweiflungsvolles Erstaunen.

»Thaïs wird sterben!« Unbegreifliche Kunde! »Thaïs wird sterben!« In diesen drei Wörtern welch furchtbarer, unerwarteter Sinn!»Thaïs wird sterben!« Wozu denn die Sonne, die Blumen, die Bäche 227 und die ganze Schöpfung? »Thaïs wird sterben!« Wozu das Weltall?

Plötzlich sprang er auf: »Sie wiedersehen, sie noch einmal sehen!« Und er fing an zu laufen. Er wußte nicht, wo er war, noch wohin er lief, aber der Instinkt führte ihn mit voller Sicherheit. Er rannte in gerader Richtung dem Nile zu. Ein Schwarm von Segeln bedeckte die hohen Gewässer des Stromes. Er sprang in ein mit Nubiern bemanntes Schiff, legte sich dort auf das Vorderteil und schrie, indem seine Augen den Raum verschlangen, voll Schmerz und Wut:

»Tor, Tor, der ich war, daß ich Thaïs nicht umschlungen habe, da es noch Zeit war! Tor, der ich geglaubt habe, es gebe noch etwas anderes auf der Welt als sie! O Wahnsinn! Ich dachte an Gott, an mein Seelenheil, an das ewige Leben, als ob alles das etwas bedeute, wenn man Thaïs gesehen hat! Wie habe ich nicht gefühlt, daß die ewige Seligkeit in einem einzigen Kusse dieser Frau liegt, daß ohne sie das Leben sinnlos und nur ein wüster Traum ist? O Narr, du hast sie gesehen, und du hast nach den Gütern des Jenseits begehrt! O Feigling, du hast sie gesehen, und du hast Gott gefürchtet! Gott, der Himmel, was ist das? Was haben sie dir zu bieten, das den kleinsten Teil dessen aufwöge, was sie dir gegeben hätte? O elender Tor, der du die himmlische Güte anderswo als auf Thaïs Lippen suchtest! Welche Hand lag auf deinen Augen? Verflucht sei, wer dich damals blind machte! Du konntest um den Preis der Verdammnis einen Augenblick ihrer Liebe erkaufen, und du 228 hast es nicht getan! Sie öffnete dir die Lilienarme, und du hast dich nicht in die unsagbaren Wonnen ihres entschleierten Busens gestürzt! Du hast auf die neidische Stimme gehört, die dir zurief: ›Enthalte dich!‹ Narr, Narr, trauriger Narr! O Reue, o Gewissensbisse, o Verzweiflung! Nicht einmal die Freude zu haben, die Erinnerung an die unvergeßliche Stunde in die Hölle mitzunehmen und Gott zuzurufen: ›Brenne mein Fleisch, dörre alles Blut meiner Adern aus, zersplittere meine Knochen, du wirst mir doch das Andenken, das mir von Ewigkeit zu Ewigkeit süßen Duft und Erfrischung spendet, nicht rauben können! . . .‹ ›Thaïs wird sterben!‹ Lächerlicher Gott, wenn du wüßtest, wie ich deiner Hölle spotte! Thaïs wird sterben und wird nie die Meine sein, nie, nie!«

Und während die Barke dem schnellen Strome folgte, blieb er ganze Tage auf dem Bauche liegen und wiederholte:

»Nie! nie! nie!«

Wenn er dann daran dachte, daß sie sich andern hingegeben und nicht ihm, daß sie Ströme der Liebe über die Welt ausgegossen und er nicht einmal seine Lippen darin genetzt hatte, sprang er wütend auf und schrie vor Schmerz. Er zerfleischte sich die Brust mit den Nägeln und biß sich in die Arme. Er sagte sich:

»Daß ich alle die töten könnte, welche sie geliebt hat!«

Der Gedanke an diese Mordtaten erfüllte ihn mit wonniger Wut. Er sann nach, wie er Nikias langsam, mit Muße, und, indem er ihm bis in den 229 Grund der Augen blickte, erwürgen wollte. Dann legte sich seine Wut plötzlich. Er weinte und schluchzte. Er wurde sanft und schwach. Eine unbekannte Zärtlichkeit erweichte ihm die Seele. Es kam ihm die Lust an, sich seinem Jugendfreund um den Hals zu werfen und ihm zu sagen: »Nikias, ich liebe dich, weil du sie geliebt hast. Sprich mir von ihr! Sage mir, was sie dir sagte!« Und immer wieder zermarterte ihm das eherne Wort das Herz: »Thaïs wird sterben!«

»Tageshelle,« rief er aus, »Silberschatten der Nacht, Gestirne, Himmel, Bäume mit lebendem Wipfel, Raubtiere, Haustiere, ängstliche Menschenseelen, hört ihr es nicht: ›Thaïs wird sterben!‹ Luft, Licht und Blumenduft, verschwindet! Erlöschet, Formen und Gedanken des Weltalls! ›Thaïs wird sterben!‹ Sie war die Schönheit der Welt, und alles, was ihr nahte, wurde schön im Widerschein ihrer Anmut. Der Greis und die Weisen, die beim Gastmahl zu Alexandrien neben ihr saßen, wie waren sie lieblich! wie harmonisch war ihre Rede! Ein Schwarm lachender Bilder umflog ihre Lippen, und Wollust durchduftete alle ihre Gedanken. Nur weil Thaïs' Atem über ihnen war, wurde alles, was sie sagten, Liebe, Schönheit, Wahrheit. Eine reizende Gottlosigkeit verlieh ihren Reden Anmut. Sie drückten mühelos den Glanz des Menschentums aus. Und alles das ist leider nur noch ein Traum! ›Thaïs wird sterben!‹ O wie gerne würde ich ihres Todes sterben! Aber du kannst nicht einmal sterben, vertrocknete Mißgeburt! Wie solltest du den Tod kosten, da du das Leben nicht gekannt hast? Möge es denn 230 einen Gott geben und er mich verdammen! Ich hoffe und ich will es. Gott, den ich hasse, höre mich! Stoße mich in die Verdammnis! Um dich dazu zu zwingen, speie ich dir ins Gesicht. Ich bedarf der ewigen Hölle, um die Ewigkeit der Wut, die ich in mir fühle, ausrasen zu lassen – –«



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